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Antagonistischer Realismus. Zum Verhältnis Von Lebenswelt Und Geschichte Bei Alexander Kluge

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TECHNISCHE UNIVERSITÄT DARMSTADT INSTITUT FÜR PHILOSOPHIE INSTITUT FÜR SO ZIOLOGIE B A C H E L O RT H E S I S ANTAGONISTISCHER REALISMUS ZUM VERHÄLTNIS VON LEBENSWELT UND GESCHICHTE BEI ALEXANDER KLUGE ERSTGUTACHTER: PROF. DR. ANDREAS HETZEL ZWEITGUTACHTER: PD DR. SILKE STEETS EINGEREICHT AM: 23.05.2014 STEFFEN ANDRAE | SCHACHTSTR. 4 | 64293 DARMSTADT MATRIKELNUMMER: 1693267 Inhaltsverzeichnis Einleitung......................................................................................................................1 „Antagonistischer Realismus“ oder „Das problematische Verhältnis von Individuum und Gesellschaft“..........................................................................................................3 Subjektivität: Zum Begriff der Lebenswelt..................................................................8 Lebensläufe..............................................................................................................8 Sinnlichkeit..............................................................................................................9 Nähesinne und Fernsinne.......................................................................................11 Arbeit und Balancearbeit........................................................................................13 Exkurs I: Das Problem der Theorie........................................................................20 Objektivität: Zum Begriff der Geschichte..................................................................23 Geschichte als Gattungsgeschichte........................................................................23 Exkurs II: Die geschichtliche Bestimmtheit der Subjektivität...............................29 Geschichte als Entfremdungszusammenhang........................................................31 Exkurs III: Die subjektive Bestimmtheit der Geschichte.......................................36 Geschichte als utopische Möglichkeit....................................................................39 Zur Vermittlung von individueller Lebenswelt und Geschichte.................................43 Fazit.............................................................................................................................50 Literaturverzeichnis....................................................................................................55 1 EINLEITUNG Die unmittelbare Herausforderung, vor die sich eine Arbeit über die Gedanken Alexander Kluges gestellt sieht, liegt in dem schier unüberschaubaren Umfang seines Werkes sowie in dessen spezieller Form. Kluges Œuvre erstreckt sich neben den z.T. gemeinsam mit Oscar Negt verfassten sozialphilosophischen Schriften über eine ganze Reihe filmischer Arbeiten und Reflexionen hin zu literarischen Biografien, Erzählungen und Essays. Kluge vereinigt in seinem Schaffen die Tätigkeit des Schriftstellers und Theoretikers ebenso wie die des Film- und Fernsehproduzenten. Die inhaltliche und formale Vielgestaltigkeit seiner Arbeit kommt im 1981 gemeinsam mit Negt verfassten Werk Geschichte und Eigensinn beispielhaft zum Ausdruck. Kluge und Negt modellieren dort Fragen, Erkenntnisse und Methoden der Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften so, dass das Ergebnis mit dem Begriff der „Interdisziplinarität“ kaum noch adäquat gefasst werden kann. Der Vorwurf des Eklektizismus liegt bei dieser scheinbaren Anti-Systematik gewiss nahe. Über die Vielfältigkeit der gedanklichen und darstellerischen Stoßrichtungen darf allerdings nicht vergessen werden, dass in Kluges Arbeiten durchaus ein zentrales Motiv am Werk ist, nämlich die Reflexion der politischen und historischen Lage. Dieses grundsätzliche Anliegen wird vor allem dann ersichtlich, wenn Kluge z.B. in Vorträgen oder kurzen Essays seine Theorie in komprimierter Form wiedergibt, so geschehen in seinem Vortrag anlässlich der Verleihung des Theodor-Fontane-Preises oder in der Frankfurter Poetikvorlesung im Jahr 2012. Diese Reflexion der politischen und historischen Lage scheint nun vor allem in der Bestimmung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft geleistet. Dementsprechend besteht die Auseinandersetzung auf der folgenden Seiten darin, einen konzeptuellen theoretischen Rahmen zu entwickeln, innerhalb dessen die Kluge'schen Kategorien „subjektives Erleben“ und „objektive Bedingungen“ angemessen bestimmt werden. Es geht mir dabei nicht darum, diese Größen willkürlich in ein umfassenderes Konstrukt einzuordnen. Vielmehr soll der intrinsische Zusammenhang zwischen Einzelmensch und Geschichte bzw. zwischen Individuum und Gesellschaft Stück für Stück bündig herausgearbeitet werden, sodass 2 er auch für den fachfremden Leser nachvollziehbar wird. Das umittelbare, lebensweltliche Erleben – die naturwüchsige Einstellung des Alltagsmenschen – stellt dementsprechend den Ausgangspunkt meiner Arbeit dar. Kluge scheint mir nun für dieses Vorhaben insofern besonders geeignet, als er dem „subjektiven Faktor“ in seiner kritischen Theorie der Gesellschaft einen zentralen Stellenwert zukommen lässt. Nicht umsonst stellen biografische und filmische Darstellungen konkreter Individuen einen ebenso wesentlichen Teil seiner Arbeit dar wie seine Auseinandersetzung mit der Bedeutung menschlicher Gefühle. Darüber hinaus liegt die Ergiebigkeit des Kluge'schen Denkens in dessen extensiver Herangehensweise an Problem- und Fragestellungen: diese werden nach ihren verschiedenen Seiten hin so aufgearbeitet, dass neben philosophischen und soziologischen Aspekten auch politische oder psychologische Gesichtspunkte Beachtung finden. In einer solchen Auseinandersetzung mit Kluge wird sich zudem zeigen, was darunter zu verstehen ist, wenn er sich als „Hofpoet der kritischen Theorie“ 1 bezeichnet: dass sein Schaffen immer ein praktisch-politisches Moment aufweist, d.h. auf die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse abzielt. Dieser Aspekt scheint in der bisherigen Rezeption eher unterzugehen. Um Kluge in diesem Kontext lesen zu können, scheint es mir angebracht, zentrale Begriffe, v.a. denjenigen der „Geschichte“, durch Rückgriff auf die Überlegungen von Karl Marx zu erläutern. Neben den Gedanken Kluges werden also im Weiteren auch diejenigen von Marx eine gewichtige Rolle spielen. Die folgende Arbeit beginnt mit einem Abschnitt über Kluges Konzept des „Antagonistischen Realismus“, in welchem der grundlegende Problemhorizont seiner Überlegungen – auch im Lichte soziologischer Paradigmen – skizziert wird. Danach werden sowohl der Begriff der Lebenswelt als auch derjenige der Geschichte hinsichtlich ihrer impliziten Dimensionen erörtert. Im Anschluss daran werde ich Kluges Vorschläge hinsichtlich der möglichen Vermittlung von Lebenswelt und Geschichte auseinandersetzen. Im Fazit greife ich einige vorangegangene Aspekte erneut auf, auch um sie mit anderen Deutungen des Kluge'schen Werks zu vergleichen bzw. gegenzulesen. 1 Kluge, Theorie der Erzählung, Vorlesung I. 3 „ANTAGONISTISCHER REALISMUS“ ODER „DAS PROBLEMATISCHE VERHÄLTNIS VON INDIVIDUUM UND GESELLSCHAFT“ Realismus, verstanden als spezifische Auffassungs- und Herangehensweise, besteht für Kluge aus zwei unterschiedlichen Haltungen: Die erste Haltung erfordert „die Genauigkeit in der Wiedergabe realer Erfahrungen.“2 Sie ist realistisch in dem Sinn, dass sie die konkreten Erlebnisse von Menschen oder Menschengruppen möglichst detailliert und authentisch nachzuerzählen bemüht ist. Neben dem Anspruch, lebendiger Erfahrungen konkreter Menschen Einzug in die künstlerische oder theoretische Arbeit zu ermöglichen, nennt Kluge eine zweite Haltung, welche als Motiv der ersten zu verstehen ist, „eine Haltung gegen das, was an Unglück in realen Verhältnissen ist.“3 Das Unglück realer Verhältnisse besteht nach Kluge in dem „Kontrast zwischen den Wünschen von Menschen und einer Wirklichkeit, die nicht auf diese Wünsche antwortet, die sie nicht befriedigt.“ 4 Diese Haltung bedeutet, den Dissens von Bedürfnis und Befriedigung als Problem ernst zu nehmen. Insofern geht sie über das reine Realitätsprinzip5 hinaus, sie ist antirealistisch. Die Dialektik dieser beiden Haltungen besteht für Kluge in ihrer widerspruchsvollen, dynamischen Einheit: Ein adäquates und aufmerksames Betrachten der Wirklichkeit wird eigentlich erst durch das antirealistische Motiv einer Negation bestehenden Unglücks ermöglicht, wobei die Genauigkeit und Aufnahme realer Erfahrungen ihrerseits eine kritische, problemorientierte Reaktion provoziert.6 Es besteht für Kluge indes ein weiteres, wesentlich schwierigeres Problem im 2 3 4 5 Kluge, Theodor Fontane, S. 08. Ebd. Ebd. Der Begriff des Realitätsprinzips gehört zur Nomenklatur der klassischen Psychoanalyse und bezeichnet denjenigen Teil des Ich, der für die Abstimmung und Modifikation des Verhaltens und Begehrens zuständig ist und dies jeweils auf die gegebenen Erfordernisse der Umwelt abstimmt, um derart zwischen triebhaftem Lustprinzip und äußeren Regeln und Normen zu vermitteln. 6 Es ist hier zweierlei anzumerken: Erstens identifiziert Kluge Wirklichkeit mit sozialer Wirklichkeit, was bedeutet, dass sein Realismusbegriff sich nicht auf die Wirklichkeit des Tierreichs, der Pflanzen oder der Sterne bezieht, sondern auf menschliches Zusammenleben. Zweitens wirft seine Aussage, ein aufmerksames Betrachten der Wirklichkeit sei nur durch den Zusatz einer negierenden Haltung möglich, Fragen auf: Die zugrundeliegende These wäre nämlich, dass eine ausschließlich deskriptive Bestandsaufnahme oder Dokumentation der sozialen Wirklichkeit nicht hinreicht. Um dies zu behaupten, muss Kluge von einer Vielschichtigkeit des Gegenstands Wirklichkeit ausgehen, die erst durch eine kritische Haltung adäquat gefasst werden kann. Wir werden auf dieses Spannungsverhältnis später erneut zu sprechen kommen. 4 Zusammenhang mit seiner Konzeption des antagonistischen Realismus: das Problem der Praxis, das das Verhältnis zwischen geschichtlicher Entwicklung und Alltagsleben der Menschen betrifft: „Die wirklichen Entwicklungen – solche, die Menschen schlagen können – finden aber in der geschichtlichen Bewegung, d.h. in Form von gesellschaftlichen Ereignissen statt, über die unsere unmittelbaren Sinne wenig sagen. […] In der Nähe, die uns erfahrbar ist, finden die Entscheidungen nicht statt. In der Ferne aber – die uns nicht erfahrbar ist, für die wir die geeigneten Fernrohre (oder Mikroskope) in unseren Sinnen nicht haben – finden die wirklich großen Schläge statt. Beides kommt nicht zusammen. In diesem Sinne ist der Mensch kein gesellschaftliches, kein politisches Wesen.“7 Der Gegenstand des Realismus ist soziale Wirklichkeit. Und diese Wirklichkeit, so scheint es, ist widersprüchlich verfasst. Eine Seite dieses Widerspruchs stellen die konkreten Individuen in ihrem unmittelbaren, praktischen Lebensvollzug dar, der vornehmlich gekennzeichnet ist durch das, was Kluge als Nähesinne bezeichnet. Bei einem Kind auf Familie und Urobjekte gerichtet, gelten sie auch später den konkreten Menschen und Beziehungen in der Lebenswelt eines Erwachsenen. Da Nähesinne für die Erkenntnis der anderen Seite des Widerspruchs, nämlich Gesellschaft, untauglich sind, erscheint diese innerhalb der Sphäre alltäglicher individueller Handlungs- und Lebensvollzüge nur in Form eines unsinnlichen Abstraktums, das in keiner durchsichtigen Beziehung zur vertrauten Lebenswelt steht. Kurzum, Kluge ist der Annahme, dass die konkreten Beziehungsgeschichten von Menschen und die gesellschaftliche Geschichte auseinanderfallen; sie scheinen nicht zusammen zu kommen. Im Gegenteil: Es macht den Eindruck, als würde die „große Gesellschaftsgeschichte“ immer wieder in die „kleinen Beziehungsgeschichten“ hereinbrechen, sie überwältigen, gar unter sich begraben.8 Nun gehört das angesprochene Verhältnis zwischen individueller Lebenswelt und objektiv-gesellschaftlicher Sphäre seinerseits zu den grundlegenden kategorialen Bestimmungen gesellschaftstheoretischer Theoriebildung. Gemäß der Relevanz dieser Konstellation bedarf jedwede Reflexion gesellschaftlicher Wirklichkeit explizit oder implizit einer bestimmten Auffassung von Individuum und Gesellschaft. 7 Kluge, Theodor Fontane, S. 10. 8 „Was ist eine Liebesgeschichte gegen die Wehrpflicht?“ Ebd. 5 Legen wir den von Kluge konstatierten Antagonismus beider Momente zugrunde, macht es den Eindruck, als würde sich dieser auch innerhalb der Theorie, die diese Größen zum Gegenstand hat, manifestieren. Die gängige Unterscheidung gesellschaftstheoretischer Analyse in „Mikro- und Makrosoziologie“ verleiht dem Ausdruck. Wir wollen daher einen kurzen Blick auf die Beschaffenheit dieser beiden Paradigmen werfen. Dabei unterscheiden wir zwischen der Ebene des Gegenstandes, die das Was einer Analyse betrifft, und derjenigen der spezifischen Methode, also dem Wie einer Betrachtung. Bezüglich des Ausschnitts der Wirklichkeit konzentriert sich mikrosoziologisches Denken und Erkennen auf die Analyse kleiner und kleinster sozialer Einheiten wie z.B. Interaktionszusammenhänge oder alltags- und lebensweltliche Phänomene, die „als elementare Totalphänomene Zusammenhang begriffen Gruppenphänomenen und unabhängig werden und vom gesamtgesellschaftlichen anzusiedeln individualpsychologischen sind zwischen Sachverhalten.“9 Methodologisch fußt die mikrosoziologische Betrachtungsweise überwiegend auf handlungstheoretischen Erklärungsmodellen, die ihren Ausgang von individuellen Akteuren und deren Handlungen nehmen und aus der Logik dieses Handelns und dessen Aggregation auf die Entstehung und Verdichtung gesellschaftlicher Institutionen und Strukturen schließen.10 Damit betonen handlungstheoretische Ansätze das Moment des aktiven Produzierens und Reproduzierens und somit auch des Gemachtseins gesellschaftlicher Phänomene, die in ihrer historischen Genese auf die Handlungen und Praxen individueller Akteure zurückzuführen sind. Infolge dieser Fokussierung auf sinn- und handlungsbezogene Dispositionen spielen die subjektiven Vorstellungen gesellschaftlicher Akteure innerhalb handlungstheoretischer Begründungszusammenhänge eine besondere Rolle. Den Gegenstand makrosoziologischer Untersuchungen bilden hingegen überindividuelle soziale Phänomene, wie z.B. Institutionen, Kollektive oder das gesellschaftliche Ganze. Diese Gegenstände und Prozesse werden „im Hinblick auf das Zusammenwirken struktureller Elemente und institutionalisierter Prozesse, insbesondere der Beziehungen gesellschaftlicher Bereiche untereinander und im 9 Fuchs-Heinritz et al., Lexikon zur Soziologie, S. 438. 10 Vgl. Rosa et al., Soziologische Theorien, S. 17. 6 Hinblick auf die Gesamtgesellschaft“11 untersucht und liegen damit weitestgehend jenseits der alltagsweltlichen Vorstellungen individueller Akteure. Tendenziell fußen makrosoziologische Theorien auf strukturtheoretischen Ansätzen, deren Grundannahme handlungstheoretischen Modellen diametral entgegengesetzt ist: Anstatt strukturelle Zusammenhänge und institutionelle Formen aus dem handelnden Zusammenwirken individueller Akteure zu begründen, werden deren Wollen und Handeln aus herrschenden gesellschaftlichen Strukturbedingungen erklärt, wobei die Entwicklung und Veränderung dieser Strukturbedingungen selbst Ergebnis eigenlogischer Gesetze ist.12 Vermeintlich subjektive Vorstellungsweisen und -inhalte lassen sich ebenso wie bestimmte Handlungspraxen als Ausdrücke allgemeiner Schemata vergesellschafteter Individuen bestimmen, die immer schon in eine bestimmte historische Stufe sozialer Praxis eingebunden und deren Produkt sind. Die idealtypisch beschriebene Trennung von mikro- und makrologischer Ebene und den korrespondierenden Erklärungsmodellen „Handlungs- und Strukturtheorie“ stellt für Gesellschaftstheorie und Allgemeine Soziologie eine beträchtliche Schwierigkeit dar: das Fach scheint in eine stärker subjektzentrierte, psychologische Perspektive einerseits und eine objektivistische, an allgemeinen Strukturen und Prozessen orientierte Betrachtungsweise andererseits gespalten. Während jene Handeln und Sinn zu den fundamentalen Erklärungsprinzipien menschlichen Verhaltens erhebt, betont diese den zwingenden und eigenlogischen Charakter struktureller Gegebenheiten. Imperialismus des Subjekts und Imperialismus des gesellschaftlichen Objekts bilden zwei schwer miteinander vereinbare Gegensätze.13 11 Fuchs-Heinritz et al., Lexikon zur Soziologie, S. 413. 12 Vgl. Rosa et al., Soziologische Theorien, S.17. 13 Vgl. Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, S. 52. Die Theorie von Giddens kann, ebenso wie diejenige von Pierre Bourdieu, als großangelegter Versuch verstanden werden, diese Problematik theoretisch aufzulösen. Beide sind darum bemüht, handlungstheoretische und strukturtheoretische Perspektiven miteinander zu vermitteln. Giddens entwickelt für diesen Zweck seine „Theorie der Strukturierung“, die den konzeptuellen Dualismus von Struktur und Handlung verabschiedet. Statt als Gegensatz, müssten diese Momente viel eher als rekursiv organisierte Zweiheit (Dualität) verstanden und erklärt werden. Bourdieus strukturalistischer Konstruktivismus bzw. konstruktivistischer Strukturalismus ist vor allem durch die Annahme einer Dialektik von strukturellen Zwängen und individuellen Konstruktionsleistungen ausgezeichnet. Mit seinem Konzept des Habitus bezeichnet er dasjenige Scharnier, das als Mittler zwischen der (objektiven) Sphäre des sozialen Raumes einerseits und dem (subjektiven) Raum der Lebensstile und Perspektiven andererseits fungiert. (Vgl. Bourdieu, Sozialer Raum und symbolische Macht. In: Rede und Antwort, Frankfurt am Main 1992.). 7 Es besteht nun eine zentrale Differenz zwischen den besprochenen soziologischen Auffassungen und der Sozialphilosophie Alexander Kluges: Während der Gegensatz von Individuum und Gesellschaft deren Betrachtungsweise immer schon als schlechthin faktischer Ausgangspunkt zugrunde liegt, zeichnen sich Kluges Überlegungen gerade dadurch aus, dass er deren Verhältnis als historisches Problem und mithin als Aufgabe einschätzt. Sein Anspruch geht insofern dezidiert über eine rein formale Begründung eines etwaigen Vorrangs von gesellschaftlicher Struktur oder individueller Handlung hinaus, als er ein eminent praktisches Interesse an der Aufhebung dieser Trennung hat. Das bedeutet, dass für Kluge die Deutung der vorgefundenen Wirklichkeit und ihre Aufhebung aufeinander bezogen sind: Aus der Konstruktion der Figur des Wirklichen folgt die Forderung nach deren realer Veränderung.14 Um einem allgemeinen gesellschaftstheoretischen Reflexionsniveau gerecht zu werden, bedürfen Kluges Überlegungen natürlich auch einer Ausformulierung der grundlegenden Bestimmung dieses Verhältnisses. Inwiefern lässt sich also mit Kluge von individueller Lebenswelt und geschichtlicher Gesellschaftswelt als gesonderte Entitäten sprechen, und wie beschreibt er die jeweilige Beschaffenheit dieser Wirklichkeitsbereiche? Verbleibt er im Weiteren bei einer dichotomen Gegenüberstellung beider Sphären oder wird diese innerhalb eines komplexeren Zusammenhangs aufgehoben? Sollte dies der Fall sein: Ist es möglich, dass Kluge Individuum und gesellschaftliche Geschichte einerseits als bereits vermittelten Zusammenhang versteht, andererseits jedoch nicht? Hilft eine Differenzierung seiner Annahmen in verschiedene Vermittlungsebenen, um diesem widersprüchlichen Sachverhalt beizukommen? Und letztlich: Wenn Kluge Vorschläge einer möglichen Vermittlung unterbreitet, wie sind diese inhaltlich beschaffen und einzuschätzen? 14 Vgl. Adorno, Die Aktualität der Philosophie, S. 338. 8 SUBJEKTIVITÄT: ZUM BEGRIFF DER LEBENSWELT LEBENSLÄUFE Ein Großteil der Schriften Kluges behandelt das alltägliche Leben und die konkreten Beziehungen meist konventioneller Menschen. Die Wiedergabe deren realer Erfahrungen, Sorgen, Wünsche und Ängste spielt in diesen Erzählungen eine tragende Rolle. Die Biografie als Geschichte und Erlebensstruktur vereinzelter Individuen, als „Zeitgefäß zwischen Geburt und Tod“ 15, scheint für ihn insofern eine der adäquatesten Formen der Erzählung zu sein, als in ihr das Kollidieren individueller und geschichtlicher Ereignisse im Besonderen zum Tragen kommt. Darauf werden wir später wieder zurückkommen. Biografien sind auf den ersten Blick etwas hochgradig individuelles. Sie mögen zwar ähnliche Eckdaten aufweisen, wie z.B. den Ort, an dem wir geboren wurden, dass wir zur Schule gegangen sind oder dass wir in irgendeiner Form unser Leben erwerben, d.h. einer Tätigkeit nachgehen, die wir „Arbeit“ nennen. Wichtiger als diese „Schubladen“ dünkt uns hingegen intuitiv die Tatsache, dass jedes Individuum durch einen besonderen Lebenslauf ebenso ausgezeichnet ist wie durch eine besondere Art und Weise, Dinge aufzufassen, zu erleben und zu verarbeiten. Jedes Individuum stellt eine subjektive Wirklichkeit, einen Mikrokosmos sui generis dar. Kluge erzählt, um diese Mehrdimensionalität der Wirklichkeit zu verdeutlichen, von einer Situation, in der er zu Besuch ist in dem Arztbüro seines Vaters in der DDR. 16 Während er, Kluge, im Büro seines Vaters sitzt, der in einem Buch über Napoleons Russlandfeldzug liest, liegt in einem angrenzenden Krankenhauszimmer eine Patientin, bei der in jedem Moment die Geburtswehen einsetzen werden. Vor dem Fenster – es ist der 1. Mai – findet zeitgleich eine Veranstaltung der Volksarmee statt, es gibt eine Blaskapelle und Ansprachen. Bezeichnend für diese Momentaufnahme ist nun die Gleichzeitigkeit verschiedenster individueller und kollektiver Wirklichkeiten. So treffen z.B. im Aufmerksamkeitsbereich des Vaters verschiedenste Anliegen aufeinander, die allerdings in ihrer Summe vollkommen verschieden sind von derjenigen eines posaunierenden Soldaten der Volksarmee oder der schwangeren Frau im 15 Kluge, Theorie der Erzählung, Vorlesung I. 16 Vgl. Ebd. 9 Nebenzimmer. Die perspektivische Mannigfaltigkeit und die Gleichzeitigkeit differierender Wirklichkeitszugänge bildet einen wichtigen Teil der Überlegungen und Erzählungen Alexander Kluges. Indessen: Der individuelle Lebensvollzug als „primäre Geschichte, wie sie Menschen erleben“ 17, besitzt immer auch Eigenschaften, die allgemeineren Charakters sind. Wäre dies nicht der Fall, ließe sich über Alltags- und Lebenswelt keinerlei verbindliche, allgemeingültige Aussage treffen. Was wären also allgemeine Charakteristika von Lebenswelt? Wie beschreibt Kluge diese Sphäre des Subjektiven und welche Kategorien sind für ihn in diesem Zusammenhang entscheidend? SINNLICHKEIT „Die Sinnlichkeit (siehe Feuerbach) muß die Basis aller Wissenschaft sein.“18 Die Kategorie der Sinnlichkeit kann als eine der Schlüsselkategorien der Überlegungen Kluges gelten und ist gerade im Hinblick auf die Welt des alltäglichen Lebens und Erlebens von besonderer Bedeutung. So kann auch der ganze Komplex der sogenannten Nähesinne nur im Zusammenhang mit dem umfassenderen Problem der Sinnlichkeit adäquat eingeordnet und verstanden werden. Mit Sinnlichkeit assoziieren wir spontan unsere naturgegebenen Sinnesorgane, d.h. die uns erfahrbaren verschiedenen Formen der Wahrnehmung, nämlich Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen. Es gibt zudem weitere sinnliche Eigenschaften und Fähigkeiten, die auf den fünf Sinnen aufbauen. Kluge und Negt bezeichnen sie als „gesellschaftliche Organe“, Marx, auf den Kluge wiederholt Bezug nimmt, nennt sie „Organe der menschlichen Individualität“. Dazu gehören z.B. Denken, Anschauen, Empfinden, Wollen und Tätigsein, ebenso Lieben, Wissen, Trauern, Erinnern, aber auch Familiensinn und Hunger nach Sinn.19 Dass Individuen in ihrem Alltagsleben diese Erfahrungen der Sinnlichkeit machen, ist selbstevident. Wir können wissen, dass wir schmecken, fühlen, trauern oder wollen. Was soll also 17 Kluge/Negt, Geschichte und Eigensinn, S. 783. 18 Zit. nach Kluge, Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte. Kluge, Die fünf Sinne – Sinnlichkeit des Zusammenhangs, S. 111. 19 Vgl. Kluge/Negt, Geschichte und Eigensinn, S. 45, Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (MEW 40), S. 539. 10 durch den Begriff der Sinnlichkeit genauer bezeichnet werden? Sinnlichkeit meint hier im Wesentlichen Gegenständlichkeit: Jedes der genannten menschlichen Verhältnisse zur Welt ist sinnlich im Sinne eines gegenständlichen Verhaltens oder eines Verhaltens zu einem Gegenstand.20 Sinnliche Wirklichkeit wäre damit durch zweierlei ausgezeichnet: ihre gegenständliche Struktur sowie das Erschließen dieser durch in ihre wirkende, tätige Individuen. Das bedeutet, dass es das zentrale formale Charakteristikum menschlicher Praxis ist, sinnlich-gegenständlich strukturiert zu sein: Konkrete Individuen sind in einer gegenständlichen Wirklichkeit tätig bzw. verhalten sich zu ihr. Die alltägliche Welt ist also eine sinnliche Welt in der wir uns sinnlich verhalten. Dabei kann die Praxis von Individuen hinsichtlich ihrer Äußerungen und ihres Verhaltens sowie der entsprechenden Gegenstände und Orte ihrer Vollzüge natürlich sehr verschiedene Formen annehmen. Beim Hören von Musik wird zum Beispiel eine andere Fähigkeit gefordert als beim Betrachten von Bildern oder Gemälden. Auch ist die Tätigkeitsform eine andere. Bei komplexeren sinnlichen Zusammenhängen, wie dem Besuch eines Fußballspiels oder eines Familienfestes, laufen hingegen mehrere Modi gleichzeitig ab – nicht nur die fünf Sinne, sondern auch die anderen Organe der Sinnlichkeit werden hier angesprochen und geäußert. In den mannigfaltigen Situationen der Lebenswelt korrespondieren jeweils bestimmte Tätigkeits-, Wissens- und Kommunikationsformen: Im Fußballstadion verhält man sich anders als auf einem Familienfest, beim Arztbesuch anders als an der Werkbank. Das heißt, nicht nur die Form unserer Sinne ist mannigfaltig (Schmecken, Riechen, Trauern, Sinnsuche etc.), sondern auch die Qualität der gegenständlichen Konstellationen, die unsere Welt prägen, uns affizieren und innerhalb derer wir uns verhalten. Diese können aus toter Materie ebenso bestehen wie aus lebendiger; ein Stein oder ein Stück Holz in Form eines Tisches kann ebenso Gegenstand unseres Verhaltens sein wie Pflanzen, Tiere oder andere Menschen. Wichtig ist hinsichtlich dieser ersten Bestimmung von Sinnlichkeit, dass alle Verhältnisse der Individuen gegenüber der Welt – die Tätigkeit ihrer fünf Sinne ebenso wie die Betätigung der sogenannten gesellschaftlichen Organe – innerhalb dieser Welt der sinnlichen Praxis stattfinden. Kluge nimmt in diesem Zusammenhang an, dass ein bestimmter Aspekt 20 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (MEW 40), S. 539. 11 dieser Praxis die ausschlaggebende Rolle hinsichtlich der Konstituierung der Lebensund Alltagswelt spielt, nämlich die Beziehungen zu anderen Menschen. Wir müssen daher erneut auf den bereits angerissenen Begriff der Nähesinne zu sprechen kommen. NÄHESINNE UND FERNSINNE Mit dem allgemeinen Begriff der Sinnlichkeit wurde zunächst ausgesagt, dass wir nicht im „luftleeren Raum“, sondern innerhalb einer sinnlich-gegenständlichen Wirklichkeit beheimatet sind. Die dort vorfindlichen Gegenstände und Situationen affizieren und modifizieren uns, ebenso wie wir uns ihnen gegenüber und in ihnen verhalten und wirkend auf sie Einfluss nehmen können. In diesem Zusammenhang geht Kluge davon aus, dass unser Zugang zur praktischen Wirklichkeit wesentlich durch eine Form der Sinne bestimmt ist: „Die tieferen sinnlichen Organe sind nur privat entwickelt, gehen fast ausschließlich mit Nähe-Verhältnissen um.“ 21 Was genau meint der Begriff der Nähesinne und was wäre der entsprechende Gegenbegriff? Und wie sind diese beiden Seiten jeweils qualitativ beschaffen? Nähesinne entstammen ursprünglich der frühkindlichen Erfahrung von Urobjekten, d.h. von primären Bezugspersonen des Säuglings- und Kindesalters, zu denen eine Beziehung aufgebaut wird. Kennzeichnend für diese Beziehung und den Mikrokosmos eines Heranwachsenden sind Objekte, die sich in unmittelbarer Umgebung befinden und die für das Kind von vitaler Bedeutung sind. Gegenstände außerhalb dieses Bereichs sinnlicher Wahrnehmung sind weder konkret bestimmbar, noch kommen sie als relevante Bezugsobjekte in Frage. Das Leben eines Kleinkindes dreht sich insofern ausschließlich um Nähe-Verhältnisse, als der Gegenstand, zu dem es sich verhält, sich jeweils in greifbarer Nähe befindet und das jeweilige Verhältnis für das Kind von existentieller Relevanz ist, ohne jedoch als solches reflektiert zu werden. Später, im Leben eines Erwachsenen, hat sich die Fähigkeit, „abstraktere“ Gegenstände zu thematisieren, stärker ausgebildet. Wir sind imstande, Themen und Gegenstände zu behandeln, die sich weit außerhalb unserer Reichweiten abspielen und die mit unserer unmittelbaren individuellen Situation vielleicht wenig bis gar 21 Kluge/Negt, Geschichte und Eigensinn, S. 597. 12 nichts zu tun haben. Die sinnlichen Organe dieses „abstrakten“ Umgangs mit Dingen bezeichnet Kluge als Fernsinne.22 Wichtig scheint nun Kluges Annahme zu sein, dass – obgleich die Fähigkeit der Fernsinne als Möglichkeit gegeben ist – Nähesinne auch im Erwachsenenleben prinzipiell die vorrangige Rolle bei der Konstitution von Wirklichkeit einnehmen. Von subjektiver Relevanz und Bedeutung sind vor allem diejenigen Beziehungen und Objekte, die in lebenspraktischer Reichweite liegen. Kluge begründet diese Vorherrschaft erneut durch frühkindliche Erfahrung und das Weiterbestehen entsprechender Kindheitswünsche: In den Beziehungen eines Kindes scheint es nämlich lange Zeit so, „als werde die Welt durch konkrete Menschen reguliert.“23 Die Auffassung, dass die Welt als Ort meines Daseins abhängig sei vom Tun und Lassen greifbarer Personen, führt zu der Situation, dass alle Erfahrungen von z.B. Glück und Unglück anhand der intersubjektiven Koordinaten dieses Weltzugangs rezipiert und gemessen werden.24 Ebendiese Fokussierung auf zwischenmenschliche Beziehungen als Garant möglichen Glücks ist es, die sich als Nähesinne ins spätere Leben hinein verlängert. Sie macht neben weiten Teilen der Kunstproduktion auch den Großteil dessen aus, was an Erfahrungen gewöhnlichen Menschen im Kopfe schwirrt.25 Wie unterscheidet sich nun der Umgang von Nähesinnen qualitativ von demjenigen der Fernsinne? Zur Veranschaulichung dieser Differenz führt Kluge das Beispiel eines Quadratmeter Waldbodens an. Diese Fläche kann sowohl poetisch als auch biologisch beschrieben werden, und je nachdem kommt dabei entweder ein Gedicht oder eine Sachanalyse heraus26: „Das sind zwei ganz verschiedene Sprachen. Das eine ist die Sprache der Statistik: damit gehen wir unsinnlich um – genau wie mit den wirklichen Verhältnissen in der Geschichte. Und wir gehen sinnlich mit Lyrik um, 22 23 24 25 26 Vgl. z.B. Ebd. Kluge, Theodor Fontane, S. 09. Vgl. Ebd. Vgl. Kluge, Theodor Fontane, S. 09 f. Zunächst liegt hier der Schluss nahe, dass die Form, in der ein Gegenstand verhandelt wird, von diesem relativ unabhängig zu sein scheint – der Quadratmeter Waldboden präfiguriert nicht die Form des jeweiligen Ergebnisses (Gedicht oder biologische Analyse). Das würde bedeuten, dass die Entscheidung, ob ein Objekt in sinnlichem oder unsinnlichem Umgang bearbeitet wird, wesentlich von der Betrachtungsweise, d.h. vom Modell des Zugriffs abhängt. Im Weiteren argumentiert Kluge allerdings, dass bestimmte Gegenstände sehr wohl eines bestimmten Werkzeugs bedürften bzw. dass bestimmte Werkzeuge für bestimmte Gegenstände ungeeignet seien. Im Moment kommt es aber weniger auf diese Frage an, sondern darauf, was Kluge unter einem sinnlichen Verhältnis versteht. 13 mit unmittelbarem Nähesinn.“27 Sinnlichkeit erfährt hier nun eine andere Konnotation als oben beschrieben. Hier ist ein sinnliches Verhältnis vor allem ausgezeichnet durch seine gefühlsmäßige Qualität, nicht lediglich durch sein dinghaftes Gegenständlichsein. Mit einer Sache sinnlich umzugehen, scheint für Kluge vor allem zu bedeuten, dass diesem Umgang ein für das Subjekt bedeutsames Verhältnis zugrunde liegt. Wenn in der Umgangssprache davon die Rede ist, dass uns etwas „nahe geht“, ist damit generell gemeint, dass uns eine Angelegenheit emotional bewegt, dass sie uns seelisch anrührt oder dass wir von ihr in besonderem Maße affiziert werden. In jedem Fall ist die Sache bzw. die Beziehung zur Sache für das beteiligte Subjekt durch einen ausgesprochen lebendigen und emotionalen Charakter gekennzeichnet. Ein unsinnlicher Umgang mit einem Gegenstand wäre hingegen geprägt durch seine sachliche, formale und nüchterne Art. Der entsprechende Gegenstand „geht uns nicht nahe“, d.h. er besitzt keine vitale Bedeutung oder Sinnhaftigkeit für das einzelne Individuum. Es ist eine Grundannahme Kluges, dass elementare Relevanz für die praktischen Lebensvollzüge konkreter Individuen nur das besitzt, was auf irgendeine Art und Weise durch Emotionen und Gefühlslagen besetzt ist: „Die Gefühle sind die wahren Einwohner der menschlichen Lebensläufe.“28 ARBEIT UND BALANCEARBEIT Nachdem wir uns bisher weitestgehend mit subjektiven Dispositionen des tätigen (Er-)Lebens befasst haben, fokussieren wir uns nun auf die Dimension des Arbeitens.29 Während wir Sinnlichkeit als menschlich-praktische Wirklichkeit im Allgemeinen und Nähesinne als konkrete, primäre Form des Umgangs und subjektive Auffassung dieser Wirklichkeit im Besonderen bestimmt haben, sollen jetzt verschiedene Bereiche und Formen von Arbeit genauer erörtert werden. Der Fokus liegt hierbei auf dem Begriff der Balance-Ökonomie, der einen wichtigen Aspekt subjektiver Arbeitsvermögen im Hinblick auf die Bewältigung von Lebenszusammenhängen darstellt. Kluge differenziert bezüglich der Bestimmung 27 Kluge, Theodor Fontane, S. 10. 28 Kluge, Chronik der Gefühle, S. 07. 29 Von Arbeit wird hier im extensiven Sinne gesprochen, d.h. dass damit nicht lediglich Lohnarbeit gemeint ist (jemand „geht arbeiten“), sondern überhaupt die Verausgabung menschlicher Kräfte und Fähigkeiten. 14 von Arbeit drei Bereiche: „Ein großer Teil der Arbeit findet in Betrieben statt, in der Arbeitswelt. Ein weiterer großer Teil findet im Sozialisationsbereich statt: in den Familien, den Liebesbeziehungen, der Erziehung usw. Und um es jetzt in den Betrieben, in der Arbeit, und in diesen Beziehungen überhaupt auszuhalten und nicht davonzulaufen, braucht man wiederum ein Quantum an Arbeit – das würde man Balancearbeit […] nennen.“30 Diese verschiedenen Bereiche betreffen nun nicht nur bestimmte Formen der Arbeit, sondern prägen jeweils auch verschiedene Formen der Erfahrung. Betriebe, d.h. Unternehmen oder auch öffentliche Betriebe und Verwaltungen, sind als Orte der Erfahrung vor allem ausgezeichnet durch ihren sachlichen Charakter, durch geregelte Abläufe, feste Zuständigkeitsbereiche und konkrete Hierarchien. Das bestimmende Ziel eines jeden Betriebs Wirtschaftlichkeitsprinzips Güter besteht und darin, nach Dienstleistungen Maßgabe zu des produzieren.31 Entsprechend sind die Erfahrungsmöglichkeiten innerhalb dieser Arbeitsprozesse durch die konkreteren Dimensionen dieses Prinzips, d.h. durch Zeit- und Mengeneinheiten, durch die Maschinen und die Arbeitsintensität vorgegeben und in ihrer Organisation nicht unmittelbar beeinflussbar.32 Ein zentrales Merkmal der Arbeit in Betrieben ist demnach ihre heteronome Struktur, d.h. das pflichtförmige Befolgen externer Regeln und Vorgaben, die für die jeweilige Beschaffenheit der Tätigkeit (z.B. Tempo, Handgriffe) bestimmend sind. Für den Sozialisationsbereich, d.h. für Gesellungs- und Kommunikationsformen, die auf familiales und Gruppenleben ausgerichtet sind, gelten, trotz gewisser Einschränkung, immer noch die Erfahrung der Einheit, der Nähe und der Geborgenheit.33 Die Welt der Beziehungen, der Familien und Freundschaften und des Gefühlslebens ist, entgegen der Welt des Betriebs, stärker durch eine emotionalsinnhafte Komponente ausgezeichnet, also durch das, was Kluge als sinnliche Umgangsform bezeichnet. Jene unterscheidet sich von dieser auch durch die eingesetzten Arbeitskräfte: Einfühlungsvermögen, Sensibilität, Liebe und andere „zärtliche Kräfte“ bilden Arbeitsvermögen, die über eine rein instrumentelle, 30 31 32 33 Kluge, Theodor Fontane, S. 15. Vgl. Fuchs-Heinritz et al., Lexikon zur Soziologie, S. 93. Vgl. Jaeggi/Faßler, Kopf und Hand, S. 92. Vgl. Jaeggi/Faßler, Kopf und Hand, S. 91. 15 funktionale Zuständigkeit hinausgehen. Der Arbeitsbereich der Balance-Ökonomie ist nun im Gegensatz zu den anderen Arbeitsbereichen kein inter-, sondern ein intrasubjektiver. Kluge und Negt definieren Balancearbeit als latenten Arbeitsprozess, der zu denjenigen Strömen der Arbeitsvermögen gehört, die „im Arbeitsresultate nie und im Arbeitsprozeß selten“ 34 sichtbar werden. Dass physische Arbeitskraft verausgabt wird, lässt sich z.B. konkret im Arbeitsprodukt ausmachen, seelische Dispositionen innerhalb einer konkreten Beziehungs- oder Kommunikationssituation. Die Arbeitskraft der Balance-Ökonomie hingegen äußert sich „in der Umwegproduktion der Kultur, in der Phantasietätigkeit, Arbeit des Protests, der Deutungsarbeit, der Trauerarbeit, in einer Fülle von Selbst- und Fremdtröstungen; sie ist praktisch als Annex Bestandteil eines jeden Arbeitsprozesses und zugleich Praxis einer kompensatorischen Gegenproduktion.“35 Balance-Ökonomie bedeutet für Kluge und Negt wesentlich Ausgleichshaushalt und Ausgleichsarbeit, d.h. bewältigendes und kompensierendes Tun mit dem Ziel der Instandhaltung subjektiven Gleichgewichts – „Arbeit für die kippelige Balance, die aufrechterhalten werden muß […].“36 Balancearbeit umfasst die gesamten körperlichgeistigen Anstrengungen, die von Menschen unternommen werden, um es mit den Erfordernissen, Zwängen und Erfahrungen in den Sphären der Lohnarbeit und der Beziehungen auszuhalten. Dabei entwickeln sich diese ausgleichenden Kräfte durchaus automatisch. Balance-Ökonomie als „Spezialfall der Selbststeuerung“37 fußt auf dem Konzept der Selbstregulation, das besagt, dass ein psychisches, soziales oder organisches System in Bezug auf die für es relevanten Beziehungen (z.B. zu einem Arbeitsgegenstand oder anderen Subjekten) dahin tendiert, sich auf einen stabilen Zustand einzupendeln.38 Dieser bezeichnet das immer schon gegebene Ziel sowohl allgemeiner selbstregulativer Prozesse, als auch des Spezialfalls der BalanceÖkonomie. Mit dem Zustand des Gleichgewichts bezeichnen Kluge und Negt aber keine Esoterik, sondern die Gewährleistung der organischen, psychischen und 34 35 36 37 38 Kluge/Negt, Geschichte und Eigensinn, S. 109. Ebd. Kluge, Theodor Fontane, S. 15 Kluge/Negt, Geschichte und Eigensinn, S. 110. Vgl. Ette, Kosmos Herakles, S. 09. 16 sozialen Intaktheit und Stabilität überhaupt. Deren Förderung kann im merkfähigen Bewusstsein ebenso verstreut sein wie in der Routine oder besonderer Geschicklichkeit.39 Es lassen sich demnach sowohl bewusste, als auch unbewusste Vorgänge als Momente der Balance-Ökonomie ausmachen, d.h. Techniken des Ausgleichs (Sport, Meditation, etc.) ebenso wie phantastische Besetzungen (Traum, Wunschvorstellung), kognitive Leistungen (Überdenken, Deuten) ebenso wie Verschiebungen (Verdrängung, Zwangshandlung). Als Ausgleichsarbeit wirkt Balance-Ökonomie aktiv an der Produktion und Verarbeitung von Erfahrungen mit, sie reguliert, integriert und synthetisiert. Da aber die Lebensbedingungen von Menschen je nach Position im sozialen Raum stark voneinander abweichen, gehen Kluge und Negt auch von verschiedenen Balance-Erfordernissen aus. „Es versteht sich, daß nicht eine Balance-Ökonomie – und damit ein Arsenal von Arbeitsvermögen dieses Charakters –, sondern daß für jede Klasse, Produktionsweise, für Kinder, Frauen, alte Menschen, je nach Stellung im gesellschaftlichen Verhältnis, verschiedene Balancen nötig sind.“40 Zur Illustration dieses Phänomens lesen wir im Folgenden Ausschnitte eines Interviews mit der 57-jährigen Bandarbeiterin „Lissi“, erschienen im Herbst 2013 in der Frankfurter Allgemeine41. Lissi spricht über ihren Arbeitsalltag sowie ihren Umgang mit diesem: Haben Sie lange gebraucht, um Ihr System zu entwickeln? An meinen ersten Tagen hier ließen sie die Maschine extra langsam laufen. So hatte ich Zeit, mir ein System zu überlegen. Irgendwann geht es über ins Blut. Das ist ein schöner Moment, weil man dann die Maschine bezwungen hat. Sie mögen die Maschine nicht besonders. Es ist nicht so, dass ich sie nicht mag. Wir sitzen ja im selben Boot. Wenn die 30 wieder einmal Schwierigkeiten macht mit der Waage, schimpfe ich mit ihr: Du bist aber ein schlimmes Luder. Aber ich bin nie zu streng, weil sie noch ein Baby ist. Sie muss auch noch lernen. Wenn sie rennt, lobe ich sie. Irgendwie rede ich immer mit ihr. 39 Vgl. Kluge/Negt, Geschichte und Eigensinn, S. 110. 40 Ebd. 41 http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/an-der-maschine-ich-mache-die-arbeit-wie-imtraum-12574387.html (abgerufen am 05. April 2014). 17 Wie ist es, tagein und tagaus dieselben Handgriffe zu machen? Schlimm sind die Verspannungen, die dann zu Kopfweh führen. Aber mit einer Massage geht das wieder. Wird Ihnen nie langweilig? Ich denke nicht darüber nach. Worüber denken Sie denn nach, während Ihre Hände arbeiten? Ich bin stolz, meine Arbeit zu können. Ich liefere gute Qualität, mir kann niemand was vormachen. Das erreiche ich nur, weil mir die Arbeit nicht wurscht ist. Ich mache meine Arbeit wie im Traum, völlig automatisch. Trotzdem schweife ich niemals mit meinen Gedanken ab. Das glaube ich Ihnen nicht. Die Gedanken kann man ja nicht einfach einsperren. Ich bin nicht der Typ, der seine Gedanken schweifen lässt. Ich wollte Sie nicht verletzen. Die Gedanken schweifen zu lassen heißt ja nicht gleich, dass einem die Arbeit wurscht ist. Gut, bei ganz stupider Arbeit wie Safran abfüllen wird mir tatsächlich ganz fad. Da verschwimmt mir alles vor Augen. Ich will gar nicht sagen, welche Gedanken ich durch meinen Kopf jage, damit die Zeit schneller vergeht. Das müssen lustige Gedanken sein, so wie Sie lachen. (Lissi hält sich den Bauch vor Lachen) Ich stelle mir vor, dass jeder Beutel mein Kind ist. Ich gebe Ihnen Namen, zuerst alle Namen, die mit dem Buchstaben E beginnen. Und so weiter, bis ich das ganze Alphabet durch habe. Danach stelle ich mir vor, dass die Beutel Schulkinder sind, die auf Klassenfahrt gehen, und ich muss ihnen Proviant mitgeben. Ich bringe alle Lebensmittel durch, bis mir nichts mehr einfällt und ich scharf nachdenken muss. Wie geht es Ihnen, wenn Sie nach so einer Schicht nach Hause kommen? Wie immer gehe ich, ohne zu essen, ins Bett. Aber nach so einer Schicht werde ich nachts oft wach und brauche Schokolade. Deuten wir Lissis Aussagen anhand der bisher erörterten Kategorien: Grundlegend bestimmt ist Lissis Realität dadurch, dass sie in einer sinnlich-gegenständlichen Wirklichkeit praktisch tätig ist, d.h. sich gegenüber einer konkreten, durch bestimmte Gegenstände ausgezeichneten Wirklichkeit verhält. Die primären Gegenstände, mit denen sie umgeht und mithilfe derer sie einen spezifischen Arbeitsschritt innerhalb des Produktionsprozesses vornimmt, sind die Maschinen. Lissi befindet sich in einer konkreten Betriebssituation, d.h. sie besitzt einen begrenzten Zuständigkeits- und 18 Verantwortungsbereich, innerhalb dessen sie ein bestimmtes Leistungskontingent erfüllen muss, das in diesem Fall aus 500 Kartons pro Tag besteht. Obgleich die zu verrichtende Arbeit oft stupide oder repetitiv ist, arrangiert sich Lissi mit ihr. Sie tut dies erstens durch ihr selbstbewusstes Verhältnis zur Arbeit: Lissi beherrscht die Situation, insofern sie die Maschine beherrscht, d.h. dass sie Arbeitsgeschwindigkeit und -intensität einhalten kann, ohne dass es zu Verzögerungen oder Ausfällen kommt. Diese Situationsbewältigung stellt an sich einen wichtigen Wert dar. Lissi beweist damit ihre Fähigkeiten und Kenntnisse und erhält dafür (von sich selbst oder anderen) Anerkennung. Zweitens leistet Lissi enorme Integrationsarbeit: Die dinghaften Objekte ihrer Arbeit (Kartons, Maschinen) werden mit einer gefühlsmäßigen Qualität versehen und von ihr so modifiziert, dass ein sinnlicher Umgang mit ihnen möglich ist. Arbeitsgegenstände und -mittel werden dabei anthropomorph besetzt; Maschinen werden zu „Ludern“, Gewürzbeutel zu Kindern die mit Proviant für einen Schulausflug versorgt werden müssen. Dass hier eine intersubjektive Beziehungs- und Kommunikationsstruktur implementiert wird, verweist nicht nur unmittelbar auf den oben erörterten sinnlichen Umgang der Nähesinne, sondern ebenso auf die Tätigkeit des Ausbalancierens. Die unzumutbaren, anstrengenden und stupiden Arbeitssituationen werden durch Besetzungen und Phantasievorstellungen in ein Schema integriert, das es ermöglicht, sie zu bewältigen und zu handhaben. Auch die Anwendung von Massage oder der nächtliche Verzehr von Schokolade lassen sich als Ausgleichsmaßnahmen deuten, die für die Wiederherstellung der körperlich-organischen sowie der psychisch-geistigen Intaktheit eingesetzt werden. Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Subjekt und Lebenswelt werden von Kluge materialistisch fundiert, d.h. sie werden als sinnlich-gegenständlich verfasst bestimmt. Individuen verhalten sich praktisch und sind dabei immer schon mit äußeren Gegenständen, Ereignissen und Mitmenschen konfrontiert, von denen sie affiziert werden und auf die sie handelnd Einfluss nehmen. Eine zentrale Rolle für diese Praxis spielen die zwischenmenschlichen Beziehungen und Bezugnahmen: Lebenswelt als intersubjektive Welt, betont Kluge, sei vor allem durch ihre emotionalen und interessenbezogenen Komponenten ausgezeichnet. 19 Die Lebenswelt ist des weiteren charakterisiert durch einen begrenzten Wahrnehmungsradius, dessen gefühlsmäßige Kopplung von Kluge stark gewichtet wird. Der Begriff der Nähesinne (als Vermögen) bzw. der der Näheverhältnisse (als konkretes Verhältnis) geben dem Ausdruck. Kluge verfolgt eine ganzheitliche Konzeption von Lebenswelt in dem Sinne, dass er die zentrale Rolle nicht-kognitiver, vorwissenschaftlicher und gefühlsmäßiger Elemente bei der Konstitution von Selbstund Weltbezügen betont.42 Diese stellen einen grundsätzlichen Bestandteil menschlicher Subjektivität dar und werden immer wieder von Neuem als Koordinaten produziert und implementiert, wie wir am Beispiel Lissis sehen konnten. Individuen arbeiten ständig mit an der Konstruktion der Wirklichkeit: nicht nur leisten sie entsprechend ihrer konkreten lebensweltlichen Erfahrung und Biografie Deutungs-, Interpretations- und Integrationsarbeit, auch alle weiteren individuellen Tätigkeiten können mit Kluge als Arbeit gedeutet werden: „Fühlen, Denken, Wahrnehmen, Empfinden, Handeln, Erinnern, Sich-Etwas-Vorstellen, Lachen Weinen, usf. sind Arbeitsprozesse des Bewußtseins.“43 Vor allem im Zusammenhang mit politischen und bildungsmäßigen Anliegen und Fragen scheint die Erkenntnis von eminenter Wichtigkeit, dass Objekte, Stoffe oder Prozesse nur dann wirklich, d.h. mit Bedeutung, Sinn oder Interesse konnotiert werden, wenn sie in das lebensweltliche Koordinatensystem konkreter Individuen integrierbar sind. Die Lebens- und Alltagswelt stellt die primäre organische und sinnhafte Basis für alle Tatsachen, Geschichten und Stoffe dar, die sich zeitlich und räumlich außerhalb der individuellen Biografie befinden: „Was nach ihrem Tode geschieht und vor ihrer Geburt geschah, verarbeiten sie [die Individuen, S.A.] aus den Zeitbestimmungen und den Reichweiten dieser Lebensläufe.“ 44 Dies gilt nicht nur, wenn auch in verstärktem Maße, für das menschliche Verhältnis zur Geschichte, 42 Es ist bemerkenswert, dass das philosophische und gesellschaftstheoretische Denken Kluges dem Phänomen der Lebenswelt überhaupt einen derartig großen Stellenwert beimisst. Die philosophiegeschichtlichen Implikationen dieser wissenschaftlichen Hinwendung zur subjektiven Wirklichkeit im Sinne des Alltäglichen, Emotionalen und Sinnhaften, können hier zwar nicht ausgeführt werden, es ist jedoch wichtig anzuerkennen, dass das damit verbundene Bemühen, die Perspektive des lebensweltlichen und vor-wissenschaftlichen Menschen in ihrer komplexen Zusammensetzung empathisch nachvollziehen und verstehen zu wollen, über eine rein fachliche Orientierung hinaus auch eine bestimmte Haltung, sich dem Gegenstand Mensch zu nähern, bedeutet. Ich werde auf diese Haltung im Kapitel über „Vermittlung“ genauer eingehen. 43 Kluge/Negt, Geschichte und Eigensinn, S. 421. 44 Ebd., S. 783. 20 sondern überhaupt für jeglichen möglichen Gegenstand der Aneignung – er muss, um subjektiv wirklich zu werden, an die Erfahrungs-, Erlebens- und Wirklichkeitsstruktur der Lebenswelt angepasst werden. Weshalb und inwiefern dieser Sachverhalt für Kluge ein virulentes Problem darstellt, werden wir im nächsten Exkurs behandeln. EXKURS I: DAS PROBLEM DER THEORIE „Es geht um ein universelles Problem der Sinnlichkeit. […] Die Nähesinne arbeiten, an den Fernsinnen ist nicht gearbeitet worden. Sie bilden vor allem keine Gesellschaft. Das ist das politische Problem der Gegenwart und Verzerrung des Grundverhältnisses zur Geschichte.“45 Zwar werden wir die nähere Bestimmung der Größe Geschichte, deren Erkennbarkeit hier zur Disposition steht, erst später behandeln – das Problem, das Kluge aufwirft, erklärt sich jedoch durch die bereits geleistete Bestimmung der Lebenswelt. Seine These ist die folgende: Dass die Lebens- und Alltagswelt von Menschen wesentlich durch einen eingeschränkten, „privaten“ Wahrnehmungsradius ausgezeichnet ist, verhält sich insofern problematisch zur Geschichte, als diese außerhalb des lebensweltlichen Gesichtskreises verbleibt, obgleich sie diejenige Größe darstellt, die für den (menschlichen oder unmenschlichen) Verlauf der Dinge entscheidend ist. Der subjektive Erkenntnishorizont reiner Gegenwärtigkeit, in dem die Geschichte stets nur im Modus resultatförmiger Faktizität erscheint, geht somit seinen eigenen Voraussetzungen verlustig.46 Es stellen sich in diesem Zusammenhang mehrere Fragen: erstens, welche Instrumente Kluge für die Erkenntnis von Geschichte bzw. Gesellschaft als adäquat erachtet; zweitens, weshalb diese nur schwerlich mit der Lebenswelt vermittelbar scheinen; und drittens, ob Gesellschaft bzw. Geschichte überhaupt als valide Bestimmungsgröße von Lebenserfahrungen in Frage komme oder ob nicht viel eher „kleinere Schläge“ im unmittelbaren Lebensumfeld entscheidender seien für das Geschick konkreter Lebensvollzüge. 45 Ebd., S. 597. 46 Vgl. Schulte, Konstruktionen des Zusammenhangs, S. 65. 21 Die letzte Frage werden wir im kommenden Kapitel erörtern.47 Zunächst ist die Frage nach der Erkennbarkeit von Gesellschaft und Geschichte zu klären. Hierzu muss man festhalten, dass Kluge (mit Brecht) davon ausgeht, dass allein auf dem Wege der äußeren, rein empirischen Beobachtung die adäquate Erfassung einer gesellschaftlichen Einrichtung (z.B. eines Betriebs) nicht möglich ist: „Die Lage wird dadurch so kompliziert, daß weniger denn je eine einfache 'Wiedergabe der Realität' etwas über die Realität aussagt. Eine Fotografie der Krupp-Werke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institution. Die Realität ist in die Funktion gerutscht.“48 Realität scheint auch hier wieder eigenartig widersprüchlich verfasst zu sein, und zwar insofern, als es eine Differenz zwischen äußerer, offensichtlicherer und innerer, funktional-relationaler Seite, welche für Kluge und Brecht wesentlicher ist, zu geben scheint.49 „Das, was ein Mikroskop für jeden Naturwissenschaftler oder ein Fernrohr für den Astronomen ist, das gibt es – was gesellschaftliche Erfahrung angeht – nur in Form der Abstraktionsfähigkeit des menschlichen Kopfes.“50 Denken scheint die einzig mögliche Erkenntnisform zu sein, mithilfe derer Geschichte und gesellschaftlicher Zusammenhang überhaupt erst begriffen werden können. Kluge folgt in seiner Aussage Marxens Überlegungen aus der Vorrede zum Kapital: „Bei der Analyse der ökonomischen Formen kann […] weder das Mikroskop dienen noch chemische Reagentien. Die Abstraktionskraft muß beide ersetzen.“51 Die philosophische Methode steht allerdings dem Denken und Auffassen der Nähesinne diametral entgegen; überhaupt ist sie „verschieden […] von der künstlerischen, religiösen, 47 Sie entspricht exakt der durch Nähesinne geprägten Auffassung, die oben erörtert würde: Hier besitzen Glück und Unglück immer einen Charakter der Unmittelbarkeit, insofern sie ausschließlich durch die konkreten Beziehungen zu konkreten Menschen reguliert zu sein scheinen. 48 Zit. nach Kluge, Bertolt Brecht, Der Dreigroschenprozeß. In: Kluge, Theodor Fontane, S. 08. 49 An dieses erkenntnistheoretische Problem gliedern sich umfassende Fragen, die hier nicht weiter ausgeführt werden können. Die Unterscheidung von Wesen, Schein und Sein, die hier implizit verhandelt wird, stammt in dieser Form dialektischen Denkens aus Hegels Logik und ist innerhalb des hegelianischen Marxismus von grundlegender Bedeutung, z.B. im Zusammenhang der Ideologiekritik. Im Weiteren dazu u.a. Kosík, Die Dialektik des Konkreten. Eine Studie zur Problematik des Menschen und der Welt, Frankfurt am Main 1967. Für unseren Zusammenhang sind allerdings weniger wissenschaftstheoretische Fragen von Relevanz, als vielmehr das Verhältnis der lebensweltlichen Form des Denkens zu derjenigen, die für Kluge eine adäquate Erkenntnis der Gesellschaft zu gewährleisten imstande wäre. 50 Kluge, Theodor Fontane, S. 11. 51 Marx, Das Kapital I (MEW 23), S. 12. 22 praktisch-geistigen Aneignung dieser Welt.“52 Die Verschiedenheit im Hinblick auf die lebensweltliche Herangehensweise, die uns hier vor allem interessiert, resultiert aus der Tatsache, dass theoretisches Denken einer grundlegend anders gearteten Sprache folgt, die Kluge unsinnlich nennen würde. Sie kann so etikettiert werden einerseits aufgrund ihrer streng sachlichen Form, andererseits aufgrund ihrer Inhalte, die mit den lebenspraktischen und beziehungstechnischen Belangen der Einzelnen unmittelbar nichts zu tun zu haben scheinen. Theorie „ist eben nicht genauso sinnlich wie eine Umarmung“53, auf sie lässt sich kaum emotional reagieren, da sie vornehmlich sachlichen Charakters ist. Der ungemeine Reflexionsaufwand und das kontinuierliche Hinterfragen der in der „natürlichen Einstellung“ als selbstverständlich angenommenen Gegebenheiten machen die philosophische Reflexion zu einer Denk- und Praxisform, die in weiten Teilen mit dem lebensweltlichen Denken und Handeln inkompatibel ist. Für das Alltagsleben zeichnet sich die Sphäre des philosophisch-begrifflichen Denkens also eher als Zumutung, denn als integrierbare Dimension des Bewusstseins aus.54 Die Tatsache, dass auf der Ebene der Nähesinne intensiv gearbeitet wird, die Arbeit auf der Ebene der Fernsinne allerdings nur mangelhaft entwickelt ist, stellt im Zusammenhang mit einer übermächtigen, gewaltförmigen Gesellschaftsgeschichte das eigentliche politische Fundamentalproblem Kluges dar. Bevor wir nun genauer auf dessen Vorschläge hinsichtlich möglicher Vermittlungsansätze eingehen, werden wir uns im folgenden Kapitel der anderen Seite des zu Beginn aufgeworfenen Konflikts zuwenden. 52 Marx, Einleitung in die Kritik der Politischen Ökonomie (MEW 13), S. 633. 53 Kluge, Theodor Fontane, S. 11. 54 „Leben ist ganz eigentlich nicht philosophieren, und Philosophie ganz eigentlich nicht Leben. Es ist eine volle Antithesis, und Vereinigung […] ist nicht möglich.“ Fichte, Rückerinnerungen, Antworten, Fragen, S. 183. 23 OBJEKTIVITÄT: ZUM BEGRIFF DER GESCHICHTE „Viele Menschen schrecken zurück wenn sie 'Geschichte' hör'n. Geschichte...Vier langweilige Stunden pro Woche in der Schule, oder was, das lange her ist oder immer ohne einen passiert.“55 Bisher lag der Fokus unserer Betrachtungen auf der Morphologie und der natürlichen Einstellung der Lebenswelt, deren Ausgangspunkt die einzelnen Individuen bilden. Wirklichkeit erscheint aus dieser Perspektive als Aggregation interagierender Individuen bzw. deren Denken und Handeln. Wir entfernen uns nun von diesem lebensweltlichen Ausgangspunkt und betrachten die andere Seite des von Kluge aufgeworfenen Konflikts, die sich als schlichter Gegensatz zur Lebenswelt darstellt: Geschichte. Kluges Geschichtsauffassung betrachten wir unter drei Aspekten, nämlich als Gattungsgeschichte, als Entfremdungszusammenhang und als utopische Möglichkeit. GESCHICHTE ALS GATTUNGSGESCHICHTE Lebensläufe, so Kluge, sind durch die Geschichte der Gattung geprägt. Deren Lebenslauf erstreckt sich entweder über 10.000 oder 400.000 Jahre, je nachdem, wo man die Wurzel sucht.56 Im Allgemeinen zielt der Begriff der Gattung darauf ab, mannigfaltigen Stoff durch die Feststellung gleicher Elemente in spezifische Gruppen („Gattungen“) einzuteilen: „Die Dinge überhaupt haben eine bleibende, innere Natur und ein äußerliches Dasein. Sie leben und sterben, entstehen und vergehen, ihre Wesentlichkeit, ihre Allgemeinheit ist die Gattung […].“ 57 Gattungen gibt es z.B. in der Kunst (Bildende Kunst, Darstellende Kunst, Musik, Literatur), wobei sich diese in weitere Untergattungen gliedern. In unserem Zusammenhang bezieht sich der Begriff der Gattung aber auf den Menschen, insofern bedeutet Gattungsgeschichte hier Geschichte der Gattung Mensch oder der Menschheit. Dieser emphatische Begriff der Geschichte ist nicht auf partikulare Sphären oder 55 Freundeskreis, Leg' dein Ohr auf die Schiene der Geschichte. 56 Vgl. Kluge/Negt, Geschichte und Eigensinn, S. 783. Im ersten Fall würde die neolithische Revolution den Beginn der menschlichen Gattungsgeschichte datieren, im zweiten Fall das Auftreten einer frühen Homo-Art („Urmenschen“). 57 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, S. 82. 24 Gesichtspunkte, nicht auf „Teilgeschichten“ gerichtet, sondern auf Geschichte als Totalität, d.h. als vermittelten Gesamtzusammenhang, in dem die mannigfaltigen geschichtlichen Stoffe und Erscheinungen inbegriffen sind. Kluge folgt in seinen Überlegungen der Marx'schen Anthropologie, weshalb wir diese einer genaueren Betrachtung unterziehen werden. Ihren Ausgangspunkt bildet die Auffassung des Menschen als leiblich-sinnliches Wesen, die uns bereits im Abschnitt zum Thema „Sinnlichkeit“ begegnet ist: „Der Mensch ist unmittelbar Naturwesen. Als Naturwesen und als lebendiges Naturwesen ist er teils mit natürlichen Kräften, mit Lebenskräften ausgerüstet, ein tätiges Naturwesen; diese Kräfte existieren in ihm als Anlagen und Fähigkeiten, als Triebe; teils ist er als natürliches, leibliches, sinnliches, gegenständliches Wesen ein leidendes, bedingtes und beschränktes Wesen, wie es auch das Tier und die Pflanze ist, d.h. die Gegenstände seiner Triebe existieren außer ihm, als von ihm unabhängige Gegenstände; aber diese Gegenstände sind Gegenstände seines Bedürfnisses, zur Betätigung und Bestätigung seiner Wesenskräfte unentbehrliche, wesentliche Gegenstände. Daß der Mensch ein leibliches, naturkräftiges, lebendiges, wirkliches, sinnliches, gegenständliches Wesen ist, heißt, daß er wirkliche, sinnliche Gegenstände zum Gegenstand seines Wesens, seiner Lebensäußerung hat oder daß er nur an wirklichen, sinnlichen Gegenständen sein Leben äußern kann.“58 Hiermit ist die biologische Dimension des Marx'schen Gattungsbegriffs bezeichnet, die vorher bereits von Ludwig Feuerbach entwickelt wurde: die Gattung Mensch kann insofern als Teil der Natur verstanden werden, als sie natürlich verfasst ist im Sinne ihres bio-physischen Aufbaus. Dazu zählen nicht nur die Funktion der Organe, der Zellen, des Gehirns etc., sondern ebenso die Tatsache, dass der Mensch als leibliches Wesen auf außer ihm liegende Gegenstände angewiesen ist, die ihm als stoffliches Material seines Verhaltens dienen. Der Mensch ist ein sinnlich-konkretes Wesen der Praxis. Sein Verhalten, seine Wahrnehmung und die Gegenstände seines Verhaltens und seiner Wahrnehmung sind sinnlich-gegenständlicher Natur, d.h. dass die Wirklichkeit des Menschen wesentlich praktisch aufgebaut ist. Welche Gegenstände zu Objekten des Verhaltens oder der Wahrnehmung von Menschen werden und wie deren Verarbeitung genau aufgebaut ist, kann im Gegensatz zur 58 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (MEW 40), S. 578. 25 Funktionsweise der biologischen Organe historisch und kulturell grundlegend variieren. Kluge und Negt verdeutlichen diese Tatsache am Beispiel des Gehirns: „Das, was das Hirn tut, und das, wie das Hirn seine Arbeit leistet, unterscheidet sich grundlegend.“59 Während die allgemeinen Bedingungen des Funktionierens des menschlichen Gehirns seit Tausenden von Jahren dieselben sind, können die spezifischen Ausprägungen der Hirnarbeit grundverschieden sein. Das bedeutet allerdings, dass eine Unterscheidung zwischen einer primären, originär-biologischen und einer sekundären, gesellschaftlichen Natur, für diesen Zusammenhang von zentraler Bedeutung ist. Dies führt uns zur zweiten, entscheidenderen anthropologischen Bestimmung, die von Marx getroffen wird. Er versteht den Menschen nicht allein als biologisches, sondern als geschichtliches und gesellschaftliches Subjekt. Gegenüber Feuerbach äußert er, dass dessen Annahme, der Mensch würde unmittelbar mit einer unwandelbaren bzw. präexistenten Bestimmung seines Daseins zusammenfallen, von jeglicher Geschichte abstrahieren müsse. „Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“60 Feuerbach sei entsprechend seiner Auffassung dazu gezwungen „1. von dem geschichtlichen Verlauf zu abstrahieren...ein abstrakt – isoliert – menschliches Individuum vorauszusetzen. 2. Das Wesen kann daher nur als ‚Gattung‘, als innere, stumme, die vielen Individuen natürlich verbindende Allgemeinheit gefasst werden.“61 Marx wendet sich also dezidiert gegen eine gattungsspezifische Auffassung des Menschen im Sinne einer allen Individuen qua Natur zukommenden Wesens. Dass menschliche Wirklichkeit per se sinnlich-gegenständliche Wirklichkeit bedeutet, bestreitet Marx zwar nicht. Er betont allerdings nachdrücklich die Rolle der Geschichte und der Gesellschaft – einzig im Horizont dieser Größen könne etwas darüber ausgesagt werden, was der Mensch sei. Betrachten wir die radikale Vergeschichtlichung und Vergesellschaftung im Marx'schen Menschenbild anhand eines Beispiels. Als gewichtige Differenzierung, 59 Kluge/Negt, Geschichte und Eigensinn, S. 50. 60 Marx, Thesen über Feuerbach (MEW 3), S. 05. 61 Ebd. 26 die zur näheren Bestimmung des Gattungswesen Mensch dienlich ist, kann diejenige zwischen Mensch und Tier gelten. Der Unterschied liegt intuitiv auf der Hand: Im Gegensatz zum Tier ist der Mensch ein denkendes, reflexives Wesen: „Das Tier ist unmittelbar eins mit seiner Lebenstätigkeit. Es ist sie. Der Mensch macht seine Lebenstätigkeit selbst zum Gegenstand seines Wollens und seines Bewußtseins. Er hat bewußte Lebenstätigkeit. Es ist nicht eine Bestimmtheit, mit der er unmittelbar zusammenfließt. Die bewußte Lebenstätigkeit unterscheidet den Menschen unmittelbar von der tierischen Lebenstätigkeit.“62 Die Fähigkeit, sich zur eigenen Tätigkeit reflexiv zu verhalten, d.h. sie zum Gegenstand seines Bewusstseins machen zu können, unterscheidet den Menschen grundsätzlich vom Tier. Seine tätigen Äußerungen zum Gegenstand seines Denkens zu machen, sich also zu sich selbst zu verhalten, wäre, was wir unter Selbstbewusstsein verstehen: „Wo ein Verhältnis existiert, da existiert es für mich, das Tier 'verhält' sich zu Nichts und überhaupt nicht. Für das Tier existiert sein Verhältnis zu anderen nicht als Verhältnis.“63 Diese Fähigkeit versteht Marx allerdings nicht als schlichtweg gegebene, sondern als etwas, das ausschließlich innerhalb historischer Koordinaten verständlich wird: „Sie selbst [die Menschen, S.A.] fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren […]. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst.“64 Marx nimmt keine externe Bestimmung des Menschseins vor, sondern geht davon aus, dass menschliches Selbstbewusstsein sich an einem signifikanten Punkt der Geschichte sozusagen intern als gattungsspezifische Abgrenzung gegenüber anderen Lebensformen ausbildet. Dabei muss er die Annahme zugrundelegen, dass die Bestimmung der Gattung Mensch überhaupt erst durch die reale Verschiedenheit der geschichtlichen Produktionsweise von derjenigen der Tiere ermöglicht wird. Das hieße, dass die Entwicklung der gedanklichen Bestimmung Mensch bzw. Nicht-Tier erst mit der materiellen Herausbildung desselben in der Geschichte aufkommt. Marx' Behauptung, das Bewusstsein könne nie etwas anderes sein als das bewusste Sein, und das Sein der Menschen sei ihr wirklicher Lebensprozess, legt diese Vermutung 62 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (MEW 40), S. 516. 63 Marx/Engels, Die Deutsche Ideologie (MEW 3), S. 30. 64 Ebd., S. 21. 27 nahe.65 Betrachten wir nun die Kategorie der gesellschaftlichen Produktion, der Marx eine substanzielle Rolle für die materielle Wirklichkeit der Menschen zuspricht. Durch die Produktion, so Marx, werde immer schon das materielle, d.h. das konkrete, wirkliche Leben der Menschen mitproduziert. Dieser Gedanke ist nur dann zu verstehen, wenn man die Produktion nicht bloß nach der Seite hin betrachtet, „daß sie die physische Reproduktion der Individuen ist. Sie ist vielmehr schon eine bestimmte Art der Tätigkeit dieser Individuen, eine bestimmte Art, ihr Leben zu äußern, eine bestimmte Lebensweise derselben. Wie die Individuen ihr Leben äußern, so sind sie.“ 66 Mit anderen Worten: Reproduktion, d.h. der Erhalt sowohl des einzelnen Menschen, sowie derjenige der Gattung im Sinne der Fortpflanzung, wird durch menschliche Tätigkeit ermöglicht. Versorgung durch Nahrung zählt dazu ebenso wie Schutz vor Witterung oder der Akt der Zeugung. Da der Mensch keine artspezifische Umwelt besitzt – er also im afrikanischen Klima ebenso sesshaft werden kann wie in demjenigen der Pole – schafft er durch seine Arbeit die Mittel des Überlebens. Der Stoffwechsel der Individuen mit der Natur und untereinander besorgt nicht nur die Gewährleistung ihrer Reproduktion, sondern er bedingt gleichzeitig ihre Verhaltensweisen und ihr Denken. Grob gesprochen bedeutet das, dass ein mittelalterlicher Mensch, der zu seiner Reproduktion auf dem Feld arbeitet, auch denkt und handelt, wie ein auf dem Feld arbeitender mittelalterlicher Mensch. Was auf den ersten Blick als Tautologie erscheint, macht die Grundlage der marxistischen Anthropologie aus: was Menschen sind und sein können, wie sie handeln, denken und leben, lässt sich nur konkret bestimmen jenseits einer rein naturalistischen Auffassung, nämlich innerhalb der Koordinaten gesellschaftlicher Geschichte. Dass Kluge und Negt diesem Begriff der Gattungsgeschichte folgen, wird deutlich in ihren Überlegungen zu menschlichen Wesenseigenschaften. Bei diesen handele es sich sowohl um „Eigenschaften aus der ersten Natur, als auch um deren produktive Verlängerung unter den Bedingungen der zweiten Natur, und zwar so, daß beide Naturen auf die Basis und den Aufbau, auf originäre Natur des Menschen und auf die gesellschaftlichen Organe, gleichermaßen die ganze Zeit über einwirken.“67 65 Ebd., S. 26. 66 Ebd., S. 21. 67 Kluge/Negt, Geschichte und Eigensinn, S. 46. 28 Natürlich fängt keine Generation von Individuen hinsichtlich ihrer Produktion und Reproduktion „bei Null an“, in dem Sinne, dass sie die Uhr ihrer materiellen Bedingungen wieder zurück stellen würde. Im Gegenteil: der Lebensprozess der Individuen, wie sie praktisch wirken und arbeiten, hängt ganz wesentlich von Voraussetzungen und Bedingungen ab, die von ihnen unabhängig sind. 68 Diese Umstände werden nicht frei gewählt, sondern sind den Individuen als Resultat der Tätigkeit ihnen vorgängiger Generationen vorgezeichnet: „Dank der einfachen Tatsache, dass jede neue Generation die von der alten Generation erworbenen Produktivkräfte vorfindet, die ihr als Rohmaterial für neue Produktion dienen, entsteht ein Zusammenhang in der Geschichte der Menschen, entsteht die Geschichte der Menschheit […].“69 Ist in vormodernen Gesellschaften der Zusammenhang zwischen den Individuen, Staaten oder Kontinenten noch weniger ausgebildet, stärker fragmentiert und beziehungsloser, so bedeutet Produktion in der bürgerlichen Moderne zunehmend gesamtgesellschaftliche bzw. globalisierte Produktion. Die Form, in der sich Gesellschaft reproduziert und organisiert, ist den Individuen in beiden Fällen absolut vorrangig, d.h. dass Menschen in eine gesellschaftliche Welt hinein geboren werden, die auch nach ihrem Ableben als selbständige Größe bestehen bleibt. Wenn der gesellschaftliche Zusammenhang immer schon konstituiert ist – freilich historisch verschieden – bedeutet das, dass Individuen als gesellschaftliche Wesen, die zu einer bestimmten Zeit geboren werden, aufwachsen und sozialisiert werden, in den Formen ihrer Tätigkeiten ebenso wie in ihrem Verhalten und Denken unmittelbar von geschichtlich Gegenwärtigem und Vergangenem geprägt werden. Individuen sind substanziell durch strukturgewordene Geschichte bestimmt. 68 Vgl. Marx/Engels, Die Deutsche Ideologie (MEW 3), S. 25. 69 Marx, Brief an Annenkow 1846 (MEW 4), S. 548. Wir finden hier dieselbe Argumentationsfigur, wie wir sie schon hinsichtlich der Differenzierung Mensch-Tier feststellen konnten: Menschheitsgeschichte entsteht selbst erst in einem geschichtlichen Prozess, nämlich insofern die Beziehungen zwischen den Menschen zunehmend ausgebildet werden. Dass wir überhaupt von Menschheitsgeschichte sprechen können, mithin die Kategorie Menschheitsgeschichte selbst, ist ein historisches Produkt. An anderer Stelle heißt es dazu: „Weltgeschichte existierte nicht immer; die Geschichte als Weltgeschichte [ist, S.A.] Resultat.“ (Marx, Einleitung in die Kritik der Politischen Ökonomie (MEW 13), S. 640.). 29 EXKURS II: DIE GESCHICHTLICHE BESTIMMTHEIT DER SUBJEKTIVITÄT Individuelles Leben und Erleben findet immer innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Zusammenhänge statt, d.h. innerhalb einer bestimmten Art und Weise der Produktion und Reproduktion, des institutionellen, politischen, kulturellen, technischen Lebens. Ob ein Individuum in eine mittelalterliche Ständegesellschaft hineingeboren wird oder in den hochtechnisierten, globalisierten Kapitalismus des 21. Jahrhunderts, macht einen fundamentalen Unterschied. Es macht auch einen Unterschied, ob es in der mittelalterlichen Ständegesellschaft als Kind einer fürstlichen Adelsfamilie oder einer Handwerkerfamilie geboren wird. Natürlich ist es außerdem bedeutsam, in welchem Teil der Welt man geboren wird. Wichtig an all dem ist: ein Mensch kommt in spezifischer Umgebung zur Welt und entwickelt in spezifischer, d.h. umweltabhängiger Form seine Sinne, Wünsche, Organe der Erfahrung; die Anwendung und Äußerung seiner Kräfte, Eigenschaften etc. erfolgt später ebenso unter bestimmten Verhältnissen und in bestimmten Formen.70 Im analytischen Begriff der Struktur, der uns bereits oben im Zusammenhang mit strukturtheoretischen Erklärungsmodellen begegnet ist, sind die institutionellen Bedingungen individuellen Verhaltens und Denkens zusammengedacht. Der lateinische Begriff „structura“ bedeutet zunächst nichts anderes als „ordentliche Zusammenfügung“, „Bau“ oder „Zusammenhang“. Gesellschaftliche Strukturen lassen sich konkreter bestimmen als allgemeine Mechanismen, die als jeweils gültige äußere Voraussetzungen menschliches Verhalten ordnen: „Ordnungsweisen, Gruppierungen, festgelegte Verkehrsformen, die von der einzelnen Person und vom Augenblick der Handlung relativ unabhängig sind. Vorgegebene formale Bedingungen menschlichen Handelns, vorgeschriebene Tätigkeiten und Verständigungsvoraussetzungen gehören hierzu.“71 Eine Gesellschaft kann z.B. eine bestimmte Struktur der Wege und Bebauung (Infrastruktur), der Demografie (Bevölkerungsstruktur) oder des sozialen Beziehungsgefüges (Sozialstruktur) aufweisen. Da aber der Begriff der Struktur sehr allgemeinen und formalen Charakter besitzt, ist der präzisere Begriff der gesellschaftlichen Institutionen zur näheren 70 Vgl. Kluge/Negt, Geschichte und Eigensinn, S. 782. „Bestimmt“ ließe sich hier nicht nur als „spezifisch“ oder „konkret“ verstehen, sondern gleichzeitig als „festgelegt“ oder „vorgeschrieben“. 71 Jaeggi/Faßler, Kopf und Hand, S. 75. 30 Bestimmung der geschichtlichen Bestimmtheit von Subjektivität angemessener: Institutionen bezeichnen spezifische Einrichtungen der Gesellschaft, die bestimmte Aspekte des Zusammenlebens der Menschen spezifisch organisieren. Auf einer ersten Ebene bezeichnen Institutionen Organisationszusammenhänge, d.h. konkrete Organisationseinrichtungen wie z.B. Betriebe, Schulen, Staaten, Vereine oder ähnliches. Auf einer weiteren Ebene bezeichnen sie allerdings auch „objektiven Geist“, d.h. feste Handlungs- und Bewusstseinsformen der Menschen wie z.B. moralische, politische oder religiöse Einstellungen und Praxen. Institutionen können also immer zwei Seiten des gesellschaftlichen Lebens beschreiben, erstens die Seite der festen gesellschaftlichen Einrichtungen (Organisationen), zweitens die Seite der regelspezifischen Dispositionen (Einstellungen, Praxen).72 Wenn nun Kluge behauptet, die Eigentümer von Lebensläufen seien nicht als Individuen, sondern als Gattungswesen wirklich73, so meint er damit, dass weder die Erfahrungsweisen, noch die möglichen Erfahrungsinhalte von Subjekten primär von deren individueller Verfasstheit abhängen, sondern durch gesellschaftliche Strukturbedingungen bzw. Institutionen geprägt und konstituiert werden. Wie wir handeln und denken, innerhalb welcher Rahmenbedingungen wir dies tun und welche Objekte zu Gegenständen unseres Handelns und Denkens werden oder werden können, hängt in elementarer Art und Weise von konkreten historischen Bedingungen ab. Diese Bedingungen werden nicht frei gewählt; die Menschen machen zwar ihre Geschichte, jedoch „nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“74 Das lässt sich exemplarisch darstellen anhand der geschichtlich sich verändernden Form der Arbeit. Dass Menschen arbeiten, scheint 72 Wie hoch der jeweilige Anteil gesellschaftlicher Natur an Subjektivität ist, unterscheidet sich wiederum geschichtlich und ist von der graduellen Ausprägung historischer Vergesellschaftungsformen abhängig. Der Soziologe Norbert Elias stellt in diesem Zusammenhang fest, dass, während im Mittelalter viele biologische Triebe und Affekte gesellschaftlich noch wenig reguliert waren, die sie betreffenden Verhaltensstandards und mit ihnen der Trieb- und Affekthaushalt sich im Übergang von feudaler zu bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaft in enormem Maße veränderten. Exemplarisch hierfür sind u.a. die Formen der Nahrungsaufnahme, die geschichtlich zunehmend strenger und „feiner“ wurden (was sich an der Verwendung differenzierter Esswerkzeuge zeigt), oder die Organisation der Ausscheidungsvorgänge, die historisch zunehmend tabuisiert und dem Blick anderer Menschen entzogen wurden. (Vgl. hierzu: Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenestische Untersuchungen, Bd. I., Frankfurt am Main 1997.). 73 Kluge/Negt, Geschichte und Eigensinn, S. 783. 74 Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (MEW 8), S. 115. 31 ein zu allen Zeiten gegebenes Faktum zu sein. Wie gearbeitet wird, das heißt innerhalb welcher Produktionsverhältnisse, ist, ebenso wie die Entwicklung der Produktivkräfte, geschichtlich variabel und abhängig von der jeweiligen Gesellschaftsformation. Produktionsverhältnisse entscheiden über eine ganze Reihe von Beziehungskonstellationen, nämlich über diejenigen zwischen den Produzenten, zwischen Produzenten und Produktionsmitteln (Eigentumsfrage), Produzenten und Nicht-Produzenten (Klassenfrage), sowie Produzenten, Nicht-Produzenten und den Produkten der Arbeit (Verteilung und Konsum des gesellschaftlichen Reichtums). Ob ein Mensch als Sklave, Leibeigener oder Lohnarbeiter arbeitet, ob seine Arbeitswerkzeuge sein persönliches Eigentum, dasjenige der Zunft oder des sogenannten Arbeitgebers sind, welcher Teil der Bevölkerung arbeitet und welcher nicht und ob die Produkte der Arbeit vom Arbeiter konsumiert werden, arbeitende Schichten in Armut leben (wie in der Phase der Frühindustrialisierung) oder soviel Lohn erhalten, dass sie stärker am Konsum des gesellschaftlichen Reichtums partizipieren können, wird durch die geschichtliche Situation der Gesellschaft bestimmt. Ebenso verhält es sich mit den Produktivkräften, d.h. mit den Momenten Arbeitskraft, Arbeitsgegenstände und Arbeitsmittel. Was im Speziellen gearbeitet wird, welche Objekte bearbeitet werden und v.a. mit welchen Instrumenten dies geschieht, variiert historisch. Dabei kann Arbeit in einer Fabrik, einem Büro oder einer Werkstatt, an einem Automobil, einem Werbedesign oder einem Holzkarren und mithilfe industrieller Maschinen, eines Hochleistungsrechners oder einem Faustkeil stattfinden. Wenn wir davon ausgehen, dass mit der Form der Arbeit auch der Großteil des Alltagslebens von historisch-gesellschaftlichen Umständen bestimmt wird, erscheint die unmittelbare, lebensweltliche Wirklichkeit der Individuen nicht mehr als unabhängige, natürliche Gegebenheit, sondern als Durchsetzungsort allgemeiner historischer Prozesse: „Das Subjekt ist […] konstitutiv durchdrungen von der Objektivität, die Vergegenständlichung menschlicher Praxis ist.“75 GESCHICHTE ALS ENTFREMDUNGSZUSAMMENHANG Dass Individuen die jeweilige Form ihrer Sinne, Wünsche und Organe der Erfahrung in einer spezifischen Umwelt entwickeln und dass die Anwendung ihrer Kräfte und 75 Kosík, Die Dialektik des Konkreten, S. 79. 32 Eigenschaften unter bestimmten Verhältnissen stattfindet, wurde bereits erörtert. Bestimmt seien diese Verhältnisse, so Kluge, von „Versachlichung und Verdinglichung“76. Was versachlichte und verdinglichte Verhältnisse bedeuten, in welchem Zusammenhang von diesem Phänomen gesprochen werden kann und wie es zustande kommt, soll nun auseinandergesetzt werden. Bevor wir jedoch genauer auf diese Fragen eingehen, muss zuerst die historische Epoche besprochen werden, innerhalb derer Versachlichung und Verdinglichung erst entstehen: die Epoche der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. In den „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ bezeichnet Hegel die bürgerliche Gesellschaft als „System der Bedürfnisse“, das vor allem durch allseitige Abhängigkeiten ausgezeichnet sei.77 Hegel stellt die Frage, wie sich die individuellen Bedürfnisse und Arbeitsvermögen zum Allgemeinen der Gesellschaft und somit auch zu den anderen Individuen verhalten. Die bürgerliche Gesellschaft beruht auf zwei Prinzipien: 1. dem Prinzip der Person, 2. dem Prinzip der Allgemeinheit. Diese Prinzipien stehen in einem spannungsvollen Verhältnis zueinander, denn da in der bürgerlichen Gesellschaft eigentlich niemand mehr das bearbeitet, was sein eigenes bestimmtes Bedürfnis ist, kann jeder seine speziellen Bedürfnisse nur noch durch die Mitarbeit an der allgemeinen Möglichkeit der Befriedigung erfüllen. Um ihre Bedürfnisse zu befriedigen, sind einzelne Personen grundlegend auf eine Beziehung zur Allgemeinheit angewiesen. Um mit Nahrung, Kleidung und anderen Lebensmitteln versorgt zu werden, müssen sich Einzelne auf „das gesellschaftliche System“ beziehen. Selbst wer bestimmte Gebrauchsgegenstände für sich selbst herstellt, z.B. durch Stricken von Pullovern oder Anpflanzen von Gemüse, bedarf hierfür Mittel, die meist nicht (mehr) selbständig herstellbar sind, wie z.B. Stricknadeln, Wolle, Pflanzenkübel, etc. Bürgerliche Gesellschaft ist in diesem Sinne ausgezeichnet durch ihren vermittelten und vermittelnden Charakter, d.h. durch mannigfaltige Bezüge und Abhängigkeiten zwischen Individuen und Individuen und Gesellschaft. Die Entwicklung der Gesellschaft hin zu einem zunehmend universellen Vermittlungszusammenhang, der einem einheitlichen Wirtschaftsprozess und 76 Kluge/Negt, Geschichte und Eigensinn, S. 782. 77 Vgl. hierzu: Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 339ff. 33 dementsprechend der Bewegung einheitlicher Gesetze untersteht, steht unmittelbar in Beziehung zu der Herausbildung und Ausbreitung der Warenform. Während Warentausch und Warenform in vor- und frühkapitalistischen Gesellschaften ein tendenziell partikulares Phänomen darstellten, breiteten sie sich im Laufe der Geschichte zunehmend aus. „Der qualitative Unterschied zwischen Ware als einer Form (unter vielen) des gesellschaftlichen Stoffwechsels der Menschen und zwischen Ware als universeller Form der Gestaltung der Gesellschaft“ 78 besteht nun in der zunehmenden Bedeutung, den die durch die allseitige gesellschaftliche Verkehrs- und Herrschaftsform Ware entstandende Verdinglichung „für die objektive Entwicklung der Gesellschaft wie für das Verhalten der Menschen zu ihr“79 gewinnt. Um Waren als solche tauschen zu können, müssen die Menschen ihre unterschiedlichen Arbeiten und Waren als „gleichwertige Werte“ betrachten. Das heißt im Weiteren: In der Warenform erhält die zur Herstellung aufgewandte menschliche Arbeit „die sachliche Form der gleichen Wertgegenständlichkeit der Arbeitsprodukte“80, die ihren Tauschwert wiederum erst in Relation zu anderen Waren erweisen. Dies geschieht durch die Anerkennung zweier qualitativ verschiedener Produkte als „gleichwertige Werte“. Das bedeutet erstens, dass Waren erst durch ihre Wertäquivalenz tauschbar sind und zweitens, dass das Äquivalenzprinzip das zentrale Element der warenproduzierenden Gesellschaft darstellt. Im universellen Vollzug des Tausches, mithin seiner sachlichen Logik, verschiedene Qualitäten in eine quantitativ vergleichbare Äquivalenz zu transformieren, „wird objektiv abstrahiert; wird abgesehen von der qualitativen Beschaffenheit der Produzierenden und Konsumierenden, vom Modus der Produktion, sogar vom Bedürfnis, das der gesellschaftliche Mechanismus beiher, als Sekundäres befriedigt. Primär ist der Profit.“81 Die Abstraktion, die die Voraussetzung für eine Vergleichbarkeit von Gegenständen als Tauschwerte darstellt, ist also weder eine rein ideelle, wie idealistisch interpretiert werden könnte, denn innerhalb des Tauschprozesses wird real abstrahiert. Sie ist 78 79 80 81 Lukács, Geschichte und Klassenbewusstsein, S. 173. Ebd., S. 174. Marx, Das Kapital I (MEW 23), S. 86. Adorno, Gesellschaft, S. 13. 34 außerdem kein bewusster Akt, d.h. wer tauscht, befindet sich immer schon inmitten der Verwandlung der Arbeitsprodukte in gesellschaftliche Hieroglyphen: „Die Menschen beziehen also ihre Arbeitsprodukte nicht aufeinander als Werte, weil diese Sachen ihnen als bloß sachliche Hüllen gleichartig menschlicher Arbeit gelten. Umgekehrt. Indem sie ihre verschiedenartigen Produkte einander im Austausch als Werte gleichsetzen, setzen sie ihre verschiednen Arbeiten einander als menschliche Arbeit gleich. Sie wissen es nicht, aber sie tun es.“82 Dies hat eine sonderliche Verkehrung von Subjekten (Produzenten) und Objekten (Waren) zur Folge: Die gesellschaftlichen Beziehungen der Privatarbeiten erscheinen „nicht als unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst, sondern gesellschaftliche vielmehr als Verhältnisse sachliche der Verhältnisse Sachen.“83 der Diese Personen und „Verkehrtheit der gesellschaftlichen Praxis“ betrachtet Marx als ursächlich dafür, dass die Menschen sich in den von ihnen geschaffenen Produkten nicht erkennen. Diese verselbständigen sich so weit, dass sie gegenüber den Produzierenden die Form einer äußerlichen Macht und Gewalt annehmen: „Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegeln, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. […] Es ist nur das gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt.“84 Neben dem bereits genannten Aspekt der Abstraktion qualitativer Eigenschaften folgen aus der strukturellen Grundtatsache des Warentauschs weitere Konsequenzen auf subjektiver und objektiver Ebene, die für die Anfangs aufgeworfene Problemstellung Kluges von Bedeutung sind. Subjektiv schlägt sich Verdinglichung in der Objektivierung der Arbeit nieder, d.h. dass die Tätigkeit der Menschen sich in eine von ihnen unabhängige, eigengesetzliche Größe – eine Ware – verwandelt, die 82 Marx, Das Kapital I (MEW 23), S. 88. 83 Ebd., S. 87. 84 Ebd., S. 86. 35 von deren qualitativ-materiellem Wesen abgetrennt wird. Wie wir am Beispiel Lissis sehen konnten, erhält die individuelle Tätigkeit den Charakter eines mechanisierten Teils innerhalb eines mechanisierten Systems. Sie verliert ihren Tätigkeitscharakter und wird zunehmend zu einer kontemplativen Haltung. 85 Die Diagnose einer ansteigenden Fragmentierung an sich einheitlich organisierter Zusammenhänge, wie sie sich paradigmatisch im Zur-Ware-Werden der Arbeitskraft niederschlägt, findet sich bei Kluge und Negt um die Dimension der vom kapitalistischen Verwertungszusammenhang „unterdrückten Eigenschaften“ erweitert: „Der vom Kapitalismus bestimmte und zerstörte Lebenszusammenhang [wirkt] dahin, die Arbeiter zu Anhängseln der Warenproduktion, ihre Eigenschaften als Menschen zu unzusammenhängenden Eigenschaften zu machen. Proletarischer Lebenszusammenhang ist deshalb zunächst negativ bestimmt, als ein Blockierungszusammenhang, in dem Erfahrungen, Bedürfnisse, Wünsche, Hoffnungen zwar konkret entstehen, sich aber nicht als eigene entfalten können.“86 Objektiv verursacht der universelle kapitalistische Tausch das Entstehen einer fertigen Welt von Dingen und Dingbeziehungen87, die den Menschen lediglich noch als geronnenes Resultat, d.h. als etwas von ihnen Unabhängiges und Selbständiges, gegenübertritt. Kluge bezeichnet das als „Wand der Realität“, die sich den Einzelnen gegenüber vor allem durch ihre Härte und Steifigkeit auszeichnet.88 Die Bewegungsgesetze des anonymen Marktes – z.B. das Auftreten von Wirtschaftskrisen, wie wir sie derzeit erleben – erscheinen nicht mehr als das, was sie sind, nämlich Verhältnisse zwischen Menschen, sondern als Verhältnisse zwischen Dingen, die mit eigener Macht begabt sind. Diese fremde, außer den Individuen liegende Größe gesellschaftliche Geschichte ist exakt derjenige Ort, „an dem die wirklich großen Schläge stattfinden“. Die „äußere Macht“ der Geschichte ist allerdings faktisch und kontrafaktisch zugleich: Faktisch, insofern sich die verselbständigten gesellschaftlichen Verhältnisse real auf das Leben und Sterben von Individuen auswirken und dies tun, solange sie unbewusst produziert und reproduziert werden; kontrafaktisch, insofern diese Verhältnisse, wie verworren auch immer, auf die sie produzierenden Menschen verweisen und als etwas, das von 85 86 87 88 Vgl. Lukács, Geschichte und Klassenbewusstsein, S. 178f. Kluge/Negt, Öffentlichkeit und Erfahrung, S. 483. Vgl. Lukács, Geschichte und Klassenbewusstsein, S. 175. Vgl. Kluge, Theorie der Erzählung, Vorlesung II. 36 Menschen gemacht wurde, von diesen auch prinzipiell verändert werden kann.89 EXKURS III: DIE SUBJEKTIVE BESTIMMTHEIT DER GESCHICHTE Wenn menschliche Tätigkeit den grundlegenden Entstehungszusammenhang der gesellschaftlich-geschichtlichen Strukturen bildet, lässt sich ein landläufiger Begriff von Subjektivität, der diese lediglich in den Privatverhältnissen – den sogenannten Beziehungen – oder in den das realistische Verhalten von Menschen begleitenden Wünschen, Hoffnungen, Emotionen oder Bewertungen sucht, nicht aufrecht erhalten.90 Entsprechend wendet sich Kluge entschieden gegen die Annahme, dass subjektiv lediglich dasjenige Element sei, was nach Abzug der sachlichen und gegenstandsbezogenen Faktoren übrig bliebe, und versucht, „Subjektivität“ neu zu fassen: Es sind zwar intersubjektive Beziehungen für das Leben und Erleben konkreter Individuen ebenso von elementarer Bedeutung wie eine sinnhaftgefühlsmäßige Beziehungsqualität zu den sie umgebenden Gegenständen und Prozessen. Nur erschöpfen sich darin die Eigenschaften der Menschen nicht. Diese sind nicht nur individueller, sondern auch gattungsspezifischer Qualität, und als Gattungswesen macht der Mensch, trotz aller genannten Einschränkungen, seine Geschichte. Eine beschränkte Auffassung von Subjektivität, so Kluge, reproduziere lediglich das herrschende Entfremdungsverhältnis, in dem Menschen zu Anhängseln der Maschine und unter den gesellschaftlichen Zwangszusammenhang überhaupt subsumiert werden: „Das Anhängsel des Anhängsels, nämlich das, was Menschen kompensatorisch brauchen, um es in diesem zudiktierten Verhältnis auszuhalten, wird subjektiv genannt.“91 Stattdessen erarbeitet Kluge einen Begriff von 89 Es ließe sich hier die Frage stellen, wann sich „Gesellschaft“ überhaupt in diesem Sinne („Leben und Sterben“) bemerkbar macht. Anzuführen wären z.B. wirtschaftliche Krisen und Arbeitslosigkeit, aber auch Kriege (als Besatzung oder Wehrpflicht). In Griechenland hat sich zum Beispiel seit Beginn der Finanzkrise 2009 die Zahl der Suizide und Suizidversuche verdreifacht. (Vgl. http://www.zeit.de/gesellschaft/2012-11/suizidrate-griechenland-anstieg abgerufen am 05. April 2014.) Als Folge der Finanzkrise sind außerdem über 43 Millionen Menschen in Europa vom Hunger bedroht – die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften spricht in diesem Zusammenhang von der „schlimmsten humanitären Krise seit sechs Jahrzehnten“. (http://www.sueddeutsche.de/panorama/folgen-der-finanzkrise-millionen-europaeervom-hunger-bedroht-1.1792296 abgerufen am 05. April 2014.). 90 Vgl. Kluge/Negt, Geschichte und Eigensinn, S. 784. 91 Ebd. 37 Subjektivität, der das Moment geschichtlicher Aktivität und Tätigkeit einbezieht. Die Makrostruktur der Gesellschaft kann überhaupt nur durch die subjektiv-objektive Vorarbeit der Individuen und der arbeitenden Gattung entstehen und aufrecht erhalten werden. Subjektiv-objektiv meint hier, dass Subjektivität sich nicht nur in konkreter Arbeit wiederfindet, sondern auch in den Produkten dieser Arbeit, d.h. Waren, Bauten, Straßen, der Industrie etc., wo sie sich mit Naturteilen, also Objektivem, verbunden hat.92 Geschichte ist für Kluge insofern kein den Individuen äußerlich Zukommendes, folgt keinem im Außen der Praxis ansässigen Demiurgen, sondern kommt zustande nur durch Menschen, die mit bestimmten Mitteln innerhalb bestimmter institutioneller Praxen ihre geschichtliche Wirklichkeit und somit sich selbst produzieren und reproduzieren. „Die gesellschaftliche Geschichte der Menschen ist stets nur die Geschichte ihrer individuellen Entwicklung, ob die Menschen sich dessen bewusst sind oder nicht.“93 Wenn individuelle Entwicklung sich stets innerhalb der Lebenswelt vollzieht, und wenn die konkreten individuellen Entwicklungen die gesamtgesellschaftliche Geschichte hervorbringen, so verändert sich auf sozialontologischer Ebene der vermeintlich dichotome Charakter des Verhältnisses von Lebenswelt und Geschichte. Lebenswelt zeigt sich dann nicht mehr als unmittelbare und geschlossene Welt der Alltäglichkeit, ebenso wie Geschichte keine von dieser alltäglichen Wirklichkeit unabhängige, transzendente Größe mehr darstellt. Während eine verdinglichte Betrachtungsweise die Wirklichkeit in die „Historizität der Geschichte und die Ahistorizität der Alltäglichkeit“94 spaltet, erschließt sich deren Verhältnis nun als vermitteltes: Die Lebenswelt ist immer schon gesellschaftlich und geschichtlich strukturiert, während Geschichte nur durch diese Lebenswelt hindurch produziert und reproduziert wird – Lebenswelt und Geschichte durchdringen sich gegenseitig. Diese Bestimmung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses ist allerdings noch nicht hinreichend. Bleiben wir nämlich bei der bloßen Konstatierung dessen stehen, dass Lebenswelt ein vermitteltes Moment der Gesamtgeschichte sei bzw. Gesamtgeschichte sich durch die lebensweltliche Praxis, d.h. durch die Zwecke, 92 Vgl. Ebd. 93 Marx, Brief an Annenkow 1846 (MEW 4), S. 548. 94 Kosík, Die Dialektik des Konkreten, S. 75. 38 Wünsche und Handlungen der einzelnen Individuen, verwirklicht, bleibt die substantielle Frage danach, inwiefern das lebensweltliche Verhalten in die Sphäre des Allgemeinen und Objektiven hineinreicht, ungeklärt. Der Bestimmung einer wechselseitigen Verflochtenheit von Lebenswelt und Gesamtgeschichte lässt sich zwar allgemein zustimmen. Berücksichtigen wir jedoch Kluges Diagnose, der Ort der Geschichte sei derjenige, an dem – gleichsam ungeplant und unkontrolliert – „die wirklich großen Schläge stattfinden“, muss sie ergänzt werden um den wesentlichen Zusatz, dass es sich bei diesem Verhältnis um ein entfremdetes Verhältnis handelt. Dafür spricht wiederum die dualistische Auffassung selbst, wenn man sie als Ausdruck von Wirklichkeitserfahrung begreift, nämlich der Erfahrung realer Ohnmacht der Individuen gegenüber den verselbständigten gesellschaftlichen Institutionen, allen voran Politik und Ökonomie. Die Trennung von Individuum und Gesellschaft ist damit richtig und unrichtig zugleich. Richtig insofern, „als sie den real vollzogenen Bruch unversöhnlich registriert“95; unrichtig allerdings entsprechend der potentiellen Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderung. So kommt an dieser Stelle das zentrale Anliegen Kluges deutlich zum Vorschein: Zwar konstatiert auch er ein vermitteltes Verhältnis zwischen individuellem Handeln und gesellschaftlicher Struktur. Diese Feststellung reicht allerdings nicht ans Begreifen des Gegenstands „Wirklichkeit“ heran, da sie den konkreten historischen Antagonismus von Lebenswelt und Geschichte übersieht, der sich für Kluge als Problem und Aufgabe aus der Wirklichkeit selbst, nicht deren disponibler Betrachtungsweise ergibt. Damit rücken, neben der Frage nach den konkreten historischen (Entfremdungs-)Verhältnissen auch diejenige nach historischem Bewusstsein, politischer Organisation und den gesellschaftlichen Grundbedingungen konkreter Utopie ins Zentrum der gesellschaftstheoretischen Auseinandersetzung. In diesem Moment wird Theorie explizit politisch. Denn obgleich die Menschen ihren gesellschaftlichen Zusammenhang bisher nur unbewusst und schicksalhaft zustande bringen, insistiert Kluge auf der Möglichkeit einer Aufhebung des gesellschaftlichen Antagonismus. 95 Adorno, Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, S. 57. 39 GESCHICHTE ALS UTOPISCHE MÖGLICHKEIT „Die menschliche Geschichte beginnt an dem Punkt, an dem die Menschen das, was sie träumen, was sie wollen und denken, ohne Verzerrung und Brechungen durch die Gewaltmassen der Gesellschaft in Wirklichkeit umsetzen können.“96 „Was in der Natur und Geschichte einmal herausgearbeitet worden ist, kann als emanzipatives Minimum betrachtet werden, das nicht unterschritten werden darf. Nachdem Mündigkeit eine reale Möglichkeit menschlichen Verhaltens geworden ist, werden alle Versuche, sie zu verhindern, von Kant als Verbrechen gegen die Menschheit bezeichnet. Nachdem Menschen heilbar geworden sind, in ihren psychischen und physischen Krankheiten, ist es gewissermaßen objektive Pflicht, alle Mittel anzuwenden, um Krankheiten zu verhindern. Das ist mehr als der bloße Wunsch der Heilung. Im Begriff der objektiven Möglichkeit sind die Mittel enthalten, sie zu realisieren.“97 Obgleich Kluge und Negt einen starken Fokus auf die Entfremdungs- und Verdinglichungsprozesse der bürgerlichen Gesellschaft legen, sehen sie offenbar die Möglichkeit einer besseren gesellschaftlichen Praxis als gegeben an. Im Folgenden widmen wir uns der Frage, welche ethischen und politischen Leitideen Kluges und Negts Begriff der Utopie zugrunde liegen und inwiefern Emanzipation mit der historischen Stufe von Natur und Geschichte zusammenhängt. Zunächst ist festzustellen, dass Kluge und Negt, wenn sie den Beginn der menschlichen Geschichte antizipierend beschreiben, davon ausgehen, dass diese noch gar nicht begonnen hat. Diesem Gedanke liegt die Unterscheidung von VorGeschichte und Geschichte zugrunde: Vor-Geschichte bedeutet, dass die Menschheit noch nicht Subjekt ihrer Geschichte ist, sondern diese nur bewusstlos und ungeplant hervorbringt. Es ist wichtig festzuhalten, dass diese Bewusstlosigkeit auf den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang bezogen ist und damit nicht gemeint ist, dass die Individuen unbewusst oder unüberlegt handeln würden. Engels schreibt in diesem Zusammenhang, dass die Handelnden „lauter mit Bewusstsein begabte, mit 96 Zit. nach Mieth, Alexander Kluge/Oskar Negt, Der unterschätzte Mensch. In: Mieth, Die utopische Dimension von Anthropologie und Geschichte bei Oskar Negt und Alexander Kluge, S. 186. 97 Kluge/Negt, Geschichte und Eigensinn, S. 482. 40 Überlegung oder Leidenschaft handelnde, auf bestimmte Zwecke hinarbeitende Menschen“ seien, dass aber die „Zusammenstöße der zahllosen Einzelwillen und Einzelhandlungen“ auf geschichtlichem Gebiet einen Zustand herbeiführten, „der ganz dem in der bewusstlosen Natur herrschenden analog ist.“98 Entfremdet ist dieser Zustand, weil den Individuen das Produkt ihrer gesellschaftlichen Tätigkeit als objektive und eigengesetzliche Macht gegenübertritt, weil in dieser Gesellschaftsformation „der Produktionsprozeß die Menschen, der Mensch noch nicht den Produktionsprozeß bemeistert […].“99 Unentfremdet wäre ein Zustand, der es den Menschen ermöglichen würde, „ohne Verzerrungen und Brechungen“ ihre Bedürfnisse und Wünsche zu verwirklichen, was zur Voraussetzungen hätte, dass die gesellschaftliche Produktion als Bedingung individuellen Handelns und Wollens nach Maßstäben der Bedürfnisse, nicht nach Maßstab des Profits eingerichtet würde. Nur dann wäre das, was Menschen „wollen und denken“, konkret umsetzbar. Betrachten wir im Weiteren die historischen Voraussetzungen dieser Gesellschaftsutopie, also das, „was in der Natur und Geschichte einmal herausgearbeitet worden ist“ und von Kluge und Negt als „emanzipatives Minimum“ vorausgesetzt wird. An dieser Auffassung von Emanzipation ist signifikant, dass sie einen Maßstab hat, „der von der Realität selber vorgegeben wird.“100. In Abgrenzung zum utopistischen „Wolkenkuckucksheim“ fußt die konkrete Utopie in der gegebenen sozial-ökonomischen Praxis, d.h. sie hat konkrete gesellschaftliche Voraussetzungen zu ihrer Bedingung. Damit bringt sie sich nicht lediglich abstrakt an die Wirklichkeit heran, sondern bezieht sich auf die geschichtlichen Emanationen menschlicher Arbeit, Arbeitsvermögen und -produkte. Das objektive Korrelat konkreter Utopie findet sich in gesellschaftlichen Institutionen, in menschlichem Wissen und Können sowie den technischen Errungenschaften der Geschichte. Mit Marx gehen Kluge und Negt davon aus, dass in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft bestimmte progressive Momente enthalten sind, die die Bedingungen der Möglichkeit einer befreiten Gesellschaft darstellen. Objektive Möglichkeit bedeutet also nichts anderes, als eine geschichtlich gegebene gesellschaftliche 98 Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie (MEW 21), S. 296f. 99 Marx, Das Kapital I (MEW 23), S. 95. 100Kluge/Negt, Geschichte und Eigensinn, S. 482. 41 Potentialität, die sich aus konkret bestimmbaren Voraussetzungen ergibt. Als erste Voraussetzung von Utopie, kann die historische Herausbildung des Individuums gelten, die durch die bürgerliche Epoche vorangetrieben wurde. Zum ersten Mal in der Geschichte kommt dem Einzelnen hier ein ausgesprochener Stellenwert zu: Frei von feudalen, d.h. unmittelbaren Herrschaftsverhältnissen soll er für sich sein Leben bestreiten, ohne die qua Geburt gegebene Eingliederung sozialer, kirchlicher oder politischer Provenienz. Das juristische und wirtschaftliche System der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft setzt geschichtlich erstmalig Individuen als solche formell frei, die damit vom Delegat über ihnen waltender Allgemeinheiten (Stand, Religion) entbunden werden: „Je tiefer wir in die Geschichte zurückgehen, je mehr erscheint das Individuum, daher auch das produzierende Individuum, als unselbständig, einem größeren Ganzen angehörig. […] Erst in dem 18. Jahrhundert, in der >bürgerlichen Gesellschaft<, treten die verschiednen Formen des gesellschaftlichen Zusammenhangs dem Einzelnen als bloßes Mittel für seine Privatzwecke entgegen, als äußerliche Notwendigkeit. Aber die Epoche, die diesen Standpunkt erzeugt, den des vereinzelten Einzelnen, ist gerade die der bisher entwickeltsten gesellschaftlichen […] Verhältnisse.“101 Die Befangenheit des Individuums innerhalb vorbürgerlicher Gesellschaften ist für Marx auch Ausdruck der Befangenheit der Produktion überhaupt. Diese alten Produktionsorganismen „sind bedingt durch eine niedrige Entwicklungsstufe der Produktivkräfte der Arbeit und entsprechend befangene Verhältnisse der Menschen innerhalb ihres materiellen Lebenserzeugungsprozesses, daher zueinander und zur Natur.“102 Während die Produktion vorbürgerlicher Gesellschaftsformen durch ihren unzusammenhängenden, partiellen Charakter ausgezeichnet ist, entwickelt sich erst im Kapitalismus eine Universalisierung des Verkehrs und damit die Herausbildung des gesamtgesellschaftlichen Zusammenhangs. Im Gegensatz zur Naturalproduktion und unmittelbar gewaltförmigen Herrschaftsverhältnissen wird also erst durch Warenproduktion bzw. Quantifizierung von Arbeitskraft der gesellschaftliche Zusammenhang als einer von Menschen gemachter verfügbar. 101Marx, Einleitung in die Kritik der Politischen Ökonomie (MEW 13), S. 615f. 102Marx, Das Kapital I (MEW 23), S. 93. 42 Die Entwicklung der Produktivkräfte stellt eine weitere notwendige Bedingung der Gesellschaftsutopie dar, da durch sie das Maß der potentiellen Unabhängigkeit der Menschen von der Besorgung ihrer unmittelbaren Notdurft gewährleistet werden kann. Marx schreibt in diesem Zusammenhang, dass dem Menschen immer ein Reich der Notwendigkeit gegeben sei, d.h. dass er stets auf die Befriedigung seiner Bedürfnisse angewiesen ist, sei's als Wilder, sei's als Zivilisierter. Die Freiheit in diesem Gebiet könnte insofern nur darin bestehen, dass der Stoffwechsel mit der Natur rationell geregelt und unter die gemeinschaftliche Kontrolle der Produzenten gebracht wird – was die Aufhebung der Entfremdung bedeuten würde – und dass er mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollzogen wird.103 Eine fortgeschrittene Produktivität als „verlängerter Arm der Menschen“ stellt hierfür die grundlegende Bedingung dar. Als letzte wesentliche Bedingung der objektiven Möglichkeit kann die Universalisierung der Bedürfnisse gelten, die in engem Zusammenhang mit der Entwicklung der Produktivkräfte und der gesellschaftlichen Beziehungen steht. Dass Bedürfnisse historisch erweitert werden, lässt sich zwar nicht erst seit der Entstehung des Kapitalismus beobachten, erreicht in diesem Stadium der Geschichte allerdings eine qualitativ neue Stufe, denn auch hier wirkt das Streben nach Profit als treibende Kraft. Die Differenzierung von Bedürfnissen beschreibt Marx als „Erforschen der ganzen Natur, um neue nützliche Eigenschaften der Dinge zu entdecken; universeller Austausch der Produkte aller fremden Klimazonen und Länder; neue Zubereitungen (künstliche) der Naturgegenstände, wodurch ihnen neue Gebrauchswerte gegeben werden...; […] ebenso die Entdeckung, Schöpfung und Befriedigung neuer aus der Gesellschaft selbst hervorgehenden Bedürfnisse; die Kultur aller Eigenschaften des gesellschaftlichen Menschen und Produktion desselben als möglichst bedürfnisreichen, weil eigenschafts- und beziehungsreichen […].“104 103Vgl. Marx, Das Kapital III (MEW 25), S. 828. 104Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie (MEW 42), S. 322f. Möchte ich also z.B. ein Bad bei Kerzenschein nehmen, und zwar mit Lavendelduft und Schaum, währenddessen einen Kinofilm auf dem Laptop schauen und ein Glas Sekt trinken, mich danach mit Aloe-VeraKörperlotion einreiben um mich dann in meinen Bademantel zu werfen, so ist dieses Bedürfnis hochgradig ausdifferenziert. Weitere Beispiele ließen sich beliebig bilden. Auf die in diesem Zusammenhang virulente Diskussion um die Produktion falscher Bedürfnisse durch die gesellschaftliche Maschinerie kann im gegebenen Rahmen ebenso wenig eingegangen werden wie auf kulturpessimistische Kritikformen, deren Programmatik darin besteht, die historische 43 ZUR VERMITTLUNG VON INDIVIDUELLER LEBENSWELT UND GESCHICHTE Bevor wir auf die Vorschläge, die Kluge hinsichtlich einer möglichen politischen Vermittlung von Individuum und Gesellschaft veranschlagt, zu sprechen kommen, wollen wir die Ausgangssituation für diese Vorschläge rekapitulieren. Die Eingangs aufgeworfene Frage, wie Kluge das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft versteht, kann nur durch die heuristische Unterscheidung einer sozialontologischen von einer entfremdungstheoretischen Ebene einleuchten. Auf sozialontologischer Ebene begreift Kluge Individuum und Gesellschaft als zwei miteinander verflochtene Größen. Er geht also nicht davon aus, dass diese schlichtweg voneinander getrennt wären, sondern konstatiert einen grundlegenden Vermittlungszusammenhang zwischen individuellen Handlungen und deren strukturellen Bedingungen. Kluge kommt zu dem Schluss, dass sowohl Geschichte subjektiv, wie auch Subjektivität geschichtlich bestimmt ist. Anders gesprochen: Gesellschaft ist ein menschliches, der Mensch ein gesellschaftliches Produkt.105 Kluge bleibt allerdings nicht bei der deskriptiven Konstatierung eines reziproken Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft stehen, sondern insistiert auf dem Antagonismus von Individuum und Gesellschaft, der darin besteht, dass Individuen den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang nur unbewusst produzieren und dieser ihnen als fremde, gewaltförmige Naturgesetzlichkeit gegenübertritt. Geschichte als „etwas, das immer ohne einen passiert“, bricht immer wieder krisenförmig über die Lebenswelt der Individuen herein, wobei Kluge und Negt Krieg als extremsten Fall der „Herrschaft des Produkts über die Produzenten“106 nennen. Wie dieser unbewusste gesellschaftliche Zusammenhang in der bürgerlichen Gesellschaft zustande kommt und welche progressiven Voraussetzung durch ihn entstehen, haben wir bereits erörtert. Nun soll es darum gehen, welche Überlegungen zu möglichen Auswegen bei Kluge zu finden sind. Entwicklung der Bedürfnisse zugunsten eines „natürlichen, einfachen Lebens“ wieder zurückdrehen, um entsprechend der moralischen Verwerflichkeit „des Konsums“ zu „authentischeren“ Lebensformen zurückzukehren. Inwiefern die heutige Zunahme der „Selbstmach-Kultur“ auf die alltäglichen Entfremdungserfahrungen von Menschen verweisen, wäre in diesem Zusammenhang eine durchaus lohnenswerte Untersuchungsfrage. 105Vgl. Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 65. 106Zit. nach Mieth, Alexander Kluge/Oskar Negt, Der unterschätzte Mensch. In: Mieth, Die utopische Dimension von Anthropologie und Geschichte bei Oskar Negt und Alexander Kluge, S. 191. 44 Den Kern der Kluge'schen Vermittlungsvorschläge finden wir in seinen Ausführungen zur geschichtlichen Bestimmtheit der Subjektivität. Dort heißt es: „Subjektivität ist geschichtlich bestimmt, wenn sie in ihren Partikeln, in allen diesen einander mehrdimensional überlappenden Geschichtsverläufen, untersucht wird, somit eine Gattungsbestimmung erhält […].“ 107 Diese geschichtliche Bestimmung wäre z.B. durch eine theoretische Erörterung derjenigen Faktoren und Einflüsse, die das geschichtliche Wesen des Menschen ausmachen, geleistet. Kluge betont allerdings eine weitere Bedingung dieser Bestimmung. Sie ist nur dann vollständig geleistet, „wenn diese Untersuchung zugleich im individuellen Lebenslauf rezipiert werden kann. Dies ist nämlich die Bedingung dafür, daß Subjektivität als geschichtlich bestimmte, als subjektiv-objektives Verhältnis wiederangeeignet werden kann.“108 Eine esoterische Untersuchung und Bestimmung des Verhältnisses Individuum-Geschichte scheint für Kluge nicht hinreichend zu sein. Vielmehr betont er die Wichtigkeit einer Aneignung vonseiten lebendiger, konkreter Individuen, die den eigentlichen „Gegenstand“ der Untersuchung ausmachen. Die Bedeutung dieser Forderung ist nicht zu unterschätzen: die wirkliche Aneignung des Geschichtsverhältnisses wird nicht allein geleistet durch dessen theoretische Bestimmung, sondern diese muss vonseiten der betroffenen Menschen rezipiert werden können. Denn, so Kluge weiter, „ist diese Aneignung durch konkrete Menschen innerhalb ihrer Lebenszeit nicht möglich, so ist die in der Geschichte bestimmte Subjektivität etwas bloß Objektives, ein Nebeneinander zum Menschen, das 'als Geschichte aller toten Geschlechter wie ein Alp auf den Hirnen der Lebenden' (Marx) liegt, zuschlägt, Lebensläufe unmittelbar zerschlägt, aber als Erfahrung nicht rezipiert werden kann.“109 In der Forderung Kluges, theoretische Erkenntnis müsse um die Dimension der praktischen Aneignung erweitert werden können, da sie ansonsten keine wirkliche Aneignung der geschichtlichen Wirklichkeit darstelle, stoßen wir auf das Problem von Theorie und Praxis. Kluges Forderung besitzt insofern aufklärerischen Charakter, als es ihm um die Beförderung kollektiver Geschichtsaneignung zu tun ist: Theorie bedeutet dann keine unvermittelte Darstellung oder Untersuchung 107Kluge/Negt, Geschichte und Eigensinn, S. 783. 108Ebd. 109Ebd. 45 fremder Objekte mehr, sondern Selbsterkenntnis der Wirklichkeit im Sinne eines Bewusstwerdens „des Menschen über sich als Gesellschaftswesen, über den Menschen als - gleichzeitiges – Subjekt und Objekt des gesellschaftlich- geschichtlichen Geschehens.“110 Die Aneignung von Wirklichkeit verbleibt für Kluge nicht im Denken, sondern muss innerhalb realer geschichtlicher Verhältnisse von realen geschichtlichen Menschen praktisch geleistet werden. Wir kommen darauf gleich wieder zu sprechen. Kluge geht nun davon aus, dass Individuen immer schon auf die antagonistische und entfremdete Wirklichkeit reagieren und nicht lediglich teilnahmslose Objekte des gesellschaftlichen Zusammenhangs darstellen. Insofern sei Wirklichkeit wirklich und unwirklich zugleich – wirklich, insofern sie Einzelne real als Schicksal treffe und unterdrücke, unwirklich, insofern diese Unterdrückung lediglich eine Verschiebung und Verdrängung menschlicher Kräfte bewirke, die im Untergrund weiterarbeiteten.111 Was damit gemeint ist, kommt wohl am ehesten in Kluges Begriff von „subjektiver Gegenwehr in Permanenz“112 zum Ausdruck: Objektivität, als entfremdeter gesellschaftlicher Zwangszusammenhang, stellt nur die eine Großmacht der Wirklichkeit dar; Subjektivität, die sich in den Glückssuchen, Protesten, Illusionen, Phantasien und aktiven Bewältigungsstrategien der Individuen äußert, die andere. Gegen die Auffassung, Subjektivität zeichne sich allein durch Wünsche, Strategien des Ausgleichs oder Protesthandlungen aus, erhebt Kluge zwar Einspruch, wie wir im Kapitel zur subjektiven Bestimmtheit der Geschichte gesehen haben. Dennoch scheint diese Dimension des Subjektiven für ihn eine zentrale Rolle zu spielen, und zwar insofern, als dort eine ganze Reihe realistischer Arbeitseigenschaften und -prozesse zutage treten, die v.a. innerhalb politischer Fragestellungen virulent werden. Wenn nämlich Menschen immer schon aktiv mit den Zumutungen der Gesellschaft umgehen, dann gestaltet sich der Ausgangspunkt möglicher Vermittlungsmöglichkeiten zwischen Individuum und Gesellschaft grundlegend anders, als wenn angenommen würde, Menschen seien lediglich entmächtigte Produkte des gesellschaftlichen Zusammenhangs. Der individuelle Umgang mit einer entfremdeten Wirklichkeit drückt sich verschiedenartig aus: 110Lukács, Geschichte und Klassenbewusstsein, S. 86. 111Kluge, Die schärfste Ideologie, S. 115. 112Kluge, Theorie der Erzählung, Vorlesung I. 46 „durch radikale Nachahmung (Imitation, Clownerie, Insistieren, Nachäffen, Oberflächenzusammenhang, absurder Sinn, Mimesis), durch Ausweichen vor dem Druck der Realität (Traum, Negation, Überhöhung, Erfindung, Ersetzung eines Problems durch ein anderes, Übersprungverhalten, einfaches Weglassen, Utopie) oder durch Angriff ('Macht kaputt, was euch kaputt macht', aggressive Montage, Vernichtung des Gegenstandes, Klischierung des Gegners, Selbstzweifel, Darstellungsverbote, Zerstörung des Metiers, Guillotine).“113 Das Grundmotiv all dieser Verhaltensweisen, das Kluge als realistisch bezeichnet, ist nicht die „Bestätigung der Wirklichkeit, sondern Protest.“114 Antagonistisch ist allerdings nicht nur der Zusammenhang, d.h. die Wirklichkeit, der diese Protestformen entstammen, sondern diese Verarbeitungsformen selbst werden aufgrund des „Direkt-Zugriffs“, d.h. der unmittelbaren Umsetzung von Protest (moralisches Gefühl, Wut, Ratio), antagonistisch: „Was in diesem Verhalten realistisch ist (der Protest selber, das Motiv), und das, was ideologisch ist (das Resultat, die Aussage), kann nicht mehr voneinander getrennt werden. […] Antagonistisch ist also nicht nur die Realität als Gegenstand, sondern auch jede menschliche Verarbeitungsweise dieser Realität, gleich, ob sie innerhalb der Realzusammenhänge sich abarbeitet, oder ob sie sich über die Sache stellt. Das, was das Realistische daran ist, der Antirealismus des Motivs (Protests, Widerstands), produziert das Unrealistische daran.“115 Da Kluge davon ausgeht, dass die Protestformen Nachahmung, Ausweichen und Angriff keine probaten Mittel für mögliche politische Vermittlungen zwischen den Menschen und ihren gesellschaftlichen Angelegenheiten darstellen, ergibt sich die Frage nach anderen, angemesseneren Möglichkeiten. Wir betrachten daher im Folgenden Kluges Überlegungen zu (Vor-)Bedingungen einer realistischen Auseinandersetzung mit Geschichte. Als Vorbedingung für Möglichkeiten der politischen und pädagogischen Vermittlungsarbeit kann vermutlich die spezifische Art und Weise des Kluge'schen Zugriffs auf vorhandene Verarbeitungsformen der Wirklichkeit gelten. Kluge fordert 113Kluge, Die schärfste Ideologie, S. 116. Die oben erörterten Formen der Balancearbeit finden sich hier in den ausweichenden Reaktionen wieder. Utopie würde sich in diesem Zusammenhang m.E. eher auf individuelle Utopien i.S.v. Hoffnungen oder Projektionen beziehen, da alle diese Reaktionen individuelle Umgangsformen darstellen. 114Kluge, Die schärfste Ideologie, S. 116. 115Ebd., S. 116f. 47 eine radikale Anerkennung des realistischen Moments des Protestes, d.h. seiner Motive. Zwar verkehre sich die ursprüngliche Intention dieser lebendigen Arbeit in Verzerrung, Übertreibung, Verdrängung, Hemmung etc. zu einem unrealistischen Ausdruck.116 Dennoch müsse das „verborgene“ Motiv zur Geltung kommen und als konkretes Anliegen Beachtung finden. Das allerdings erfordert in erster Linie eine empathische Bezugnahme auf die gegebenen Protestformen, wenngleich diese einer kritischen Betrachtung unterzogen werden. Damit in Zusammenhang steht Kluges allgemeine Verpflichtung gegenüber der „Würde des Besonderen“, die sich durch alle seine Texte, vor allem die biografischen, zieht. Kluges Gestus ist kein herrschaftsförmiger, keiner der überwältigenden Bemächtigung, sondern zeichnet sich durch liebevolles Verstehen und Nachvollziehen des Kleinen und Kleinsten aus. In diesem Zusammenhang lässt sich auch die starke Fokussierung auf lebensweltliches Leben und Erleben konkreter Individuen nachvollziehen: neben den geschichtlichen Großprozessen und -kämpfen müssen auch die Einzelheiten des Alltags, d.h. besondere Lebensrealitäten und -vollzüge, Sinnsuchen, Hoffnungen, Erfahrungen in die theoretische Arbeit einbezogen werden. Dabei geht es im Grunde darum, „keinen schlechten Geschmack, kein Klischee, keine Anpassung usf. auszugrenzen, sondern ihren realistischen Grund zu untersuchen. Gewissermaßen kommt es darauf an, nichts, was eine materielle Substanz hat, in die Anstalt einzuweisen.“117 Wie oben bereits besprochen, gehen Kluge und Negt davon aus, dass die auf die Aufhebung von Entfremdung hinarbeitende Vermittlung zwischen Individuen und Gesellschaft grundlegend auf die Aneignung von Geschichte bezogen werden muss. Das menschliche Individuum – das hier als antizipierte Utopie verstanden werden kann –, entsteht erst „durch die vollständige Aneignung seiner Vorgeschichte, als ein Resultat.“118 Als zentralste Kategorie im Zusammenhang mit den Bedingungen für diesen historischen Prozess der Menschwerdung veranschlagen Kluge und Negt diejenige der Erfahrung: „Alles, was wirkliche Erfahrung ist, […] ist Ausdruck eines 116Vgl. Ebd. 117 Kluge, Das Interesse an Frauenfilmen, S. 196. 118Kluge/Negt, Öffentlichkeit und Erfahrung, S. 486. 48 Produktionsvorgangs, der nicht auf isolierte Individuen gestützt ist, sondern die Tätigkeit eines kollektiven gesellschaftlichen Gesamtsubjekts bezeichnet, in das alle Tätigkeiten der Auseinandersetzung mit der äußeren und inneren Natur hineingezogen werden. Erfahrung ist in einem strengen Sinne gleichzeitig Produktionsvorgang und Rezeption gesellschaftlicher Vereinbarungen über die Erscheinungsform oder Gesetzmäßigkeit der Gegenstände.“119 Anstatt Erfahrung als einen geschlossenen Vorgang individueller Rezeption von Äußerem zu begreifen, bestimmen Kluge und Negt den Begriff der Erfahrung gesellschaftlich. Das heißt, die Art und Weise, wie Einzelne Erfahrung machen, ist sozial bestimmt. Damit besitzt Erfahrung disponiblen Charakter: Erfahrungen kann man so und so machen; ob ich etwas als problematisch erfahre, es akzeptiere oder ob es mir egal ist, hängt von meiner Erfahrungsstruktur ab, die selbst wiederum in ein kollektives Netz der Erfahrungsproduktion eingebunden ist. Wenn wir davon ausgehen, dass der Gegenstand der Erfahrung, nämlich gesellschaftlich- geschichtliche Verhältnisse („Tätigkeiten der Auseinandersetzung mit der äußeren und inneren Natur“), erstens durch Erfahrung rezipiert und produziert und zweitens durch verschiedene Formen von Erfahrung auch verschieden rezipiert und produziert wird, dann ließe sich Erfahrung insofern als zentraler Schlüssel von Vermittlung begreifen, als das Maß der realistischen Aneignung von Geschichte durch sie vermittelt ist und sich deshalb durch die Umproduktion dieser Erfahrungsvorgänge entweder steigert oder reduziert. Der Prozess der Produktion des Erfahrungshorizontes als ein spezifisches Produktionsverhältnis stellt selbst wiederum einen spezifischen Erfahrungshorizont dar: Er vermittelt Erfahrung in der Produktion von Erfahrung, ist also selbst nicht lediglich Produktionsverhältnis, sondern ein „Produktionsverhältnis der Produktionsverhältnisse, und das kann man Geschichtsverhältnis nennen.“120 Die Arbeit an Erfahrungshorizonten, die gleichzeitig einen selbstbewussten Modus der Erfahrung, d.h. einen historischen Prozess der Bewusstwerdung und Aufklärung, als auch die Bedingung dieser Erfahrungen darstellt, fassen Kluge und Negt im Begriff der proletarischen Öffentlichkeit zusammen: „Proletarische Öffentlichkeit ist der Name für einen gesellschaftlichen kollektiven 119Ebd., S. 23. 120Kluge, Theodor Fontane, S. 18. Produktionsprozeß, dessen Gegenstand 49 zusammenhängende menschliche Sinnlichkeit ist.“121 Widmen wir uns zuletzt der Ebene des einzelnen Individuums. Zwar betont Kluge, dass es Auswege nicht im begrenzten Einzelfall, sondern nur im Kooperativ, d.h. in Zusammenhängen geben kann122, dennoch finden sich bei ihm und Negt auch Stellen, die sich auf die Bildung eines aufgeklärten Lesers beziehen. Während die kollektive Seite des Emanzipationsprozesses stärker auf die Sphäre des Politischen abzielt, kann dessen individuelle eher der Sphäre der Pädagogik bzw. Erziehung zugeordnet werden. Dort scheint die Forderung und Förderung der individuellen Autonomie ein grundlegendes Anliegen Kluges zu sein. Im Vorwort zu Geschichte und Eigensinn betonen die Autoren, dass vom Leser „Eigeninteresse“ erwartet wird, „indem er sich die Passagen und Kapitel heraussucht, die mit seinem Leben zu tun haben.“123 Dadurch wird nahe gelegt, dass es für jeden Leser eine besondere Rezeption der Schriften Kluges und Negts gibt, die, entsprechend der konkreten Lebens- und Erfahrungssituation des Einzelnen, auch zu unterschiedlichen Folgerungen und Erkenntnissen führen kann.124 Der Forderung nach Selbständigkeit liegt Kluges Auffassung zugrunde, dass Menschen mit Eigenständigkeit und „eigenwilligen“ Arbeitsvermögen begabte Produzenten ihrer Erfahrung seien, durchaus imstande, ihre individuellen Lebens- und Alltagserfahrungen selbstbewusst zu reflektieren und Bildungsprozesse ihnen entsprechend auszurichten. Kluges Anspruch liegt des Weiteren die Annahme zugrunde, dass Bildungsprozesse überhaupt nur dann produktiv stattfinden können, wenn die unmittelbaren individuellen Erfahrungen, Interessen, Sprachen usw. als Rahmen und Form Einzug in sie erhalten, was sowohl auf den Fall individueller, als auch kollektiver Zusammenhänge zutrifft. Was schlussendlich an Bildung und Erfahrung gemacht wird, kann dies nur durch die Formen besonderer Ausdrucks- und Erfahrungsweisen.125 121Kluge/Negt, Öffentlichkeit und Erfahrung, S. 486. 122Kluge, Theodor Fontane, S. 12. 123Kluge/Negt, Geschichte und Eigensinn, S. 05. 124Vgl. Mieth, Die utopische Dimension von Anthropologie und Geschichte bei Oskar Negt und Alexander Kluge, S. 192. 125Vgl. Kluge/Negt, Öffentlichkeit und Erfahrung, S. 59. 50 FAZIT Resümieren wir die Darstellung der Philosophie Alexander Kluges, so lässt sich feststellen, dass seine Überlegungen von solchen der akademisch institutionalisierten Soziologie tendenziell abweichen. Kluge ist in diesem Sinne kein Soziologe, auch wenn seine Überlegungen grundsätzlich gesellschaftliche Phänomene behandeln. Obgleich sich bei ihm eine Analyse lebensweltlicher und geschichtlicher Morphologie finden lässt, unterscheidet sich diese doch von heutiger Soziologie, insofern ihr Anliegen wesentlich durch Deutung anstatt durch Forschung ausgezeichnet ist. Qualitative Untersuchungen hinsichtlich des Phänomens der Balance-Ökonomie wären durchaus aufschlussreich, verlören allerdings in dem Moment ihre kritische Schärfe, in dem sie dieses von der antagonistischen Struktur der Gesellschaft loslösen. Zum sozialen Einzelphänomen gemacht und ohne die Beziehung zur gesellschaftlichen Totalität ist die Praxis der Balance-Ökonomie weder angemessen verstehbar, noch können deren normative Implikationen herausgearbeitet werden. Kluges Wissenschaftsverständnis zeichnet sich generell durch experimentelle Offenheit, Assoziationen und Konstellationen aus. Im Gegensatz zu einer geschlossenen Arbeit innerhalb voneinander abgegrenzter Disziplinen interviewt er z.B. Helge Schneider zum Marx'schen Kapital. Auch hier macht sich das Herausfordern eines Zusammenhangs bemerkbar: Kunst, Wissenschaft und Bildung stehen für Kluge nicht isoliert nebeneinander, sondern werden in allerlei Variationen zum dynamischen Zusammenhang mit dem Ziel der „Organisierung der kollektiven gesellschaftlichen Erfahrung“ montiert.126 Diese spezifische Form allerdings als rein stilistische Eigenart zu verstehen, scheint mir insofern zu kurz gegriffen, als sich in ihr ein zentrales inhaltliches Problem manifestiert: Wenn es Kluges Anliegen ist, ein bewusstes menschliches Verhältnis zur Geschichte herzustellen, „ein sachliches Verhältnis aber überhaupt keines [ist]“127, dann macht sich in seinem Essayismus ebenso wie in den filmischen Arbeiten der Versuch geltend, Erzähl-, Darstellungsund Diskursformen zu entwickeln, die so aufgebaut sind, dass sie ein mögliches 126Vgl. Kluge, Das Interesse an Frauenfilmen, S. 197. 127Kluge/Negt, Geschichte und Eigensinn, S. 597. 51 Geschichtsverhältnis zu befördern imstande sind. Mit anderen Worten: Wenn wir unsinnlich mit der Sprache der Statistik umgehen – diese also keine lebendige Beziehung zum Gegenstand ermöglicht –, unser Umgang mit z.B. Lyrik hingegen sinnlich verfasst ist, lässt sich sagen, dass die erfahrungsgebundene Vermittlung relevanter Tatsachen und Vorgänge grundlegend in einer Form erfolgen muss, die die Bedingung der Möglichkeit einer lebendigen und selbständigen Aneignung gewährleistet. Diese Form ist für Kluge die Poesie. In seinen Vorlesungen zur Theorie der Erzählung betont er dementsprechend, dass Erzählung nicht aus reiner, „unsinnlicher“ Information bestehe, sondern wesentlich durch einen „sinnlichen“ Narrativ gekennzeichnet sei. Die Möglichkeit einer lebendigen Rezeption von Natur oder Gegenständen der Wissenschaft würde insofern erst durch deren poetische Darstellung gegeben.128 Die mit dieser Aussage verbundenen pädagogischen und bildungstheoretischen Implikationen Kluges wären sicher einer umfassenderen Auseinandersetzung wert. Kluge steht in einer sozialphilosophischen Tradition, für die zwei zentrale Charakteristika entscheidend sind: Ihre geschichtsphilosophische Fragestellung, sowie ihre praktische Haltung. Beide sind untrennbar miteinander verbunden: Wo die Geschichtsphilosophie nach dem Sinn und Zweck der Geschichte fragt, diese mithin als Aufgabe versteht, erstreckt sie sich auf ihr konkretes historisches Moment, das als Praxis diese Aufgabe ist. Theorie in diesem Sinne fungiert dann allerdings nicht einfach als anweisende bzw. anleitende Instanz, ebenso wenig wie sie bloß eine äußerliche, beobachtende, Perspektive einnimmt. Die Dinge liegen anders: Theorie und Praxis bilden eine widerspruchsvolle Einheit, insofern sie beide sowohl die Bedingung, den Gegenstand, als auch den historischen Prozess selbst bilden. Der aktive Rückbezug auf Geschichte und mögliche Zukunft kann als Versuch verstanden werden, durch eine beständige kritische Reflexion die Gegenwart im Sinne der Selbsterkenntnis dieser Gegenwart begrifflich zu erfassen. Kluge und Negt stellen einen der letzten Versuche einer Aktualisierung dieser Form der Selbstkritik der bürgerlichen Gesellschaft dar, deren politischer Aspekt heute kaum noch rezipiert zu werden scheint. 128Vgl. Kluge, Theorie der Erzählung, Vorlesung II. 52 Wenn z.B. Corinna Mieth ihren Aufsatz über die Rolle der Utopie und Anthropologie bei Kluge mit dem Satz „Es scheint, als bliebe nicht nur bei Adorno, sondern auch bei Negt und Kluge die Utopie als 'Sehnsucht' ein Gegenstand der (literarischen) Phantasie“129 beschließt, so verkennt sie deren beständige Überlegungen zum Beginn der Arbeit an der Geschichte als rein kulturalistisches Anliegen, das in keinerlei emphatischem Bezug zur politischen Situation der Zeit steht. Was in der vorliegenden Arbeit als substantielles Moment der Überlegungen Kluges und Negts herausgearbeitet wurde, marginalisiert Mieth zum bloßen Akzidenz. Man muss politische und kulturelle Produktion nicht in eins setzen, um zu erkennen, dass die abstrakte Isolierung eines dieser beiden Momente („Kultur“) eine Entspannung im schlechten Sinne verursacht, durch die ein ganzer Komplex von Fragestellungen obsolet wird. Inwiefern Kluges kulturschaffende Tätigkeit als Biograph, Interviewer und Regisseur nur die praktische Seite seines Begriffs von Erfahrung und Erfahrungsproduktion darstellt, wäre freilich eine zu untersuchende Frage. Mieth nun hebt die Spannung von Individuum und Gesellschaft, Reform und Revolution, Kultur und Politik sowie individuellen und kollektiven Bildungsprozessen auf und landet damit innerhalb eines Diskurses, dessen Gegenstand so wenig geschichtlich informiert scheint wie er selbst. Dies lässt sich sowohl am Beispiel der Utopie, wie auch an demjenigen der Politik verdeutlichen. Mieth begeht den Fehler, Utopie als etwas hochgradig Abstraktes und geschichtlich Unvermitteltes zu begreifen, nämlich als „konfliktfreien Zustand“ „vollständige[r] Harmonie“ ohne „Frustrationen und Lerneffekte“130. Dem abstrakten Boden dieser Überlegungen entsprechen ebenso abstrakte Fragen: „Und ist es nicht zuviel vom Menschen verlangt, daß er eine Verwirklichung aller Träume gewährleisten soll?“131 Anstatt Utopie vom Gesichtspunkt des geschichtlichen Moments und dieses von jener aus zu befragen und zu verstehen, bleibt Mieth bei einer rein psychologistischen Auffassung von Utopie und Politik stehen, deren einziger Inhalt noch darin besteht, dass private, aber „aufgeklärte“ Individuen „bessere Möglichkeit[en] der Konfliktlösung“132 entwickeln, durch deren Aggregation „schließlich die Lebensqualität der Gattung 129Mieth, Die utopische Dimension von Anthropologie und Geschichte bei Oskar Negt und Alexander Kluge, S. 199. 130Ebd., S. 187, S. 192. 131Ebd., S. 188. 132Ebd., S. 192. 53 verbessert“133 würde. Sie schüttet damit das Kind mit dem Bade aus: Wenn einzig psychologische oder pädagogische Kategorien für das Utopische in Frage kommen, wird Denken gezwungen, von Fragen der strukturgewordenen Geschichte vollkommen zu abstrahieren. Utopie, die immer auf ein Ganzes gerichtet ist, wird damit im eigentlichen Sinne aufgegeben. Generell übergeht die Fetischisierung handlungstheoretischer Denk- und Erklärungsmodelle den von Kluge immer wieder aufgeworfenen Konflikt zwischen den Beziehungsgeschichten von Menschen und der Geschichte der Gesamtgesellschaft. Ergebnis ist ein Verlust des Begriffs des Politischen, der immer auch Fragen der Organisation, der gesellschaftlichen Institutionen und deren Vermittlung mit konkreten Individuen adressiert. Zutreffend ist, dass Kluge und Negt einen starken Fokus auf Phänomene des Alltags und des Privaten und mithin auf kleinteilige Prozesse gesellschaftlicher Veränderung legen. Ihre emphatische Auseinandersetzung mit Lernen, Bildung, Erziehung und individuellen Protestformen unterstreicht diesen Fokus. Die Bedürfnisse und Wünsche der Individuen, ihre Erfahrungen und Lebensvollzüge werden allerdings nicht außerhalb institutioneller und organisatorischer Aspekte behandelt. Insofern wäre die zentrale politische Frage in diesem Zusammenhang, wie Kluge und Negt den Widerspruch zwischen Allgemeinem und Besonderem, von Makro- und Mikroebene handhaben. Eine Möglichkeit wäre, dass die Autoren der Sphäre des Besonderen grundsätzlich Vorrang einräumen, womit ihre Überlegungen einem prinzipiellen Voluntarismus zuzuordnen wären, der die Veränderung, Befreiung und Bildung des Selbst zum alleinigen Prinzip erhebt. Der Geschichte fiele innerhalb der Koordinaten individualistischer Theorie und Praxis eine lediglich nebensächliche Rolle zu. Damit ließen sich Kluge und Negt hervorragend zu Apologeten der meisten gegenwärtigen „Veränderungsversuche“ stilisieren. Entgegen dieser Auffassung lassen die hier dargestellten Zusammenhänge – allen voran die Bezugnahme auf die Kategorie der objektiven Möglichkeit – darauf schließen, dass die Autoren das Problemverhältnis nicht einseitig auflösen. Eine alternative Deutung und Rezeption des Werks von Kluge und Negt hätte danach zu fragen, ob deren Reflexion sich nicht gerade auf eine historische Situation 133Ebd. 54 bezieht, innerhalb derer ein politischer Zusammenhang i.S. der vermittelnden Organisation kaum mehr gegeben ist. Für die Entwicklung der Linken nach 1968 ist ja gerade bezeichnend, dass sich eine zunehmende Verschiebung des Politischen ins Private vollzieht, wodurch das elementare Vermittlungsproblem zwischen lebendigen, handelnden Individuen und den verdinglichten gesellschaftlichen Verhältnissen besonders deutlich zutage tritt. Nicht umsonst betonen Kluge und Negt immer wieder die Notwendigkeit des „Zusammenhangs“, der nicht als prästabilierte Harmonie zwischen widerständigen Praxen im Privaten und potentieller geschichtlicher Wirksamkeit gegeben ist. Im Gegenteil, es ließe sich wohl behaupten, dass heutige politische Praxen weitestgehend innerhalb unreflektierter Immanenzzusammenhänge stattfinden, z.B. in linken Subkulturen und Sekten oder konsumethischen Bemühungen. Angesichts dieser historischen Umstände wäre zu fragen, wie sich ein aktiver Rückbezug auf das, was (nicht) getan und (nicht) geschaffen wird, heute gestalten könnte und wie historisches Bewusstsein innerhalb eines konkreten Bildungs-, Erfahrungs- und Aufklärungsprozesses zusammengesetzt werden könnte, ohne dass Theorie zum solipsistischen Diskurs oder zum Apologet bestehender Praxis degeneriert. Dabei bestünde die grundlegende Herausforderung darin, die außerordentlich problematische Spannung zwischen Allgemeinem und Besonderem, zwischen Politik und Moral sowie zwischen Theorie und Praxis aufrecht zu erhalten. 55 LITERATURVERZEICHNIS Monographien und Sammelbände Adorno, Theodor W., Die Aktualität der Philosophie (1931). In: Gesammelte Schriften Bd. 1, Frankfurt am Main 1997. ders., Gesellschaft (1965). In: Soziologische Schriften I, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1979. ders., Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie (1955). In: Soziologische Schriften I, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1979. Berger, Peter, Luckmann, Thomas, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt am Main 1967. Bourdieu, Pierre, Sozialer Raum und symbolische Macht. In: Rede und Antwort, Frankfurt am Main 1992. Elias, Norbert, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenestische Untersuchungen Bd. I. (1939), Frankfurt am Main 1997. 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