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Georgios Chatzoudis | 19.01.2016 | 2729 Aufrufe | Interviews Alawiten, Aleviten oder Nusairier? Interview mit Necati Alkan über Begriffsverwirrungen im Umfeld des SyrienKrieges Den seit Jahren andauernden Krieg in Syrien kennzeichnen neben Tod, Zerstörung, Elend und Flucht eine große Unübersichtlichkeit und viele Missverständnisse. Als Medienkonsument ist man kaum noch in der Lage, die Frontstellungen, die verschiedenen Konfliktparteien und die sich wechselnden Koaltitionen auseinanderzuhalten. Zur allgemeinen Verwirrung tragen nicht zuletzt Begrifflichkeiten bei, die im besten Fall unwissentlich falsch verwendet werden, so beispielsweise die Begriffe Alawiten, Aleviten und Nusairier sowie Schiiten und Sunniten. Der Islamwissenschaftler Dr. Necati Alkan von der Universität Bamberg arbeitet zurzeit zur Geschichte der Nusairier im Spätosmanischen Reich. Wir haben ihn um die Erläuterung wichtiger Begriffe aus dem Umfeld des Syrien-Kriegs gebeten. Dr. Necati Alkan Bild: Duygu Alkan "Das Alawitentum und das Alevitentum sind zwei verschiedene religiöse Traditionen" L.I.S.A.: Herr Dr. Alkan, Sie befassen sich in Ihrem aktuellen Forschungsprojekt mit der Geschichte der Nusairier, einer schiitischen Sondergemeinschaft mit Hauptsiedlungsgebiet in Kilikien und Westsyrien, in der Zeit zwischen 1840 und 1918, also in der Zeit des Spätosmanischen Reiches. Die Nusairier sind die heutigen Alawiten in Syrien, nicht zu verwechseln mit den Aleviten in der Türkei. Die Begrifflichkeiten sind für Laien kompliziert, so geht auch in der medialen Berichterstattung über die aktuelle Situation in Vorderasien vieles durcheinander. Können Sie Nusairier, Alawiten und Aleviten kurz für uns auseinanderhalten? Dr. Alkan: „Alawi“ und „Alevi“- man sagt auch Alawite und Alevite - sind eigentlich das gleiche Wort, das erste ist Arabisch ausgesprochen und das zweite Türkisch. Beides wird von „Ali“ abgeleitet: es ist jemand der Imam Ali, dem Vetter und Schwiegersohn des Propheten Muhammads folgt und ihn verehrt, also ein „Ali-Anhänger“. Jemand der Ali folgt ist Schiite, und somit sind wir bei der Kernfrage, die die Sunniten von den Schiiten unterscheidet: wer ist der rechtmäßige Nachfolger von Muhammad? Die Mehrheit der Muslime, die Sunniten, berufen sich auf den „Kalif“ (arab. chalifa, „Stellvertreter/Nachfolger“), also eine fähige Person, die die Muslime führt und anfangs durch Konsens gewählt oder ernannt wurde. Die ersten drei Kalifen Abu Bakr, Umar und Uthman waren Gefährten des Propheten. Ihnen folgte Imam Ali als der vierte Kalif. Diese vier sind für die Sunniten die „rechtgeleiteten Kalifen“. Demnach wird Ali von den Sunniten nur als solcher anerkannt. In späteren Dynastien, z.B. bei den Umajjaden und Abbasiden, wurde das Kalifat vererbt; Söhne, Brüder oder Vettern konnten ernannt werden. Die letzten Kalifen waren die Sultane der Dynastie der Osmanen. Das Kalifat wurde 1924 von Mustafa Kemal Atatürk, dem Gründer der säkularen Republik der Türkei, abgeschafft. Die meisten Schiiten indessen anerkennen die ersten drei Kalifen nicht und behaupten, dass die rechtmäßigen Nachfolger aus der Familie des Propheten stammen sollten. Sie berufen sich auf mündliche Überlieferungen (hadith). Da Muhammad keinen überlebenden Sohn hatte, den er hätte ernennen können, wurde zunächst Ali als Nachfolger ernannt und später die Söhne aus seiner Ehe mit Fatima, der Tochter Muhammads. Ali, seine Söhne und deren Söhne etc., sind die „Imame“ (arab. „Vorsteher“). Die Schiiten folgten somit dem „Imamat“. Die Imame, insgesamt 12 an der Zahl sind für die Schiiten unfehlbar. Mit Schiiten sind die „ZwölferSchiiten“ gemeint, die es hauptsächlich im Iran und im Irak gibt. Es gibt auch Schiiten, die sich bis heute auf weniger oder mehr Imame berufen. Obwohl sich die arabischen Alawiten in Syrien und die türkischen und kurdischen Aleviten in der Türkei auf Imam Ali und die nachfolgenden elf Imame berufen, sind das Alawitentum und das Alevitentum zwei verschiedene religiöse Traditionen. Das Alevitentum ist eine Religionsgemeinschaft, die im 13./14. Jahrhundert in Anatolien entstanden ist und hat schiitische Wurzeln; es sind aber auch vorislamische schamanistische Elemente aus Zentralasien und anderen religiösen Traditionen wie dem Christentum, enthalten. Das Alevitentum wurde von Mystikern („Sufis“) geprägt und die Literatur und Litanei ist auf Türkisch. Es ist eine offene Gemeinschaft, Frauen und Männer sind gleichwertig, beide beteiligen sich an religiösen Zeremonien. Die fünf Grundregeln des Islam, u.a. das Ritualgebet in der Moschee, das Fasten im Ramadan oder die Pilgerfahrt, werden esoterisch ausgelegt und nicht praktiziert. Der Koran ist nach Ansicht der Aleviten verfälscht worden und wird nicht akzeptiert. Sie gehen nicht in die Moschee, sondern vollziehen ihre rituellen Tänze als Gottesdienst im „Haus der Versammlung“ (cemevi/dschemevi). Bis heute werden die Aleviten und ihre cemevis nicht offiziell vom türkischen Staat anerkannt. Das Alawitentum hingegen ist arabischen Ursprungs und im 9. Jahrhundert innerhalb des schiitischen Islams im Irak entstanden. In der Schia gab es damals verschiedene Strömungen, die die Göttlichkeit der Imame hervorhoben. Vor allem Imam Ali wurde als göttliche Inkarnation oder Gott selber angesehen, der alles erschaffen hat und der dem Prophet Muhammad übergeordnet war. Aufgrund dieser Lehre, oder Irrlehre gemäß den Sunniten, wurden diese schiitischen Gruppen als „Übertreiber“ (arab. ghulat) oder „extreme Schia“ bezeichnet und als Häretiker abgestempelt. Die Alawiten gehören dieser Strömung an und bilden die einzige Gruppe, die all die Verfolgungen durch die Sunniten überlebt haben. Sie waren zunächst als „Nusairier/Nusairis“ bekannt. Diese Bezeichnung geht auf einen gewissen Muhammad ibn Nusair zurück, einem Gefährten des elften Imam Hasan al-Askari, einem Nachfahren Alis. Ibn Nusair wird nachgesagt, dass er dem Imam Göttlichkeit zugesprochen hätte, von ihm als Prophet erkoren wurde und auch sein „Tor“ (arab. bab) sei: die Gläubigen würden nur durch ihn zum Imam gelangen. Nach Ibn Nusair haben einige Männer die Glaubensinhalte erweitert und somit eine Theologie erschaffen, in deren Zentrum die Göttlichkeit Alis steht. Sie sind die eigentlichen Gründer des Nusairi-Glaubens und haben ihre Sekte später in Syrien durch aktive Missionierung verbreitet. Später, als sie durch sunnitische Dynastien verfolgt wurden, zogen sich die Nusairier in die Berge im Westen Syriens hinter Latakia zurück. Die Berge sind als „Nusairier-Berge“ oder „Alawiten-Berge“ bekannt. Bis heute ist diese Region das Kernland der Alawiten. Es gibt auch Alawiten in der Südtürkei in der Provinz Hatay (Antakya) und westlich davon in Adana und Mersin. Das Alawitentum ist eine gnostische Sekte des Islam und besitzt ein Geheimwissen. Neulinge aus der Gemeinschaft durchgehen eine Initiation: nur männliche Alawiten werden in die Geheimlehren eingeführt, die mit der gängigen islamischen Lehre nichts zu tun haben. Frauen sind ausgeschlossen; bestenfalls, weil sie als unfähig angesehen werden, Geheimnisse zu bewahren. Schlimmstenfalls weil sie keine Seelen haben. Dies ist zumindest in der Theorie so. Allerdings spielt die Initiation und die untergeordnete Status der Frauen immer weniger eine Rolle, weil sich junge Alawiten immer weniger für ihren Glauben interessieren und sich an die moderne säkulare Gesellschaft anpassen. Wie Sie schon sagten, waren die Alawiten vorher als „Nusairier“ bekannt. Bis heute sind sich Historiker einig, dass die Bezeichnung „Alawi“ nicht bis zum 1. Weltkrieg benutzt wurde und ab 1920 von den Franzosen geprägt wurde, die ja bis 1946 das Mandat über das heutige Syrien und Libanon hatten. Ohne Zweifel haben die Franzosen „Alawi“ benutzt um diese Gemeinschaft für ihre separatistische Politik gegen einen arabischen Nationalismus zu bevorzugen und eine Vorherrschaft der Sunniten zu unterbinden. Schließlich gründete Frankreich auch den „Staat der Alawiten“ der bis 1936 existierte, später aber in die „Syrische Föderation“ eingegliedert wurde. Allerdings gibt es Belege, dass „Alawi“ viel früher, schon im 11. Jahrhundert, als Selbstbezeichnung verwendet wurde. In osmanischen Dokumenten Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts tauchen einige Male die Bezeichnungen „arabische alawitische Gemeinschaft“ oder „die Nusairi Alawi Gemeinschaft“ auf, und zwar in Briefen von Führern dieser Gemeinschaft an die Zentralverwaltung in Istanbul. Dies zeigt uns, dass „Alawi“ erheblich länger, als bisher bekannt von ihnen selbst verwendet wurde, um sich als ein Teil der muslimischen Gemeinschaft zu präsentieren. "Das geplante Projekt soll eine Forschungslücke schließen" L.I.S.A.: Zu Ihrem Projekt: Worum geht es dabei genau? Welche Fragestellung leitet Sie in Ihrer Arbeit? Dr. Alkan: Im Untersuchungsfokus steht dabei vor allem die Interaktion zwischen Vertretern der Nusairier, dem spätosmanischen Staat und protestantischen Missionaren. Die anfänglich stark von Ablehnung geprägte Haltung der Osmanen gegenüber den Nusairiern änderte sich in diesem Zeitraum beträchtlich. Grund hierfür war zum einen die zunehmende Intervention der europäischen Großmächte in die osmanische Innenpolitik zugunsten religiöser Minderheiten. Sie zwang den Osmanischen Staat, die Nusairier als eigene religiöse Gemeinschaft mit Rechten anzuerkennen. Die Nusairier machten ihrerseits in dieser Zeit einen kollektiven Transformationsprozess durch, innerhalb dessen sie zu der neuen Selbstbezeichnung „Alawiten“ (türk. Aleviler, arab. ʿAlawiyyūn) übergingen. Trotz der großen Menge an osmanischem Archivmaterial, missionarischen und sonstigen Quellen ist die Geschichte der Nusairier in der spätosmanischen Periode erst wenig erforscht. Das geplante Projekt soll diese Forschungslücke schließen und geht dabei von der Hypothese aus, dass der Wandel in der Selbstbezeichnung Teil eines sozial-politischen Abgrenzungsprozesses der Nusairier vom Osmanischen Reich war, der schon einige Jahrzehnte vor dem endgültigen Zusammenbruch dieses Staates stattfand. Dieser Abgrenzungsprozess soll unter Berücksichtigung von Binnendifferenzen innerhalb der nusairischen Gemeinschaft selbst beleuchtet und komparativ zu vergleichbaren Prozessen bei anderen heterodoxen Gemeinschaften (insbesondere Aleviten, Jesiden, Drusen) des Osmanischen Reichs in Relation gesetzt werden. Aufgrund der oben genannten Quellen sollen in dem Projekt folgende Fragen beantwortet werden: Was war das Ergebnis der christlichen und osmanischen Propaganda unter den Nusairiern? Wie haben die christlichen Missionare die Nusairier in ihre neue von einem millenaristischen Glauben (die Idee des „Tausendjährigen Reiches Gottes“) beseelte Gesellschaftsordnung integriert? Was für eine Rolle spielten diese heterodoxen Randgruppen in der „Zivilisierungsmission“ des Regimes von Abdülhamid II.? Was war die Reaktion dieser Gruppen auf die osmanischen erzieherischen und zivilisierenden Bemühungen? Welche Einstellung hatten die Jungtürken nach ihrer Revolution 1908 gegenüber den Nusairiern? Und bis zu welchem Ausmaß haben die Nusairier mit den anderen heterodoxen Gruppen jungtürkische Ideale wie „Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit“ unterstützt? Hauptziel des Forschungsprojektes ist die Beschreibung des Wandels des Verhältnisses zwischen Missionaren, osmanisch-staatlichen Akteuren und den Nusairiern im Spätosmanischen Reich. Hierbei sollen insbesondere Aspekte wie Widerstand, Assimilation, Integration und Konversion untersucht werden. "Missionarische Aktivitäten amerikanischer und englischer Protestanten" L.I.S.A.: Die Nusairier rückten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Fokus sowohl des Osmanischen Reichs als auch des Westens. Beide Seiten versuchten sie zu missionieren. Zu welchem Zweck? Und mit welchem Erfolg? Dr. Alkan: Ein anderer Faktor, der die staatlichen Akteure zu einer Annäherung an die Nusairier bewegte, war, wie oben angedeutet, die Zunahme von missionarischen Aktivitäten amerikanischer und englischer Protestanten unter den heterodoxen Minderheiten. Aus Furcht vor der Infiltration der Nusairier durch diese Missionare bemühte sich Sultan Abdülhamid II. (reg. 1876-1909), diese Gemeinschaft in die muslimische, also sunnitische, Gemeinschaft zu integrieren und sie der offiziellen hanafitischen Rechtsschule anzunähern. Der Bau von Moscheen und Medresen sollte aus den „Häretikern“ gute und loyale Untertanen machen. Auch wenn in osmanischen Dokumenten von der Konversion von zehntausenden Häretikern zum sunnitischen Islam die Rede ist, hatte das Zivilisierungsprojekt Abdülhamids letztendlich keinen Erfolg. Auch die Missionare, die mit ihrer millenaristischen Weltanschauung eine neue soziale Ordnung aufzubauen versuchten, konnten nur wenige heterodoxe Muslime auf ihre Seite ziehen. L.I.S.A.: Die Nusairier durchliefen in dem von Ihnen untersuchten Zeitraum einen Identitätswandel, der seinen bezeichnenden Ausdruck in der Umbenennung von Nusairier zu Alawiten fand. Um was für eine gesellschaftliche Transformation handelte es sich dabei? Bleibt es bei einer religiös bestimmten Formation oder sind hier auch soziopolitische Konzepte wie Ethnie und Nation anwendbar? Dr. Alkan: Aus der bisherigen Analyse der Quellen ergibt sich der Eindruck, dass die Nusairier im Zeitraum 1840 bis 1918 einen umfassenden kollektiven Transformationsprozess durchmachten. Dieser Prozess soll in dem geplanten Projekt zu gleichzeitig ablaufenden Prozessen in anderen heterodoxen Gruppierungen des Osmanischen Reichs in Relation gesetzt werden. Es wurde jüngst in einer Studie aufgezeigt, wie als Häretiker verachtete türkische und kurdische schiitisch-heterodoxe Gruppen im späten 19. Jahrhundert als Antwort auf ihre Erforschung durch westliche Orientalisten und die Diskurse der türkischen Nationalisten eine neue kollektive Identität entwickelten und zu der Selbstbezeichnung Aleviler („Aleviten“) übergingen. Das geplante Projekt geht von der Hypothese aus, dass bei den Nusairiern der Übergang zu der Selbstbezeichnung „Alawiten“ Teil eines analogen sozial-politischen Identitätsbildungs- und Abgrenzungsprozesses war, den es zu beleuchten und aufzuarbeiten gilt. Ähnlich verhält es sich bei den Jesiden, bei denen die Identitätspolitik eng an Diskurse über die Herkunft angebunden war. Mit der Entwicklung von modernen Konzepten von Nationalismus und Rassenidentität ab dem 19. Jahrhundert begann eine Suche nach den ethnischen und religiösen Ursprüngen. Derartige Identitätsbildungsprozesse bei anderen heterodoxen Gemeinschaften werden in meiner Studie zum Vergleich herangezogen. "Die Politik Großbritanniens und Frankreichs ist Hauptursache für die andauernden Kriege" L.I.S.A.: Schließen wir an einen Aspekt in der Ausgangsfrage an: Wenn Sie sich die aktuelle Kriegssituation im Raum zwischen Syrien, dem Irak, dem Iran und der Türkei anschauen, die für Laien nicht zuletzt durch Unübersichtlichkeit und Unverständnis gekennzeichnet ist, kann da ein Blick zurück in die Geschichte helfen, besser zu verstehen? Dr. Alkan: Es ist wichtig, sich die Entwicklungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert in der Region anzuschauen, um zu verstehen, warum der sogenannte Nahe Osten schon immer ein Krisenherd war. Die osmanische Herrschaft endete 1918 mit der Niederlage des Imperiums und seiner endgültigen Auflösung am Ende des 1. Weltkrieges. Die Sieger, Großbritannien und Frankreich, teilten die arabischen Provinzen ihren jeweiligen Interessenlagen entsprechend auf. Die Gebiete des heutigen Syrien, Libanon, Jordanien, Palästina und Israel waren geografisch als „Großsyrien“ bekannt; die Grenzen waren künstlich geschaffen und der Bevölkerung gegen ihren Willen aufgezwungen wurden. Ziel war es, aus der religiösen und ethnischen Vielfalt Nutzen zu ziehen, und das Prinzip „Teile und herrsche“ anzuwenden. Entsprechend dem 14-Punkte-Programm von Woodrow Wilson, dem damaligen Präsidenten der USA, konnten die alten osmanischen Provinzen nicht geradeheraus kolonisiert werden; daher wurden sie in als „Mandatsgebiete“ bezeichnete Regionen zergliedert, die von einem „Allgemeinen Verband der Nationen“ – dem zukünftigen Völkerbund– zugeordnet wurden (Wilsons 14. Punkt). Die Mandate wurden an die Sieger vergeben, um sicherzustellen, dass die Regionen, über die sie herrschten, einen Zustand der Selbstbestimmung erreichen und unabhängig werden würden. Die westlichen Mächte sahen sich selbst als die Quelle von Aufklärung und moralischer Führung, als die Überbringer der „Fackel der Zivilisation“, die sie jenen Regionen brachten, die sie kolonisierten. Frankreich hatte allemal ein idealisiertes Selbstbild von sich als „zivilisierter“ Nation, im Gegensatz zum „unzivilisierten“ nichtstaatlichen Syrien, also einer Gesellschaft, die durch Religionen, Sekten und ethnische Gruppen – sich gegenseitig bekämpfende „Fanatiker“ und „Wilde“ – unterteilt war. Sie mussten von den Franzosen diszipliniert werden. Die Entscheidungen, die Großbritannien und Frankreich in Bezug auf die Teilung des Nahen Ostens bei der Konferenz von San Remo im Jahre 1920 trafen, besiegelten das Schicksal der dort lebenden Menschen. In den zehn Jahren danach vollzogen Großbritannien und Frankreich eine willkürliche Teilung der Bevölkerung des Nahen Ostens. Frankreich ging einen Schritt weiter und schuf halb-autonome Provinzen unter einer Nationalregierung in Syrien. Selbstbestimmung und Unabhängigkeit wurden ausgeschlossen, beide Länder zogen neue künstliche Grenzen und schufen gesellschaftliche Hürden, die langfristig regionale Brüche hervorriefen. Was Wilson für die Nicht-Türken unter osmanischer Herrschaft als „zuverlässige Sicherheit des Lebens und völlig ungestörte Gelegenheit zur selbstständigen Entwicklung“ (12. Punkt) vorgesehen hatte, wurde für die Araber nicht realisiert. San Remo war ein Einschnitt in der Geschichte des Nahen Ostens. Beide Staaten bestimmten, wie die Mandatsgebiete auszusehen hatten. Da sie in Bezug auf den Grenzverlauf nicht einer Meinung waren, überließen die Franzosen Palästina und Mosul den Briten und erhielten dafür ein Viertel des Öls aus Mosul. Großsyrien war eine Region, deren Bewohner mehrheitlich Araber waren, und panarabischer Nationalismus war die dominante Ideologie, besonders unter den Sunniten. Der lokale und politische Partikularismus war für die Franzosen eine willkommene Gelegenheit, Syrien zu teilen und es entsprechend ihrer Interessen neu zu gestalten. Sie behaupteten, durch die Hervorhebung der gesellschaftlichen Unterschiede den politischen Gegebenheiten und Wünschen des Volkes nachzukommen. Diese Vorstellung passte zu ihrem Wunsch, den arabischen Nationalismus zu schwächen und sich den frankophilen Minderheiten anzunähern, um die französische Hegemonie zu festigen. Die Strategie sah vor, zuerst Verwaltungseinheiten in Syrien aufzubauen, um nationalistische Gefühle und Bewegungen unterdrücken zu können, und dann eine lokale Marionettenregierung zu errichten, die die französische Herrschaft unterstützen würde. Nachdem Frankreich Damaskus im Juli 1920 besetzte, wurde Syrien in fünf Teile geteilt: 1. Großlibanon, das die wichtigen Städte Tripolis, Beirut und Sayda (Sidon) umfasste; 2. Der syrische Staat mit Aleppo, Hama, Homs, Damaskus; 3. Dschebel ad-Duruz („Gebirge der Drusen“); 4. der Regierungsbezirk Latakia; und 5. Sandschak/Provinzverwaltung Alexandrette (Iskenderun) bzw. die heutige türkische Provinz Hatay, das zwar theoretisch Teil von Syrien war, aber in der Praxis über einen besonderen Verwaltungsstatus verfügte. Zwei Jahre nach der Besatzung von Damaskus wurde das Mandat über Syrien und Libanon an Frankreich übergeben. Sogar noch bevor dieses Mandat am 23. Oktober 1923 wirksam wurde, hatte Frankreich schon Vorkehrungen getroffen, die Grenzen so zu ziehen, dass der Völkerbund die Errichtung der dortigen französischen Herrschaft nicht würde rückgängig machen können. Der erste Schritt in diesem Teilungsprozess war die Gründung von Großlibanon. Der heutige Libanon mit seinen derzeitigen Grenzen war niemals ein Staat, auch keine geographische Region, sondern er war seit dem 16. Jahrhundert Teil des Osmanischen Reiches. Die Bewohner waren christlichen Maroniten, Drusen, Schiiten, Sunniten und andere Gruppierungen wie Griechisch-Orthodoxe und Katholiken. Die künstliche regionale und ethnische Teilung Syriens war das Resultat einer klassischen kolonialen Politik des „Teile und herrsche“. Nachdem die Staaten Aleppo und Damaskus gegründet wurden, wurden sie von Statthaltern regiert, die von der lokalen Bevölkerung ernannt und von den französischen Beratern unterstützt wurden. Hatay, dessen Einwohner Türken waren, war rechtlichhauptsächlich Teil von Aleppo, aber faktisch war es autonom. Frankreich ging einen Schritt weiter und betonte nachdrücklich die Differenzen der regional kompakten Minderheiten der Nusairier und Drusen. Zu dieser Zeit begann Frankreich, die Nusairier „Alawiten“ (Alaouite) zu nennen. Der sunnitische arabische Nationalismus bedrohte die französischen Interessen, die Christen und eben diese heterodoxen muslimischen Gemeinschaften. Daher musste Frankreich freundschaftlichen Umgang mit diesen zwei Völkern hegen. Das Gebirge der Drusen südlich von Damaskus war im Jahre 1922 mehrheitlich von Drusen bewohnt, und Frankreich hatte einen Drusenstaat mit eigenem Gouverneur und einer gewählten Versammlung unter französischer Amtsgewalt bekanntgegeben. Auch die gebirgige Region Latakia, in der die Alawiten einen großen Teil der Bevölkerung stellten, wurde zu einer separaten Verwaltungseinheit, die „Alawitenstaat“ genannt wurde. Die separatistische und partikularistische Propaganda Frankreichs, die geographische, religiöse und soziale Differenzen hervorhob, hatte die Identität einer Minderheit bestärkt. Dies beeinflusste Syriens Politik noch lange nach dem französischen Mandat auf negative Weise. Diese Strategie, die beinahe während der gesamten Mandatszeit Anwendung fand, begrenzte die Reichweite und den Einfluss der arabischen nationalistischen Bewegung. Nachdem Frankreich erfolgreich dafür gesorgt hatte, dass der aufkommende arabische Nationalismus jenen Gebieten, in denen die Minderheiten gemeinsam lebten, fern blieb, verhinderte es außerdem dessen Einfluss in der unmittelbaren Umgebung von Städten wie Damaskus, Aleppo, Hama und Homs. Die Franzosen versäumten es, die Bestimmungen des Völkerbundes einzuhalten. Sie vermieden es vorsätzlich, Leute auszubilden, um aus ihnen fähige Staatsmänner zu machen, die das Land würden regieren können. Die Tatsache, dass Syrien während der Mandatsregierung mehre Male in Regionen und Unterregionen geteilt war, unterband die Herausbildung einer Verwaltungsklasse, die gemeinsam agierte. Als die letzten französischen Soldaten Syrien im April 1946 verließen, war das größte andauernde Hemmnis einer politischen Einheit im unabhängigen Syrien ein starker Regionalismus und sogar Lokalismus. Dazu kam, dass sich die verschiedenen politischen Führer in Syrien seit dem Ende der Mandatsregierungen weigerten, eine gemeinsame Vision einer arabischen Einheit zu verfolgen. Sie schwankten zwischen syrischem Nationalismus, einer panarabischen Union und ihren eigenen Interessen. Der wohl größte Gegensatz bestand zwischen der Idee einer politischen Einheit, die alle Arabisch sprechenden und der arabischen Kultur angehörigen Menschen vereinte, und lokalen bzw. regionalen Interessen. Trotz seiner Unabhängigkeit ab dem Jahre 1946 war Syrien weit davon entfernt, ein Nationalstaat zu sein, und verfügte über keine überlebensfähige politische Führung. Syriens gegenwärtiger Zustand hat seine Ursache in der britischen und französischen kontraproduktiven Politik sowie in ihrer Nachlässigkeit im Einhalten von Vorschriften für das Mandat, die vom Völkerbund vorgegeben worden waren. Aufgrund der schwachen Strukturen, die geschaffen wurden, leidet die gesamte Region bis heute unter ungelösten Problemen. Anstatt die Staaten, die sie in Großsyrien – Syrien, Libanon, Palästina, Israel und Jordanien – selbst geschaffen hatten, zu unterstützen, gefährdeten sie die Existenz dieser Staaten, deren Grenzen ohnehin schon problematisch waren. Man kann sagen, dass die imperialistische Politik Großbritanniens und Frankreichs die Hauptursache für die andauernden Kriege, Zerwürfnisse und Probleme im Nahen Osten ist. Die Saat der Zwietracht, die Frankreich in Syrien aussäte, wurde zur Grundlage eines komplexen regionalen Problems, das in konstanten Spannungen und Blutvergießen resultierte. Geschichte ist, wie es der britische Historiker Carr ausgedrückt hat, „ein unendlicher Dialog zwischen Gegenwart und Vergangenheit.“ Nur durch diesen Dialog können wir die Ursachen der Probleme analysieren und Lösungen finden. Und nur durch einen konstruktiven Meinungsaustausch zwischen den Kriegsparteien, auch wenn dies momentan schier unmöglich erscheint, kann aus uns aus der momentanen Lage in jener Region herausbringen. Dazu gehört, sich die Entscheidungsträger vorübergehend in die Lage ihres Feindes hineinversetzen und sich dessen Handlungsoptionen und gerechtfertigte Interessen an politischer und wirtschaftlicher Sicherheit vor Augen führen. Der Blick in die Geschichte hilft uns zu sehen, dass die verschiedenen Ethnien und Konfessionen immer dann am besten lebten, wenn sie ihre Gemeinsamkeiten über ihre Konflikte stellten und Lösungen für Probleme fanden, die allen zugute kamen. Kriegerische Auseinandersetzungen, das zeigt die Geschichte, schaffen langfristig mehr Probleme als sie zu lösen vorgeben. Der Sieger von heute kann der Verlierer von morgen sein. Heute sehen wir in Syrien, wie der Bürgerkrieg auf allen Seiten Verlierer hervorbringt. Letztendlich geht es darum, dass alle Menschen, ohne Vorurteile bezüglich der Religion, Ideologie oder Hautfarbe, zusammenleben. Es wäre zu schade, wenn wir diese Gelegenheit verpassen und noch mehr Blutvergießen verursachen um unsere engstirnigen Ziele zu verfolgen. Dr. Necati Alkan hat die Fragen der L.I.S.A.Redaktion schriftlich beantwortet.