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Affektmodulation Exzessiver Kollektive Im Sicherheitsdispositiv: Die Bürgerwehr

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Christian Helge Peters Affektmodulation exzessiver Kollektive im Sicherheitsdispositiv Conference Paper zur Tagung „Jenseits der Person. Die Subjektivierung kollektiver Subjekte.“ (Universität Leipzig, 06.-08.04.2016) [bitte nur nach Rücksprache mit dem Autor zitieren] Problemaufriss: Affektive Kollektive Ob nun in Hamburg, Memmingen, Leipzig, Schwerin, Delmenhorst, Köln, Hannover, Hildesheim, Düsseldorf, Braunschweig, Hameln, Oldenburg, München, Eisenhüttenstadt oder Radevormwald, überall in Deutschland gibt es mittlerweile Bürgerwehren, die aber auch mal „Bürgerschutz“ oder irgendeine Stadt „…wehrt sich“ heißen. Allein in Niedersachsen gibt es 31 (Speit 2016). Viele von ihnen haben sich als Reaktionen auf die Ereignisse in Köln oder Hamburg in der Silvesternacht gegründet, es gibt sie teilweise aber auch schon wesentlich länger. Auch wenn das der zentrale Aufhänger zu ihrem Engagement ist, betonen sie alle auf ihren Internetauftritten, dass sich die Sicherheitslage in Deutschland dramatisch verschärft hat und es nun an der Zeit sei, endlich selbst für die Sicherheit in Deutschland zu sorgen. Den neu gegründeten Bürgerwehren ist gemeinsam, dass ihre Handlungsweisen und Eigenlogiken verstärkt auf affektive Momente verweisen. Die Dynamiken von Bürgerwehren lassen sich auf Grundlage von Affizierungsprozessen verstehen, die auf einer anderen Ebene verlaufen oder andere Modi von Kollektiven als der der Rationalität, Repräsentation und Bedeutung sind (Lash, 2007; Thoburn, 2007). D. h. Bürgerwehren sind als affektive Kollektive zu verstehen. Affekte sind intensive Prozesse, die zwischen und durch Körper stattfinden, sie verbinden heterogene Körper auf eine ihr spezifische Weise miteinander und beeinflussen sie (Ahmed, 2004a). Der Vortrag nimmt die neueren Entwicklungen in der Selbstermächtigung der Bürger_innen zum Anlass, um genauer die affektiven Dynamiken in Bürgerwehren herauszuarbeiten und sich damit der Thematik zu nähren, wie Affektmodulationen in diesen Kollektiven funktionieren. Der Bezug auf dieses empirische Feld ermöglicht erste explorative Erkenntnisse zu einem untertheoretisierten und zu wenig untersuchtem Themenfeld: Der Eigenregierung der Kollektive im Sicherheitsdispositiv. Foucault selbst und im Anschluss an ihn die governmentality studies betrachten die affektive Dimension der gegenwärtigen Gouvernementalität eigentlich nicht. Neuere Ansätze der Security Studies nehmen dies zum Anlass, um die foucaultschen Untersuchungen zur Gouvernementalität und 1 zum Sicherheitsdispositiv zu reformulieren und zu erweitern, in dem sie den Begriff einer Biopolitik, die auf das „Leben“ (Anderson, 2012) oder die „Umwelt“ (Massumi, 2009) gerichtet ist, als Affektmodulation fassen. Betrachtet man jedoch die unterschiedlichen Untersuchungen zur Regierung im Sicherheitsdispositiv fällt auf, dass fast ausschließlich Regierungstechnologien und ihre Wirkungsweisen auf Subjekte untersucht werden. Wie sich aber die Kollektive genau formieren, bleibt unklar und damit ihre Eigenlogik, also ihr spezifisches Funktionieren. Regierung im Sicherheitsdispositiv meint eben nicht nur ein Regiert-Werden, sondern auch die Selbst-Regierung des Kollektivs, deren Eigenlogik mitberücksichtigt werden muss. So bleibt letztlich offen, welche Merkmale und (Handlungs-)Modi Kollektive „an sich“ aufweisen. Exzessive Kollektive der Gefahrenabwehr: Die Bürgerwehr Am Beispiel von Bürgerwehren in Deutschland soll nun die Affektmodulation eines Kollektivs beschrieben und verstanden werden. Dazu habe ich selbst Material vor allem aus einem Einzelinterview mit einer Bürgerwehr aus Westdeutschland (Fall 1) und einer Gruppendiskussion mit einer ostdeutschen (Fall 2) erhoben. Beide wollen als besonders seriös auftreten und distanzieren sich öffentlich von rechtsextremistischen Bürgerwehren. Darüber hinaus wurden einschlägige Reportagen über Bürgerwehren aus Zeitungen und Fernsehen, die die Aussagen in den Interviews weitestgehend bestätigen, sowie die Facebookauftritte der beiden Bürgerwehren ausgewertet. Dieses Material ermöglicht mir einen ersten vor allem explorativen Einstieg in das Thema. Eine ethnographische Studie zur Praxis der beiden Bürgerwehren steht bedauerlicherweise noch aus. Eine solche Studie würde einen notwendigen eigenen Blick auf die affektiven Dynamiken bekommen, die sich immer wieder einer Verbalisierung der Akteure widersetzt. Der Rückgriff auf Affekte ist besonders vielversprechend, weil sie eine bestimmte Qualität von Beziehungen oder Konnektivität zwischen unterschiedlichen Akteuren sind: Sie erschaffen das Kollektiv auf eine ihr eigentümlichen Weise – Affekte sind ein Emergenzmechanismus und ermöglichen die Aktivierung eines latenten Möglichkeitsraums, den andere Beziehungsformen nicht eröffnen (Deleuze, 2005; Massumi, 2007: S. 33, 227). Mit dem Affektbegriff geraten die Operativität, Dynamiken und Intensitätsverläufe von Kollektiven, Anziehungs- und Abstoßungsprozesse von unterschiedlichen Körpern besonders in den Blick. Körper werden dabei durch ihre Fähigkeiten zu affizieren und affiziert zu werden bestimmt. Ein Affekt verändert den Zustand eines Körpers, er entfaltet ein (neues) Potential. So hat der Affekt einen konkreten Effekt auf individuelle und soziale Praxen. Dabei sind die körperlichen Veränderungen quasi-automatisch. Affekte sind durch Subjekte nicht vollständig kontrollierbar. Weil sie in gewisser Weise „autonom“ (Massumi 2007: 2 23-45) sind, eröffnen sie ein Moment der Indeterminiertheit, der Offenheit des Neuen, der kontingenten Konnektivität im Kollektiv. Wie eine konkrete affektive Reaktion eines Körpers genau aussieht, ist letztlich von der sozialen Situation und den körperlich-individuellen Merkmalen bestimmt. Eine Affektbeziehung kann daher nicht als Stimulus-Response-Modell analysiert werden (Protevi, 2009: S. 3–60). Betrachtet man die Affektmodulation von Bürgerwehren genauer, lassen sich folgende Momente des Funktionierens auffinden: a) Affekte der Angst als Gründungsmoment Die Gründung der untersuchten Bürgerwehren war eine Selbstermächtigung der Aktiven aus der Kraft ihrer Empörung heraus und nicht von der Polizei oder Politik iniziert, wie im Falle der „Sicherheitswachten“ in Bayern oder Sachsen oder der „Freiwillige Polizeidienst“ in Baden-Württemberg (Wurtzbacher, 2004, 2008; Schulte von Drach 2016). Bürgerwehren hingegen organisieren sich selbst und handeln vor allem autonom – „alle Gewalt“ gehe schließlich „vom Volk aus“ (Interview Fall 2). Auch wenn es teilweise Absprachen und wechselseitige Kommunikation gibt, agiert die Bürgerwehr unabhängig von der Polizei. Sie vertrauen der Politik und Polizei nicht mehr, weil sie nicht auf die Bedürfnisse der Bürger_innen eingingen, sie sich nicht gehört fühlen und die Polizei Kriminalität nicht mehr verhindere. In Fall 2 beschreibt jemand diesen Zustand drastisch als „Wachkoma“ auf dem es durch die Selbstorganisation als letztes Mittel „aufzuwachen“ gelte und andere müssten „wachgerüttelt“ (Interview Fall 2) werden, um sich ebenfalls zur Wehr zu setzen (Interview Fall 1). Damit verweisen sie auf das, was Kaufmann (2013: S. 62f.) als „kreative Selbstorganisation“ versteht, da sie eigenständig für die Sicherheit ihrer Gemeinschaft einstehen wollen. Die verbindende Kraft des Affekts ist es, die die Selbstermächtigung ermöglichte und ermöglicht. Es ist die starke Aufladung eines bestimmten Ereignisses durch die Akteure, die dafür gesorgt hat, die Bürgerwehr zu Gründen. Im Fall 1 ist es die Freundin, die auf ihrem Nachhauseweg belästigt wurde, im anderen Fall ist es ein Diebstahl vom Balkon, der das zentrale auslösende Ereignis war. Die affektgeladene Empörung der Akteure über die gesellschaftlichen Veränderungen lässt sich gerade an der Dynamik der Gruppendiskussion von Fall 2 verdeutlichen. Wenn jemand Probleme gesprochen hat, ging es schnell dazu über, dass die Leute sich nicht mehr aussprechen lassen haben, alle durcheinander ihre negativen Erlebnisse ausgetauscht haben und so nichts mehr zu verstehen war. Immer wieder wurden meine konkreten Fragen nicht wirklich beantwortet. Stattdessen wollten alle immer wieder von ihrer Angst und der verschlechterten gesellschaftlichen Lage sprechen. 3 Angst ist das zentrale handlungsleitende Moment der Gruppe (Interview Fall 2), sie wird von Affekten immer wieder getriggert, dann ausgetauscht und dient als zentrales Moment der Verständigung der Gruppe über die gesellschaftlichen Probleme. Die befragten Bürger_innen haben sich demnach nicht aus der Angst vor der Bedrohung zurückgezogen, sondern sich mit Gleichgesinnten solidarisiert und zusammengeschlossen, um ihre „Selbsthilfe“ zu organisieren (Interview Fall 2). Bürger_innen, die glauben „etwas zu verlieren“ zu haben, sind bereit, „sich (wie auch immer) gegenüber den anderen, von denen sie sich ‚alltäglich‘ bedroht wähnen, zur Wehr zu setzen. Diese waschsende Wehr-Bereitschaft greift aktuell eben (relativ) unabhängig von (wie auch immer bestimmbaren) objektiven Risiken und Bedrohungen um sich. Denn die dahinterstehenden Sicherheitsbedürfnisse drücken tatsächliche Befürchtungen und Ängste der Bevölkerung aus“, so Hitzler (2001: S. 121). Sie wollen sich eine Einschüchterung durch „die Flüchtlinge“ nicht mehr bieten lassen, nicht „in meinem eigenen Land“ (Interview Fall 2), wie es eine Person für sich auf den Punkt bringt. Ob es wirklich (objektiv) zu einem Anstieg der Kriminalität gekommen ist, der eine Erhöhung der Kriminalitätsfurcht begründen würde, ist hier aufgrund der affektiven Struktur nicht so wichtig, die Bürgerwehren wissen oder besser fühlen einfach die veränderte Sicherheitslage, den Anstieg von Gewalt(-bereitschaft) und Brutalisierung von Auseinandersetzungen. Es sei so verehrend, dass sie nicht mehr wirklich rausgehen könnten, überall lauern die Gefahren (Interview Fall 1, 2). Ihr Wissen ziehen sie aus vielen persönlichen Erfahrungen, Berichten der Medien und von Bekannten und vermutlich aus dem rechten Magazin Compact. Alle beziehen sich auf schreckliche Kriminalitätsfälle und die Gefahren der Flüchtlingsbewegungen. Affekte der Angst ermöglichen gleichermaßen eine tiefergehende vorbewusste Beeinflussung, die sich hier darin zeigt, dass die Gefahren gar nicht mehr gut argumentativ begründet sein müssen, um zu funktionieren, es reicht vielmehr aus, dass die Akteure einfach Bescheid wissen (Interview Fall 1, 2). Auf Verunsicherung und die scheinbare Verschlechterung der sicherheitspolitischen Lage reagiert der_die Bürger_in „typischerweise mit (teils drastisch) komplexitätsreduzierenden Ursache-Wirkungs-‚Erklärungen‘ und (mehr oder minder eindimensional) darauf bezogenen ‚Maßnahmen‘ zur Bewältigung all dessen, was ihn (vermeintlich) verunsichert.“ (Hitzler, Milanés, 1998: S. 173) Die Erklärung läuft dann folgendermaßen ab, dass die „Unsicherheit aus Gefährdung resultiere, Gefährdung aus Bedrohung und Bedrohung schließlich vorzugsweise aus illegalem (bzw. illegitimen) Handeln anderer.“ (Hitzler, Milanés, 1998: S. 173) Im Fall 2 sind es ausschließlich „die Flüchtlinge“, die das Problem seien (Interview Fall 2). In Fall 1 ist die Person vorsichtiger, hier sind es erstmal allgemein „die Kriminellen“ und nur selten Flüchtlinge (Interview Fall 1). Aufgrund seiner rassistischen Stereotype markiert er „die Flüchtlinge“ dabei verdeckter auch als zentrales Problem. 4 b) Affektive Besetzungen des „Außen“ und „Innen“ Bürgerwehren konstituieren sich in Bezug auf eine imaginierte existentielle Bedrohung, einen äußeren/inneren Feind wie den „Flüchtling“, der für sie gleichzeitig auch der „Terrorist“ und „Verbrecher“ mit Perversionen und schädlichen sexuellen Neigungen sein kann (Interview Fall 2). Diese Figur funktioniert hier ist als ein Moment affektiver Vereinheitlichung und Zentralisierung. Es ist das „Fremde“, „Andere“ in der nächsten Umgebung, das als bedrohlich für die eigene Identität, traditionelle Gewissheiten, eigene Ordnungsvorstellungen, ökonomische Ressourcen und damit zu einem „Verlust von Geborgenheit und Gelassenheit“ (Hitzler, 1997: S. 184) führt und deshalb misstrauisch als verdächtig beobachtet wird (Hitzler, 2001: S. 127). Denn die Gemeinschaft ist der schöne Platz, an dem die Akteure sich wohl und sicher fühlten bzw. fühlen (Interview Fall 2). Die Akteure der Bürgerwehr bedienen sich hier deutlich rassistischer Vorurteile und geben damit Auskunft darüber, dass Ideologien nur dann wirkmächtig sind, wenn sie affektiv, fühlbar und leidenschaftlich sind (Eagleton, 1993). Erst wenn es keine „gefährlichen“ Subjekte mehr gebe, wäre das Ziel der Bürgerwehren erreicht. Doch sie glauben selbst nicht daran, dass es jemals möglich sein könnte (Interview Fall 2). Ohne diese Außen würde sich auch ihre affektive Gemeinschaft nicht so konstituieren können. Ein anderes Subjekt ist nicht aus sich heraus gefährlich. Durch die Zirkulation von Angst wird ein Subjekt erst angsteinflößend und gefährlich. Die zirkulierende Angst besetzt ein Objekt und rekonstituiert sich dort, das Objekt wird gleichzeitig mit bestimmten negativen Attributen und Stereotypen belegt (Ahmed, 2004a: S. 126ff., 2004c: S. 62ff.). Im Fall der Bürgerwehren sind es die Flüchtlinge, die aufgrund ihrer wahlweise ethnischen oder kulturellen Herkunft nicht zu Deutschland passen und schwerwiegende Konflikte auslösen würden (Interview Fall 1, 2). Affekte wie die Liebe oder der Hass binden die Subjekte der Bürgerwehr und ihre nationale und räumliche Gemeinschaft aneinander. Im Fall der Bürgerwehr ist es der Hass auf das „Fremde“, denen unterstellt wird, dass sie für die Verletzungen und ihre Ängste sowie für die Gefährdung des Objekts der Liebe verantwortlich seien. Der Hass zieht damit die Grenze zwischen Subjekten, die zur Gemeinschaft gehören und geschützt werden müssen und solchen, die als gemeinsame Bedrohung bekämpft werden müssen – Affekte sind ökonomisch, weil sie zwischen den verschiedenen Körpern zirkulieren. Hass ist nicht unbedingt argumentierbar, er funktioniert ohne rationale Argumente (Ahmed, 2004a, 2004c: S. 42ff.). Dies zeigt sich zum Beispiel daran, dass ein Akteur aus Fall 2 immer wieder betont, dass 5 er mit muslimischen Menschen nicht zusammen wohnen will, er aber auch gar nicht weiß warum, aber er muss es doch auch einfach nicht müsse (Autofahrt Fall 2). Zwischen den „Freund_innen“ oder dem „Wir“ zirkulieren andere Affekte, Affekte der Liebe, der Freundschaft und des Zusammenhalts. Es kommt so zu extremen Affektbeziehungen in unterschiedlichen Richtungen (Ahmed, 2004b). c) Kontrolle der Affekte in Situationen Damit ein Selbstschutz auch effektiv sein kann, bereiten sich die Bürgerwehren auf ihr Engagement vor. Sie eignen sich bestimmte „Selbstverteidigungstechniken [„Kenntnisse“] und/oder de[n] Besitzt bestimmter Selbstverteidigungsmittel [„Mittel“] und/oder bestimmte organisationale Vorkehrungen [„organisatorische Einbindung“]“ (Hitzler, Milanés, 1998: S. 178) an. Zusätzlich muss eine Bürgerwehr nicht nur wissen, wie sie sich verteidigen kann, sie braucht auch das juristische Wissen über die Gefahren und Konsequenzen ihrer Arbeit. Verteidigung und notfalls gewalttätiges Einschreiten im Ernstfall müssen die beteiligten Akteure also erst lernen (Grossman, 2009). Die Mitglieder der Bürgerwehr im Fall 1 müssen als Grundvoraussetzung, um auf Streife gehen zu dürfen, lange genug Kampfsporterfahrungen gemacht haben. So sei es für sie möglich auch in hitzigen und gefährlichen Situationen absolut kontrolliert zu bleiben, auch bei körperlichen Eingriffen. Affekte hätten hier nach Eigenaussage überhaupt keinen Einfluss: „Ich weiß meine Gefühle zu beherrschen. […] die Sinne werden halt viel schärfer, man ist viel aufmerksamer. Aber das ich dann im Affekt handle, dass auf keinem Fall.“ (Interview 1) Ob das für diesen Fall immer in Gänze zutrifft, konnte nicht herausgefunden werden. Betont gibt sich der Interviewpartner in Fall 1 absolut seriös, ihm gelingt es weitestgehend ein kohärentes Bild herzustellen. Die Selbstdarstellung des eben genannten Interviewten weist jedoch Risse auf, denn die Ambivalenz des exzessiven Affekts zeigt sich gerade darin, dass ein Affekt einerseits bewusst moduliert und damit gelenkt werden kann und andererseits eine unkontrollierbare Eigendynamik und Offenheit mit repressiven oder progressiven Folgen entfaltet (Anderson, 2010: S. 162ff.). Skeptisch macht für den beschriebenen Fall, dass diese Person gleichzeitig außerhalb des Interviews von vielen Situationen berichtet hat, in der er selbst fast oder ganz in Schlägerreinen verwickelt war, gerade als Fußballhooligan, also Gewalt gewohnt ist. Auch im Fall 2 gibt sich der Besitzer einer Schreckschusspistole sicher, nur kontrolliert und angemessen zu reagieren, zugleich verweist er darauf, dass „Gewalt […] nur mit Gewalt [zu] bekämpfen“ sei. Dazu kommt noch, dass sich einige Interviewte darin einig sind, dass manchmal der Rechtsschutz nicht ausreichen würde (Interview Fall 2). Das Bürgerwehren tatsächlich nicht immer kontrolliert und im Rahmen ihrer legalen Möglichkeiten operieren, zeigen immer mal wieder auftretende Berichte über Körperverletzungen wie 6 in Eisenhüttenstadt, Nötigung in Goslar oder Meißen die vermeintlich „Kriminellen“ zugefügt wurden. Als weitere Faktoren um auch im Notfall Gewalt anwenden zu können, bis hin zur Möglichkeit zu töten, nennt Protevi (2009: S. 150ff.) eine möglichst große physische Distanz zum Anderen, bestimmte erleichternde Technologien wie Pfefferspray oder Schreckschusspistolen (Interview Fall 2), Teamwork, klare Befehle sowie die Dehumanisierung des Gegners. Die Dehumanisierung bspw. gegenüber Flüchtlingen sich darin zeigt, dass ihr Leid verhöhnt wird, wenn sie als „unsere traumatisierten Gäste“ bezeichnet werden, die eigentlich zum Großteil nur sogenannte „Wirtschaftsflüchtlinge“ seien, denen keine Gefahr drohe (Interview Fall 2). Für den Fall der Bürgerwehren spielt nur die physische Distanz eine weniger wichtige Rolle, weil es für sie ja darum geht in unmittelbarer Nähe mit den „gefährlichen“ Subjekten zu sein und Befehle spielen auch nur ein untergeordnete Rolle, auch wenn die Bürgerwehr in Fall 1 zwar einen Anführer hat, dieser aber eher die Gruppe organisiert, als vor Ort immer die Befehle zu geben (Interview Fall 1). Die restlichen Momente finden sich in der Beschreibung der Bürgerwehr wieder. Eine andere Möglichkeit affektive Kollektive zu kontrollieren, bringt ein Anführer mit sich. Die Bürgerwehr in Fall 1 hat einen Anführer, der die Organisation der Gruppe und die Öffentlichkeitsarbeit übernimmt. Diese Zentralisierung der Affekte ermöglicht eine gewisse Steuerung der affektiven Dynamiken in der Gruppe, denn die anderen seien seiner Meinung nach alle „bekloppt“ (Interview Fall 1), was als Eingeständnis dafür genommen werden kann, dass die anderen Mitglieder also mehr oder weniger unfähig sind sich ordnungsgemäß zu verhalten, auch wenn sie mehr „Profi“ als er seien. Gleichzeitig verkörpert der Anführer die Idee der Bürgerwehr, was ermöglicht eigentlich widerstreitende Interessen und Meinungen in der Gruppe zu kitten, denn die Gruppe sei „Integration“: „hier saßen jemand von der NPD und neben ihm ein Schwarzer und die haben sich die Hand gegeben“ (Interview Fall 1), obwohl sie sich sonst Feinde wären, berichtet er von gemeinsamen Treffen. d) Affektive Erregungen Bürgerwehren können darüber hinaus als exzessive Kollektive beschrieben werden. Sie kennzeichnen eine besonders hohe affektiven Erregtheit, Enthusiasmus, Mitgerissenheit und sind für bestimmte Ereignisse besonders empfänglich. Das exzessive Kollektiv befindet sich aufgrund einer gefühlten akuten Bedrohungslage in einem permanenten Ausnahmezustand der Erregtheit (Massumi, 2015: S. 112–145). Dies zeigt sich im Interview von Fall 2 vor allem daran, dass immer wieder vor den vermeintlichen 60 Mio. Flüchtlingen gewarnt wird, die nach Deutschland kommen 7 würden und daran, dass Flüchtlinge scheinbar wahllos und ohne Rücksicht gleich äußerste Gewalt einsetzen würden, die es früher nicht gegeben habe. Teilweise sehen die Interviewten Deutschland kurz vor einem „Bürgerkrieg“, so stark könnte und wird sich die Lage zuspitzen (Interview Fall 1, 2). In exzessiven Kollektiven ist die spontane, schnelle und widerstandsfreie Nachahmung oder Übertragung bestimmter Intensitäten besonders leicht möglich (Brennan, 2004: S. 1–23, 51–73). Die Möglichkeit der schnellen Ansteckung oder Affizierung vieler Körper sind eins der zentralen Merkmale einer exzessiven affektiven Verbindung (Gibbs, 2008; Tarde, 2009). Dies wird gerade auch über bestimmte Medien wie Facebook oder What’s App ermöglicht, mit denen eigene Erfahrungen extrem schnell verbreitet werden können und Bürger_innen sich flexibel zusammen finden können, um auch spontan aktiv zu werden, wenn etwas verdächtiges passiert. Gleichzeitig ermöglichen sie eine leichtere Anschlussfähigkeit, um weitere Akteure einzubinden (Bennett, Segerberg, 2012: S. 752ff.). Die Bürgerwehren haben auch deshalb gegenwärtig viel Zulauf. Nach Collins (2012: S. 121ff.) Überlegungen zur „emotionale Energie“ kommt es immer dann zu Gewalt, wenn in angespannten Situationen die eine Seite der anderen überlegen ist. Dieser Zustand ist bei einer Bürgerwehr, die mit mehreren Personen unterwegs ist, fast immer gegeben. So fällt ein zentrales Moment, das deeskalierend wirken könnte, weg. Hiermit steigt die Gefahr, dass das Gewaltpotential zu eskalieren droht (Hitzler, 1993: S. 23f.). Ihre höchste Intensität findet die Bürgerwehr im Mobverhalten: Der Körper wird in solchen Situation dann nur noch der Träger des Affekts, die bewusste Selbstkontrolle wird eingeschränkt und alles, was übrig bleibt, ist ein kollektiver Akteur mit dem Fokus auf ein bestimmtes „feindliches“ Objekt. Ausdruck dieser affektiven Aufgeladenheit können beispielsweise immer wieder auftretende spontane Gewaltausschreitungen gegen erklärte Feinde, wie sie Flüchtlinge sein können, oder Angstattacken sowie Lynchjustiz sein. Der Aktionismus der Bürgerwehr beschränkt sich demnach nicht nur auf Hingucken, um später als Zeuge zu fungieren, die Polizei alarmieren, Beistehende ansprechen oder Unterstützung für das Opfer, wie sie es gern in ihrer Selbstdarstellung darstellen (Interview Fall 1, 2). Sie greifen selbstständig aktiv und oft körperlich ein. Am Beispiel von Köln kann man sehen, wie der Mob einer Bürgerwehr durch die Stadt ging und von ihnen als feindliche markierte Personen angriff (Ludwig 2016). Gegenüber von Gefahren reagiert das erregte Kollektiv ohne zu zögern und mit aller Entschlossenheit und Härte. Sie sind während größter Erregtheit vor einer Gefahr in der Lage zielgerichtet nur gegen bestimmte Gruppen, hier wieder einmal Flüchtlinge vorzugehen. Damit ähnelt der Mob den Beschreibungen der Masse bei Le Bon und Freud und verweist darauf, dass die gesteigerte affektive Energie „gleichermaßen ein Ordnungsfaktor und ein Unordnungsfaktor“ (Opitz, 2015: S. 136) ist. 8 Die „Action“ hat darüber hinaus die wichtige Funktion die Bürgerwehr über einen längeren Zeitraum zu versammeln. Oft sind die Bürgerwehren nämlich nur kurzzeitig aktiv, außer wenn immer wieder neue Bedrohungen entstehen und damit auch immer neue Aktionen und stabilere Organisationen notwendig werden. Nur so lässt sich Langeweile verhindern, die oftmals zu ihrem Ende führt. Der Interviewte in Fall 1 will trotz der Gefahren und negativer Reaktionen aus der Bevölkerung weitermachen, aus einem zentralen Grund: „ich brauche das“. Fazit: Die Modi affektiver Selbstregierung Bürgerwehren implementieren eine neue Form des „Vigilantismus“: Damit ist eine Selbstorganisation von Bürger_innen gemeint ohne allgemein verbindliche und rechtliche Grundlagen. Bei Bürgerwehren handelt es sich 1. um eine „Vereinigung von Akteuren, die selbstorganisiert eigene Rechts- und Ordnungsvorstellungen durchsetzen wollen und 2. bleibt diese Ordnung lokal begrenzt.“ (Wurtzbacher, 2004: S. 100 FN99) Dabei wird zur Bewältigung der Sicherheitsprobleme eine „präventiv-repressive“ (Hitzler, 2001: S. 122) Strategie praktiziert. Diese Form des Engagements nennt Hitzler auch „selbstjudizierend“ (Hitzler, 1993: S. 16), weil die Personen selber versuchen ihre Gerechtigkeits- und Ordnungsvorstellungen durchzusetzen, die sich nicht mehr im rechtlichen Rahmen befinden müssen, bzw. immer wieder über den rechtlichen Rahmen hinausweisen. Aus diesem Grund lässt sich von Bürgerwehren auch als eine Form der „Mikro-Souveränität“ (Krasmann, Opitz, 2007: S. 145) sprechen. Affekte haben einen weitreichenden Einfluss auf Bürgerwehren. Nicht nur sind sie die Gründungskraft, die die Akteure motiviert, für ihre Sicherheit aktiv zu werden. Affekte der Angst sorgen bei den Akteuren auch immer wieder dafür, dass sie kontinuierlich aktiv bleiben. Sie verbinden die vielfältigen Akteure zu einer Gemeinschaft, die sich gegenüber dem Fremden zu wehren weiß. Dieser wird mit Hass besetzt, während in der Gemeinschaft Affekte der Liebe, Solidarität und der Verbundenheit zirkulieren. Daher ist die Gemeinschaft der sich Wehrenden auch so attraktiv. In der konkreten Praxis geben die Akteure vor, ihre Affekte zu kontrollieren, um auch in gefährlichen Situationen immer richtig zu handeln. Die permanente affektive Aufgeladenheit der Gruppen ist jedoch Grund dafür, dass diese Kontrolle niemals vollständig gelingen kann und sich immer wieder in gewalttätigen Aktionen ausbricht. In den ausgeführten Beispielen konnten Affekte in ihrer Ambivalenz dargestellt werden: Es zeigten sich ihre repressiven Dynamiken. Die Frage inwieweit das Phänomen sich bald wieder verabschiedet ist offen, es gab Konjunkturen des selbstständigen Bürgerschutzes auch in den 60, 70er, 80er, 9 90er. Problematisch ist die Entwicklung allemal. Vor dem Hintergrund meiner Ausführungen steht so viel fest: Vorsicht besorgter Bürger! Literaturverzeichnis Ahmed, Sara (2004a): „Affective Economies“. In: Social Text. 22 (2), S. 117–139. 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