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Habilitationsprojekt Langer Forschungsleitende Theorie für das Habilitationsprojekt Langer war der ritualtheoretische Teilaspekt des Ritualtransfers. Diese Perspektive auf mit rituellen Performanzen verbundene Prozesse fokussiert auf die Veränderungen des Kontextes der Rituale und damit in Wechselwirkung stehende Transformationen in der Performanz, Tradierung und Rezeption der Rituale, die bei der Übertragung von Ritualen oder Ritualelementen von einem in einen anderen Kontext auftreten. Typischerweise kommt es zu solchen ritualdynamischen Veränderungen in Migrationskontexten. Robert Langer war an der Ausformulierung dieses ‚Ritualtransfer-Paradigmas‘ beteiligt. Es ging auf eine Idee von Michael Stausberg und Gregor Ahn zurück und wurde bereits vor Gründung des SFB 619 „Ritualdynamik“ in den gleichnamigen Arbeitskreis eingebracht. Als Forschungsobjekt zur Anwendung der Ritualtransfertheorie wurde für das Habilitationsprojekt die Gruppe der türkisch-anatolischen Aleviten gewählt, die im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung der Türkei demografisch überproportional unter den Migranten in türkischen Großstädten sowie in der westeuropäischen (insbesondere deutschen) Diaspora vertreten sind. Methodische Vorarbeiten von Langer existierten in Form seines abgeschlossenen Promotionsprojekts zur religiösen Praxis der zeitgenössischen iranischen Zarathustrier, in dem er bereits eine MinderheitenMehrheiten-Konstellation (Zarathustrier und schiitische Muslime) durch teilnehmende Beobachtung, Interviews und mittels Auswertung epigrafischen historischen Materials untersucht hatte. Die initiale Fragestellung des Habilitationsprojekts war folgende: Wie entwickeln, reproduzieren oder neu konstituieren sich alevitische Rituale in Migrationskontexten? Gibt es spezifische Transformationen, die sich aus dem jeweils veränderten Kontext ableiten? Gedacht wurde hierbei zunächst an die massive Sichtbarmachung einer vorher aus sunnitischmuslimischer Mehrheitsperspektive in die Verborgenheit gedrängten ‚häretischen‘, ‚heterodoxen‘ Tradition, wie der alevitischen, die im Zuge von Identitätspolitiken und Emanzipationskampf massiv vonseiten alevitischer Aktivisten instrumentalisiert wurde. Diese Fragestellung wurde aber in der Entwicklung der Forschung um folgende Punkte erweitert: Wie passt sich eine vormals ländliche, abstammungshierarchisch organisierte religiöse Kultur an die Verhältnisse in modernen Industriegesellschaften an dortige Strukturen der Neubildung von städtischen Gemeinden, Individualisierung, Ausbildung neuer Eliten, Ökonomisierung etc. an? Kommt es zu Innovationen bei den Ritualen? Wie werden Rituale weiter tradiert? Welche Versuche der Standardisierung lassen sich beobachten. Zielsetzung war zunächst die exemplarische Untersuchung genannter Fragen anhand des zentralen alevitischen, ‚gottesdienstlichen‘ Gemeinschaftsrituals Cem. Dieses wurde in städtischen und diasporischen Kontexten neu konstituiert und gestaltet und stand am Anfang im Mittelpunkt der durch ethnologische Feldforschung und Dokumentationsmethoden der audiovisuellen Anthropologie erhobenen Daten. Durch weitere Forschungen mittels Interviews, ethnografischer Surveys und der Auswertung des alevitischen Schrifttums konnten aber im Verlauf der Forschungen weitere Aspekte des alevitischen Ritualwesens erschlossen werden. Hinzu kam vor allem in der zweiten Forschungsphase der Einbezug von alevitischen Ritualhandschriften aus einem zentralanatolischen Dorf aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Diese wurden vor allem von Janina Karolewski ausgewertet, mit der gemeinsam ethnografische und historische (Oral History) Datenerhebungen in der fraglichen Region durchgeführt wurden. Dadurch konnte sowohl eine größere historische Tiefenschärfe erzielt werden als auch das Spektrum der erforschten Ritualbereiche auf beispielsweise Ritualobjekte, Opferrituale und jahres- sowie lebenszyklische Rituale ausgedehnt werden. Im städtischen Kontext kam das moderne Heilerwesen in Form einer Kurzstudie einer charismatischen alevitischen Heilerin hinzu. Darüber hinaus wurden ländliche Heiligtümer und zugehöriges Wallfahrtswesen sowie ein großes Kulturfestival in Anatolien untersucht. Dadurch konnte die Zielsetzung des Projekts auf eine systematische Darstellung alevitischer Ritualistik insgesamt erweitert werden. Insofern wurden aufgrund der zur Verfügung stehenden historischen und ethnografischen Daten eine Bestandsaufnahme alevitischer Ritualistik im 20. Jahrhundert erzielt und diese im Rahmen ritualwissenschaftlicher, religionsgeschichtlicher und islamwissenschaftlicher Perspektiven analysiert. War die Methodik zunächst an Ethnografie und empirischer Religionsforschung ausgerichtet, was audiovisuelle Dokumentation der teilnehmend beobachteten Rituale umfasste, so kam spätestens seit dem Einbezug historischen Handschriftenmaterials auch wieder die historischphilologische Methodik der Islamwissenschaft zum Einsatz. Es zeigte sich, dass die Entwicklung im Ritualbereich nicht ohne historische Quellen verstehbar war; andererseits konnten die handschriftlichen Notizen von alevitischen Dorfgeistlichen nicht ohne genaue Kenntnis der Ritualstrukturen entschlüsselt werden. Die wechselseitige Kontextualisierung der unterschiedlichen Quellenbestände führe zur Entwicklung und Anwendung einer kombiniert ethnologisch-cum-historisch-philologischen Methodik. Von Bedeutung war schließlich die zwangsläufig enge Zusammenarbeit mit alevitischen Personen und Institutionen, einerseits im Rahmen der ethnologischen Feldforschung, andererseits mit den Leihgebern der Handschriftenbestände. Das große Interesse von Aleviten insbesondere in Deutschland führte nicht zuletzt dazu, einerseits die Rolle der Forschung in Wechselwirkung mit den Erforschten immer wieder zu reflektieren; andererseits erzwang dies auch die Einordnung der spezifischen Forschungsergebnisse in größere historische und regionale Denkhorizonte, um das erforschte Beispiel alevitischer Ritualistik zwischen türkischer Großstadt, deutscher Diaspora und ländlichem Anatolien in den Gesamtkontext des sich neu konstituierenden Alevitentums und seiner Genese und Geschichte plausibel einzuordnen. Insofern stehen am Ende der Arbeit ausführliche Kapitel, die die historischen Einordnungen durch Forschung und Aleviten selbst, die relevanten kulturellen Repertoires und die Diskussion um alevitisches Kulturerbe behandeln sowie Desiderata der Alevitentumsforschung mit Blick auf historische Lücken in vormoderner Zeit benennen.