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(2016) Die Politische Theorie Des Feminismus: Judith Butler. In: Brodocz, André/schaal, Gary S. (hg.): Politische Theorien Der Gegenwart Iii, Opladen: Barbara Budrich, 131-168. (proof Version).

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In: Brodocz, André/Schaal, Gary S. (Hg.) (2016): Politische Theorien der Gegenwart III, Opladen: Barbara Budrich, 131-168. Kapitel XIV Die politische Theorie des Feminismus: Judith Butler Christine M. Klapeer Inhalt 1. Einleitung 2. Troubling Gender: Über die politische Hervorbringung einer vermeintlich natürlichen Kategorie 2.1. Butlers genealogische Kritik an einer natürlichen Geschlechterbinarität 2.2. Die normative Gewalt des epistemischen Regimes der Heterosexualität 3. Troubling Agency: Der Widerstand postsouveräner politischer Subjekte 3.1. (Geschlechter-)Subversion und Politiken des Performativen 3.2. Fragmentierte (feministische) Subjekte und postsouveräne Handlungsfähigkeit 3.3. Für eine Ethik der Verletzbarkeit jenseits von Geschlechterzwängen 4. Rezeption und Wirkung Literatur 1. Einleitung Inwieweit die bekannte, inzwischen sogar schon als Popstar1 gefeierte, US-amerikanische Philosophin Judith Butler (*1956) als eine2 politische Theoretikerin des Feminismus bzw. als politische Theoretikerin im Allgemeinen gelesen werden kann, hängt mitunter mit der Frage zusammen, was innerhalb eines bestimmten Wissenschaftskontextes generell als politische Theorie definiert wird und inwiefern feministische Theorien als kanonrelevant rezipiert werden. Denn das Verhältnis zwischen politischer Theorie und feministischen Ansätzen stellt sich nachweisbar als ‚problematisch‘ und widersprüchlich dar, wurden doch eine Vielzahl von (früh-)feministischen und geschlechterkritischen Theorien trotz ihrer fundierten herrschafts-, macht- und politikrelevanten Implikationen und Erkenntnisse bis heute nur partiell in den Kanon Politischer Theorie aufgenommen und als solche rezipiert (Kreisky 1995: 33f.; vgl. Kreisky/Sauer 1997; Sauer 2001; Ludwig et al. 2009). Gleichzeitig ist nicht nur der ‚klassische‘ Kanon der politischen Theorie weitgehend von Androzentrismus, Misogynie und dem Ausschluss weiblicher (als auch ‚nichtwestlicher‘) DenkerInnen bestimmt; dieser konstituierte und legitimierte auch maßgeblich eine auf Hierarchie basierende Geschlechterdifferenz sowie den strukturellen Ausschluss von Frauen3 aus der als öffentlichpolitisch konzipierten Sphäre (Okin 1979; Pateman 1988). Insofern liegt es auf der Hand, dass nicht jede (politische) Theorie, die explizit oder implizit Fragen des Geschlechterverhältnisses behandelt, als feministische (politische) Theorie charakterisiert werden kann. Auch wenn es keine allgemeingültige oder abschließende Definition für feministische politische Theorien gibt oder geben kann, so kann der Versuch einer Beschreibung von Valerie Bryson (2003) als Orientierungshilfe dienen. Sie verwendet den Begriff „feministische politische Theorien“ für „jegliche Theorie oder TheoretikerIn, welche die Beziehung zwischen den Geschlechtern durch Ungleichheit, Unterordnung und Unterdrückung konstituiert sieht, dieses Verhältnis aber als ein Problem politischer 1 2 3 Vgl. dazu u.a. die deutschen Medienberichte im Zusammenhang mit der Verleihung des Adorno-Preises an Judith Butler am 11.September 2012. Um der Diversität und den differenten Ansätzen innerhalb von feministischen Theorien, Bewegungen und Praxen Rechnung zu tragen, zieht es die Autorin vor, von Judith Butler als einer politischen Theoretikerin des Feminismus zu sprechen. Dies betrifft ebenso den Ausschluss von als ‚nichtweiß‘ definierten Personen. 2 Machtbeziehungen und nicht als ‚natürlichen‘ Sachverhalt analysiert und somit als relevantes Feld politischer Theorien einstuft“ (Bryson 2003: 1, eigene Übers. u. Hervorh.). Judith Butler befindet sich demnach im Zentrum feministischer Theorien, wenn sie in ihren Schriften Verhältnisse und Phänomene problematisiert, die innerhalb vieler ‚klassischer‘ politischer Theorien als evident gelten oder als ‚natürlich‘ angenommen werden: Geschlecht bzw. eine natürliche und hierarchisch konzipierte Geschlechterdifferenz, Heterosexualität und Reproduktion, weibliche und männliche Identität(en) (Butler 1991, 1995), Verwandtschaft (Butler 2001, 2006a), das Inzestverbot (Butler 2001) sowie die Autonomie und Souveränität des (politischen) Subjekts (Butler 1995, 2006a). Trotz ihrer umstrittenen Stellung innerhalb feministischer Theorie- und Bewegungskontexte steht Butler in der Tradition einer Diversität an feministischen und lesbisch-feministischen Ansätzen, die in einer komplexen Vielstimmigkeit zeigen, inwieweit (‚westliche‘) Politikkonzepte weitgehend von androzentrischen, heteronormativen und misogynen Prämissen durchzogen sind bzw. wesentlich entlang dieser Annahmen konstituiert worden sind. Judith Butler bezeichnet sich auch selbst als Feministin und verortet ihr eigenes Denken und Schreiben (u.a.) in der Tradition feministischer Theoriebildung, wenngleich sie einige derer zentralen Annahmen kritisch befragen und nachhaltig destabilisieren will (Butler 1991). Butler kann daher keineswegs als repräsentativ für eine politische Theorie des Feminismus gelten, wenngleich sie darin eine höchst prominente und einflussreiche Position einnimmt. Auch wenn zahlreiche feministische Theorien das „soziale Gewordensein“ von Frauen und Männern zum Thema haben, so zeichnet sich die politische Theorie Butlers jedoch durch eine Radikalisierung der feministischen Kritik am Postulat „Biologie als Schicksal“ aus (Villa 2008: 146). Das Spannende und gleichzeitig Herausfordernde an Judith Butlers feministischer Theorie ist ihre dekonstruktivistische Auseinandersetzung mit Prozessen und Bedingungen des Ein-Geschlecht-Werdens, also der Herstellung und Konstruktion von ‚Frauen‘ und ‚Männern‘ sowie von geschlechtlich und sexuell bestimmten Identitäten innerhalb eines komplexen Netzwerkes von Macht. Vor allem Judith Butlers frühe und immer noch am häufigsten rezipierten Werke4 – das 1991 in deutscher Übersetzung erschienene Unbehagen der Geschlechter sowie die 1995 erschienene Nachfolgepublikation Körper von Gewicht – liefern eine zentrale theoretische Grundlage, Geschlecht nicht als a priori gegebene Kategorie innerhalb des Feldes des Politischen zu verstehen, sondern den Prozess der Herstellung von 4 Für eine bessere Lesbarkeit greift der folgende Artikel zum Großteil auf die deutschsprachigen Übersetzungen der in englischer Sprache verfassten Originalwerke von Butler zurück. Die Autorin ist sich jedoch der Problematik der Übersetzbarkeit von bestimmten Begriffen sowie insgesamt des politischen Gehalts jeder Übersetzung bewusst. Der Verweis auf die Originaltitel findet sich im Literaturverzeichnis. 3 (einer Vorstellung von) ausschließlich zwei ‚differenten‘ Geschlechtern selbst als politischen Prozess zu begreifen. Mit Judith Butler verschiebt sich demnach auch die Perspektive feministischer und politiktheoretischer Fragestellungen grundlegend(er): Es geht nicht mehr hauptsächlich darum, die Ungleichheit oder hierarchische Differenz zwischen den Geschlechtern in den Blick zu nehmen, sondern es rücken Fragen nach dem „process of becoming“ (Salih 2002: 3), also Herstellungsmechanismen und -formen einer hierarchisch und heterosexuell organisierten Zweigeschlechtlichkeit in den Mittelpunkt der Betrachtung. Als feministische Theoretikerin erweitert Judith Butler damit auch das Verständnis dessen, was als ‚politisch‘ verstanden wird oder werden kann, wenn sie danach fragt, inwiefern Geschlechtereindeutigkeit und Heterosexualität eine der Bedingungen dafür sind, als „intelligibles Subjekt“ anerkannt zu werden und damit nicht als prekäres „Anderes“, als (politisches) „Abjekt“ leben zu müssen (Butler 1991, 1995). Gerade deswegen erscheint es umso bedeutender, Judith Butler nicht nur als politische Theoretikerin des Feminismus (abgesehen davon, dass es den Feminismus im Singular nicht gibt) zu lesen, sondern als politische Theoretikerin, deren feministische Theorien und Konzepte für die Bearbeitung einer Vielzahl von aktuellen politischen Fragestellungen eine allgemeine analytische Relevanz aufweisen. Für Samuel A. Chambers und Terrel Carver ist Judith Butler also in einem doppelten Sinn ein „troublemaker“5 für das Feld des Politischen: Butler „trouble[s] politics“ und „Butler’s politics prove to be a politics of troubling“ (Chambers/Carver 2008: 9). Butlers feministische Theorie(n) stellen nicht nur Annahmen über und Grundlagen des genuin Politischen in Frage, sondern für ihre Konzepte von politischer Handlungsfähigkeit, Widerstand und Ethik wird die permanente Befragung, Problematisierung und letztlich auch Destabilisierung des scheinbar Evidenten selbst zur Bedingung ihrer Möglichkeit. In ihrem troubling von scheinbar Natürlichem und Evidentem rekurriert Butler neben feministischen und lesbisch-feministischen Theorien6 auf ein heterogenes Bündel an poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen Ansätzen.7 Insbesondere was ihre Kritik an „Wahrheitsdiskursen“ sowie generell ihre diskurstheoretische Annahme von der Wirkmächtigkeit von Diskursen und der performativen Kraft von Sprache betrifft, teilt Butler 5 6 7 Samuel A. Chambers und Terrel Carver beziehen sich in diesem Kontext auch auf den englischen Originaltitel von Das Unbehagen der Geschlechter: Gender Trouble (Chambers/Carver 2008). Judith Butler bezieht sich affirmativ-kritisch u.a. auf Simone de Beauvoir, Monique Wittig, Adrienne Rich, Gayle Rubin, Luce Irigaray und Julia Kristeva. Je nach Werk und theoretischem/politischem Fokus der einzelnen Überlegungen rekurriert Butler neben Michel Foucault u.a. auf Jacques Lacan, Jacques Derrida und Louis Althusser. 4 die Auffassung des französischen Philosophen Michel Foucault. Auch sie sieht in der „Produktivität diskursiver und sprachlicher Macht das fundamentale Konstruktionsprinzip von Wirklichkeit“ (Bublitz 2002: 8). Damit interessiert mit Butler weniger, inwiefern Geschlecht ‚das Politische‘ strukturiert, sondern inwieweit eine hierarchisch-heterosexuelle Geschlechterbinarität selbst als Konstitutionsbedingung der Definition ‚des Politischen‘ fungiert, wie es aber gleichzeitig gelingt, die Naturhaftigkeit von Geschlecht als unhinterfragte Wirklichkeit immer wieder neu einzusetzen und dabei gleichzeitig ‚das Politische‘ an diesem Prozess selbst zu verschleiern (vgl. Ludwig 2011). Neben einem troubling der Kategorie Geschlecht steht Judith Butler damit auch für eine grundlegende Neukonzeption von Handlungsfähigkeit und politischer Subjektivität, löst sie diese Begriffe doch von Vorstellungen eines autonomen Subjekts und situiert sie stattdessen im Kontext einer möglichen kritischen Umarbeitung, Reflexion und Selbst-Positionierung innerhalb der normativen Gewalt von (Geschlechter-)Diskursen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Judith Butler sich jeglicher normativer oder ethischer Fundierung des Politischen entzieht. Im Gegenteil zeigt sich insbesondere in ihren neueren und im deutschsprachigen, feministischen Kontext weit weniger rezipierten Arbeiten, dass Judith Butler durchaus eine – wenn auch nicht kohärente – Theorie der politischen Ethik entwickelte (Butler 2003, 2005, 2006b, 2009a, 2009b, 2010, 2012). Gerade im Zusammenhang ihrer moralphilosophischen Überlegungen werden aber auch (erneut) ihre starken Bezüge zu einer europäischen Kontinentalphilosophie8 deutlich, wenn sie u.a. Georg Wilhelm Friedrich Hegel9, Baruch de Spinoza, Emmanuel Levinas, Friedrich Nietzsche und Theodor W. Adorno einer kritischaffirmativen Re-Lektüre unterzieht. Insofern ist der folgende Beitrag zwar auf die geschlechtertheoretischen Einsichten von Judith Butler fokussiert, möchte aber ihr feministisches Denken im Kontext der Vielschichtigkeit der theoretischen Überlegungen und Referenzen sowie auch der positionalen Verschiebungen und Brüche zwischen einzelnen Werken situiert wissen. 2. Troubling Gender: Über die politische Hervorbringung einer vermeintlich natürlichen Kategorie 8 9 Judith Butler widmete sich auch während ihres Philosophiestudiums an der Yale University weitgehend Autoren der europäischen Kontinentalphilosophie, besonders den Schriften von Georg W. Hegel. Judith Butler widmete sich bereits in ihrer Dissertation „Subjects of Desire. Hegelian Reflections in the 20th Century France“ (1984) der Konzeption von Begehren und Subjektivität bei Hegel sowie dessen Rezeption durch Sartre, Deleuze, Lacan und Foucault. 5 Der Name Judith Butler steht mittlerweile nicht nur mehr innerhalb eines feministischen (Theorie-)Kontextes programmatisch für eine bestimmte Art, Geschlecht (anders) zu denken und dabei auch fundamental in seinen Grundfesten zu erschüttern (vgl. Villa 2003). Mit ihrem Anliegen, „die angeblich natürlichen Sachverhalte des Geschlechts“ zu dekonstruieren und somit zu zeigen, dass „Geschlecht keine vordiskursive anatomische Gegebenheit“ sein kann, hat Judith Butler mittlerweile auch die Grenzen des Akademischen überschritten (Butler 1991: 3, 26). Insbesondere seit ihrer spektakulären Ablehnung des Zivilcourage-Preises der Christopher-Street-Parade in Berlin 201010 sowie der als umstritten geltenden Auszeichnung mit dem Theodor-W.-Adorno-Preis der Stadt Frankfurt im Jahr 201211 werden ihre Thesen sowie ihre Person inzwischen auch in deutschsprachigen Zeitungsfeuilletons heftig diskutiert und kommentiert. Judith Butler kann daher in jedem Fall als politische Theoretikerin gelten, wenn das ‚politisch‘ auch auf die politische Unmittelbarkeit und Situiertheit ihrer Überlegungen12 sowie den Einfluss und die Bedeutung ihrer Stimme auf zeitgenössische gesellschaftspolitische Debatten bezogen wird. Butlers Geschlechtertheorie inspiriert bis heute maßgeblich unterschiedliche linke, feministische und LGBTIQ13-Bewegungen und Gruppen zu einer Neuverhandlung von Geschlecht und (sexuellen) Identitäten. Im Vergleich zu vielen anderen zeitgenössischen TheoretikerInnen ist Butlers politische Theorie, insbesondere auch ihre geschlechtertheoretischen Einsichten, sicherlich in weit höherem Ausmaß von Vereinfachungen und populistischen wie reduktionistischen Lesarten und Verkürzungen geprägt. 2.1. Butlers genealogische Kritik an einer natürlichen Geschlechterbinarität Judith Butler wird innerhalb feministischer Theoriedebatten vor allem mit einer dekonstruktivistischen Stoßrichtung in Verbindung gebracht, deren zentraler Fokus auf einer 10 Butler lehnte den Zivilcourage-Preis ab, weil sie den VeranstalterInnen u.a. Rassismus und Islamophobie bzw. eine mangelnde Sensibilität gegenüber diesen Diskriminierungen innerhalb der lesbischen, schwulen und trans*-Community vorwarf. Siehe dazu den Bericht von der Organisation GLADT, inklusive der Rede von Judith Butler im Original: http://www.gladt.de/index.php?option=com_content&view=article&id=51%3Adas-richtige-signal-zur-richtigen-zeit-judith-butler-lehnt-denzivilcourage-preis-des-berliner-csd-ev-ab&catid=1%3Aaktuell&Itemid=1 [3.7.2013]. 11 Aufgrund ihrer Kritik an der offiziellen Politik Israels sowie einiger als umstritten geltenden Aussagen zur Hisbollah und der Hamas wurde die Auszeichnung von Judith Butler besonders innerhalb der jüdischen Gemeinden in Deutschland als höchst problematisch interpretiert und somit abgelehnt. 12 Judith Butlers theoretische und philosophische Überlegungen sind jeweils auch als Reaktion auf und als Einmischung in konkrete (tages)politische Diskurse, Verhältnisse und Problemstellungen zu interpretieren: So sind z.B. Das Unbehagen der Geschlechter (1991) und Körper von Gewicht (1995) tief mit den in der US-amerikanischen „AIDS-Krise“ aufkommenden Fragen um den Zusammenhang von Identität, Geschlecht, Begehren und homo-/transphoben Ausschlüssen/Verwerfungen verbunden. Juristische und gesellschaftspolitische Debatten um die Strafbarkeit von Pornographie, verletzende Worte und Darstellungen sowie die Don’t ask, don’t tell-Regelung innerhalb des US-amerikanischen Militärs bilden den wesentlichen Kontext der Thematik in Haß spricht (2006a). Mit ihren neuesten Veröffentlichungen reagiert sie maßgeblich auf den nach dem 11. September 2001 einsetzenden diskursiven, militärischen und politischen Kampf gegen den Terror sowie auf aktuelle Verschärfungen der Politik in Israel/Palästina (Butler 2010, 2005). 13 Die international gebräuchliche Abkürzung LGBTIQ steht für Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Intersex und Queers, wobei das „Q“ darüber hinaus auch als Questioning gelesen werden soll. Questioning zeigt an, dass es sich bei diesen Identitäten/Gruppen um historisch und geopolitisch konstruierte und damit kontingente Existenzweisen handelt. 6 „radikale[n] Ent-Naturalisierung der Geschlechterbinarität“ liegt (Villa 2008: 146; vgl. Villa 2003; Bublitz 2002). Sie kann daher einer Perspektive feministischer Theoriebildung zugeordnet werden, „in der Semantiken der Geschlechterdifferenz und sprachlich-diskursive Bedingungen der Möglichkeit von (Aussagen über) Geschlecht im Vordergrund stehen“ (Knapp 2000: 73). Während Butler in Das Unbehagen der Geschlechter (1991) bzw. auch bereits in ihrer Dissertation Subjects of Desire (1999a [1984]) zentrale theoretische Grundsteine für ihre de-/konstruktivistische Geschlechtertheorie legte, entwickelte sie ihre Theoreme und Ansätze in ihrem Folgewerk Körper von Gewicht (1995)14 weiter und vertiefte sie nochmals in der jüngeren Aufsatzsammlung Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen (2009a). Neben der Veröffentlichung zahlreicher Artikel und Buchbeiträge, die sich mit der Frage von Geschlecht und Geschlechternormen, Sexualitäten und (nichtnormativem) Begehren und Identitäten beschäftigen, tragen aber auch ihre subjektund performativitätstheoretischen Überlegungen in Haß spricht. Zur Politik des Performativen (2006a), Antigones Verlangen (2001) und Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung (2002) wesentlich zu einem Verständnis ihrer geschlechtertheoretischen Ansätze bei. Den Kern ihrer insbesondere Mitte und Ende der 1990er-Jahre heftig debattierten Geschlechtertheorie bildet die Annahme, dass es kein natürliches, biologisch-anatomisches Geschlecht gibt, sondern dass die Idee eines vordiskursiven Geschlechts, der „Effekt des kulturellen Konstruktionsapparates“ ist, welcher die Idee einer Natürlichkeit von Geschlecht erst hervorbringt (Butler 1991: 24). Politischer Ausgangspunkt dieser These war Butlers Anliegen, die Kategorie ‚Frau(en)‘ als Referentin und Bezugsgröße feministischer Bewegungen einer kritischen Befragung zu unterziehen und die vermeintlich metaphysische und als natürlich gedachte Grundlage dieser politischen Repräsentationskategorie – das (biologische) Frau-Sein – mittels einer „Genealogie der Geschlechterontologie“ zu dekonstruieren (Butler 1991: 60). Die „genealogische Kritik“, derer sich Butler in Anlehnung an Michel Foucaults genealogischer Methode bedient, lehnt es folglich ab, nach den „Ursprüngen“ von Geschlecht, „der inneren Wahrheit des weiblichen Geschlechts oder einer genuinen, authentischen Sexualität zu suchen“ (Butler 1991: 9). Vielmehr – und dies ist insbesondere für eine politiktheoretische Lesart von Butler relevant – „erforscht die Genealogie die politischen Einsätze, die auf dem Spiel stehen, wenn die Identitätskategorien [u.a. geschlechtlich bestimmte Identitäten, C.K.] als Ursprung und Ursache bezeichnet 14 Mit dem Werk Körper von Gewicht wollte Judith Butler, wie sie im Vorwort und in der Einleitung darlegt, explizit eine Antwort auf kritische Kommentare zu Das Unbehagen der Geschlechter vorlegen (Butler 2005). 7 werden, obgleich sie in Wirklichkeit Effekte von Institutionen, Verfahrensweisen und Diskursen“ sind (Butler 1991: 9). Trotz oder gerade wegen dieser genealogischen Infragestellung eines kohärenten, feministischen Subjekts ‚Frau‘ verortet sich Judith Butler explizit in der „Tradition eines Feminismus“ und damit von jenen feministischen Bemühungen, „den Sinn der Biologie als Schicksal, Biologie als Zwang zu überwinden“ (Butler 1995: 10). Butler versteht sich selbst explizit als Feministin und will ihre Texte als immanente Kritik „frauenbewegter“ und feministischer Theorien und Praxen verstanden wissen (Butler 1999b: vii). In Das Unbehagen der Geschlechter (1991) ebenso wie in Körper von Gewicht (1995) spürt Butler nun den diskursiven „Konstitutionsmodi“ (Villa 2008: 153), also den Diskursen und Herstellungsmechanismen einer als natürlich angenommenen Zweigeschlechtlichkeit nach. Butler teilt dabei eine poststrukturalistische, an Foucault orientierte Auffassung von Diskursen als „privilegierte Orte der Konstruktion sozialer Wirklichkeit“ (Villa 2003: 18). Diskurse kodieren die Welt, sie „stecken den Bereich des Denk- und Lebbaren ab, indem andere Optionen nicht denk- oder lebbar scheinen“ (Villa 2003: 23). Butler geht folglich – entgegen einer vielgeäußerten Kritik – nicht davon aus, dass es den Körper ohne Diskurse nicht gibt, aber sie zeigt auf, dass es keinen prädiskursiven Zugriff auf Körper und auf ein (vermeintlich natürliches) Körpergeschlecht gibt. Jeder Zugriff auf den Körper und seine Morphologien ist auf spezifische Weise „durch das diskursive Feld, in denen sie bedeutet werden, geformt“ (Villa 2003: 23). Damit erklärt sich auch das Foucaultʼsche Paradigma von der Produktivität von Diskursen – denn Diskurse sind demnach überhaupt erst die Bedingung, um etwas begreifen, erfassen, deuten zu können; die sprachliche Benennung bringt damit Dinge ebenso wie geschlechtliche Subjekte selbst erst ins Leben. Im Falle des Geschlechts legen somit Diskurse auch die jeweiligen „Möglichkeiten der vorstellbaren und realisierbaren Konfigurationen“ von Geschlecht fest (Butler 1991: 27). Butler erweitert nun – u.a. in Bezugnahme auf Louis Althussers Theorie der Anrufung – Foucaults These von der diskursiven Hervorbringung des Subjekts in und durch politische (Anrufungs-)Strukturen um die geschlechtertheoretische Frage, wie „geschlechtlich bestimmte Subjekte“ demnach erst durch diskursive „Machtregime“ konstituiert werden (Butler 1991: 16f.). Dabei kommt sie zum Schluss, dass „die Kategorie ‚Frau(en)‘, das Subjekt des Feminismus“ eben nicht bereits „vor dem Gesetz“, d.h. als metaphysische und „natürliche“ Tatsache existiert, sondern erst durch Prozesse der Anrufung und Benennung entlang kulturell und historisch variabler Regeln und Normen hervorgebracht wird bzw. werden muss (Butler 1991: 15ff.). Butlers „genealogical feminism“ (Stone 2005) basiert 8 daher auf der Annahme, dass Frauen eine politische Genealogie haben und damit keineswegs ‚der Geschichte‘, ‚dem Politischen‘ oder ‚dem Sozialen‘ vorgelagert sind. Für Butler gibt es demnach kein vorkulturelles und ahistorisches weibliches oder männliches Geschlecht, auch keine universelle Zweigeschlechtlichkeit, da jeder Körper erst durch die wiederholte und ritualisierte Benennung und Praktiken der kulturellen Einschreibung zu einer Frau oder einem Mann wird. Das heißt, mit Butler „gibt es keinen Rückgriff auf den Körper, der nicht bereits durch kulturelle Bedeutungen interpretiert ist“ (Butler 1991: 26). Somit kann den Körpern auch keine Existenz zugesprochen werden, die der „Markierung“ des Geschlechts vorangeht, sondern die „Markierung(en)“ rufen das Geschlecht erst selbst „ins Leben“ (Butler 1991: 26). „Genealogisch betrachtet“ ist damit nach Butler die Annahme eines eindeutigen Geschlechts bzw. die Annahme einer binären Geschlechterdifferenz selbst eine „Wirkung des politischen Einsatzes der Kategorie Geschlecht“ (Bublitz 2002: 60). Hierbei ist jedoch zentral, dass Butler entgegen einigen feministischen oder sozialkonstruktivistischen Theoremen nicht davon ausgeht, dass der (Geschlechts-)Körper damit als „passives Medium“ bereits vor einer kulturellen Einschreibung in derselben Form existiert, dem dann einfach geschlechtliche Bedeutungen „übergestülpt“ werden, die dann verinnerlicht werden (Butler 1991: 190ff.). Ihr zufolge sind Körper – auch wenn sie als fleischliches Substrat existieren – jenseits dieser Diskurse selbst nicht denkbar, sondern konstituieren sich erst in diesem Akt der Anrufung. Butler destabilisiert in diesem Kontext folglich nicht nur die für ‚westliche‘ Geschlechter- und Politikkonzeptionen prägende Natur-Kultur-Dichotomie, sondern radikalisiert auch die innerhalb vieler feministischer Theoriekontexte gängige analytische Trennung von Geschlecht in ein biologisch-anatomisches Geschlecht (sex) und ein sozio-kulturelles Geschlecht (gender). Sie spitzt damit die feministische Forderung nach der Zerschlagung der Idee „Biologie ist Schicksal“ zu, wenn sie postuliert, dass das biologische Geschlecht „immer schon“ gender gewesen ist und somit die Unterscheidung von sex und gender „letztlich gar keine Unterscheidung ist“ (Butler 1991: 23). Nach Butler umfasst gender auch „jene diskursiven/kulturellen Mittel, durch die eine ‚geschlechtliche Natur‘ oder ein ‚natürliches Geschlecht‘ als ‚vordiskursiv‘, d.h. als der Kultur vorgelagert oder als politisch neutrale Oberfläche, auf der sich Kultur einschreibt, hergestellt und etabliert wird“ (Butler 1991: 24). Um Geschlecht und die Materialität von Körpern jenseits naturalistischer Vorstellungen fassen zu können, entwickelte Judith Butler ein Konzept von Geschlecht als „ständig wiederholende und zitierende Praxis, durch die der Diskurs die Wirkungen erzeugt, die er benennt“ (Butler 1995: 22). In Rekurs auf Jacques Derrida sowie in Weiterentwicklung der Sprechakttheorie von John L. Austin spricht Butler in diesem Kontext von der 9 „Performativität“ von Geschlecht (Butler 1995: 22; 1991). Als performativ gelten in Anlehnung an Austin und Derrida jene Aussagen, welche das erzeugen, was sie benennen. Das heißt, durch performative Sprechakte werden Handlungen vollzogen, Wirklichkeiten geschaffen und somit auch (geschlechtliche) Identitäten erzeugt. Ein performatives Verständnis von Geschlecht impliziert nach Butler folglich, dass sich Geschlecht erst durch die ständige Wiederholung und Benennung von regulierenden (Geschlechter-)Normen konstituiert (Butler 1991, 1995). Geschlecht ist für Butler also ein „regulierendes Ideal, dessen Materialisierung erzwungen ist“; diese „Materialisierung“ ist aber „nie ganz vollendet“ und bleibt somit immer ein Ideal, das jedoch ständig erneuert werden muss (Butler 1995: 21). Ein performatives Geschlechterverständnis bedeutet demzufolge nicht, dass die Herstellung von Geschlecht als ein „vereinzelter oder absichtsvoller ‚Akt‘“ verstanden werden kann, sondern Butler betont in Hinblick auf ihre Theorie zur Performativität von Geschlecht explizit die Bedeutung von schon vorhandenen Normen und Konventionen, also die Existenz eines „‚kulturellen Archivs‘, in das imperative Geschlechternormen eingeschrieben sind“ (Bublitz 2002: 94); d.h. Performativität funktioniert nur dadurch, dass darin „vorhergehende Handlungen wiederhallen und durch die Wiederholung und das Zitiert-Werden einer mit Autorität versehenen Reihe von Praktiken Autorität akkumuliert“ (Butler 1997: 102f.). Die „Wiederholung“ ist somit eine „Re-Inszenierung und ein Wieder-Erleben eines bereits gesellschaftlich etablierten Bedeutungskomplexes – und zugleich die mundane, ritualisierte Form seiner Legitimation“ (Butler 1991: 206). Entgegen zahlreicher (feministischer) KritikerInnen geht es Butler keineswegs um eine Zurückweisung der politischen oder feministischen Bedeutung von (Frauen-)Körpern oder einer „Praxis der Entkörperung“, sondern im Gegenteil sieht Butler dieses „Infrage-Stellen“ als einen „Weg zur Rückkehr zum Körper […,] als einem gelebten Ort der Möglichkeit“ (Butler 1995: 10f.) – liegt doch in der Anerkennung der „wesentliche[n] Unvollständigkeit“ dieser Kategorie ein ungeheures politisches Widerstandspotential (Butler 1991: 35; siehe dazu Abschnitt 3.1). 2.2 Die normative Gewalt des epistemischen Regimes der Heterosexualität Butlers Geschlechtertheorie reduziert sich nicht ‚nur‘ darauf, die diskursive Konstruiertheit einer als natürlich angenommenen Geschlechterdifferenz zu postulieren, sie vertieft sich mittels einer kritischen Re-Lektüre von früheren lesbisch-feministischen und feministischen Analysemodellen, wie jenen von Monique Wittig, Adrienne Rich, Gayle Rubin, Luce Irigaray 10 und Julia Kristeva sowie in Bezugnahme auf subjekttheoretische Überlegungen von Louis Althusser, Michel Foucault, Jacques Derrida und Jacques Lacan auch in die Frage, welche „definierenden Institutionen, […] Diskurse“ (Butler 1991: 9) und „Zwänge“ (Butler 1995: 16) in diesem Prozess involviert sind. Butler zeigt nun mittels einer umfassenden (meta)theoretischen Rekonstruktion der Konstitutionsmodi von Geschlecht auf, dass die Annahme einer natürlichen Zweigeschlechtlichkeit von einem phallogozentrischen und „regulierenden Apparat der Heterosexualität“ (Butler 1995: 36) erzwungen wird. Das heißt, aufbauend auf der These der diskursiven und performativen Hervorbringung von Geschlecht legt Butler dar, in welcher Weise innerhalb eines „hegemonialen kulturellen Diskurses […], der auf binäre Strukturen gegründet ist, die als Sprache der universellen allgemeinen Vernunft erscheinen“, festgelegt wird, dass Geschlecht nicht nur binär und hierarchisch verfasst, sondern auch mit einem gegengeschlechtlichen Begehren verbunden ist bzw. sein muss (Butler 1991: 27). Analog zu anderen dekonstruktivistischen Positionen und der darin enthaltenen Kritik an der konstitutiven Funktion von Dichotomien in ‚westlichen‘ Denksystemen sieht Butler binäre Unterscheidungen daher immer durch eine Hierarchie gekennzeichnet, da „ein Begriff innerhalb eines Gegensatzes privilegiert und höher bewertet und der andere Begriff ihm untergeordnet und von ihm beherrscht wird“ (Wartenpfuhl 1999: 67f.). Butlers systematische Miteinbeziehung der konstitutiven Dimension des Begehrens und der Sexualität für die Hervorbringung von der Annahme einer natürlichen Zweigeschlechtlichkeit und die damit einhergehende Infragestellung des „epistemischen Regime[s] der vermeintlichen Heterosexualität“ macht auch die analytische und politische Stärke ihrer Geschlechtertheorie aus (Butler 1991: 8). Denn entgegen früherer lesbisch-feministischer Arbeiten zeigt sie, dass der Zwang zur Heterosexualität (in ‚westlichen‘ Gesellschaften) nicht als Effekt eines patriarchalen Geschlechterregimes verstanden werden kann, sondern umgekehrt der Zwang zur hierarchischen Geschlechterbinarität ohne „heterosexuellen Imperativ“ überhaupt keinen Sinn macht (Butler 1995). In Das Unbehagen der Geschlechter (1991) arbeitete Butler sehr exakt heraus, welche Bedeutung Sexualität und Begehren für die Konstituierung und Normierung einer hierarchisch organisierten Geschlechterdifferenz aufweist. Für die Analyse der spezifischen Verschränkung von Begehren und Sexualität und Geschlecht innerhalb eines hegemonialen ‚westlichen‘ Geschlechterdiskurses führt Butler den Begriff der „heterosexuellen Matrix“ ein (Butler 1991). Butler identifiziert innerhalb dieses Diskurses ein „hegemoniales diskursives Modell der Geschlechter-Intelligibilität“, das spezifische Regeln für die Formierung von kulturell „sinnvollen“, also intelligiblen Geschlechtern und Geschlechtskörpern vorgibt 11 (Butler 1991: 119f.). Die „heterosexuelle Matrix“ steht nach Butler also für ein „Raster der kulturellen Intelligibilität“, welche Folgendes verlangt: Damit ein Körper „sinnvoll“ und anerkannt ist, muss er ein stabiles Körpergeschlecht (sex) haben, das durch ein entsprechendes sozial-kulturelles Geschlecht (gender) sowie „durch die zwanghafte Praxis der Heterosexualität“ in einer hierarchischen und gegensätzlichen Form zum Ausdruck gebracht wird (Butler 1991: 220). Das heißt, ‚Weiblichkeit‘ bzw. ‚Frau-Sein‘ ebenso wie ‚Männlichkeit‘ bzw. ‚Mann-Sein‘ konstituieren sich (erst) durch ein gegengeschlechtliches Begehren, womit das sozio-kulturelle Geschlecht und die Geschlechtsidentität (gender), das Körpergeschlecht (sex) und Begehren und Sexualität (desire) in einer Matrix miteinander verbunden werden und sich jeweils voneinander ableiten lassen (müssen). Konkret bedeutet dies, dass die „heterosexuelle Fixierung des Begehrens […] die Produktion von diskreten, asymmetrischen Gegensätzen zwischen ‚weiblich‘ und ‚männlich‘“ instituiert, welche dann als „natürliche“ Folge oder Ausdruck des männlichen oder weiblichen Geschlechtskörpers erscheinen (Butler 1991: 38). Nur wenn ein Körper diesen Bedingungen von Kohärenz und Kontinuität“ entspricht – sex, gender und Begehren lassen sich demnach voneinander ab- und herleiten –, wird er als intelligibles Geschlecht anerkannt. Geschlecht ist für Butler also keine natürliche Tatsache, sondern ein „ideales Konstrukt, das mit der Zeit zwangsweise materialisiert wird“, und zwar „im Dienste der Konsolidierung des heterosexuellen Imperativs“ (Butler 1995: 21f.). Diese normierende und regulierende „heterosexuelle Matrix“ kann nach Butler auch als eine Form der „normativen Gewalt“ analysiert werden, da sie spezifischen Regeln (zu) der Vergeschlechtlichung und des (sexuellen) Begehrens vorgibt und dabei alles von diesen Regeln Abweichende ausschließt, verleugnet und/oder zu verworfenen Wesen – sogenannten Abjekten – macht (Butler 1995: 23; 1999b). Die Konstituierung intelligibler (Geschlechter)Subjekte wird also erst „durch die Kraft des Ausschlusses und des Verwerflichmachens“ von solchen Existenzen oder Begehrensformen ermöglicht, welche aus dem Raster kultureller Intelligibilität ‚herausfallen‘, darin nicht ‚denkbar‘ sind und/oder diesem nicht entsprechen können oder wollen (Butler 1995: 23). Ausgeschlossen, verworfen und/oder verleugnet werden also Existenzen und/oder Formen des Begehren, welche nicht in „Übereinstimmung mit wiedererkennbaren Mustern der Geschlechter-Intelligibilität geschlechtlich bestimmt“ sind bzw. werden können (Butler 1991: 37). Das sind beispielsweise Existenzen, bei welchen sich das sozio-kulturelle Geschlecht bzw. die Geschlechtsidentität nicht aus dem Körpergeschlecht herleiten lässt und die „Praktiken des Begehrens“ weder aus dem 12 Körpergeschlecht noch aus dem sozio-kulturelle Geschlecht bzw. der Geschlechtsidentität „folgen“ (Butler 1991: 38f.). Butlers politische und theoretische Intention bei der Analyse des Zwangscharakters einer heterosexuellen Geschlechterbinarität liegt also darin, den konstitutiven Charakter von nichtnormativen Geschlechtern und Sexualitäten für die Aufrechterhaltung und Reproduktion des gewaltvollen Systems der Zwangsheterosexualität aufzuzeigen. Derart wird erst sichtbar, dass beispielsweise die „Ablehnung (Verwerfung) […] von Homosexualität im Rahmen einer eindeutigen und fixen heterosexuellen Identität […] den paradoxen Effekt [bewirkt], dass das, was man nicht ist, genau das charakterisiert, was man ist“ (Villa 2003: 52f., eigene Hervorh.). Durch die normative Gewalt des epistemischen Regimes der Heterosexualität wird also „nicht bloß“ nur der „Bereich intelligibler Körper“ erzeugt, sondern auch ein „Bereich der undenkbaren, verworfenen, nichtlebbaren Körper“ hergestellt, welche das „konstitutive Außen“ der heterosexuellen Matrix bilden (Butler 1995: 16, 23). Die spezifische politiktheoretische Bedeutung von Butlers Konzept der normativen Gewalt liegt darin, dass somit staatliche Prozesse, Institutionen und Diskurse, welche ein Geschlecht sowohl voraussetzen, aber auch gleichzeitig einsetzen, als Formen der (hetero-)normativen (Geschlechter-)Gewalt identifiziert werden können (vgl. Paloni 2012; Chambers 2007). Der Zwang innerhalb unserer politischen Gemeinwesen, ein bestimmtes, ein entlang hierarchischheterosexueller Regeln definiertes Geschlecht sein zu müssen, wird bei Butler folglich als verletzende und ausschließende Form der Gewalt identifiziert. Denn die Normen für ein „intelligibles Geschlecht“ sind nicht nur ‚einfach‘ regulatorisch, sondern deren Einhaltung wird zu einer „Überlebensstrategie“, da ansonsten „Strafmaßnahmen“ und Gewalt drohen (Butler 1991: 213). (Geschlechter-)Normen definieren daher einerseits, wer als legitimes (politisches) Subjekt qualifiziert werden kann, andererseits bringen diese aber auch erst gewisse legitime Subjekte hervor, indem sie andere (geschlechtliche und sexuelle) Existenzen delegitimieren oder als mögliche Subjektpositionen unmöglich machen (Butler 2009a). Eine heterosexuelle Geschlechterbinarität sowie die damit einhergehende Verwerfung anderer Existenzen wird bei Butler derart in das Feld des Politischen zurückgeführt und somit selbst als Teil politischer Prozesse konzeptualisiert: „Wir sollten auch beachten, daß die Kategorie ‚Geschlecht‘ und die naturalisierte Institution der Heterosexualität Konstrukte, gesellschaftlich instituierte und regulierte Phantasien oder ‚Fetische‘ sind – d.h. keine natürliche, sondern politische Kategorien (Kategorien, die zeigen, daß der Rückgriff auf das Natürliche in solchen Zusammenhängen stets politisch ist)“ (Butler 1991: 187, Hervorh. dort). Das Machtvolle an diesen Diskursen sei jedoch, so Butler, dass diese politische Dimension 13 und Konstitution von Geschlecht und Heterosexualität gerade durch eine Essentialisierung und eine Verlagerung nach innen verschleiert werde und somit als natürlicher Ausdruck eines psychologischen „Wesenskerns“ bzw. der Identität einer Person erscheine (Butler 1991: 200f.). 3. Troubling Agency: Der Widerstand postsouveräner politischer Subjekte Judith Butlers geschlechtertheoretische Analysen waren und sind stets mit der Frage verbunden, wie sich Subjekte, insbesondere vergeschlechtlichte Subjekte, als Machteffekte konstituieren oder formen und inwiefern jedem Subjektivationsprozess folglich auch eine Form der Regulierung, der Zurichtung und der Unterwerfung innewohnt (Butler 1991; 1995; 2002; 2009a). Insofern dient Butler die Herstellung von vergeschlechtlichten Subjekten auch als „besonders aufschlussreiches Anwendungsfeld“, um sich mit Prozessen der Subjektivation und deren Voraussetzungen wie Effekten auseinanderzusetzen (Reckwitz 2008: 81). Für das Verständnis ihrer Texte ist jedoch Butlers analytischer Fokus von Bedeutung, der gleichzeitig auch die politische Motivation und Ausrichtung ihrer theoretischen Überlegungen kennzeichnet: Ihr Blick richtet sich stets auf die (normative) Gewalt und die Verwerfung jener Existenzweisen, die als „Abjekte“ aus Prozessen der normativen Geschlechterkonstituierung hervorgehen bzw. auch auf jene (psychischen) „Melancholien“ oder „Verluste“, die durch die Verleugnung der mit jeder Subjektwerdung einhergehenden „Unterordnung“ korrelieren (Butler 2001: 12ff.). Butler geht es als politischer Theoretikerin und Theoretikerin des Politischen folglich auch darum, wie sie selbst schreibt, einerseits „die Grausamkeiten, durch die Subjekte produziert und differenziert werden, zu entlarven“, dabei aber auch Möglichkeiten und Formen des Widerstandes und/oder der Subversion und somit auch Handlungsmöglichkeit zu eröffnen (Butler 1993b: 131f.; 1999b; 2009a). Aus feministischer Sicht bedeutsam ist dabei vor allem Butlers Versuch, Geschlecht in einer anderen, nichtgewaltvollen oder essentialistischen Art zu denken bzw. denkbar zu machen und somit auch eine feministische (Widerstands-)Politik jenseits einer klar definierten Geschlechterdichotomie oder einer ‚weiblichen Identität‘ zu konzeptualisieren (Butler 1999b: viii). Butler entwirft in diesem Kontext auch eine kritische Theorie der Handlungsfähigkeit, in welcher agency nicht mehr an ein souveränes Subjekt gebunden wird, sondern im Gegenteil Kontingenz, Inkohärenz und die Akzeptanz der eigenen Abhängigkeit bzw. Verletzbarkeit durch das Soziale und Diskursive zur Konstitutionsbedingung eines „ethisch“ handelnden „postsouveränen Subjekts“ selbst wird (Butler 2003; 2005). Hier klingt bereits an, was Judith 14 Butler vor allem seit der Neuauflage von Gender Trouble und nochmals verstärkt anlässlich der weltpolitischen Ereignisse nach dem 11. September 2001 beschäftigt: Fragen nach den Konsequenzen des interdependenten Verhältnisses von Gewalt und Unterwerfung und Subjektivation für ethische Konzeptionen und damit einhergehend die Suche nach dem, „was eine lebenswerte Welt ausmacht“ und „was das Leben anderer erträglich macht oder machen sollte“ (Butler 2009a: 35). Denn wie Butler in der Einleitung zur Neuauflage von Gender Trouble schreibt: „The writing of this denaturalization was not done simply out of a desire to play with language or prescribe theatrical antics in the place of ‚real‘ politics […]. It was done from a desire to […] rethink the possible as such. […] How must we rethink the ideal morphological constraints upon the human such that those who fail to approximate the norm are not condemned to a death within life?“ (1999a: xx) 3.1. (Geschlechter-)Subversion und Politiken des Performativen Auch wenn Butler immer wieder nachdrücklich die normative Gewalt und die „regulierende“ Implikation von geschlechtlicher Subjektivierung diskutiert, so zeigt sie ebenfalls auf, inwiefern Prozesse der Geschlechterkonstituierung ferner durch Prekarität, Verluste und Instabilitäten, also einer grundsätzlichen Dynamik und Veränderbarkeit gekennzeichnet sind (Butler 1991, 1995, 2002). Dadurch, dass Geschlecht (nur) als performative Konstruktion existiert, muss die vermeintliche ‚Natürlichkeit‘ und ‚Stabilität‘ der heterosexuellen Geschlechterbinarität durch die ritualisierten Produktionen ständig aktualisiert werden (Butler 1995). Dieser Zwang zur ritualisierten Wiederholung impliziert und produziert folglich auch eine permanente Unsicherheit und Instabilität über das, was jeweils (‚richtige‘) ‚Männlichkeit‘ und ‚Weiblichkeit‘, also ein intelligibles Geschlecht, ausmacht. Die ‚Anweisung‘, ein bestimmtes Geschlecht zu sein, produziert demnach „zwangsläufig Verfehlungen, eine Vielzahl inkohärenter Konfigurationen, die in ihrer Mannigfaltigkeit die Anweisung, die sie erzeugt, überschreiten und anfechten“ (Butler 1991: 213). Da die heterosexuelle Geschlechterbinarität eben nur als Phantasma und Ideal existiert, dabei aber gleichzeitig auch konstitutiv von der Verwerfung anderer geschlechtlicher und sexueller Möglichkeiten oder Existenzweisen abhängig ist, ist sie somit immer gefährdet und instabil. In diesem Zwang zur Wiederholung und der gleichzeitigen Verwerfung verortet Butler jedoch auch Möglichkeiten des (politischen) Widerstandes und der Handlungsmacht. „Möglichkeiten der Veränderung“ sieht Butler „gerade in dieser arbiträren Beziehung zwischen den Akten […], d.h. in der Möglichkeit, die Wiederholung zu verfehlen bzw. in einer De-Formation oder 15 parodistischen Wiederholung, die den phantasmatischen Identitätseffekt als eine politisch schwache Konstruktion entlarvt“ (Butler 1991: 207). Ausgehend von der diskurstheoretischen Annahme, dass es „unmöglich ist, außerhalb der diskursiven Gepflogenheiten zu stehen, durch die ‚wir‘ konstituiert sind“ (Butler 1993b: 126), verortet Butler daher Widerstand und Subversion in der Aneignung oder Umdeutung von (vergeschlechtlichten) Anrufungen und Identifizierungen, also in einer Ausnutzung der Reiterabilität und Produktivität von Sprache, Diskursen und Bedeutungen: „Das Sprechen wird nämlich durch den gesellschaftlichen Kontext nicht nur definiert, sondern zeichnet sich auch durch die Fähigkeit aus, mit diesem Kontext zu brechen. Die Performativität besitzt eine eigene Zeitlichkeit, indem sie gerade durch jene Kontexte weiter ermöglicht wird, mit denen sie bricht“ (Butler 2006a: 63f.). Formen und Möglichkeiten der Subversion, Destabilisierung und Umdeutung von Geschlechter- und sexuellen Normen sowie den damit verbundenen Hierarchien, Ausschlüssen und der Gewalt spielen in Butlers Werken durchgängig eine zentrale Rolle, werden jedoch je nach Fokus und (politischer) Intention ihrer Arbeiten jeweils sehr unterschiedlich diskutiert. Butler betont jedoch auch, dass sie ihre Überlegungen jeweils als kontextspezifische Beispiele und keinesfalls als universale oder überzeitliche Lösungsstrategien oder gar „große“ Theorien verstanden wissen will (Butler 1999b: xxi). In Das Unbehagen der Geschlechter (1991) ebenso wie in Körper von Gewicht (1995) verortet Butler kritische Handlungsfähigkeit vor allem in alltäglichen ebenso wie bewussten Praxen der „Geschlechter-Verwirrung“ (Butler 1991: 61), Strategien der Geschlechtervervielfältigung, der Parodie und der Dekonstruktion von als eindeutig und natürlich angenommenen Identitätskategorien (z.B. ‚Frau‘, ‚Mann‘). Sie zeigt auf, dass bestimmte Körper-, Geschlechter- und Begehrenspraxen, in denen die Eindeutigkeit von Geschlecht und sexueller Identität nicht (mehr) gegeben ist oder bewusst durchbrochen wird, die „Realität von Geschlecht selbst in die Krise“ bringt (Butler 1999b: xxiii, eigene Übers., Hervorh. i. Org.). So parodieren etwa „kulturelle Praktiken der Travestie, des Kleidertausches“ sowie die „sexuelle Stilisierung der butch/femme-Identitäten […] Vorstellungen von einer ursprünglichen oder primär geschlechtlich bestimmten Identität“ und unterlaufen sie damit auch gleichzeitig, da sie (im besten Falle) die „Imitationsstruktur“ von Geschlecht offenbaren und derart zeigen, dass Geschlecht kein „Original“ besitzt (Butler 1991: 201ff.). Butler geht es demnach auch um eine Vervielfältigung von geschlechtlichen und sexuellen Existenz- und Begehrensweisen und damit einhergehend um eine „Politik der Verschiebung normativer Geschlechtsbedeutungen“ (Bublitz 2002: 80). Auch in Körper von Gewicht (1995) 16 sowie in Die Macht der Geschlechternormen (2009a) verweist Butler auf die destabilisierende Macht unterschiedlicher lesbischer, schwuler, „queerer“ und „trans*10“-(Begehrens-)Praxen. Ihre Überlegungen umfassen in diesem Kontext sowohl die Analyse der subversiven Resignifizierung der androzentrischen Bedeutung des Phallus (der Penis ist der Phallus) durch lesbische Begehrenspraxen als auch Diskussionen unterschiedlicher nichtkonformer Begehrens- und Körperpraxen von Personen, welche mit ihrem gender die Regeln der Kohärenz und Kontinuität stören. Denn was passiert, so Butler, „wenn ein feminisierter heterosexueller Mann eine feminisierte Frau möchte, damit sie ‚zusammen Mädchen‘ sein können […] oder wenn Butch mit Butch eine spezielle lesbische Ausprägung männlicher Homosexualität hervorbringt?“ (Butler 2009a: 131). Zentraler Kern all dieser Überlegungen bildet die Annahme, dass diese Praxen sowohl die ‚Künstlichkeit‘ und Instabilität der heterosexuellen Geschlechterdifferenz entlarven und sichtbar machen (können) und dabei gleichzeitig auch andere Möglichkeiten intelligibel erscheinen lassen, Geschlecht(er) und Sexualität(en) und Begehren zu denken, zu interpretieren und zu leben. Das heißt, für Butler geht es letztlich auch um eine diskursive und politische Erweiterung dessen, was oder „wer ich für mich sein könnte“ (Butler 2003: 121, Hervorh. i. Org.). „Die Behauptung, dass Butch, Femme und Transgender keine wesentlichen Bezugsgrößen für eine Umgestaltung des politischen Lebens und für eine gerechtere und fairere Gesellschaft sind, verkennt die Gewalt, der Individuen mit untypischem Gender in der Öffentlichkeit ausgesetzt sind und verkennt ebenfalls, dass die Verkörperung eine Reihe umstrittener Normen zum Ausdruck bringt, die darüber bestimmen, wer in der Sphäre der Politik als ein existenzfähiges Subjekt zu gelten hat. Wenn wir bedenken, dass menschliche Körper nicht ohne den Bezug auf etwas Ideelles erfahren werden, einen Rahmen für die Erfahrung selbst [darstellt], und dass dies sowohl für die Erfahrung des eigenen Körpers als auch für die eines anderen Körpers zutrifft, und wenn wir akzeptieren, dass dieses Ideelle und der Rahmen sozial artikuliert sind, können wir in der Tat erkennen, wie es kommt, dass die Verkörperung ohne Bezug auf die Norm oder einen Satz von Normen nicht denkbar ist. Der Kampf darum, die Normen zu verändern, durch die Körper erfahren werden, ist daher […] entscheidend […], insoweit sie die zwangsweise auferlegten Ideale, wie Körper zu sein haben, in Frage stellen. Das verkörperte Verhältnis zur Norm verfügt über ein transformatives Potential. Möglichkeiten jenseits der Norm oder sogar eine andere Zukunft für die Norm selbst zu 10 Das Symbol * (‚Sternchen‘) wird in queeren Theorie- und Bewegungskontexten dafür verwendet, um eine prinzipielle Unabgeschlossenheit jeglicher geschlechtlicher und sexueller Identitäten, Kategorien und Bezeichnungspraxen anzuzeigen und einen Raum zwischen den Geschlechtern sichtbar zu machen. In diesem Fall steht das ‚Sternchen‘ für eine Diversität an geschlechtlichen Identifizierungen jenseits von Gender (trans*gender). 17 postulieren ist Teil der Phantasietätigkeit, wenn wir Phantasie so verstehen, dass sie den Körper zum Ausgangspunkt für eine Artikulation nimmt, die nicht immer vom Körper beschränkt ist, so wie er nun mal ist“ (Butler 2009a: 51f.).15 Butler spricht sich damit auch – entgegen vieler populistischer Rezeptionen – keineswegs gegen die politische Nutzung von (antinormativen) Identitätskategorien – also der subversiven Umwendung von „verletzenden Bezeichnungen“16 (wie z.B. ‚Frauen‘, ‚Lesben‘, ‚Schwule‘) – aus. In Haß spricht (2006a) zeigt sie beispielsweise, wie beleidigende oder verletzende Anrufungen gegen sich selbst gewendet werden und damit auch subversive Kraft entfalten können. Andererseits betont sie jedoch auch die Notwendigkeit, diese (antinormativen) Identitätskategorien nicht ontologisch oder abschließend zu definieren und somit auch für Neu- und Umdeutungen offenzuhalten. Nur dadurch könnten die subversiven Möglichkeiten dieser Identitätskategorien ausgeschöpft und ins Feld des Politischen überführt werden. Während Butler in Das Unbehagen der Geschlechter (1991), Körper von Gewicht (1995) und Die Macht der Geschlechternormen (2009a) Widerstand vorwiegend in destabilisierenden Geschlechter-, Körper- und Begehrenspraxen verortet, untersucht sie hingegen in „Psyche der Macht“ (2002) auch die subversive Macht jenes „innerpsychischen“ Begehrens, das, um als intelligibles, geschlechtliches Subjekt existieren zu können, verworfen und verleugnet werden muss. In kritischer Re-Lektüre psychoanalytischer Theorien17 geht Butler davon aus, dass mit jeder Verwerfung – z.B. eines möglichen homosexuellen Begehrens – eine „Melancholie“ einhergehe, „eine unabgeschlossene und unlösbare Trauer“ ob der verlorenen Möglichkeiten durch die heterosexuelle Zurichtung (Butler 2001: 27). Das „Subjekt verdankt seine spezifische Existenz“ demnach „einem notwendigen Verlust anderer Existenzen“, ist also „nicht frei, der oder die zu sein, der oder die es sein möchte“ (Villa 2003: 51). Dieser Verlust werde jedoch nach Butler nicht als Verlust erkannt, äußert sich aber in einem ständigen Begehren nach „Unterwerfung“, einer Identifizierung mit der Macht der Unterwerfung und der Erzeugung von „Alterität“ (Butler 2001: 24ff.). Der „Verlust“ und die damit einhergehende „Melancholie“ ist daher einerseits die Konstitutionsbedingung intelligibler Geschlechter, andererseits aber auch eine „Rebellion“, die zwar „niedergeworfen wurde“, die aber durch die „Verlustspur“ trotzdem destabilisierend wirken könne, da ihr der Status der Unberechenbarkeit innewohne. Denn Verluste tauchen als „melancholische ‚Erinnerung‘ im 15 Butlers theoretischer Anspruch wird in diesem Zusammenhang von der Beobachtung und Einsicht geleitet, dass eine Vielzahl an destabilisierenden/subversiven Körper-, Geschlechter- und Begehrenspraxen bereits in unterschiedlichen sozialen Bewegungen Realität ist und auf unterschiedlichen Ebenen gender trouble stiftet oder gestiftet hat. 16 Mit ihrer Diskussion um „verletzende Äußerungen“ zeigt Butler darüber hinaus auf, inwieweit die Tatsache, dass Worte und Sprache „verletzen“ können, damit auch gerade die These von einer diskursiv-sprachlichen Existenz des Körpers untermauert (Butler 2006a). 17 Butler bezieht sich unter anderem auf Sigmund Freud und Jacques Lacan. 18 Subjekt auf“ (Villa 2003: 49). Spannend und theoretisch höchst umstritten bleibt hier Butlers an Spinoza anschließende „spekulative Annahme“, wie sie selbst in einem Interview angibt, dass jede menschliche Existenz einen psychischen (Begehrens-)Teil aufweist, der damit nicht vollständig durch die Macht des Diskurses bestimmt und geformt ist (Bublitz 2002: 126). Der „Verlust“ an möglichen Existenzen wird bei Butler jedoch nicht nur als „innerpsychische“ Unberechenbarkeit zugeschrieben, sondern er hat auch politisches Transformationspotential, wenn die Trauer über diese Verluste „anerkannt“ wird und man sich ihr „stellt“ (Butler 2005: 38). Durch die Anerkennung dieses Verlustes kann man „verändert [werden], möglicherweise für immer“ (Butler 2005: 38). Im Englischen bezeichnet Butler diese politisch bedeutende, transformative Form der Betrauerung und Anerkennung des Verlustes auch als Prozess des being undone (Butler 2005: 38; 2009a). 3.2 Fragmentierte (feministische) Subjekte und postsouveräne Handlungsfähigkeit Ausgehend von der Instabilität jeder (geschlechtlichen) Identifizierung versucht Judith Butler in ihren Werken somit auch ein ‚Subjekt‘ zu konzipieren, das sich nicht dem „Trugbild der Souveränität“ (Butler 2006a: 29) hingibt, sondern das Widerstand und Handlungsmacht gerade im Feld der Ambivalenz von Anrufung und Performativität sowie der Anerkennung und Trauer um den Verlust bestimmter Existenzen oder Begehren entfaltet. Sie teilt damit die von vielen Feministinnen und Butler-KritikerInnen vertretene Ansicht nicht, dass es für die Veränderung der gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse ein weibliches Subjekt bräuchte, das seine Handlungsfähigkeit „durch den Rückgriff auf ein vordiskursives ‚Ich‘“ begründet (Butler 1991: 210). Butler plädiert dagegen für eine nichtdeterministische Subjektkonstitution und setzt feministische und politische Handlungsmacht dort an, „wo die Souveränität schwindet“ (Butler 2006a: 55). Sie wendet sich explizit gegen modernistische bzw. liberale Vorstellungen von einem ontologisch-freien, autonomen und mit sich selbst identischen Subjekt (Butler 2006a: 151). „Wir sind“, so Butler, „außerhalb von uns, begründet in kulturellen Normen, die uns vorausgehen und über uns hinausgehen, einer Anzahl kultureller Normen und einem Feld der Macht ausgeliefert, die uns grundlegend bedingen“ (Butler 2005: 63). Diese kulturellen Normen und Diskurse determinieren ‚uns‘ jedoch nicht, sondern im Gegenteil lassen sie Spielraum für politischen Widerstand und Handlungsfähigkeit. Für Butler entsteht also dann „kritische Handlungsfähigkeit“, wenn sich „das Subjekt als abhängig und verstrickt anerkennt“ (Villa 2001: 55). Sie konzeptualisiert ein postsouveränes (politisches) (Widerstands-)Subjekt, das sich nicht mehr notwendigerweise als autonom und 19 frei begreift, sondern sich im „Spannungsfeld von diskursiver Konstitution und sprachlicher Reiteration […] der geschichtlichen Füllung und Prägung“ jeglicher politischer Begrifflichkeiten, Sprachen und Handlungen bewusst ist, gleichzeitig aber auch in diesen permanenten sprachlichen Deutungskampf einsteigt (Villa 2003: 57). Denn eine Einsicht und Akzeptanz in die „Konstruktion“ von Identitäten stehe eben „nicht im Gegensatz zur Handlungsmöglichkeit, sondern ist deren notwendige Bühne, die Bedingungen, in denen sich die Handlungsmöglichkeit artikuliert und kulturell intelligibel wird“ (Butler 1991: 216). Dies impliziert für Butler somit auch die „Aussetzung der Forderung nach Selbstidentität“ und nach „vollständiger Kohärenz“ – sowohl bei jeder und jedem Einzelnen selbst, als auch bei dem Gegenüber (Butler 1991: 55). Ihre Politik des Performativen basiert damit auf einer fundamentalen Destabilisierung und Infragestellung von (politischen) Identitäts- und Repräsentationskonzepten. Butler konzipiert darauf aufbauend feministischen Widerstand und Handlungsfähigkeit nicht mehr entlang eines sexuell und geschlechtlich bestimmten Körpers ‚Frau‘, sondern entlang einer „politische[n] Gestalt der ‚Frau(en)‘“, die aber niemals als abgeschlossen oder eindeutig definierbar gelten kann oder soll (Butler 1991: 190; vgl. Stone 2005). Somit gibt es bei Butler auch keine Interessen und Perspektiven, die genuin ‚weiblich‘ wären, sondern sie sieht das Projekt Feminismus als politische Bewegung, die auch (weiter) daran arbeiten sollte, die „Geschlechter-Binarität in Verwirrung“ zu bringen und ihre „grundlegende Unnatürlichkeit“ zu enthüllen (Butler 1991: 218). Dabei geht es ihr aber keinesfalls darum, den Feminismus zu unterminieren, „sondern ihn durch Kritik und durch eine Öffnung für neue Koalitionen zu stärken“ (Creutzburg 2009: 466). Vielleicht, so Butler, ist daher auch die „Desidentifizierung für die Neuartikulierung der demokratischen Auseinandersetzung“ von ebenso entscheidender Bedeutung oder sogar insgesamt nachhaltiger als der Kampf mit bzw. um Identitätskategorien (Butler 1995: 24). Das bedeutet für Butler jedoch keinesfalls, den Begriff Feminismus oder feministische Theorien aufzugeben, aber beides muss und soll umkämpft werden und bleiben, um keine universalistischen feministischen Prämissen zu konstituieren (Butler 2009a: 286f.). Butler sieht feministische Politik also daran beteiligt, eine „kritische Genealogie der Naturalisierung des Geschlechts und der Körper“ politisch umzusetzen bzw. als Grundlage von Politik selbst zu nehmen. Diese performative feministische Politik verortet Butler jedoch nicht im Kontext der „Autorität des Staates“ durch eine „Berufung auf die Legitimität des Staates“, sondern eher als „antiautoritäre“ Handlung (Butler 2001: 11). Diese Notwendigkeit 20 einer staatskritischen Haltung betont Butler explizit in Haß spricht (2006a)18 und in Antigones Verlangen (2001), sie schließt aber auch in ihren anderen Werken vornehmlich an die Praxis eher ‚antistaatlich‘ organisierter, sozialer Bewegungen an (vgl. Creutzburg 2009: 482). Butler geht es daher im Unterschied zu einigen anderen feministischen TheoretikerInnen nicht (nur) um eine einfache Gleichstellung der Geschlechter unter bestehenden politischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen, sondern um eine grundsätzliche Aushebelung, Destabilisierung und Vervielfältigung von Geschlechts- und Geschlechternormen selbst. Diese neue Art der feministischen Politik konzipiert sie in Antigones Verlangen (2001) entlang der widersprüchlichen Figur der Antigone, weist doch diese „nicht in Richtung einer Politik als Frage der Repräsentation, sondern in Richtung der politischen Möglichkeit, die sich eröffnet, wenn die Grenzen der Repräsentation selber zutage treten“ (Butler 2001: 13). Die englischen Titel von Das Unbehagen der Geschlechter und Die Macht der Geschlechternormen zeigen demnach auch programmatisch Butlers feministische Stoßrichtung an: Gender Trouble als politische und epistemologische Grundlage für eine performative, feministische Politik eines Undoing Gender. 3.3. Für eine Ethik der Verletzbarkeit jenseits von Geschlechterzwängen Die weltpolitischen Ereignisse seit dem 11. September 2001, insbesondere die Ausrufung eines „Krieges gegen den Terror“ sowie dessen Auswirkungen auf den Nahen Osten und Israel/die Palästinensischen Autonomiegebiete haben Judith Butler in den letzten Jahren vermehrt dazu veranlasst, „ethische Fragestellungen“ sowie das Verhältnis von Moral, Moralphilosophie und Politik verstärkt in den Blick zu nehmen (Butler 2003, 2005, 2006b, 2009a, 2009b, 2010, 2012). Auch wenn sie in diesen moralphilosophischen Überlegungen nicht durchgehend einen expliziten Bezug zu geschlechter- und sexualitätstheoretischen Fragestellungen herstellt (die Ausnahme bildet Die Macht der Geschlechternormen (2009a)), basieren ihre ethischen Konzeptionen auf ihren früheren subjekt- und performativitätstheoretischen Analysen einer heterosexuellen Geschlechterbinarität und der permanenten Instabilität jeder Identität (vgl. Rushing 2010). Butler schließt mit ihrer „Ethik der Verletzbarkeit“ zudem an ihre Konzeption eines postsouveränen Subjekts an, das durch die Einsicht in die eigene Verletzlichkeit und soziale Abhängigkeit geleitet ist. Denn wie sie 18 In Haß spricht argumentiert Butler deswegen auch vehement gegen eine Zensur (u.a. von Pornographie) durch den Staat, weil derart die Definitionsmacht beim Staate bleibt und somit auch gegen subversive Sprachen eingesetzt werden kann (wie z.B. lesbische Pornographie). 21 in Kritik der ethischen Gewalt eindrucksvoll formuliert: „[Man] muss nicht souverän sein, um moralisch zu handeln; vielmehr muss man seine Souveränität einbüßen, um menschlich zu werden“ (Butler 2003: 11). Geschlechtertheoretisch interessant ist in diesem Kontext vor allem ihre Frage nach der Bedeutung von Geschlechts- und Geschlechtereindeutigkeit sowie (Hetero-)Sexualität für die Konstituierung eines „anerkennbar Menschliche[n]“ und der Definition eines „lebens- und schützenswerten Lebens“ an sich (Butler 2009a: 11). „What will and will not constitute an intelligible life, and how do presumptions about normative gender and sexuality determine in advance what will qualify as the ‚human‘ and the ‚livable‘? In other words, how do normative gender presumptions work to delimit the very field of description that we have for the human?“ (Butler 1999b: xxii). Ein zentraler Fokus in Butlers Überlegungen bleibt somit die Frage der Verwerfung und Verleugnung von jenen (geschlechtlichen und sexuellen) Existenzweisen/Körpern/Identitäten, die in hegemonialen Definitionen ‚des Menschen/Menschlichen‘ als nicht ‚lebens- oder schützenswert‘ definiert werden (Butler 2005; 2009a; 2010). Deren Leben und Körper sind vor dem Hintergrund gewaltvoller Geschlechternormen daher besonders ‚gefährdet‘ und ‚prekär‘. Gefährdung und Verletzbarkeit (precarity) ist unter den aktuellen politischen Herrschaftsverhältnissen also ungleich verteilt, werden doch „bestimmte Menschenleben […] in hohem Maße vor Verletzung geschützt“, während „andere Menschenleben […] nicht so schnell und entschlossen Unterstützung finden und [...] nicht einmal als ‚betrauernswert‘ gelten“ (Butler 2009b: 49). Bestimmte Existenzen sind aufgrund politischer und sozialer Normen, Umstände und Strukturen in dieser Welt also gefährdet(er) als andere und gelten jeweils als weniger oder gar nicht ‚lebenswert‘. Sie werden entweder nicht als richtige oder vollwertige ‚Menschen‘ – z.B. im Rahmen der Menschenrechte – definiert, oder sie gelten als ‚unechte‘ oder ‚unwahre‘ Menschen, da sich ihr Geschlecht und ihr Begehren nicht entlang der Regeln der heteronormativen Matrix, also von Diskursen der Geschlechterwahrheit formiert (Butler 2009a). Die precarity dieser „Menschenleben“ manifestiert sich nun, wie Butler auch bereits in ihren früheren Werken „Menschenleben“ deutlich machte, fungieren als anhand das verschiedener „verworfene „Phänomene“: Andere“ und Prekäre somit als Konstitutionsbedingung des „Normalen“ (Butler 1995: 21–49). Deren geschlechtliche Existenzen und/oder sexuelle Begehrensweisen gelten als „nicht denkbar“, oder es gibt keine nichtverletzenden Begriffe, um ihre Existenz zu beschreiben (Butler 1995, 2006a). Und prekäre Menschenleben werden nicht öffentlich betrauert, ihr Tod gilt nicht als Verlust, wie 22 dies Butler insbesondere in Bezugnahme auf die steigende Homophobie während der „AIDSKrise“ in den USA sowie in Bezugnahme auf den Krieg gegen den Terror darlegte (Butler 1991, 2006a). Butler nimmt dieses Faktum einer precarity bestimmter (verworfener) Existenzweisen nun als Ausgangspunkt für ihr Nachdenken über ethische Grundsätze. Kern ihrer Überlegungen bildet dabei die Frage, wie und in welcher Weise gefährdende und verletzende politische und soziale Praxen minimiert werden können. Wie kann also eine Welt geschaffen werden, „in der diejenigen, die ihre Geschlechtsidentität und ihr Begehren als nicht konform verstehen, nicht nur ohne Gewaltandrohung der Außenwelt leben und gedeihen können, sondern auch ohne das allgegenwärtige Gefühl der Unwirklichkeit?“ (Butler 2009a: 347). Eine zentrale Grundbedingung für die Entwicklung einer Ethik, die dies ermöglichen könnte, ortet Butler nun in der Anerkennung der grundsätzlichen Unhintergehbarkeit menschlicher Verletzlichkeit19 (precariousness) und der Akzeptanz einer postsouveränen Existenz, in der die grundlegende Abhängigkeit des Menschen von sozialen Normen sowie die Anerkennung durch ‚das Andere‘ nicht mehr verleugnet werden (Butler 2003, 2005, 2009a). „Jeder ist gefährdet, und das ist Folge unserer sozialen Existenz als leibliche Menschen“, so Butler (2012: 702). Nach Auffassung Butlers setzen daher „womöglich alle ethischen Ansprüche ein leibliches, als verletzbar verstandenes Leben voraus“ (Butler 2012: 701). Sie will damit auch nicht die Angst vor der Gefährdung und Verletzlichkeit des Lebens als Ausgangspunkt sehen, sondern die Anerkennung der gemeinsamen und geteilten Verletzlichkeit und Abhängigkeit als normativen Ausgangspunkt für die Formulierung ethischer Positionen und der damit verbundenen Kritik von gefährdenden Herrschaftsverhältnissen verstanden wissen (Butler 2005: 60ff.). „Zum Verständnis der Unterdrückung von Menschenleben gehört es gerade zu begreifen, dass es keine Möglichkeit gibt, diese Bedingung einer primären Verletzlichkeit wegzudiskutieren […]. Um Unterdrückung bekämpfen zu können, muss man verstehen, dass Menschenleben nicht gleichmäßig unterstützt und aufrechterhalten werden, dass die physische Verletzbarkeit auf dem Globus vollkommen unterschiedlich verteilt ist“ (Butler 2009a: 45). Butlers ethische Position lässt sich demnach als ein Kampf gegen die Ungleichverteilung und somit Minimierung von Gefährdung und einer Anerkennung der geteilten precariousness auf den Punkt bringen: Nach Butler sei die „Aufgabe von Politik, den Zustand der Gefährdetheit auf egalitäre Weise zu begrenzen“ (Butler 2009b: 40). Eine „radikal demokratische Politik“ sollte also bestrebt sein, „solche Normen [...] auszudehnen […], die ein bewältigbares Leben unterstützen“ (Butler 2009a: 356). 19 Hier klingt deutlich Judith Butlers Bezug auf Hannah Arendt an (vgl. Butler 2012). 23 In Bezug auf heteronormative Geschlechter- und Begehrensnormen würde das folglich implizieren, dass die Verwerfung des „Anderen“ nicht mehr zur Konstitutionsbedingung des eigenen (geschlechtlichen und sexuellen) „Selbst“ gemacht wird bzw. werden kann. Das heißt, für Butler geht es letztlich auch um eine diskursive und politische Erweiterung dessen, was oder „wer ich für mich sein könnte“ (Butler 2003: 121, Hervorh. i. Org.). „It would be an ethic that only avows the desire to live but recognizes that desiring life means desiring life for you, a desire that entails producing the political conditions for life that will allow for regenerated alliances that have no final form, in which the body, and bodies, in their precariousness and their promise, indeed, even in what might be called their ethics, incite one another to live“ (Butler 2006b: 130). Mit einer solchen ethischen Konzeption geht es also nicht mehr darum, die Anerkennung von nichtnormativen Geschlechtern und Begehrensformen unter bestehenden politischen Systemen einzufordern, sondern deren precarity wird zum Ausgangspunkt für eine Neukonzeption bzw. Transformation der Anerkennungsbedingungen selbst. Die ethischen Orientierungen Butlers beziehen sich damit „auf eine Vision von irreduziblen pluralen Gesellschaften, in denen ein ethisches Leben zu leben bedeutet, das Begehren zu pflegen, die/das/den Andere_ kennenzulernen und in seinem Sein bewahren zu wollen sowie bereit zu sein, sich von diesem Leben, den Begegnungen und den Verlusten verändern zu lassen“ (Thiessen 2013: 197). Es geht hierbei jedoch nicht (nur) um einen individuellen oder interpersonellen Akt der Anerkennung, sondern um eine (politische) Reflexion dessen, inwiefern das Gegenüber, in dem „Schema des Menschlichen, in dem ich mich bewege, in Frage kommt“ (Butler 2003: 144). Butlers Ethik wird demnach auch oftmals unter den Schlagworten einer „Ethik der Differenz“ oder der „Alterität“ diskutiert, grundlegend dabei bleibt jedoch die unbedingte Verbindung von ethischen Überlegungen mit einer Kritik an der Gewalt von Geschlechterkonstruktionen, damit verbundenen Ungleichheiten, Identitätszwängen sowie der politischen und diskursiven Begrenzung von Existenzen. Butler weigert sich jedoch im Zusammenhang mit ihren ethischen Überlegungen, universale normative Positionen zu entwerfen, verortet sie doch in teleologischen Ethiken grundsätzlich ein antidemokratisches Element (vgl. Salih 2002: 4). Demgegenüber betont sie die Bedeutung von Agonalität und Verhandlungsoffenheit für die Gestaltung dieser „humanen“ Normen in der Zukunft. Butler steht somit für eine Politik und Ethik des Gegenwärtigen, in der Bedeutungen stets verhandelt und umkämpft werden sowie als unabgeschlossen gelten (sollen). 24 4. Rezeption und Wirkung Judith Butler kann sicherlich zu den einflussreichsten zeitgenössischen (feministischen) politischen Theoretikerinnen gezählt werden. Kaum eine feministische Autorin, vielleicht mit Ausnahme von Simone de Beauvoir, wurde innerhalb des feministischen Theorie- und Bewegungskontextes so breit rezipiert, diskutiert und wahrgenommen wie Judith Butler (Villa 2003: 127). Auch wenn Butler selbst angibt, Das Unbehagen der Geschlechter (1991) für ein kleines Publikum geschrieben zu haben20, mit der Intention, eine innerfeministische Debatte anzustoßen, ist das Werk mittlerweile in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt und aus dem akademischen Lehr- und Forschungsbetrieb nicht mehr wegzudenken (Redecker 2011: 141). Ihr performatives Subjekt- und Geschlechterverständnis, ihre fundamentale Radikalisierung der (feministischen) sex-gender-Unterscheidung ebenso wie die zahlreichen Repliken über und Kritiken an Butlers Ansätzen haben nicht nur den feministischen Theoriekontext maßgeblich geprägt, sondern fanden auch außerhalb der Gender Studies Eingang in die akademische und politische Debatte. Dies mutet, wie Paula-Irene Villa schreibt, eigentlich „paradox“ an, scheinen doch „weder ihr sprachlicher Stil noch ihre bevorzugten Gegenstände […] dafür geschaffen, eine breite Leserschaft anzusprechen“ (Villa 2003: 127). Zeichnete sich die deutschsprachige Rezeption in den 1990er-Jahren vor allem durch „starke Vorbehalte“ und Geschlechterverständnisses grundlegende aus Kritiken (Redecker 2011: ihres 142), dekonstruktivistischen so präsentiert sich die geschlechtertheoretische Diskussion heute eher fokussiert auf Leerstellen und Verkürzungen sowie mögliche Entwicklungs- und Anwendungsperspektiven. Die am häufigsten vorgebrachten Kritiken zentrieren sich jedoch nach wie vor um die mangelnde historische und geopolitische Verortung ihrer Ansätze (inklusive der Marginalisierung von Rassialisierung und Klassenaspekten) sowie insgesamt auf die fehlende empirische bzw. handlungstheoretische und materiell-ökonomische Fundierung ihrer Thesen (vgl. Villa 2003: 127–150; Bublitz 2002: 117ff.; Redecker 2011: 141–154). Butlers sprach- und performativitätstheoretischer Fokus auf diskursive und symbolische (Anerkennungs-)Praxen brachte Butler daher (zu Recht) die Kritik ein, die Wirkkraft und Funktionsweisen politischer Institutionen (wie dem Staat) sowie ökonomischer Strukturen und kapitalistischer (Produktions-)Verhältnisse sowie insgesamt Herrschaftsverhältnisse zu vernachlässigen und derart keine hinreichende sozialstrukturelle Untermauerung ihrer Thesen anzubieten (vgl. 20 In Die Macht der Geschlechternormen spricht sie von einer „Handvoll Freunde […] von einhundert oder zweihundert Leuten“ (Butler 2009a: 329). 25 Villa 2003: 132ff.; Sauer 2009; Ludwig 2011). Auch wenn hierbei argumentiert werden könnte, dass Butler als Philosophin nicht der sozialwissenschaftlichen Empirik verpflichtet ist, so beeinflusste und beeinflusst ihre Herangehensweise jedoch auch nachhaltig Arbeitsweisen und Perspektiven innerhalb des feministischen Theoriekontextes. So zeigten sich einige deutschsprachige feministische Theoretikerinnen, welche bereits seit Anfang der 1990er-Jahre – noch vor Erscheinen von Judith Butlers „Das Unbehagen der Geschlechter“ – zu konstruktivistischen Fragestellungen arbeiteten, verärgert über „das höchst oberflächliche und ärgerliche Buch von Judith Butler als Bezugsschrift [… für] Prozesse der Konstruktion von Geschlecht“ (Hagemann-White 1993: 69). Durch die Prominenz der Butlerʼschen Geschlechtertheorie geraten insbesondere sozialwissenschaftliche und materialistische Theorien und Ansätze zur Konstruktion von Geschlecht und Sexualität aus dem Blickfeld, wenngleich diese oftmals – oder auch in Ergänzung zu Butlers Werken – besser dazu geeignet wären, soziale, ökonomische und institutionelle Prozesse in Hinblick auf die Herstellung von Geschlechts- und Geschlechtereindeutigkeit sowie Heteronormativität zu analysieren. Birgit Sauer konstatiert daher eine relative „Begrenztheit von Butlers Theorie für Politikanalysen“, arbeite sie doch mit einem „verengten Machtbegriff“ sowie einem „verkürzten“ und „unterkomplexen Staatsbegriff“, da sie materielle Praxen wie Produktions- und Arbeitsverhältnisse ausblende und den Staat lediglich als „juridische Macht“ denke (Sauer 2009: 162ff.). Gleichzeitig waren einige frühen Kritiken an Butlers Werken jedoch auch selbst von einer erstaunlichen Leerstelle geprägt: nämlich von der fast vollständigen Ausblendung ihrer fundierten heteronormativitätskritischen Analyse der konstitutiven Funktion von Begehren bzw. (Hetero-)Sexualität für die Herstellung von „intelligiblen“ und anerkannten Geschlechtern (Soine 1999; Hark 2004; Klapeer 2007). Diese „homosexualitätsfreie Rezeption von Butler“ hatte daher insgesamt eine theoretische Verkürzung der Kategorie Geschlecht „um den Aspekt der gesellschaftlich bedingten sexuellen Bedeutungs- und Organisationszusammenhänge“, in die Geschlecht eingeschrieben ist, zur Folge (Soine 1999: 11f.). Als Folge dieser Marginalisierung der Kategorie „Sexualität“ bzw. von Heteronormativität innerhalb des deutschsprachigen feministischen Theoriekontextes konstituierte sich Mitte der 1990er-Jahre zunehmend ein (Theorie-)Feld, das sich mit dem Begriff „queer“ beschreiben lässt (vgl. Hark 2005: 319). International gilt Judith Butler auch als eine der wichtigsten ReferenzautorInnen für die sogenannte Queer Theory, wenngleich die deutschsprachige Queer-Forschung im Gegensatz zu anderen „queeren“ Theoriekontexten als „ausgesprochen Butler-fixiert“ gelten kann (Redecker 2011: 145). 26 Aktuell sind die Fronten zwischen Butler-KritikerInnen und ihren VerfechterInnen bei Weitem nicht mehr so eindeutig oder heftig wie Anfang und Mitte der 1990er-Jahre. Eher könnte aktuell von einer kritischen und reflexiven Rezeption gesprochen werden, in der die Begrenztheit und die Leerstellen von Butlers Werk diskutiert und aufgezeigt werden, gleichzeitig aber auch das Potential ihrer Theorien betont wird. Dies gilt insbesondere auch für die Anwendung und Rezeption Butlerʼscher Theoreme im Feld feministischer Politischer Theorien (vgl. Sauer 2009; Chambers/Carver 2008). Die Dekonstruktion und Politisierung einer als natürlich gedachten und als heterosexuell konzipierten Zweigeschlechtlichkeit sowie Butlers Konzept einer normativen Gewalt werden als analytischer Zugewinn betont, ihre Staats- und Machtkonzeptionen aber als konzeptionell begrenzt eingestuft und dementsprechend kritisiert (vgl. Sauer 2009). Grundsätzlich ist in diesem Kontext jedoch anzumerken, dass die Mehrheit der feministischen Diskussionen nach wie vor auf Butlers frühere Werke, besonders auf Das Unbehagen der Geschlechter (1991) sowie Körper von Gewicht (1995) fokussiert ist. Butlers neuere Arbeiten finden aktuell nur begrenzt Eingang in die feministische (Politik-)Debatte und werden weit weniger rezipiert (und kritisiert). Interessanterweise entsteht beim Lesen aktueller Publikationen und Rezensionen jedoch der Eindruck, dass gerade jene aktuelleren Werke von Judith Butler, die sich nicht vorwiegend oder explizit geschlechtertheoretischen und/oder feministischen Fragestellungen widmen, auf diesen jedoch aufbauen, innerhalb der ‚allgemeinen‘ politischen Theoriedebatte auf verstärkte Resonanz treffen. Ihre Auseinandersetzung mit Gewalt und ethischen Fragen scheint ihr daher den Weg in die Politische Theorie auf eine neue Art geebnet zu haben. Insofern wird hier freilich wiederum deutlich, dass Rezeptionslinien und die Inklusion einer politischen Theorie in einen Kanon letztlich immer auch im Kontext (wissenschafts-)politischer Rahmenbedingungen analysiert werden muss. Literatur a. verwendete Literatur Bublitz, Hannelore (2002): Judith Butler zur Einführung. Hamburg. Bryson, Valerie (2003): Feminist Political Theory. An Introduction, 2. Auflage. Houndmills. 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Thiessen, Frances (2013): Mit Judith Butler von der Dekonstruktion des Subjekts zur „Ethik der prekären Leben“ als kritische Haltung in der Sozialen Arbeit. S. 187–205 in: Ruth Großmaß/Roland Anhorn (Hrsg.): Kritik der Moralisierung. Theoretische Grundlagen– Diskursethik – Klärungsvorschläge für die berufliche Praxis. Wiesbaden. Villa, Paula-Irene (2001): Sexy Geschlechtskörper. Wiesbaden. Bodies. Eine soziologische Reise durch den Villa, Paula-Irene (2003): Judith Butler. Frankfurt a.M. Villa, Paula-Irene (2008): (De)Konstruktion und Diskurs-Genealogie. Zur Position und Rezeption von Judith Butler. S. 146–158 in: Ruth Becker/Beate Kortendiek (Hrsg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, 2. Auflage. Wiesbaden. Wartenpfuhl, Birgit (1999): Dekonstruktive Bestimmungen von Geschlecht-IdentitätDifferenz jenseits metaphyisischer Gewißheiten: Herausforderungen für feministische Politik und Wissenschaft. 65-82 in: Barbara Holland-Cunz et al. (Hrsg.): Gender and politics: Geschlecht in der feministischen Politikwissenschaft. Leverkusen. b. kommentierte Literatur Primärliteratur – Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter [im Original: Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity (1990)]. Frankfurt a.M. Diese Publikation gilt als das populärste, meitsrezipierteste und einflussreichste Werk von Judith Butler. Hier formuliert Butler die grundlegende These von der diskursiven Konstruktion des Geschlechts durch und im Rahmen einer heterosexuellen Matrix. Ihrer genealogischen Kritik an einem kohärenten, feministischen Subjekts ‚Frau’ schließt sie eine grundlegende Dekonstruktion einer ‚natürlichen‘ Geschlechterbinarität an und dechiffriert Geschlecht als performativen Effekt von soziokulturellen Verfahrensweisen und Diskursen. – (1995): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts [im Original: Bodies that Matter: On the Discursive Limits of Sex [1993]. Berlin. In diesem Werk verfeinert Judith Butler ihre Analyse der Materialität des Geschlechtskörpers und widmet sich genauer den diskursiven Konstitutionsmodi von Geschlecht sowie der Bedeutung von geschlechtlichen Normen und Konventionen für die performative Hervorbringung von Geschlecht(ern). Besondere Bedeutung kommt in diesem Werk dem Prozess der (gewaltvollen) Verwerfung (Abjektion) von solchen Existenzen und Begehrensformen zu, die aus dem Raster kultureller Intelligibilität ‚herausfallen‘. Diese fungieren nach Butler als konstitutive Grundlage und normatives Raster für die Herausbildung anerkannter, intelligibler (Geschlechter-)Subjekte. 30 – (2009a): Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen [im Original: Undoing Gender (2004)]. Frankfurt a.M. In einer Reihe politischer Essays beschäftigt sich Judith Butler hier vor allem mit (Un-)Möglichkeiten, bestehende Geschlechterordnungen und sexuelle Normativitäten zu destablisieren oder zu subvertieren. Butler trägt in dieser Publikation auch expliziter der Bedeutung ihrer Werke und theoretischen Ansätze für LGBTIQs und der Queer Theory Rechnung, da sie ausdrücklich aus der Perspektive von queeren und dissidenten Sexualitäten/Geschlechtern über institutionalisierte Geschlechternormen – wie u.a. Familie, Verwandtschaft, Staatsbürgerschaft – und ihrer Bedeutung für die Reproduktion von Heteronormativität nachdenkt. – (2005): Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt a.M. Ausgehend von der politischen Situation in den USA nach 9/11 entwirft Judith Butler in diesem Essayband eine politische Ethik der Verletzbarkeit und gegenseitigen, menschlichen Abhängigkeit. Besonders spannend sind hier auch ihre Thesen einer ungleichmäßigen ‚Betrauerungswürdigkeit‘ bzw. einer (globalen) Hierarchie von ‚betrauernswerten‘ (Gewalt-)Opfern im Zuge des Irakkrieges und von Guantanamo. Butler vertieft viele dieser Überlegungen zur menschlichen Verletzbarkeit, Prekarität und ‚nicht-betrauernswerten Körpern‘ in ihrem 2009 erschienen „Krieg und Affekt“. Sekundärliteratur Chambers, Samuel A./Carver, Terrell (2008): Judith Butler and Political Theory: Troubling Politics. New York, NY. In diesem Werk wird Judith Butler explizit als politische Denkerin eingeführt und danach gefragt, welche Relevanz und Bedeutung ihren Konzepten und Ansätzen im Kontext politischer Theoriebildung im engeren Sinne zukommt. Die Autoren identifizieren Butler als ‚troublemakerin‘, da ihre Theoreme – z.B. von der Performativität von Geschlecht – zentrale Annahmen politischer Theorien radikal herausfordern. Mit Butler erweitere sich nicht nur die gängige Definition des ‚Politischen‘, so eine zentrale These der Autoren, sondern ihre Theorien enthielten auch ein produktives analytisches Instrumentarium, das andere und neue Perspektiven auf das Politische selbst evoziere. Sauer, Birgit (2009): „Troubling Politics“. Der Beitrag Judith Butlers zu einer feministischen Theoretisierung von Staat, Demokratie und Geschlecht. S. 145–168 in: Michael Hirsch/Rüdiger Voigt (Hrsg.): Der Staat in der Postdemokratie. Staat, Politik, Demokratie und Recht im neueren französischen Denken. Stuttgart. In diesem Beitrag wird der Beitrag Judith Butlers für feministische Politik-, Staats- und Demokratieanalysen kritisch diskutiert. Birgit Sauer zeigt dabei sowohl die analytischen Stärken und den produktiven Impetus von Butlers Werken für feministische Politik- und Herrschaftskritik auf, umreißt aber auch fundiert die problematischen Implikationen ihrer stark diskurs- und performativitätstheoretisch orientierten Ansätze. Butlers Theorie(n) wird demnach auch eine relative Begrenztheit für Politikanalysen konstatiert, da sie mit einem verengten Machtbegriff sowie einem verkürzten und unterkomplexen Staatsbegriff arbeite. Villa, Paula-Irene (2003): Judith Butler. Frankfurt a.M. In dieser Einführung werden jene (geschlechter-)theoretischen Ansätze verständlich und übersichtlich erklärt, die Judith Butler berühmt gemacht haben. Paula-Irene Villa führt geschickt und anschaulich in die Theorie(n) von Butler ein und hilft, die oft sperrigen und abstrakten Begrifflichkeiten und Terminologien, derer sich in Butler häufig bedient, zu entschlüsseln. Außerdem situiert und 31 kommentiert die Autorin die Werke von Butler kritisch, in dem sie auch auf Widersprüche und Leerstellen in ihrem Oeuvre verweist. Stone, Alison (2005): Towards a Genealogical Feminism: A Reading of Judith Butler’s Political Thought. Contemporary Political Theory 4, S. 4–24. In diesem wissenschaftlichen Beitrag beschäftigt sich die Autorin mit den Implikationen Judith Butlers für feministische politische (Bewegungs-)Praktiken und Theorien. Sie argumentiert, dass der zentrale Aspekt in Butlers politischem Denken nicht die Annahme einer Performativität von Geschlecht sei, sondern ihr genealogischer Zugang zu Geschlecht und der Kategorie ‚Frauen‘. Ihr genealogischer Feminismus würde demnach einen kontingente, koalitionäre und materialistische feministische Politik ermöglichen, in der (Frauen*-)Gruppen, die vom Zwang und der Gewalt bestehender Geschlechterund Weiblichkeitsnormen betroffen sind, diese bekämpfen und gleichzeitig überschreiten können. 32