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Jesus, Paulus und die Texte von Qumran Herausgegeben von
Jörg Frey und Enno Edzard Popkes unter Mitarbeit von
Sophie Tätweiler
Mohr Siebeck Digitaler Sonderdruck des Autors mit Genehmigung des Verlags
Jörg Frey, geboren 1962; Studium der Theologie in Tübingen, Erlangen und Jerusalem; 1996 Promotion; 1998 Habilitation; seit 2010 Professor für Neutestamentliche Wissenschaft mit den Schwerpunkten Antikes Judentum und Hermeneutik an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich. Enno Edzard Popkes, geboren 1969; Studium der Theologie und Philosophie; 2004 Promotion; 2007 Habilitation; seit 2010 Professor für Geschichte und Archäologie des frühen Christentums und seiner Umwelt am Institut für Neues Testament und Judaistik der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel.
ISBN 978-3-16-153212-2 ISSN 0340-9570 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2015 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Nehren auf alterungbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.
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Inhaltsverzeichnis Vorwort ............................................................................................................................. VII JÖRG FREY Jesus, Paulus und die Texte vom Toten Meer Forschungsgeschichtliche und hermeneutische Perspektiven ..................................... 1
I. Jesus LUTZ DOERING Jesus und der Sabbat im Licht der Qumrantexte ...................................................... 33
ALBERT L.A. HOGETERP Jesus’ Eschatology in the Light of the Texts from Qumran ................................... 63
URSULA SCHATTNER-RIESER Das Aramäische zur Zeit Jesu, „ABBA!“ und das Vaterunser Reflexionen zur Muttersprache Jesu anhand der Texte von Qumran und der frühen Targumim .......................................................................................................... 81
HERMANN LICHTENBERGER Mt 18,10 und die Engel in Qumran .......................................................................... 145
II. Paulus CHRISTIAN METZENTHIN Jüdische Schriftgelehrsamkeit bei Paulus ................................................................ 163
FRIEDRICH AVEMARIE † Gab es eine vorrabinische Gezara schawa? Schriftauslegung durch lexematische Assoziation in Qumran, bei Paulus und in der frühen rabbinischen Literatur ......................................................................... 185
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Inhaltsverzeichnis
ENNO EDZARD POPKES Essenisch-qumranische und paulinische Psalmen-Rezeptionen Ein Beitrag zur frühjüdischen Schrifthermeneutik ...................................................... 231
GEORGE J. BROOKE Weak or Sinful? A Body of Rhetoric – on the Use of Physical Metaphors in Romans 3 and the Hodayot........................................................................................................... 251
FRANCESCO ZANELLA Das Vokabular für ‚Gerechtigkeit‘ in den Qumranschriften und bei Paulus ..... 263
JUDITH H. NEWMAN Covenant Renewal and Transformational Scripts in the Performance of the Hodayot and 2 Corinthians ..................................................................... 291
III. Qumran-Studien MICHAEL BECKER Zwischen Kult, Verein und Eschaton Zur Diskussion der Mähler in der ya!ad-Gemeinschaft ............................................. 331
JEAN-SÉBASTIEN REY 4QInstruction and its Relevance for Understanding Early Christian Writings .. 359
REINHARD ACHENBACH 11QMelki-Zedek und der Repräsentant Zions in Jesaja 61 .................................. 383
JAMES H. CHARLESWORTH !!"# $" %& !"#$%"& #'( !' *) "! – An Unknown Dead Sea Scroll and Speculations Focused on the Vorlage of Deuteronomy 27:4 .................................................. 393
IV. Jesus, Paulus und Qumran HEINZ-WOLFGANG KUHN Überlegungen zu Jesus im Licht der Qumrangemeinde und Bemerkungen zum Projekt „Qumran und Paulus“........................................................................... 417
Autorenverzeichnis ........................................................................................................... 473 Stellenregister .................................................................................................................... 475 Autorenregister .................................................................................................................. 497 Personen- und Sachregister ............................................................................................. 501
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Das Aramäische zur Zeit Jesu, „ABBA!“ und das Vaterunser Reflexionen zur Muttersprache Jesu anhand der Texte von Qumran und der frühen Targumim1 URSULA SCHATTNER-RIESER Der vorliegende Beitrag gilt der Sprache des Vaterunsers und damit der Gebetssprache Jesu von Nazareth und bietet eine neue Rekonstruktion der aramäischen Sprachgestalt des Vaterunsers. Diese ist erforderlich, da sich unser Verständnis des Aramäischen zur Zeit Jesu aufgrund der Textfunde vom Toten Meer wesentlich weiterentwickelt hat. Während ältere Standardwerke zum Aramäischen in der Sprache Jesu ihren Rekonstruktionen lediglich das spätgaliläische Idiom aus den Midraschim und anderen rabbinischen Texten ab dem 3. oder gar 4. Jh. n. Chr. zugrunde legen konnten, liegen mittlerweile aus den Textfunden vom Toten Meer aramäische Texte aus der Zeit um die Zeitenwende vor, die es erlauben, die Besonderheiten des Aramäischen zur Zeit Jesu, von Judäa bis Galiläa, präziser zu erfassen. Im Folgenden werde ich nach einigen Vorerwägungen zur Sprachsituation in Erets Israel um die Zeitenwende die aramäischen Gebetstexte aus Qumran sowie vergleichbares Targummaterial heranziehen, um von hier aus die Sprachgestalt des Vaterunsers und einige interpretatorische Probleme zu beleuchten.
I. Die sprachliche Situation um die Zeitenwende Kaum jemand zweifelt heute mehr daran, dass die Volkssprache der 2 jüdischen Bevölkerung zur Zeit Jesu weitgehend das Aramäische war. In
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Mein aufrichtiger Dank gilt Prof. Dr. Jörg Frey für die mehrfache Durchsicht des Textes und zahlreiche Hinweise.
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Galiläa, unweit der syrischen Grenze, war das Aramäische schon früh 3 verbreitet, zum einen bedingt durch die Nähe zu den aramäischen Stadtstaaten im nördlichen Syrien und zum anderen durch die Ansiedlung aramäischsprachiger Kolonisten aus Mesopotamien, welche seit dem 8. Jh. v. Chr. im ehemaligen Nordreich Israel angesiedelt wurden. Zudem diente seit dieser Zeit das Aramäische als Diplomatensprache des assyrischen Großreichs und löste das Akkadische mit seinem komplizierten Schrift4 system in seiner Funktion als Verkehrssprache des Orients ab. Während das Aramäische im nördlichen Galiläa und Samaria schon längst verbreitet war, verdrängte es die hebräische Landessprache ab dem 5. Jh. v. Chr. auch im südlichen Teil der Levante, in Judäa, nachdem es unter den persischen Herrschern ab 525 v. Chr., zur internationalen Amts- und Kommunikationssprache avanciert war. Bekannt als „Reichsaramäisch“, verbreitete sich diese standardisierte Form des Aramäischen im gesamten 5 Orient von Indien über Kleinasien und die Levante bis nach Ägypten und Südarabien. Nach und nach verdrängte die aramäische Sprache schließlich lokale Idiome und entwickelte sich von einer zunächst offiziellen Sprache zur Volkssprache. Auch wenn Neh 13,246 zeitlich schwer einzuordnen ist, bestätigt dieser Vers doch die Verdrängung der hebräischen Sprache in Judäa während der persischen Epoche. Das Hebräische wäre hier wohl weitgehend verschwunden, wenn die exilierte Gemeinde in Mesopotamien es nicht zur Kult- und Liturgiesprache erhoben hätte. Die Inschriften vom Garizim, dem heiligen Berg Samarias, aus der hellenistischen und vielleicht sogar noch der späten persischen Zeit (4./3. Jh. v. Chr.), sind mehrheitlich Aramäisch, und die Papyri aus Wadi Daliyeh (ca. 450–330 v. Chr.) sind ebenfalls nur auf Aramäisch geschrieben. Auch die Eroberung Palästinas durch Alexander den Großen und das Vordringen der griechischen Kultur 2
Einen Forschungsbericht, der allerdings die Bedeutung des Aramäischen zu gering ansetzt, bietet neuerdings G. B ALTES, Hebräisches Evangelium und die Evangelien (WUNT II/312), Tübingen 2011, 14–150. 3 Dies zeigt die Dan-Stele, die an der nördlichen Grenze Israels gefunden wurde und in das 9. oder 8. Jh. v. Chr. datiert wird; s. W.M. SCHNIEDEWIND, Tel Dan Stela. New Light on Aramaic and Jehu’s Revolt, BASOR 302 (1996) 75–90; A. L EMAIRE, The Tel Dan Stele as a Piece of Royal Historiography, JSOT 81 (1998) 3–14. 4 Zwischen dem 14.–8. Jh. v. Chr. diente Akkadisch zwischen Mesopotamien und Ägypten als Handels- und Diplomatensprache, s. dazu den diplomatischen Dialog zwischen Israeliten und Assyrern in 2Kön 18,26 = Jes 36,11; epigraphische Zeugnisse für die Anwendung des Aramäischen als offizielle Amtssprache im 8. und 7. Jh. sind – um nur zwei Beispiele zu nennen – die Bilinguen von Bukhan und Tel Fekherye. 5 Die judäische Gemeinde von Elephantine in Ägypten hinterließ uns zwischen 500– 397 v. Chr. eine bedeutende Anzahl von aramäisch geschriebenen Papyri. 6 „Und die Hälfte ihrer Kinder redete aschdodisch – und sie konnten nicht judäisch (d.h. hebräisch) reden, sondern nur die Sprache dieses oder jenes Volks.“
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Das Aramäische zur Zeit Jesu, „ABBA!“ und das Vaterunser
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in der Folgezeit bedeutete keineswegs das Ende des Aramäischen – im Gegenteil, von dieser Zeit an bildeten sich aus dem standardisierten Aramäisch unterschiedliche Dialekte heraus. Das Sprachmilieu in Erets Israel zwischen dem 2. Jh. v. Chr. und dem 2. Jh. n. Chr. ist daher ausgesprochen komplex und geprägt von aramäischhebräischer Diglossie oder gar aramäisch-hebräisch-griechischer Drei7 sprachigkeit. Denn neben dem Aramäischen und dem dialektal erhaltenen Hebräischen verbreitete sich im Zuge der Hellenisierung nach Alexanders Tod das Griechische als dritte Sprache im Vorderen Orient. Zuerst Amtsund Handelssprache von Zuwanderern und Militärkolonisten, fand das Griechische auch in die sich zunehmend hellenisierende jüdische Gesellschaft als Zweit- oder Drittsprache Einzug. Das Vordringen der griechischen Sprache ist durch epigraphische Zeugnisse ab dem 3. Jh. v. 8 Chr. bezeugt und im 2. Makkabäerbuch mehrfach thematisiert. An fünf Stellen sprechen die Juden dort „in der Sprache der Väter“, wobei allerdings nicht klar ist, ob damit ein hebräischer Dialekt gemeint ist oder das Aramäische: Im Bericht über das Martyrium der sieben Söhne, welche sich weigerten die hellenistisch-paganen Traditionen anzunehmen, wendet sich die Mutter dreimal an ihre Söhne, um ihnen in ihrer Muttersprache Mut zuzureden, wogegen sie mit den seleukidischen Folterern Griechisch spricht (2Makk 7,8.21.23). Die griechisch-hebräische Zweisprachigkeit ist auch in 2Makk 12,37 erkennbar, wo es heißt, dass Judas Makkabäus das Kriegsgeschrei „in der Sprache seiner Väter“ erhob. In 2Makk 15,29 wird sogar ein Gebet erwähnt: „Sie (die Juden) priesen den Herrn in der Sprache ihrer Väter.“ Auch wenn mit dem Makkabäeraufstand eine patriotisch bedingte Renaissance des Hebräischen verbunden war, wurde dadurch das Vordringen des Griechischen und die Hellenisierung der palästinischen Gesell7 J.A. FITZMYER, The Languages of Palestine in the First Century AD, CBQ 32 (1970) 501–531; J.N. SEVENSTER, Do You Know Greek? How Much Greek Could the First Jewish Christians Have Known? (NT.S 19), Leiden 1968; M. H ENGEL, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2 Jh.s v. Chr. (WUNT I/10; Tübingen1969; 3. Aufl. 1988); DERS. (unter Mitarbeit von C H. M ARKSCHIES), Zum Problem der “Hellenisierung” Judäas im 1. Jahrhundert nach Christus, in DERS., Judaica et Hellenistica. Kleine Schriften I, (unter Mitarbeit von R. Deines, J. Frey, Ch. Markschies, A.M. Schwemer mit einem Anhang von H. Bloedhorn) [WUNT I/90], Tübingen 1996, 1–90. 8 Das Griechische verbreitete sich von den Küstengegenden bald in das Innere des Landes. S. die Ostraka aus Khirbet el Qom, bei in D.E. A UNE, The Westminster Dictionary of New Testament and Early Christian Literature and Rhetoric, Louisville 2003, 209–10. Zum Vordringen der griechischen Sprache im palästinischen Judentum s. M. H ENGEL, Judentum und Hellenismus, 108–120, und auch R. R IESNER, Jesus als Lehrer (WUNT II/7), Tübingen 1981, 385–386.
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schaft nicht entscheidend in Frage gestellt. Das Erlernen der griechischen Sprache und die Partizipation an griechischer Erziehung und Kultur 9 gehörten in der hellenisierten jüdischen Oberschicht zum guten Ton, aber auch Händler und Handwerker mussten genug Griechisch beherrschen, um mit ihren nichtjüdischen Geschäftspartnern oder Diasporajuden kommunizieren zu können.10 Obwohl das Aramäische als Umgangssprache vorherrschend war, hat sich offensichtlich auch eine lokale judäische Form des Hebräischen gebietsweise bis zum 2. Jh. n. Chr. erhalten, wie es die in einem besonderen hebräischen Dialekt geschriebenen gruppenspezifischen Texte aus 11 Qumran, einige der Bar-Kochba-Briefe aus dem zweiten jüdischen Krieg, 12 einige Belegstellen aus dem Talmud sowie die ältere Schicht des mischnisch-rabbinischen Hebräisch bezeugen. Das klassische Hebräisch blieb daneben weiterhin als Liturgiesprache und in den Lehrhäusern der Schriftgelehrten im Gebrauch. Griechisch und Hebräisch avancierten um die Zeitenwende und in den ersten Jahrhunderten danach zu Prestigesprachen, was auch manche abschätzige Bewertung der aramäischen Umgangsspra13 che zu erklären vermag. Im Blick auf das tägliche Gebet statuiert die 9
Dies zeigen Inschriften auf Ossuarien, Grabstelen und Synagogen der Zeit Jesu, die mehrheitlich Griechisch oder zweisprachig beschrieben sind. Auftraggeber von Grabstelen oder Ossuarinschriften dürften i.d.R. den höheren Schichten angehört haben. 10 Nicht zuletzt gab es in Jerusalem eine große Zahl von Diasporajuden, deren Umgangssprache Griechisch war (s. M. H ENGEL, Jerusalem als jüdische und hellenistische Stadt, in: ders., Judaica, Hellenistica et Christiana. Kleine Schriften II (WUNT I/109), Tübingen 1999, 115–156; bes. 147. Mehr zur Zweisprachigkeit in Bezug auf das Griechische und das NT bei M. SILVA, Bilingualism and the Character of Palestinian Greek, Bib 61 (1980) 198–219; G.H.R. H ORSLEY, New Documents Illustrating Early Christianity, Bd. 5: Linguistic Essays, New South Wales, Australia 1989, 23–26, sowie S.E. PORTER, Verbal Aspect in the Greek of the New Testament, with Reference to Tense and Mood (Studies in Biblical Greek 1), New York 1989, 154–156. 11 Vgl. M. B AILLET et al. (Hg.), Les petites grottes de Qumran (DJD 3), Oxford 1960, 222. 12 In bMeg 18a und bRhSh 26b lernen Rabbi und seine Talmudschüler von einer Magd die Bedeutung einiger hebräischer Dialektwörter. 13 S. die Diskussion der Rabbinen in bBabQam 82b–83a wo Rabbi (2. Jh.) sagt: „ Was wollt ihr mit Aramäisch? Sprecht entweder Griechisch oder Hebräisch!“ Gemäß bTaan 49b soll Rabban Gamaliel II. in seinem Lehrhaus 500 Schüler die Torah und 500 Schüler die griechische Weisheit gelehrt haben. Gamaliels Sohn, Rabban Simon ordnete an, dass die Heiligen Schriften außer der Lektüre im Hebräischen nur ins Griechische übersetzt werden dürften (mMeg I,8). Aramäisch wurde von vielen Rabbinen als gemeine Volkssprache als zu minderwertig angesehen, um als Liturgie- und Gebetssprache gültig zu sein. Gegen diese negative abwertende Einstellung ist eine Passage aus dem Midrasch Genesis Rabba (BerR 74,14 [684]; ebenso jSot 30,1), gerichtet: „R. Samuel b. Nahman sagte: Urteilt nicht abfällig über die aramäische Sprache (l!wn prsy), denn in der Torah, den Propheten und den Schriften, erweist der einzig Heilige ihr die Ehre: Yegar-Sahaduta
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Das Aramäische zur Zeit Jesu, „ABBA!“ und das Vaterunser
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Mischna mSot VII,1 jedoch trotz mancher Einwände, dass dieses und die Tischbenediktion „in jeder Sprache“ (bkl l!wn) gesprochen werden dürfen. Die plurale Sprachsituation Palästinas zeigt sich auch in Verträgen und Urkunden jener Zeit: Verträge der ersten zwei nachchristlichen Jahrhunderten sind auf Griechisch, Hebräisch oder Aramäisch geschrieben wie es die Doppelurkunden aus der Wüste Juda (Ende 1. und Beginn des 2. Jh. n. Chr.) zeigen.14 Die Wahl der Sprache richtet sich dabei einerseits nach der Natur des Dokuments: offizielle Verträge nach römischen Recht sind Griechisch geschrieben, während innerjüdische Dokumente, also Urkunden nach jüdischem Recht, Hebräisch oder Aramäisch geschrieben sind. Nach der Mischna (mKet IV,12; vgl. bKet 52b) richtet sich die Sprache einer Urkunde andererseits auch nach der Sprachsituation der Betroffenen. Diese Mischnastelle legt die Formulierungen und Bestimmung der Heiratsakte (Ketubba) fest und bestätigt somit indirekt die gemischte Sprachsituation in Judäa, indem sie bezeugt, dass anstelle einer aramäischen Formulierung, die in Galiläa und Jerusalem gebraucht wird, im restlichen Judäa eine Formulierung im mischnischen Hebräisch verwendet wird.15 Die aus dem zweiten jüdischen Krieg (132–135 n. Chr.) stammenden Briefe Bar Kochbas sind mehrheitlich Aramäisch geschrieben, einige jedoch Hebräisch und Griechisch.16 Nach dem Talmud (bMeg 18a) scheint bis zum zweiten jüdischen Krieg das Erlernen des Griechischen empfehlenswert gewesen zu sein; erst nach dem Misserfolg Bar Kochbas verbieten die Rabbinen, die (Gen 31,47); in den Propheten: So sollt ihr zu ihnen sprechen … (Jer 10,11); in den Schriften: Dann sprachen die Chaldäer zum König auf Aramäisch (Dan 2,4).“ 14 Zu Sprache und Schrift der Urkunden s. E. K OFFMANN, Die Doppelurkunden aus der Wüste Juda, Leiden 1968, 56–61. Die in H. C OTTON und A. Y ARDENI (Hg.) Aramaic, Hebrew, and Greek Documentary Texts from Nahal Hever (DJD 27), Oxford 1999, publizierten Dokumente aus dem Babatha-Archiv umfassen 26 griechische und 9 aramäische (davon 6 nabatäisch-aramäische) Texte. Urkunden, die sich explizit auf das römische Recht berufen, sind griechisch geschrieben, die Beglaubigungsformeln sind jedoch in Aramäisch, der Muttersprache der Verfasser. Babatha selbst konnte kein Griechisch und ließ diverse Kaufverträge von einem professionellen Schreiber in Griechisch aufsetzen. Ihre eigene Heiratsurkunde ist dagegen auf Aramäisch. S. weiter J.G. O UDSHOORN , The Relationship between Roman and Local Law in the Babatha and Salome Komaise Archives: General Analysis and Three Case Studies on Law of Succession, Guardianship and Marriage, Leiden 2007. 15 Siehe mKet IV, 12 (und bKet 52b): „Die Leute von Galiläa schreiben wie die von Jerusalem, wogegen die Leute des (restlichen) Judäa so schreiben … “ (! !"#$% &!&' !!"# .!"#$%& %"' '(%'" ")*+ .,"-)%." ")*+&) Vgl. G. D ALMAN, Die Worte Jesu: Einleitung und wichtige Begriffe, Leipzig 1898, 4. 16 Von den 15 erhaltenen Briefen, sind acht auf Aramäisch, fünf auf Hebräisch und drei auf Griechisch geschrieben. Auch die Dokumente von Wadi Murabbat sind mehrheitlich auf Aramäisch und teils auf Hebräisch. M. H ADAS-L EBEL, L’hébreu – 3000 ans d’histoire, Paris 1992, 62–63.
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Söhne Griechisch zu lehren (bSota 49/49b). Und erst ab dem 3. Jh. wurde die aramäische Sprache dann zur literarischen Sprache,17 derer sich auch die Rabbinen bedienen, um die Targumim und die Gemara zu verfassen. Im Unterschied zur Praxis Jesu, der von Anfang an die aramäische Volkssprache als Gebetssprache verwendete und auch als quasi ‚öffentliche‘ Gebetssprache im Kreis seiner Jünger förderte, scheint das rabbinische Judentum die Aufnahme aramäischer Gebete, (darunter das Qaddish, welches nicht vor dem 4. Jh. belegt ist), erst später toleriert zu haben, als dem Aramäischen ein Statuswechsel von der populären zur literarisch geachteten Sprache zu Teil kam. Hier zeigt sich wohl auch die Konsequenz der rabbinischen Regel mSot VII,1, die jede (Volks-)Sprache als Gebetssprache zuließ. Die Dreisprachigkeit Palästinas zur Zeit Jesu spiegelt sich auch im Neuen Testament, so besonders plastisch im lukanischen Bericht des Auftretens des Paulus in Jerusalem: Paulus spricht Griechisch mit dem römischen Kommandanten, der ihn im Tempel festnimmt (Apg 21,37), wendet sich aber auf Aramäisch an das Volk (Apg 21,40; 22,2), und dass er als praktizierender Jude des Hebräischen mächtig war, ist für Lukas selbstverständlich (Apg 26,14) und wohl auch historisch vorauszusetzen. Auch für den irdischen Jesus sind zumindest gewisse Kenntnisse des Griechischen vorauszusetzen, so dass selbst ein Gespräch mit Pontius Pilatus auf Griechisch historisch nicht undenkbar ist. In der Synagoge las und betete er wohl hebräisch, im täglichen Leben und in seiner Verkündigung sprach er hingegen Aramäisch. Insofern fügen sich seine Lehrtätigkeit in Galiläa und die in den synoptischen Evangelien erhaltenen Aramaismen in seinen Worten in das Bild des Aramäisch sprechenden Galiläa.18 Diesem aramäischen Hintergrund der griechisch verfassten Schriften des Neuen Testaments wurden mehrere Studien gewidmet,19 in 17
M. M CN AMARA, Greek in First-Century Judaism, in: ders., Targum and New Testament (WUNT I/279), Tübingen 2011, 200. 18 Die Termini !"#$%&'( und )*"#$+,- werden im NT undifferenziert für Hebräisch oder Aramäisch angewendet und sind am besten mit „in der Sprache der Hebräer/Juden“ zu übersetzten. In Joh 5,9; 19,13.17.20; 20,16 bezeichnet es ohne Ausnahme aramäische Namen, in Apg 21,40; 22,2; 26,4 steht !"#$%&'( wohl eher für die aramäische Sprache als für Hebräisch; in Apk 9,11 (."$,,/0 < !"#$% „Abgrund“) und 16,16 (1#2$34,/0 „Berg Magedon/Megiddo“) bezeichnet der Terminus jedoch hebräische Ausdrücke. Die meisten Ausdrücke sind jedoch Aramäisch, s. dazu U. SCHATTNER-R IESER, Les aramaïsmes du Nouveau Testament, in: dies., L’araméen des manuscrits de la mer Morte, Lausanne 2004, 48–49. 19 G. D ALMAN, Die Worte Jesu: Einleitung und wichtige Begriffe, Leipzig 1898; DERS ., Jesus-Jeschua. Die drei Sprachen Jesu. Jesus in der Synagoge, auf dem Berge beim Passahmahl, am Kreuze. Im Anhang: Ergänzungen und Verbesserungen zu JesusJeschua, Darmstadt 1967 (= Leipzig 1922); F. R OSENTHAL, Die aramaistische Forschung seit Th. Nöldekes’ Veröffentlichungen, Leiden 1939; J.A. FITZMYER, Essays on the
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denen sprachliche Phänomene von den lexikalischen Aramaismen über die Griechisch wiedergegebenen Aramaismen bis hin zur semitischen Syntax und zu Spuren von aramäischem (oder überhaupt semitischem) Denken im Hintergrund der griechischen Wendungen des Neuen Testaments aufgearbeitet sind.20 Auch wenn keine neutestamentlichen Texte auf Aramäisch erhalten sind und vielleicht auch zunächst keine solchen Aufzeichnungen existierten,21 ist es m.E. eindeutig, dass dem griechischen Vaterunser ein aramäischer Text – schriftlich oder mündlich – zugrunde lag. Dies soll genügen, um einige der sprachlichen Besonderheiten zu erklären.
II. Die Handschriften von Qumran und die darin belegten aramäischen Gebete Nach diesen einleitenden Bemerkungen zur Sprachsituation um die Zeitenwende ist nun die Problematik der Gebetssprache zu reflektieren: In welcher Sprache betete man zur Zeit Jesu – oder besser: durfte man zur Zeit Jesu beten? Darüber geben uns die Textfunde vom Toten Meer indirekt Auskunft.
Semitic Background of the New Testament, London 1971; DERS. A Wandering Aramaean: Collected Aramaic Essays, Missoula 1979; H.F.D. SPARKS, Some Observations on the Semitic Background of the New Testament, SNTS Bulletin 2 (1951) 33–42; S. SEGERT, Aramäische Studien, II: Zur Verbreitung des Aramäischen in Palästina zur Zeit Jesu, ArOr 25 (1957) 21–57; P. G RELOT, Sémitismes dans le Nouveau Testament (SDB 12), Paris 1992, col. 333–424. 20 M. B LACK, An Aramaic Approch to the Gospels and Acts, Oxford 1967; M. SILVA, Bilingualism and the Character of Palestinian Greek, Bib 61 (1980) 198–219: 205–227; M. C ASEY, In Which Language Did Jesus Teach?, ExpTim 108/11 (1997) 326–228; D ERS., Aramaic Sources of Mark’s Gospel (SNTSMS 102), Cambridge 1998, ebd. 65–68. Die umfangreichste und zugleich eine der weniger bekannten Studien ist jene von P. G RELOT, Sémitismes, Paris 1992. 21 Einige Kirchenväter bezeugen seit dem Beginn des 2. Jh. v. Chr. einen aramäischen Text des Matthäusevangeliums, so zuerst Papias (um 120–130 n. Chr.) in seiner rätselhaften Notiz bei Euseb h.e. III 39,16, die dann von Irenäus (adv. haer. III 1,1–2), Euseb (auch h.e. VI 25,4) und v.a. Hieronymus aufgenommen wird. Unklar ist allerdings, ob der Kleinasiate Papias wirklich einen aramäischen Text des Matthäusevangeliums kennen konnte oder worauf seine Notiz sonst zu beziehen ist – das kanonisch vorliegende Matthäusevangelium scheint in Griechisch komponiert zu sein. Dennoch ist die Existenz von aramäischen Überlieferungen im palästinisch-syrischen Raum nicht generell zu bestreiten, und zumindest ab dem späteren zweiten Jahrhundert scheint es eine aramäische Evangelienschrift gegeben zu haben, die heute in der Forschung ‚Nazoräerevangelium‘ genannt wird. S. dazu J. FREY, Fragmente judenchristlicher Evangelien, in: Ch. Markschies/J. Schröter (Hg.), Antike christliche Apokryphen I/1, Tübingen 2012, 561–660.
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1. Die Sprache der Handschriften von Qumran Die Entdeckung der Handschriften vom Toten Meer zwischen 1947 und 1956 lieferte uns nicht nur die spektakulärsten Textzeugen für die alttestamentliche Bibelwissenschaft und die Erforschung des Judentums zur Zeit des Zweiten Tempels, sondern sie sind auch die wichtigsten authentischen Zeugen für die Sprachpluralität in und um Judäa in der hellenistischen und frührömischen Zeit. Von den ca. 930 fragmentarisch erhaltenen Handschriften sind ca. 750 hebräisch, 150 aramäisch (einige davon nabatäischaramäisch) und 27 griechisch geschrieben. Die Mitglieder der Qumrangemeinde (hebr. ya!ad), waren also mindestens zweisprachig (hebräisch und aramäisch), einige auch dreisprachig. Auch wenn das Hebräische keine tote Sprache war22, bezeugen die Transliterationen von Eigennamen und Zitierungen in zeitgenössischen nichtsemitischen Texten, dass die Umgangssprache mehrheitlich Aramäisch war.23 Für die Qumrangemeinde ist dies auch schon vorauszusetzen. Aus der Damaskusschrift geht im Übrigen hervor, dass in der Gemeinschaft, dem ya!ad, mehrere Sprachen vertreten waren, die der Aufseher der ‚Lager‘ beherrschen musste (CD A 14,9–10 = 4Q266 10 i; 4Q267 9 v). Die große Zahl der hebräischen Handschriften vom Toten Meer erklärt sich aus verschiedenen Faktoren. Zu einem nicht unbeträchtlichen Teil handelt es sich um Bibeltexte, also sakrale Texte die in der l!"ôn haqqode" geschrieben werden mussten. Die gruppenspezifischen Texte der Qumrangemeinde sind hingegen in einem eigenen Dialekt, dem sog. Qumranhebräisch geschrieben, das vielleicht einen lokalen judäischen oder jerusalemischen Dialekt widerspiegelt und dessen Weiterverwendung sich aus der Renaissance des Hebräischen nach der makkabäischen Krise erklären lässt. Ein weiterer Dialekt ist das stark vom Aramäischen be-
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Nach späteren rabbinischen Zeugnissen pflegten nicht nur Schriftgelehrte und Priester das Studium und die Vermittlung der „Heiligen Sprache“ (l!"ôn haq-qode"), sondern jeder körperlich intakte Jude musste des Hebräischen mächtig sein für die Lesung der Schrift im Gottesdienst und bei Fachdiskussionen auf Hebräisch (bMeg 24b). Auch war die korrekte Aussprache eine unumgängliche Bedingung zur Lesung im Tempel so heißt es z. B. in bEruv 53 a/b, dass Judäer tauglich zur Lesung seien, die Galiläer jedoch nicht, denn sie hätten eine „unkorrekte“ Aussprache und außerdem hätten sie keine Lehrmeister, die sie valide unterrichteten. 23 Die meisten Toponyme im NT oder bei Josephus sind Aramäisch. Die transkribierten Wörter Abba, talita kum(i), effata, und lema sabachtani im NT sind ebenfalls Aramäisch. S. dazu U. SCHATTNER-R IESER, L’Araméen des manuscrits de la mer Morte, 48– 49.
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Das Aramäische zur Zeit Jesu, „ABBA!“ und das Vaterunser
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einflusste rabbinische Hebräisch, das in Qumran durch eine proto-misch24 nische Variante in der Kupferrolle (3Q15) und in 4QMMT vertreten ist. Die aramäischen Texte vom Toten Meer sind, mit Ausnahme des Buches Daniel, keine biblischen Texte, sondern parabiblische Texte, die z.T. bereits aus den Sammlungen der Apokryphen/deuterokanonischen Texte (z. B. Tobit) und der Pseudepigraphen (z. B. Henoch-Texte) in anderen Sprachen bekannt waren. Wir finden hier auch die erste MidraschGattung im Genesis-Apokryphon und die ersten Targumim (Targum Hiob [11Q10]; Targum Levitikus [4Q156]; sowie eine Paraphrase zu Jesaja 25 14,31–32, die im Fragment 4Q550e bei genauerem Hinsehen enthalten ist . Diese Texte sind Zeugen der reichs- und zugleich der mittelaramäischen Phase. Die literarischen Texte mit ihren vergessenen Archaismen und 26 Hyperkorrektionen bezeugen die Redaktionsarbeit der qumranischen Schreiber, die ältere reichsaramäische Texte nicht nur kopierten, sondern der neuen Sprachsituation ihrer eigenen Zeit anpassten und „modernisierten“. Letztere sind somit zeitspezifisch und damit signifikant für die Sprachgestalt des Aramäischen um die Zeitenwende. Die Zahl der griechischen Qumrantexte ist recht gering.27 Auch finden sich im Gegensatz zu den rabbinischen Texten keine griechischen Lehn24
M. B AILLET et al. (Hg.), Les petites grottes de Qumran, DJD 3, Oxford 1960, 222; G.A. R ENDSBURG, The Galilean Background of Mishnaic Hebrew, in: L.I. Levine (Hg.), The Galilee in Late Antiquity, New York 1992, 225–240, bes. 237. 25 Das Fragment 4Q550 e wird i.d.R. als Teil des Zyklus ‘Geschichten am persischen Hof’, früher „Proto-Esther“ genannt, überliefert, doch bietet das Fragment eigentlich eine Paraphrase zu Jes 14,31f; s. meine noch unveröffentlichte Zusammenstellung der qumranischen Targumim, die im Band Écrits intertestamentaires II in der Bibliothèque de la Pléiade bei Gallimard (Paris) erscheinen soll. 26 So wurde, um nur eines von vielen Beispielen zu nennen, in einem Fragment zu Henoch (4Q212) das archaische Relativpronomen zy nach reichsaramäischer Schreibung (bis zum 4. Jh. v. Chr.) zu dy verbessert, der späteren Orthographie, was bezeugt, dass dem Kopisten eine ältere Vorlage zugrunde lag, S. U. SCHATTNER-R IESER, L’apport de la philologie araméenne pour la datation des manuscrits de la mer Morte, in: K. Berthelot/D. Stoekl Ben Ezra (Hg.), Aramaica Qumranica: The Aix en Provence Colloquium on the Aramaic Dead Sea Scrolls (STDJ 94), Leiden 2010, 101–123, bes. 102 u. 113. In dem genannten Aufsatz habe ich alle Texte mit mehreren archaischen grammatikalischen Besonderheiten zusammengefasst, die ohne Zweifel auf ältere Textquellen aus dem 4. oder 5. Jh. v. Chr. zurückgreifen. 27 Die Höhle 7 von Qumran enthielt bis auf eine hebräische Ausnahme nur griechische Texte (7QLXXExod; 7QEpistJer u.a.). Unter der großen Menge von hebräischen und aramäischen Handschriften aus Höhle 4 fanden sich auch einige griechische Fragmente (4QLXXLeva, 4QLXXLevb, 4QLXXNum 4QLXXDeut), darunter ein Fragment zu Leviticus, welches den ältesten Beleg zur Aussprache des Gottesnamens IAW enthält (4QLXX Levb 20 4, 1. Jh. v. Chr.). Außerdem ist das Tetragramm im griechischen Zwölfprophetenbuch von Na!al "ever (1/8H!evXIIgr) in althebräischer Schrift geschrieben. S. dazu kürzlich: M. R ICHEY, The Use of Greek at Qumran: Manuscript and Epigraphic Evidence for a Marginalized Language, DSD19 (2012) 177–197; E. T OV, The Greek
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wörter in den hebräischen oder aramäischen Texten. Da das 3. Kapitel des Buches Daniel, das viele griechische Lehnwörter zur Bezeichnung der Musikinstrumente enthält, in Qumran ebenfalls fehlt, kann man mit Martin Hengel annehmen, dass es sich hier „um einen bewussten religiös und 28 national bedingten Purismus“ der Qumrangemeinde handelt. Die auf Hebräisch, Aramäisch und Griechisch geschriebenen Handschriften vom Toten Meer haben insofern auch die Diskussion über die Sprachsituation Palästinas um die Zeitenwende belebt. Die aramäischen Texte im Besonderen werfen auch ein neues Licht auf Jesu Mutter- und Gebetssprache. Zugleich bestätigen und berichtigen sie bisherige Vorschläge zur Rückübersetzung des Vaterunsers, die noch nicht von den Qumrantexten profitieren konnten. Eine solche soll im Folgenden versucht werden. Jede Rückübersetzung bleibt freilich nur eine hypothetische Annäherung, die aus verschiedenen Bausteinen der Qumran-Texte und der Targumim schöpfen kann, doch bleibt manches von dem ursprünglichen aramäischen Text hinter dem Mantel des Griechischen verhüllt. 2. Zur Sprache der Gebete in Qumran Was zu Beginn über die Handschriften vom Toten Meer gesagt wurde, gilt auch für die Gebete: Der Großteil ist auf Hebräisch geschrieben und 29 umfasst Versammlungs- und Festtagsliturgien, die noch aus der Tempelliturgie stammen oder ggf. an deren Stelle treten. Die hebräischen Gebete sind insofern bereits Zeugen der Substituierung der blutigen Tieropfer im Jerusalemer Heiligtum durch öffentliche Gebete. Die Grundsteine für die allein auf dem Wort basierende „Substitutionsliturgie“, wurzeln in der ersten Tempelzerstörung, die mit einem Umdenken und einer Neuorganisation des Kults der Exilgemeinde in Versammlungs- und Lehrhäusern (Bet Midrasch, s. Sir 51,23) verbunden ist. Man schätzt die Zahl der in Qumran insgesamt belegten Gebete auf ca. 30 300, sie sind größtenteils in den Bänden DJD 11 und DJD 29 gesammelt. Sie bilden einen unschätzbaren Fundus für die Erforschung der jüdischen Biblical Texts from the Judean Desert, in: ders., Hebrew Bible, Greek Bible and Qumran, Tübingen 2008, 339; E. T OV, The Greek Minor Prophets Scroll from Nah!al H!ever (8H!evXIIgr) (DJD 8), Oxford 1990; L EWIS, JDS 2; H.M. C OTTON/A. Y ARDENI, Aramaic, Hebrew and Greek Documentary Texts from Na!al "ever and Other Sites (DJD 27), Oxford 1997. 28 M. H ENGEL, Judentum und Hellenismus, 113. 29 Siehe dazu D.K. FALK, Daily, Sabbath, and Festival Prayers in the Dead Sea Scrolls (STDJ 27), Leiden u.a. 1998. 30 Mehr dazu bei Esther Chazon in ihrem Vorwort zu dem Band: E. C HAZON et al. (Hg.), Liturgical Perspectives: Prayer and Poetry in Light of the Dead Sea Scrolls. Proceedings of the Fifth International Symposium of the Orion Center, 19–23 January 2000 (STDJ 68), Leiden/Boston 2003, vii-ix.
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Liturgie. Die Qumrantexte liefern uns somit nicht nur die ältesten Handschriften zu biblischen Texten und vielen Pseudepigraphen, sie bieten auch die ältesten Quellen für die jüdische Liturgie. Diverse Vergleiche und Analysen wurden anhand der Hodayot, Berakhot und der Sabbatlieder vor31 genommen. Neben diesen kollektiven liturgischen Gebetstexten fand man in Qumran jedoch auch individuelle Gebete auf Hebräisch und Aramä32 isch. 3. Die aramäischen Gebete in den Handschriften von Qumran Trotz zahlreicher Studien zu den hebräischen Gebeten aus Qumran ist es erstaunlich, dass man den aramäischen Gebeten insgesamt wenig 33 Beachtung widmete. Folgende elf oder zwölf Texte kommen hier in Betracht: 1. Gebet Abrahams um Erlösung Sarais aus Pharaos Hand (1QapGen XX,12–16); 2. Segnung Abrahams durch Melkizedeq (1QapGen XXII,16–17); 3. Exorzistisches Gebet Abra(ha)ms durch Handauflegung (1QapGen XX,27–34 [XX,21b–31a]); 4. Saras Bittgebet um Erlösung durch den Tod (4QTobita f6,6–6,13 = Tob 3,10–15); 5. Tobits Dankgebet zu Ehren Gottes (4QTobita f18,1–15: = Tob 13,1–13,18); 31 E. C HAZON, Human and Angelic Prayer, in: dies. et al. (Hg.), Liturgical Perspectives: Prayer and Poetry in Light of the Dead Sea Scrolls. Proceedings of the Fifth International Symposium of the Orion Center, 19–23 January 2000 (STDJ 68), Leiden/Boston 2003, 35–48. 32 E. E SHEL, Apotropaic prayers in Qumran, Apotropaic prayers in the second temple period, in: E. Chazon et al. (Hg.), Liturgical Perspectives: Prayer and Poetry in Light of the Dead Sea Scrolls. Proceedings of the Fifth International Symposium of the Orion Center, 19–23 January 2000 (STDJ 68), Leiden/Boston 2003, 69–88. 33 G. SCHELBERT, ABBA, Vater! Stand der Frage, FZPhT 40 (1993) 359–381: 363, schrieb noch, dass es kaum aramäische Gebete zur Zeit Jesus gebe. Er kenne nur zwei aus Qumran: Abrahams Gebet aus dem Genesisapokryphon und ein zweites, das dem Patriarchen Levi zugeschrieben wird. In seiner Monographie erwähnt Schelbert (G. SCHELBERT, Abba Vater. Der literarische Befund vom Altaramäischen bis zu den späten Haggada-Werken (NTOA/SNTU 81), Göttingen 2011, 49), dann noch 4Q242. Viele dieser Gebete sind punktiert nach tiberischer Tradition erschienen in: Ursula SchattnerRieser, Textes araméens de la mer Morte. Édition bilingue, vocalisée et commentée (Langues et cultures anciennes 5), Bruxelles 2005. Insgesamt zähle ich sogar 19 Gebetsformulierungen und Segenssprüche, die ich auf dem ISDCL Congress Haifa 2014 unter dem Titel „Emotions and Expressions of Emotions in the Aramaic Prayers of Qumran or How to Learn to Pray“ präsentierte und zur Veröffentlichung vorbereite.
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6. Lobpreis Henochs zu Ehren des Herrn der Herrlichkeit (!"#$% &%') auf der 2. kosmischen Reise (4QEnochd f1 11,2 = 1Enoch 22,14); 7. Gebet Levis (4Q213a f1,1–18+ f2,1–10) mit einer Parallelstelle im griechischen Athosmanuskript des Aramäischen Levidokuments, aber nicht im griechischen Testament Levis (ALD); 8. Dankgebet des Nabonid nach Heilung (4QPrayerNabonidus = 4Q242 f1–3,1); 9. Hymnenartige Lobpreisung des Patriarchen Qahats in einer testamentarischen Verordnung (4Q542 f1 i, 1–3); 10. Gebet (einer unbekannten Protagonistin !"#$) um Hilfe und Vergebung trotz der Sünden der ‚Väter‘ (4QProto-Estherd = 4QGeschichten am persischen Hof = 4Q550c f1 1–1); 11. Exorzistischer Beschwörungstext gegen Übel und Krankheit (4Q560), der dem Patriarchen Levi zugeschrieben wird. 12. Aufgrund des fragmentarischen Zustands nicht mit Sicherheit zu belegen ist noch ein weiterer Text, nämlich der Abschiedssegen Tobits mit testamentarischen Verordnungen an die israelitische Gemeinde (4QTobita f43,1 = Tob 14,8?). Eine formale Auswertung der genannten elf oder zwölf Texte ergibt: drei Bittgebete um Beistand und Erlösung34 (1, 3 und 10); zwei Dankgebete35 (4 und 8); zwei Segensprüche und Lobpreisungen36 (2 und 9); zwei Abschiedssegen mit testamentarischen Verordnungen37 (7 und 12); ein exorzistisches Beschwörungsgebet38 (11) und ein Bußgebet innerhalb des Abschiedssegens in 4Q213a (7). Diese Gebete werden als private und spontane Gebete in Erzähltexten eingebaut und sind daher ursprünglich nicht der öffentlichen Liturgie zuzuordnen. Doch auch wenn Gebete ursprünglich dem Privatgebrauch zugeordnet sind, können sie doch mit der Zeit auch zu „offiziellen“ Gebeten werden, wie das Beispiel des Qaddishgebets zeigt. Auch das Vaterunser hatte wie das Qaddish zunächst keinen liturgischen Status, sondern war als persönliches Gebet Jesu zunächst ein persönliches und dann vielleicht gemeinsames Gebet seines Jüngerkreises, aber noch nicht Teil einer offiziellen ‚Liturgie‘.39 Obwohl diese Gebete unterschiedlichen Gattungen angehören, weisen sie einige sprachliche Gemeinsamkeiten auf. Dazu zählt die ausnahmslose 34 1QapGen = 1Q20 XX,12–16; 4QTobita = 4Q196 f6,6–6,13 = Tob 3,10-15; 4QProto-Estherd = 4QGeschichten am persischen Hof = 4Q550c f1,1–1. 35 4QTobita = 4Q196 f18,1–15 = Tob 13,1–13,18; 4QPrNabonidus = 4Q242 f1–3,1. 36 1QapGen XXII,16–17; 4QvisAmram = 4Q545 f1 i, 3–4. 37 4QTobita f43,1 = Tob 14,8?; 4QLev = 4Q213a. 38 4QExcorcism = 4Q560. 39 Lk 11,1 benennt eine Analogie im Schülerkreis Johannes des Täufers. Auch dieser soll seine Anhänger ein Gebet gelehrt haben.
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Verwendung des internen Passivs Pe!îl (berî! „gesegnet“). Die mediopassiven H/’it-Formen (Passivum Divinum), die charakteristisch für das Vaterunser und das Qaddishgebet sind, kommen in diesen Gebeten nie 40 vor. Das bedeutet nicht, dass der höfische Stil mit Vermeidung der direkten Nennung des Subjekts, ausgedrückt durch die passiv-reflexive Konstruktion, unbekannt wäre. Diese kommt im Alten Testament durchaus vor, doch fehlt sie in den aramäischen Gebeten von Qumran. Der Gottesname !el!h(â) ist zwar gut belegt, wird aber dennoch mit Vorliebe 41 42 epithetisch umschrieben, und auch das Tetragramm fehlt völlig. Diese aramäischen Gebete bieten Einblicke in die Gebetspraxis des Judentums aus vorrabbinischer Zeit und den Beweis, dass Gebete auf Hebräisch wie auf Aramäisch möglich waren. Sie bieten auch einen interessanten Vergleichspunkt für die Frage nach dem Hintergrund der ersten christlichen Gebete. Angefangen von der Gebetshaltung mit ausge43 streckten Händen und zum Himmel erhobenen Augen bis zum Wortschatz und Gedankengut, welche sich teils mit dem Vaterunser decken, teilweise aber auch deutlich unterscheiden. 4. Das Aramäische der Gebete Jesu Dass Jesus persönliches Beten auf Aramäisch geschah, zeigt sich eindeutig an zwei charakteristischen Beispielen aus dem Markusevangelium. Zum einen rezitiert Jesus am Kreuz in seiner Verzweiflung Psalm 22,2 auf Aramäisch (Mk 15,34), was dann im Matthäusevangelium ins Hebräische ‚korrigiert‘ wird (Mt 27,46), und zum anderen betet Jesus in der Gethsemani-Episode in Mk 14,36 zum Vater um Verschonung vor dem Todeskelch, wobei schon allein die vokative Gottesanrede !""# $ %#&'( 40
Dieses sogenannte Passivum Divinum welches Gott zum Subjekt hat, ihn aber aus Respekt nicht aktiv handeln lässt, ist schon im AT, wenn auch seltener als im NT, belegt. In der deuterokanonischen Literatur kommt es vermehrt vor. Siehe dazu C H. M ACHOLZ, Das Passivum divinum, seine Anfänge im Alten Testament und der ‚Hofstil‘, ZNW 81 (1990) 247–253. 41 Folgende Epitheta finden sich hier: „großer Name“ ("#m rabbâ); „Allerhöchster Gott“ (!"l "elyôn); „Herr des Himmels“ (m#r"! $emayyâ), „Herr des Himmels und der Erde“; „ewiger König“ (mele! "emayyâ); „der große Heilige“ (qaddî"â rabbâ); „unser großer Herr“ (m!ranâ rabbâ); „ewiger Herr“ (m#r"! "#lmâ und m#r"! "#lmayyâ in 4QEnb 1 iii 14); „Wahrheit/Gerechtigkeit“ (qud"â). In Gebeten wird Gott auch in Kompositionen mit seinem „Namen“ angerufen ("em#h qaddî"â; "em#h rabbâ; "em#h %abâ), wie dies in der rabbinischen und samaritanischen Tradition gerne zur Substituierung des Tetragramms diente, so z. B. be$"m m#r"! "#lmayyâ „im Namen des ewigen Herren“, le$"m !el#hâ „dem Namen des Gottes“. 42 J. G REENFIELD/M. SOKOLOFF, Qumran Aramaic, in: T. Muraoka (Hg.), Studies in Qumran Aramaic (AbrNSup 3), Louvain 1992, 92–94. 43 Die Gebetshaltung ist aus der Bibel bekannt und findet sich im Gebet Saras aus dem Tobitbuch und dem Testament Levis aus Qumran.
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einen spontanen Ausruf in der Muttersprache markiert. Auch das lukanische !"#$% in Lk 10,21 ist aus einem aramäischen Abba zu erklären, und selbst im Johannesevangelium spiegelt sich noch diese einfache Gebetsanrede Jesu (Joh 11,41; 12,27f.; 17,1.5.11.21.24f.). Diese Anrufung des Vaters war offenbar der frühen Gemeinde so eindrücklich, dass sie selbst Paulus gegenüber seinen griechischsprachigen Adressaten in Galatien und Rom als Fremdwort gebrauchte und als vertraut voraussetzen konnte (Gal 4,6; Röm 8,15). Der Befund ist m.E. eindeutig: Der irdische Jesus sprach 44 sein persönliches Gebet in seiner Muttersprache – d.h. dem Aramäischen. Das uns in drei Rezensionen45 überlieferte Vaterunser hat die Forschung dabei in besonderem Maße beschäftigt. Diskutiert wurde neben der Frage, welche der überlieferten Versionen die ursprünglichste ist, insbesondere auch die Frage nach der Ursprache dieses Gebetes. Bei nur wenigen 46 anderslautenden Stimmen (wie z. B. von Jean Carmignac ) ist heute allgemein akzeptiert, dass auch das Vaterunser ursprünglich aramäisch war. Freilich beginnen hier erst die Probleme, denn es stellt sich die Frage, welches aramäische Idiom hier vorauszusetzen ist. Neben der literarischen Standardsprache, in der z. B. das Targum Onkelos verfasst ist und auch gewisse Qumrantexte, gab es lokale Dialekte, wie dies z. B. auch in der Petrus-Episode Mt 26,73 angedeutet wird. Ein Galiläer verriet sich durch seine Sprache, durch verschiedene Lexeme, die im Judäischen nicht gebräuchlich waren, und daneben durch seine 47 Aussprache. Wie die späteren Diskussionen im Talmud belegen, unterschied sich das Galiläische so erheblich vom judäischen Dialekt, dass man
44
J. C ARMIGNAC, Le Notre Père, Paris 1969, 52. Die Varianten sind: die aus fünf Bitten bestehende lukanische Kurzfassung in Lk 11,2–4 und den verwandten Langfassungen von Mt 6,9b–13 und Did 8,2, siehe zu dieser: Die Apostolischen Väter. Griechisch-deutsche Parallelausgabe. Neu übersetzt und herausgegeben von A. L INDEMANN/H. PAULSEN, Mohr Siebeck, Tübingen 1992, 12–15. 46 Dazu s. auch G. B ALTES, Hebräisches Evangelium und synoptische Überlieferung: Untersuchungen zum hebräischen Hintergrund der Evangelien, Tübingen 2011, 61–64. 47 Galiläer wie Samaritaner unterschieden sich durch die Aussprache der Sibilanten, Laryngale und Labiale, auch folgt die Spirantisierung der !( !)!"#$ – Konsonanten anderen Regeln. In der samaritanischen Aussprache des Aramäischen (und Hebräischen) wird /p/ immer als Spirant /f/ gesprochen wie in !"#"$ (iffata) „öffne dich“ oder „sei geöffnet“, das dem &''()" des NT bei Mk 7,34 entspricht), hingegen werden die anderen !( !)!"#$-Laute immer explosiv gesprochen werden. Das /b/ wird nie spirantisiert als /bh/, sondern okklusiv als /b/ gesprochen – ‚mein Vater‘ wird somit als !abî ausgesprochen. Außerdem wurden die Gutturale im Aramäisch sprechenden Norden so schwach artikuliert, dass sie verwechselt wurden. 45
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den Galiläern untersagte im Tempel zu lesen, weil man ihnen vorwarf, keine korrekte Aussprache zu haben.48 Freilich kann das aramäische Idiom, das in der Forschung gemeinhin als ‚Galiläisches Aramäisch‘ bezeichnet wird, nach heutigem Stand der Forschung und nach den aramäischen Textzeugen aus der Wüste Juda nicht mehr als Jesu Muttersprache angesehen werden. Das als „Galiläisch“ bezeichnete Aramäisch ist ein terminus technicus für einen späten aramäischen Dialekt des 4.-6. Jh. n. Chr., in dem der palästinische Talmud und einige Midraschim geschrieben sind. Zweifellos unterschied sich das frühere galiläische Aramäisch ebenfalls schon vom südlicheren judäischen Dialekt, so dass Petrus an seiner Mundart bzw. Aussprache als Galiläer erkennbar ist, und auch Jesu Aussprache effata (Mk 7,34: !""#$% „öffne dich“ oder „sei geöffnet“) ist charakteristisch für die nördliche Aussprache der Samaritaner und Galiläer.49 Leider genügen die Transliterationen bei Josephus und im Neuen Testament nicht, um daraus eine Sprache zu rekonstruieren. Und zwischen dem späteren rabbinischen Galiläisch und dem zur Zeit Jesu gesprochenen Aramäisch liegen einige Jahrhunderte. Da die Pioniere der neutestamentlichen Aramaistik, Gustaf Dalman ebenso wie Joachim Jeremias,50 ihre Rekonstruktionen des Vaterunsers aufgrund des späteren galiläischen Aramäisch vornahmen51 und auch Karl48
Siehe dazu bErub 53a–b; bMeg. 24b; bBer 32a z. B. In der Tat sprachen die Galiläer die Gutturallaute nicht aus was zu Verwechslungen und Missverständnissen führen konnte. 49 Siehe dazu die Aramaismen im Neuen Testament in U. SCHATTNER-R IESER, L’araméen des manuscrits de la mer Morte, Bruxelles 2004, 48–49. 50 Vgl. G. D ALMAN, Die Worte Jesu mit Berücksichtigung des nachkanonischen jüdischen Schrifttums und der aramäischen Sprache erörtert, Bd. 1, Leipzig 1930, 283– 365; J. JEREMIAS, Das Vater-Unser im Lichte der Neueren Forschung (Calwer Hefte 50), Stuttgart 1962; DERS. Abba. Studien zur Neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen 1966, 155–171, bes. 160; weiter K.G. K UHN, Achtzehngebet und Vaterunser und der Reim (WUNT 1), Tübingen 1950, 32–33; C.F. B URNEY, The Aramaic Origin of the Fourth Gospel, Oxford 1925, 12–13; C H. T ORREY, The Translations made from the Original Aramaic Gospels, in: D.G. Lyon/G. F. Moore (Hg.), Studies in the History of Religions presented to Crawford Howell Toy by Pupils, Colleagues and Friends (FS C. H. Toy), New York 1912, 309–317; E. L ITTMANN, Torreys Buch über die vier Evangelien, ZNW34 (1935) 20–34; J.A. FITZMYER, The Gospel According to Luke X–XXIV (AB 28A), Garden City 1983, bes. 901; B. C HILTON, Jesus Prayer and Jesus’ Eucharist. His Personal Practice of Spirituality, Valley Forge, Pa. 1997, 24–51; J. C ARMIGNAC, Recherches sur le Notre Père, Paris 1969; P. G RELOT, L’arrière-plan araméen du Pater, RB 91 (1984) 531–556; DERS., La quatrième demande du Pater et son arrière-plan sémitique, NTS 25 (1978–79) 299–314. 51 G. D ALMAN, Die Worte Jesu, 371, selbst schreibt, dass „sein“ Galiläisch auf sehr späten Textdenkmälern beruht; vgl. DERS., Grammatik des Jüdisch-Palästinischen Aramäisch, 41 (§7.3): „der galiläische Dialekt, von dem wir im palästinischen Talmud und Midrasch Denkmäler aus dem vierten bis sechsten Jahrhundert besitzen (s. §2, 3); D ERS.,
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Georg Kuhn in seiner 1950 veröffentlichten, nach wie vor benutzten 52 Rekonstruktion des Vaterunsers , noch keine aramäischen Texte aus Qumran zur Verfügung standen – das Genesis-Apokryphon aus Höhle 1 wurde erst später veröffentlicht –, ist eine neue Rückübersetzung und Rekonstruktion gerechtfertigt. Ich werde im Folgenden das Sprachgut der aramäischen Texte aus Qumran der mittelaramäisch-palästinischen Phase und vergleichbare, ähnliche Redewendungen (nicht aber die Morphologie, die entwickelter ist) aus den Targumim miteinbeziehen, welche im Hinblick auf das Vaterunser relevant sind. Hingegen werde ich nicht konstant auf das Qaddish und das Achtzehnbittengebet eingehen, auf die sonst i.d.R. 53 verwiesen wird, da diese Gebete eben nicht zeitgleich mit dem Vaterunser sind. Gewiss schöpften auch diese Gebete aus demselben Fundus wie das Vaterunser, doch ist ihre Fixierung und die Aufnahme in die tägliche Gebetsliturgie deutlich später anzusetzen. Gemäß der rabbinischen Tradition (bBer 28b) wurde das Achtzehnbittengebet zwar zu Ende des 1. Jh. unter Gamaliel ‚geordnet‘ (wenn auch nicht, wie die ältere Forschung meinte, auf einer ‚Synode von Jabne‘, die es so nie gegeben hat54), aber es hat sich, wie es die vielen in der rabbinischen Literatur erhaltenen Diskussionen und die zahlreichen Varianten bezeugen, erst in den ersten Jahrhunderten nach der Tempelzerstörung zu einem Gebet zusammengefügt.55 Auch das Qaddish ist nach neueren Forschungen erst
The Words of Jesus, Edinburgh 1909, 79: „The Judaean dialect is known to us from literary remains of Judaean origin in the period from the first to the third (Christian) century; the Galilean dialect from writings of Galilean origin in the period from the fourth to the seventh century. That the ‘Galilean’ at the time of its dominance among the Jews of Galilee was accompanied in other parts of Palestine by sister-dialects closely akin, is proved by the Samaritan Aramaic, and the still more closely related Christian Palestinian Aramaic.“ Auch Joachim Jeremias (in: J. JEREMIAS, Neutestamentliche Theologie. Die Verkündigung Jesu, Berlin 1973, 15–16) ist sich der späten schriftlichen Quellen bewusst, auf die er sich in seiner Rückübersetzung des Vaterunsers beruft. 52 K UHN, Achtzehngebet, 32–33. 53 Zum Vergleich mit dem Achtzehngebet S. K. G. K UHN, Achtzehngebet. 54 G. STEMBERGER, Die sogenannte Synode von Jabne und das frühe Christentum, Kairos 19 (1977) 14–21; G. STEMBERGER, Jabne und der Kanon, JBTh 3 (1988) 163–174; P. SCHÄFER, Die sogenannte Synode von Jabne (1. Zur Trennung zwischen Juden und Christen im 1.–2. Jh. n. Chr.; 2: Der Abschluss des Kanons), Judaica 31/2 (1975) 54–64; P. SCHÄFER, Die Flucht Johanan b. Zakkais aus Jerusalem und die Gründung des Lehrhauses in Jabne, in: H. Temporini/W. Haase (Hg.), Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt (ANRW), Teil 2, Bd. 19/2, Berlin/New York 1979, 43–101. 55 U. K ELLERMANN, Das Achtzehngebet-Bitten-Gebet. Jüdischer Glaube in neutestamentlicher Zeit, Neukirchen 2007, 23 und Anm. 52.
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viel später als das Vaterunser entstanden.56 Hingegen werden von christlichen Theologen häufig Vergleiche mit dem Qaddish angestellt, als ob das Vaterunser von diesem inspiriert worden wäre – dabei wäre m.E. sogar eine umgekehrte Beeinflussung in Erwägung zu ziehen.
IV. Grundfragen zur Form und zur Gebetsanrede „Abba“ 1. Einleitende Bemerkungen zur Form Das VU ist literarisch der Gattung der Bittgebete zuzuordnen, da es abgesehen von der Gebetsanrede ausschließlich aus Bitten besteht. Durch die abschließende Doxologie wird es in der matthäischen Fassung durch 57 Elemente des Lobgebets bereichert. Auf die Einleitungsformel folgen in der lukanischen Kurzfassung zwei theozentrische Du-Bitten und drei anthropozentrische Wir-Bitten. Die Bittstellungen bei Lukas umfassen fünf, in der längeren Fassung bei Matthäus sieben Befehlsformen. Ursprünglich handelte es sich dabei um drei Jussivformen (geheiligt, komme, geschehe), drei Imperative (gib, vergib, erlöse) und eine Prohibitivform (führe nicht ein). Die ersten drei Jussive sind in einem volitiven oder optativen Sinn, als Wunschform, zu verstehen, so wie es auch die frühen Übersetzungen des Christo-Palästinischen und die Kirchenväter verstanden haben. Von der Forschung wird allgemein angenommen, dass die kürzere Form nach Lukas die ursprünglichere Form des Vaterunsers repräsentiert. Dies entspricht der üblichen Sicht der Entwicklung der synoptischen Stoffe nach der Zweiquellentheorie, nach der Lukas die Logienquelle genauer 58 erhalten habe. Im konkreten Fall des Vaterunsers muss dies allerdings nicht zwingend der Fall sein, denn die bei Matthäus zusätzlichen Elemente nehmen Formulierungen auf, die in Qumran und in der frührabbinischen Literatur gut belegt sind. Die Anrede mit Gott als Vater im Himmel entspricht ebenfalls einer zeitgerechten epithetischen Bezeichnung, und was die Bitte um das Kommen des Reiches anbelangt, so entspricht auch diese Erwartung – ob nun innerweltlich oder eschatologisch verstanden – den Erwartungen von Teilen der palästinisch-jüdischen Bevölkerung der ersten zwei Jahrhunderte. Dass wir es mit einem Originaltext auf Aramäisch zu tun haben, ist klar. Die sprachliche Zuordnung ist schwieriger. Der Konsonantentext kann 56 S. dazu A. L EHNARDT, Qaddish – Untersuchungen zur Entstehung und Rezeption eines rabbinischen Gebetes, Tübingen 2002, 297–298. 57 Vgl. O. C ULLMANN, Das Gebet im Neuen Testament, Tübingen 21997, 91. 58 Vgl. U. SCHNELLE, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 1994, 214.
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dank unserer Kenntnisse des Qumran-Aramäischen rekonstruiert werden. Die Aussprache ist allerdings nicht sicher, was die Vokale der Vortonsilben anbelangt – wir wissen ja nicht einmal, wo die Betonung lag! Freilich bestätigen gerade die Aramaismen des Neuen Testaments, dass jene Vokale zur Zeit Jesu noch ausgesprochen wurden und nicht zu shewa verkürzt wurden, doch haben wir hierfür kein grammatikalisches Vergleichsmaterial und nicht genügend griechische Transkriptionen. 2. Zum Gottesnamen Die Texte aus Qumran und Masada bezeugen allgemein großen Respekt vor dem Schreiben des Tetragramms. In den hebräischen Texten aus Qumran wird das Tetragramm in quadratschriftlichen Texten durch paläohebräische Lettern vom restlichen Text abgesetzt, und häufig auch vermieden.59 Auch die griechische Zwölfprophetenrolle aus Na!al "ever schreibt das Tetragramm in althebräischen Lettern.60 In den aramäischen 61 Texten aus Qumran begegnet das Tetragramm kein einziges Mal, d. h. es wird gänzlich vermieden. Im aramäischen Tobittext wird es durch vier Punkte ersetzt, im aramäischen Danieltext aus Qumran wird sogar die Gottesbezeichnung !el!h!"â (!"#$!) „dein Gott“ vom Heiligkeitstabu umgeben und nicht in Quadratschrift, sondern mit paläohebräischen Lettern geschrieben. Darüber hinaus dienen eine Vielzahl von Substituten der 62 Ersetzung des Tetragramms. 59
So z. B. in 1QS und CD, 1QIsa (!"#! $%"), s. C.H. W ILLIAMS, I am He: the Interpretation of Anî Hû in Jewish and Early Christian Literature (WUNT II/113), Tübigen 2000, 66–68; P.W. SKEHAN, The Divine Name at Qumran, the Masada Scroll and in the Septuagint, BIOSCS 13 (1980) 14–44: 16–18; D.W. PARRY, Notes on Divine Name Avoidance in Scriptural Units of the Legal Texts of Qumran, in: M. Bernstein u.a. (Hg.), Legal Texts and Legal Issues: Proceedings of the Second Meeting of the International Organization for Qumran Studies, Cambride 1995, Published in Honour of Joseph M. Baumgarten (StTDJ 23), Leiden 1997, 437–449: 440ff.); H. STEGEMANN, Religionsgeschichtliche Erwägungen zu den Gottesbezeichnungen in den Qumrantexten, in: M. Delcor (Hg.), Qumrân. Sa piété, sa théologie et son milieu (BEThl 46), Leuven 1978, 195–217: 200–202. 60 K. DE T ROYER, The Names of God, Their Pronounciation and Their Translation: A Digital Tour of Some of the Main Witnesses, lectio difficilior 2 (2005), online unter http://www.lectio.unibe.ch/05_2/troyer_names_of_god.htm; mehr zur Schreibweise des Tetragramms JHWH in: M. Rösel, The Reading and Translation of the Divine Name in the Masoretic Tradition and the Greek Pentateuch, JSOT 31 (2007) 411–428. 61 J. G REENFIELD/M. SOKOLOFF, The Contribution of Qumran Aramaic to the Aramaic Vocabulary, in: T. Muraoka (Hg.), Studies in Qumran Aramaic, Supplement 3, Louvain 1992, 78–98: 92–94; U. Schattner-Rieser, L’apport de la philologie, 119. 62 malkâ rabbâ „der große König“ (4Q196 [4QToba] f18,5), !#l "elyôn „höchster Gott“ (1Q20 [1QapGen] XX,16); m!rî malkâ „mein Herr (und) König“ (1Q20 [1QapGen] XX,25), mele" rabbâ „großer König“ (4Q530 [4QEnGiantsb] fii,6_12,19), qaddi$â rabbâ
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Trotz dem offensichtlichen Respekt um das Tetragramm bleibt eine Reihe von Fragen ungelöst. Nach der biblischen Tradition darf der Name Gottes nicht achtlos ausgesprochen werden, und seine Aussprache war spätestens ab der hellenistischen Zeit ein Privileg des Hohenpriesters (Sir 50,20)63 und auch dieser durfte den Gottesnamen nur im Tempel aussprechen.64 Die rabbinische Tradition besagt außerdem, dass er überhaupt nur einmal pro Jahr im Tempel vom Hohepriester zu Jom Kippur ausgesprochen wurde.65 Dennoch scheint der Gottesname auch in Qumran nicht ganz oder nicht für jeden geheim gewesen sein, da er immerhin im griechischen Fragment 4QpapLXXLevb zu !"#, transkribiert ist. Dies ist der älteste authentische Zeitzeuge der Aussprache !"# (< hebr. ya[h]o),66 freilich befindet sich dieser Beleg in einem Pentateuchtext, was vielleicht bedeutet, dass der Name Gottes beim Lesen des biblischen Textes vielleicht nicht dem Aussprachetabu unterlag, im Gegensatz zu nichtbiblischen Gebeten. Doch sind die hiermit verbundenen Probleme hier nicht weiter zu erörtern.67
„der große Heilige“ (4Q201 [4QEna] f1 i,5; 4Q204 f1 v,20; 1Q20 [1QapGen] VI,15; VII, 7; XII,17); m!ranâ rabbâ „unser großer Herr“ (4Q202 [4QEnb] iii,14), dayy!n qu"#â „gerechter Richter“ (4Q205 [4QEnoch d] 1 xi 2), qud"â „Wahrheit/Gerechtigkeit“ und ebenso m!r$! "emayyâ „Herr des Himmels“; m!r$! !!lmâ und m!r$ !!lmayyâ „ewiger Herr“; !el!h !!lmâ und !el!h !!lmayyâ „ewiger Gott“; mele% "emayyâ „ewiger König“. 63 Sir 50,20: „Dann stieg er (der Hohepriester Simon, Sohn des Onias) herab und erhob seine Hände über die ganze Gemeinde Israels. Der Segen des Herrn war auf seinen Lippen, den Namen des Herrn nennen zu dürfen war sein Ruhm. Sie aber fielen zum zweiten Mal nieder, um den Segen von ihm zu empfangen.“ Die hebräischen Sirachfragmente aus Masada, welche das Tetragramm umschreiben, bezeugen die progressive Entfernung der Anwendung des Heiligen Namens. 64 Einen interessanten Hinweis hierfür bietet die Midraschstelle zu Ex 20,24 in der Mekhilta di Rabbi Ismaël, wo es heißt: „Da wo ich mich euch offenbare: das ist im Tempel. Von dort leitet sich ab, dass das Tetragramm (der Hl. Name) außerhalb des Tempels nicht ausgesprochen werden darf ...“, zitiert in F. M ANNS, La Prière d’Israël à l’heure de Jésus, Jerusalem 1986, 32. 65 yYoma 3,7 (40d–41a); bQid 71a, KohR 3, 11.3 und bPes 71a. S. mehr dazu in H.-J. B ECKER, The Magic of the Name and Palestinian Rabbinic Literature, in: P. Schäfer (Hg.), The Talmud Yerushalmi and Graeco- Roman Culture, Tübingen 2002, 391–410: 404–405. 66 In den Papyri der jüdischen Gemeinde von Elephantine wird der konsonantische Gottesname YHH oder YHW geschrieben, dazu U. SCHATTNER-R IESER, La Bibliothèque de la communauté juive d’Eléphantine, Tsafon 56 (2008–2009) 14, Anm. 4. 67 Emanuel Tov sieht in der Schreibung !"# einen Beweis für ein sehr alte griechische Version, die älter als die LXX-Version sein soll, so in: E. T OV, The Greek Biblical Texts from the Judean Desert, in: S. McKendrick/O.A. O’Sullivan (Hg.), The Bible as Book: the Transmission of the Greek Text, London-New Castle 2003, 97–122: 102.
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In der Gebetsanrede wird Gott des Öfteren mit dem Substitut „Name“ 68 angerufen, ein Nomen welches gemäß der rabbinischen und samaritanischen Tradition gewöhnlich als Substitut des Tetragramms diente und ganz entsprechend auch im Vaterunser für Gott steht. 3. Die Anrede an Gott als ‚Vater‘ und das ‚Abba-Problem‘ Einige besondere Vorüberlegungen sind zur Gebetsanrede Gottes als ‚Vater‘ nötig und zu der Frage, wie die jesuanische Gebetsanrede ‚Abba‘ zu verstehen ist. Hier ist die Forschung insbesondere durch Joachim Jeremias beeinflusst, dessen Interpretation aus heutiger Sicht jedoch nicht mehr aufrecht zu erhalten ist und dringend der Korrektur bedarf. 3.1 Gott als Vater In der alttestamentlichen Tradition kommt Gott als Vater Israels oder des davidischen Königs in 17 Belegen vor69, und schon Origenes erwähnt die alttestamentlichen Belege in seiner Analyse des Vaterunsers als altisraelitisches Gut. Auch der „königliche“ Messias ist metaphorisch Sohn Gottes (Ps 2,7). Die Paternität Gottes im AT lässt sich in drei Punkten zusammenfassen:70 1. der König als „Adoptiv“-Sohn Gottes (2Sam 7,11– 14;71 Ps 2,7; 89,21–30), 2. Gott als Vater seines Volkes Israel (Ex 4,22s; Dtn 32,5s; Jes 1,2; Mi 1,6) und 3. in der Gebetsanrede als Gott-Vater (Jes 63,16; 64,7; Ps 89,27; Mal 2,10; Sir 23,1; Weish 2,16; Tob 13,4). Wie es
68 e b !"m m#r"! "#lmayyâ „im Namen des ewigen Herren“ (1Q20 [1QapGen] XX,2), le!"m !el#hâ „dem Namen des Gottes“ 1Q20 [1QapGen] XXI,2, !emâ rabbâ „großer Name“ (4Q542 [4QTQahat] f1,1), !emâ qaddi!â „heiliger Name“ (4Q196 [4QToba] f6,7; f18,11), !"m !#b „guter Name“ (4Q550a [4QPersische Hofgeschichten/Proto-Esther] f1,2). 69 S. dazu A. B ÖCKLER, Gott als Vater im Alten Testament. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zur Entstehung und Entwicklung eines Gottesbildes, Gütersloh 2000; DIES ., Unser Vater, in: P. van Hecke (Hg.) Metaphor in the Bible (BEThL 187), Leuven 2005, 249–261: 252-253); weiteres zur familiären Beziehungsmetaphorik: C H. G ERBER, Paulus und seine Kirche. Studien zur Beziehungsmetaphorik der paulinischen Briefe (BZNW 136), Berlin 2005, 159; DIES., „Gott Vater“ und die abwesenden Väter. Zur Übersetzung von Metaphern am Beispiel der Familienmetaphorik, in: Ch. Gerber et al. (Hg.), Gott heißt nicht nur Vater. Zur Rede über Gott in den Übersetzungen der „Bibel in gerechter Sprache“, Biblisch-theologische Schwerpunkte 32, Göttingen 2008, 145–161. 70 C H. Z IMMERMANN, Die Namen des Vaters. Studien zu ausgewählten Neutestamentlichen Gottesbezeichnungen (AJEC 69), Berlin/New York 2007, 48 Anm. 48, führt folgende Liste an: Vater des davidischen Königs: 2Sam 7,14, Ps 89,27f.; 1Chr 17,13; 22,10; 28,6; Vater Israels: Dtn 1,31; 8,5 und 32,6; Jer 31,9; Jes 63,16 (2x); 64,7; Jer 2,27; 3,4; 3,19; Mal 1,6; 2,10 (indirekt auch in Mal 3,17); Ps 68,6 und Ps 103,13. 71 Dieser Vers wird in 2Kor 6,18a leicht modifiziert zitiert: „Ich werde euch Vater sein, und ihr werdet mir Söhne und Töchter sein …“
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die ausführlichen Studien von Christiane Zimmermann72 und Angelika Strotmann73 zeigen, gewinnt die Vaterbezeichnung für Gott in den jüdischen Texten der hellenistischen Zeit (Tob, Sir, 3Makk) zunehmend an Popularität. Hingegen ist die Vater-Titulatur in den gruppenspezifischen Texten aus Qumran eher selten74 (z.B. 1QHa XVII 35), doch kommt sie in anderen Qumrantexten auch als Gebetsanrede vor. 3.2 Die Gebetsanrede ‚Vater‘ Im hebräischen AT finden sich sieben Anreden Gottes mit „(mein/unser) Vater“.75 Dazu zählen Ps 89,27 mit „Mein Vater bist du, mein Gott, der Fels meines Heiles!“ und 1Chr 29,10 im Lobpreis Davids „Gelobt seist du, HERR, Gott Israels, unseres Vaters, von Ewigkeit zu Ewigkeit!“ Jer 3,19 bietet Gott selbst an, dass er ‚mein Vater‘ genannt werden kann, während die Anrede in Jer 2,27 polemisch umgekehrt wird als Anrede an einen toten Götzen. Ein außergewöhnliches und sehr langes Gebet findet sich in Jesaia 63,15–64,11 (mit den einleitenden Worten ab Jes 63,7), dort wird Gott dreimal als „unser Vater“ angerufen, davon zweimal in der Wendung „Herr, unser Vater! ‚Unser Erlöser seit ewigen Zeiten‘ ist dein Name“ (Jes 63,16; 64,7) sowie ein weiteres Mal in Jes 63,16: „Du bist doch unser Vater!“ Wie Georg Fischer bemerkt, stellt dieses Gebet eine Brücke zum Vaterunser dar.76 Es enthält den Bezug zu Gott im Himmel, dem Barmherzigen und Retter und die Erinnerung an den Exodus (63,1–14). Als letztes bibilisches Beispiel sei die Gott-Vater-Bezeichnung in Mal 2,10 bezeichnet: „Haben wir nicht alle einen Vater?“ In der hellenistischen Zeit steigt die Verwendung der Gott-VaterAnrede deutlich an und umfasst ca. 50 Beispiele.77 Angelika Strotmann78 zählt 21 Gebetsanrufe in 16 Schriften mit Gott als Vater, davon begegnen sieben in den deuterokanonischen Schriften,79 von denen die Bücher Tobit (aram. und hebr.) und Sirach (hebr.) in Qumran belegt sind. In zwei 72
C H. Z IMMERMANN, Die Namen des Vaters, 52–64. A. STROTMANN, Mein Vater bist du! (Sir 51,10). Zur Bedeutung der Vaterschaft Gottes in kanonischen und nichtkanonischen frühjüdischen Schriften, Frankfurt a.M. 1991. 74 Mehr zur Vater-Titulatur in den Qumrantexten in der detaillierten Studie von Lutz D OERING, God as Father in the Dead Sea Scrolls, in: F. Albrecht/R. Feldmeier (Hg.), The Divine Father: Religious and Philosophical Concepts of Divine Parenthood in Antiquity Themes in Biblical Narrative 18, Leiden 2014, 107–135. 75 C H. Z IMMERMANN, Die Namen des Vaters, 50. 76 In: G. FISCHER/K. B ACKHAUS, Beten (NEB.Themen 14), Würzburg 2009, 38. 77 C H. Z IMMERMANN, Die Namen des Vaters, 52. 78 A. STROTMANN, Mein Vater bist du!, 24–329. 79 Tob 13,14; Sir 23,1.14; 51,10 und Weish 2,16; 11,10, angeführt bei C H. Z IMMERMANN , Die Namen des Vaters, 52, Anm. 74. 73
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Gebeten des Sirachbuches wird Gott dreimal als Vater angerufen: zweimal im privaten Gebet des Jesus Ben Sira, das die persönliche Frömmigkeit des Autors zum Ausdruck bringt, wo er um Bewahrung vor falschem Reden 80 und Denken bittet, und im ‚Danklied eines Einzelnen‘81 in Sir 51,1b (Ms 82 B) !"#$ !"!#!"# $%[!" ]! „Ich preise dich mein Gott, mein Vater“ sowie Sir 51,10 (Ms B) „JHWH, mein Vater bist du, denn du bist mein rettender Held“. Auch im Danklied Tobits wird Gottvater gepriesen: „Denn er ist unser Herr und Gott, er ist unser Vater in alle Ewigkeit“ (Tob 13,3/4). Im hebräisch geschriebenen antisamaritanischen Text 4QapocJoseph (4Q372) frag. 1,16 fleht Josef als Vertreter der verstreuten Nordstämme zu Gott und betet: „Mein Vater und mein Gott überlasse mich nicht der Hand der Heidenvölker!“. Hinzu kommt ein Beispiel aus dem individuellen Gebet von 4Q460 9 i 6 wo die Gebetsanrede „mein Vater, mein Herr!“ lautet. Wie aus den Qumrantexten und dem Buch Sirach ersichtlich ist, findet sich die Gottesanrede „mein/unser Vater!“ im Munde einiger weniger Beter und drückt eine besondere, aber keineswegs exklusive Gottesbeziehung zwischen dem Betenden und Gott aus. 3.3 ‚Vater‘ als Titel und Anrede für einen Lehrer Nicht unerwähnt lassen sollte man, dass die Vater-Sohn-Metaphorik häufig auch das Verhältnis Meister-Schüler betrifft. Die Gleichsetzung Vater = 83 Lehrmeister ist im ganzen Orient verbreitet und in der israelitischen 84 Literatur gut belegt. Schon in der hebräischen Bibel werden Elija (2Kön 2,12) und Elischa in ihrer Funktion als Lehrmeister und spirituelle Führer von ihren Prophetenschülern mit !!"î (!"#$) „(mein) Vater“ betitelt und angerufen. Elija wird sogar von König Joasch, dessen ‚Berater‘ er war, mit dem Titel ‚Vater‘ angesprochen (2Kön 5,13; 6,21; 13,14). Interessanterweise unterscheidet hier das Prophetentargum, wer die Anrede ausspricht, und übersetzt das masoretische !!"î mit rabbî (!"# %$ ), wenn Israeliten reden, aber mit m!rî (!"# %$ ), wenn die Diener des Heiden Naaman reden.
80
Sir 23,1–6 LXX: „Herr, Vater (!"#$% im Vokativ) und Gebieter meines Lebens, bring mich durch sie nicht zu Fall!“ (Sir 23,1); „Herr, Vater und Gott meines Lebens, überlass mich nicht ihrem Plan!“ (Sir 23,4). 81 Das Danklied für Gottes Retten im Sirachbuch (Sir 51,1–12) beinhaltet ein kurzes Klagelied welches mit Ps 89,27 beginnt (Sir 51,10b–11a). Anschließend folgt ein Loblied (Sir 51,12–30); s. G. FISCHER, Beten, 60. 82 Der hebräische Text folgt der mittelalterlichen Kopie des MS B nach P.C. B EENTJES, The Book of Ben Sira in Hebrew (SVT 68), Atlanta 2006, 91. 83 P. N IEL, The Concept ‚Father‘ in the Wisdom Literature of the Ancient Near East, Journal of Northwest Semitic Languages 5 (1977) 53–66. 84 A. L EMAIRE, Les écoles et la formation de la Bible dans l’Ancien Testament, Göttingen 1981, 54–55.
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Auch Gott ist im Alten Testament Lehrer und Meister und diszipliniert sein Volk Israel wie ein Vater sein Kind (Dtn 8,5). Diese Gleichsetzung wird u.a. durch das Beispiel im Targum zu Jer 3,4 verdeutlicht, wo das masoretisch-hebräische ‚Vater‘ als Gottesanrede, durch ‚mein Meister‘ 85 ersetzt wird. Im deuterokanonischen Sirachtext ist Gott zugleich Herr, Vater und Meister: „Herr, Vater und Meister/Gebieter meines Lebens, bring mich durch sie nicht zu Fall!“ (Sir 23,1 LXX !"#$% &'(%# !)* +,-&.() /012 3.4), ebenso in 23,4 „Herr, Vater und Gott meines 86 Lebens“ (!"#$% &'(%# !)* 5%6 /012 3.4). Die Vater-Sohn Metaphorik findet man auch in Qumran, wo der Lehrer der Gerechtigkeit sich als Vater seiner Gemeinschaft bezeichnet (1QHa XV,23 [= Sukenik col. VII ] = 1Q35 1; 4Q428 6–7). In der rabbinischen Zeit ist Abba, neben Rabbi, zugleich als gängiger Gelehrten- und Ehrentitel belegt, mit dem Schüler eines Bet- und Lehrhauses ihren Meister respektvoll ansprachen. Dies ist m.E. eine Komponente, die man im Hinblick auf die neutestamentliche Anwendung von Abba als Gottesbezeichnung, nicht ignorieren sollte. Gemäß bKet 103b (zu 2Chr 19,3) erhob sich Josafat, König von Juda, jedesmal von seinem Thron, wenn er einen Meisterschüler sah, umarmte und küsste ihn, und rief ihn an: „Abi, Abi; Rabbi, Rabbi; Mari, Mari!“ Wir haben es hier klar mit drei Titeln für „Meister/Lehrer“ zu tun (ebenso bMak 24a), welche sich 87 88 auch in Mt 23,8–10 spiegeln. 3.4 Das ‚Abba‘ Problem und die Hypothese von Joachim Jeremias Von diesen Befunden ausgehend ist noch einmal die Frage zu reflektieren, wie die Gebetsanrede Jesu ‚Abba‘ sachgemäß zu interpretieren ist. Das sogenannte ‚Abba-Problem‘89 geht vor allem auf die Arbeiten von Joachim 85
Die Vater-Sohn-Metaphorik (für den Meister) kommt auch im aramäischen Text des Weisen Achiqar aus dem 5. Jh. v. Chr. vor. (C1.1 Z.198 und Col IV, 55). Seltener wird auch die Mutter in diese Familienmetaphorik als Lehrperson miteinbezogen wie in Spr 1,8; 31,1: „Die Torah deiner Mutter und die Lehre deines Vaters“. 86 Die Variante ist bedauerlicherweise in keiner der alten heb. Handschriften erhalten. Schechter bietet eine Rückübersetzung in M.Z. SCHECHTER, ! !" ! !"#$ !" !"# (= Sefer Ben Sira Ha-Shalem), Jerusalem 1958, !"# (= S. 136) 87 „Ihr aber sollt euch nicht Rabbi (+$+'-!)7.2, magister) nennen lassen; denn nur einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brüder. Auch sollt ihr niemand auf Erden euren Vater (Abba, &)(8#, pater) nennen; denn nur einer ist euer Vater, der im Himmel. Auch sollt ihr euch nicht Lehrer (Mar/Mari, !)59:9(;2) nennen lassen; denn nur einer ist euer Lehrer, Christus.“ 88 Siehe weiter K. K OHLER, Abba, Father. Title of spiritual Leaders and Saints, JQR 13 (1901) 567–580. 89 Siehe weiter J.A. FITZMYER, Abba and Jesus’ Relation to God, in: A cause de l’ évangile (Festschrift J. Dupont), LeDiv 123, Paris 1985, 15–38: 47.
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Jeremias zurück, der die Forschung mit seinen Thesen stark beeinflusst 91 hat. Das ‚Problem‘ beinhaltet philologische, sprachgeschichtliche und christologisch-theologische Aspekte, die letztlich nicht voneinander zu trennen sind. Grundanliegen der Arbeit von Joachim Jeremias war bekanntlich, die ipsissima vox Jesu herauszuarbeiten, seine ursprüngliche Verkündigung anhand der aramäischen Gestalt seiner Worte zu rekonstruieren. In diesem 92 Rahmen kommt der ‚Abba‘-Anrede zentrale Bedeutung zu. Nach der These von Jeremias begegnet das Wort Abba „Vater“ als Gottesanrede bei Jesus und im Anschluss an ihn im Neuen Testament in einer besonderen, singulären Bedeutung. Jeremias versteht das aramäische 93 Abba nämlich als Diminutivform aus der Familien- gar Kindersprache, ein Lallwort, mit dem ein kleines Kind seinen Vater anredet, als „Papa“ oder „Väterchen“. Dafür bietet er in seinem frühen Aufsatz ein einziges, vermeintlich vorchristliches Beispiel, eine Episode über Chanin haNechba, einen Enkel von Choni dem Kreiszieher (1. Jh. v. Chr.), die aber 94 erst dem Talmud Babli (bTaan 23b) entstammt. Diese Form der vertrauensvollen Anrede Gottes ist für Jeremias „in der jüdischen Gebetsliteratur 95 ohne jede Analogie“ , eine solche Anrede wäre nach seiner Auffassung 96 „für jüdisches Empfinden unehrerbietig und darum undenkbar gewesen“ – umgekehrt zeige sich darin gerade „etwas Neues und Unerhörtes, daß 97 Jesus es gewagt hat, diesen Schritt zu vollziehen.“ So konnte die Gebetsanrede Jesu (und der von dort ausgehende Gebrauch der Gebetsanrede im Urchristentum) in der Deutung von Jeremias als Indiz für das besondere Sohnesbewusstsein Jesu von Nazareth, d.h. für sein einzigartiges Gottesverhältnis werden. In dieser Gottesanrede äußere sich das letzte Geheimnis der Sendung Jesu. „Er wusste sich bevollmächtigt, Gottes Offenbarung zu 90 J. JEREMIAS, Kennzeichen der ipsissima vox Jesu, in: Synoptische Studien. Alfred Wikenhauser zum 70. Geburtstag, München 1953, 86–93 (auch in: ders., Abba. Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen 1966, 145-151); DERS., Das Vater-unser im Lichte der neuere Forschung (Calwer Hefte 5), Stuttgart 1962 (auch in: ders., Abba, 152-170); DERS., Abba, in: ders., Abba, 15–66; DERS., Die Botschaft Jesu vom Vater (Calwer Hefte 92), Stuttgart 1968; DERS., Neutestamentliche Theologie I: Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 1970. S. weiter dazu G. SCHELBERT, Abba, 17–23. 91 Zur Rezeption von Jeremias s. SCHELBERT, Abba Vater, 23–34. 92 So zusammenfassend in JEREMIAS, Neutestamentliche Theologie I, 14–45, zu ʾAbba 45 und 67–72. 93 Diese These hat Jeremias von Dalman übernommen, s. G. D ALMAN, Grammatik des Jüdisch Palästinischen Aramäisch und aramäische Dialektproben, Darmstadt 1989 (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1905), §14.7d. 90. 94 JEREMIAS, Kennzeichen, 88f. (in: ders, Abba, 147ff.). 95 JEREMIAS, Abba, 59. 96 JEREMIAS, Abba, 63. 97 JEREMIAS, Abba, 63.
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vermitteln, weil Gott sich ihm als Vater zu erkennen gegeben hatte (Mt 11,27)“.98 Zwar hat Jeremias später nicht mehr an der Position festgehalten, dass Jesus ein Lallwort übernommen habe, und zugestanden, dass die Anrede auch schon vorchristlich als respektvolle Anrede an alte Männer oder als 99 Anrede erwachsener Söhne an ihre Väter begegne (vgl. auch Mt 23,9), doch sei „das Wissen um die Herkunft von Abba aus der Sprache des 100 Kleinkindes nie verloren“ gegangen. Zugleich hält Jeremias daran fest, dass in der Anwendung des Abba als Anrede an Gott eine kühne Neubildung Jesu vorliege. Die Liste der Theologen, die Jeremias’ These von der Kindersprache unkritisch übernommen haben, ist lang und reicht von Paul Hoffmann, Martin Hengel und Ferdinand Hahn bis zu James Charlesworth und Papst 101 Benedikt XVI. Zu den seltenen Ausnahmen, welche Abba als respektvolle Anrede im Vokativ erkennen, dessen Singularität nicht im Wort selbst wurzle, zählen u.a. James Barr,102 Oscar Cullmann (nuanciert),103 Pierre Grelot,104 Marc Philonenko105 und Knut Backhaus.106 In Jeremias’ Interpretation des Abba wird der grammatikalische Befund forciert, und eindeutige Vokativstellen werden übergangen. Jeremias stützte sich in seinen Behauptungen auf den Aramaisten Gustaf Dalman,107 der das neutestamentliche Abba nicht als einen gewöhnlichen status emphaticus ansah, sondern als eine (nicht existierende!) Diminutivform rekonstruierte, welche sich von -ai zu -â verkürzt haben soll. Neuerdings hat Georg Schelbert mit seiner detaillierten Studie dem Abba-Problem ein ersehntes und willkommenes Ende gesetzt, indem er zeigte, dass !"!/ !""# $ %#&'( definitiv kein Kosewort für „Väterchen“ ist, sondern 108 nichts anderes bedeutet als „Vater!“ Dessen ungeachtet ist die neutestamentliche Verwendung der VaterAnrede für Gott mit 261 Belegen gegenüber den 20 Beispielen im AT und den ca. 50 Belegen der intertestamentarischen Literatur einzigartig und 98
JEREMIAS, Neutestamentliche Theologie I, 73. So JEREMIAS, Abba, 61. 100 JEREMIAS, Abba, 61. 101 S. die Belege bei SCHELBERT, Abba Vater, 23–34. 102 J. B ARR, Abba isn’t ‘Daddy’, JThS 39 (1988) 28–47. 103 O. C ULLMANN, Das Gebet im Neuen Testament, Tübingen 21997, 56. 104 P. G RELOT, L’arrière-plan araméen du „Pater“, RB 4 (1984) 538. 105 M. PHILONENKO, Le Notre Père. De la Prière de Jésus à la prière des disciples, Paris 2001, bes. 56–59. 106 G. FISCHER/K. B ACKHAUS, Beten, 97. 107 G. D ALMAN, Grammatik, §14.7d. 90; G. D ALMAN, Die Worte Jesu, Leipzig 1930, 157; siehe dazu G. SCHELBERT, Abba Vater, 180. 108 S. dazu meine Rezension in: Early Christianity 4 (2013) 141–147. 99
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durchaus auf den Einfluss des Sprachgebrauchs Jesu zurückzuführen. In der späteren jüdischen Literatur findet sich zwar auch vermehrt der Ausdruck „(mein/unser) Vater im Himmel“ (z.B. im Targum PseudoJonathan zu Lev 22,28), doch nicht in der Intensität der neutestamentlichen Verwendung. Die besondere Beziehung Jesu zu Gott als Vater wurzelt freilich nicht in einer Sonderbedeutung des Wortes Abba, sondern ist aus dem Ganzen der Botschaft und Gottesverkündigung Jesu zu erheben.
V. Rückübersetzung und philologische Kommentierung 1. Rückübersetzung Meine Rückübersetzung basiert im Gegensatz zu den bisherigen ausschließlich auf der Grammatik und dem mittelaramäischen Wortschatz der 109 Qumrantexte sowie den idiomatischen Redewendungen und der Syntax 110 aus den frühen Targumim (2.–4. Jh. n. Chr.). Zur Datierung der Texte: Das Hiob-Targum (TgJob) aus dem 2. oder 1. Jh. v. Chr. und das Genesisapokryphon (1QapGen) aus dem 1. Jh. v. oder n. Chr. sind zugleich auch die längsten und reichhaltigsten Texte; die restlichen QA-Texte sind ebenfalls Kopien aus dieser Zeitspanne (die Vorlagen sind teils älter). Trotz der Debatten bezüglich Herkunft und Alter des Tg Onkelos ist zu betonen, dass die konsonantische Textbasis von Onkelos (2. Jh. n. Chr.) dem Aramäischen des Genesisapokryphon in vielem nahesteht. Lk 11,2–4 !"#
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Nach den Grammatiken des Qumran-Aramäischen von U. SCHATTNER-R IESER, L’araméen des manuscrits de la mer Morte. I. Grammaire, Lausanne 2004, und T. M URAOKA, A Grammar of Qumran Aramaic, ANES Supplement 38, Leuven 2011. 110 Eine etwas veraltete, aber wertvolle Studie zum Vaterunser im Vergleich mit den Targumformulierungen, allerdings ohne Neofiti und Qumran, leistete M. JOUSSE, Les formules targoumiques du Pater dans le milieu éthnique palestinien, L’Ethnographie 42 (1944) 4–51.
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Das Aramäische zur Zeit Jesu, „ABBA!“ und das Vaterunser
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2. Philologische Kommentierung Die philologische Kommentierung bietet die Begründung für die vorgeschlagene Rückübersetzung. Sie gliedert sich folgendermaßen: a. Vater-Anrede b. Die Heiligung des Namens Gottes c. Die Königsherrschaft Gottes d. Der Wille Gottes e. Die Brotbitte f. Die Schuldenvergebung g. Die Versuchung h. Die Erlösung Folgende Abkürzungen werden verwendet: Altaramäisch (AA), Reichsaramäisch (RA), Qumranaramäisch (QA) Targum Onkelos (TO), Targum Neofiti (TN), Targum (Tg), Targum Jonathan (TJ), Tg Pseudo-Jonathan zum Pentateuch (TpsJ), Syrische Bibelübersetzung (Syr), palästinisches Aramäisch zw. 2./1. Jh. v.–1. Jh. n. Chr. (PA). Die morpho-syntaktischen Parallelen (v.a. aus den Targumim) zu den einzelnen Bitten sind selektiv und keineswegs vollständig.
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a. Die Vater-Anrede: !"! und !"#$% "& !'(%! Lk 11,2: Vater!
Mt 6,9: Vater unser, der (du bist) im Himmel! Gr.: !"#$% &'() * +) #,-. ,/%0),-. Gr.: !"#$% 111 PA: !a!ûnâ dî !i"mayyâ PA: !abbâ Parallelen: im AT als Gebetsanrede „unser Vater“ in TJ zu Jes 63,16; 64,7; T2Est 3,3; Gr. und QA Tob 13,4; Gebetsanrede „mein Vater“ in Sir 51,10; Gottes Residenz im Himmel TJ zu Jes 63,15.19; 64,7; indirekt in Mal 2,21; Tob 13,9.13; EA und QA: „Gott des Himmels, Herr des Himmels, Gott im Himmel“; spätere Parallelen in der rabbinischen Literatur und in Gebeten.
Wie schon erwähnt, wird das Tetragramm in den aramäischen Texten von Qumran nie geschrieben, sondern durch Substitute wie „Gott des Himmels“, „Herr im Himmel“, „König des Himmels“, „Herrscher des 112 Himmels“, u.a. ersetzt. Es verwundert also nicht, dass Gott im Vaterunser nicht bei seinem Namen angerufen wird sondern durch ein Substitut – hier „Vater“. Wenngleich selten, ist „Vater“ in der individuellen Gebets113 anrede doch schon in alttestamentlichen (Ps 89,27 und Hiob 34,36) und 114 außerkanonischen hellenistisch-jüdischen Schriften belegt. Unter den aramäischen Qumrantexten findet sich leider keine Gebetsanrede mit Vater – eine Absenz, die wohl zufällig ist, denn es gibt verhältnismäßig wenige aramäische Texte in Qumran. Hingegen ist die Vater-Anrede in den hebräischen Qumrantexten belegt: in „mein Vater und mein Gott“ in 4Q372 1 16 und „mein Vater und mein Herr“ in 4Q460 9 i 6 [früher 4Q460 5 i 5]), sowie im deuterokanonischen (hebr. und griech.) SirachText Sir 23,1.4, wo Gott mit „oh Herr, Vater und Gott/Meister meines Lebens“ und in Sir 51,10 mit „JHWH, mein Vater bist du“ angerufen 115 wird. 111 Das gemeinsemitische Wort !ab wurde in frühen Zeiten in allen Sprachen, ob aramäisch, hebräisch, ugaritisch, arabisch oder äthiopisch als „!AB u“ ohne Spirantisierung ausgesprochen. Epigraphisch kommt !b/!by/!b! häufig in Personennamen vor. In der späteren jüdisch-rabbinischen Zeit ist !"!/Abba ein Titel für den Lehrmeister und ist als Personenname gut belegt im Talmud und epigraphisch in der Abba-Inschrift von Givat-Ram aus dem 1.–2. vorchristlichen Jahrhundert. Die Verdoppelung des /b/-Lautes in !abba erklärt sich als Angleichung an den Vokativ !imma „Mutter“. 112 Siehe oben Abschnitt IV.2. 113 G. SCHELBERT, Abba Vater, 112–116. 114 Die Vateranrede kommt vermehrt in den nichtkanonischen griechisch-jüdischen Schriften vor, wie Philo, OrSib, TestXII, Jub, JosAs u.a., s. A. STROTMANN, Mein Vater bist du! (Sir 51,10). Zur Bedeutung der Vaterschaft Gottes in kanonischen und nichtkanonischen frühjüdischen Schriften, Frankfurt 1991. 115 Siehe die ausführliche Aufarbeitung der Belege in A. STROTMANN, Mein Vater bist du, 330–359; weiter C H. Z IMMERMANN, Die Namen des Vaters, Leiden/Boston 2007, 57, und bei G. SCHELBERT, Abba Vater, 48–49.
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Der Zusatz „himmlisch“ oder „der im Himmel ist“ ist sehr gut belegt im Bibelaramäischen (=BA)116 und in der zwischentestamentarischen Literatur. In den aramäischen Qumrantexten haben wir u.a. mrh !my! „Herr des Himmels“ (1QapGen II,14), !l"n !my! „Herrscher des Himmels“ (4Q530 [EnGiantsb] f2 ii 16_12,6) und mlk !my! „König des Himmels“ (1QapGen VII,7; XII,17). Im apokryphen Tobitbuch, welches in Qumran mit vier Handschriften auf aramäisch und einer hebräischen Handschrift belegt ist, wird Gott unter vielen epithetischen Umschreibungen als „großer König“ bezeichnet, und in den griechischen Varianten des selben Buches auch als „König des Himmels“ wie in BA (Tob 13,9.13). 117 Aus den Qumrantexten und der zwischentestamentarischen Literatur geht klar hervor, dass Gott umgeben von Engeln in seinem Königreich im Himmel herrschend vorgestellt ist und gelegentlich auch mit „Vater“ angeredet wird, dennoch ist der Ausdruck „Vater, der im Himmel ist“ außer im Vaterunser erst in den Targumim und der rabbinischen Literatur 118 119 belegt, davon 11x in den Targumim zum Pentateuch, 3x im Targum Neofiti 1, 3x im Targum Pseudo-Jonathan und 13x im Fragmententargum, davon 5x in Zusammenhang mit Beten (Gen 21,33; Ex 1,19; 17,11; Num 120 21,9 und Dtn 28,2). Je später die Targumim sind, desto mehr steigt die Häufigkeit: im Targum Sheni zu Ester kommt der Ausdruck 18x vor, und in im Gebet Esthers in T2Est 3,8 wird Gott mit !bwn! db!myy! „unser 121 Vater im Himmel“ angesprochen. Die matthäische Vater-Anrede mit „unser Vater im Himmel“, wörtlich: 122 „in den Himmeln“ (!" #$%& $'()"$%&). wird von vielen Exegeten, die 116
S. die Beispiele: „Gott des Himmels“ oder „himmlischer Gott“ [ !"# %$ '& !"# %$ ] in Esr 5,11; 7,12.21.23; Dan 2,18.37.44, sowie jeweils einmal „Gott im Himmel“ [ !"# %$ '( & ) !"# %$ ] in Dan 2,28, „Herr des Himmels“ in Dan 5,23 und „König des Himmels“ in Dan 4,34. 117 S. oben Abschnitt IV 3.2: 4Q372 und 4Q460 9 i 6. 118 Dem Thema „Vater im Himmel“ sind ausführliche Studien gewidmet, s. E. T ÖNGES, „Unser Vater im Himmel“. Die Bezeichnung Gottes als Vater in der tannaitischen Literatur, Stuttgart 2003; C H. Z IMMERMANN, Die Namen des Vaters, 98– 109, und v.a. G. SCHELBERT, Abba Vater, 102). SCHELBERT (Abba Vater, 102), erwähnt nur zwei Beispiele für Neofiti (Ex 1,19 und Dtn 33,24), es gibt jedoch ein drittes Beispiel in Num 20,21: !"#$%& '()(%! „ihr Vater (der) im Himmel (ist)“. 119 Vgl. dazu G. SCHELBERT, Abba Vater, 102–103 und 118–121. 120 Siehe die Beispiele in: G. SCHELBERT, Abba Vater, 102–105, wo sich die Beispiele in Gebeten eines Einzelnen oder in der Kollektivanrede finden. 121 SCHELBERT, Abba Vater, 118–121. 122 Während dem matthäischen Text offensichtlich die aramäische Plural- bzw. DualForm zugrunde liegt, hat der Text der Didache hier den Singular „im Himmel“. Der Unterschied zum Plural in Matthäus erklärt sich aus dem Aramäischen, wo die Form zwar grammatikalisch immer ein Dual „die (zwei) Himmel“ ist, aber als Kollektivform „Himmel“ zu verstehen ist, was im Griechischen mit Singular oder Plural wiedergegeben werden kann.
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mit der Logienquelle Q rechnen, als sekundärer Zusatz angesehen. Gerade aber dieser Zusatz ist charakteristisch für die Literatur des nachexilischen Judentums seit der Perserzeit. Schon in den aramäischen Papyri der jüdischen Kolonie von Elephantine (5. Jh. v. Chr.) wird JHW (Jaho) generell als „JHW, Gott des Himmels“ (!"#$ %&!) und „Herr des Himmels“ 123 bezeichnet (!"#$ !"#). Der Zusatz „im Himmel“ oder „des Himmels“ ist eine gängige Assoziation zur Gottesbezeichnung, und charakteristisch für die Perserzeit, die in der hellenistisch-römischen Zeit zunimmt, und ist, wie es die Biblisch-Aramäischen und QA-Texte zeigen, ein häufiger und naheliegender Zusatz. Obwohl !abbâ oder !abî in den QA-Texten nicht in der Gebetsanrede 124 belegt ist, was bei den wenig erhaltenen Texten nicht verwunderlich ist, so bestätigen die Texte doch, dass die Pronominalsuffixe „mein“ und „unser“ (z. B. !"#$! „unser Vater“ in 4Q197 Tobitb f4 i,17) um die Zeitenwende immer noch an die Nomina angefügt und nicht durch den status emphaticus ausgedrückt wurden, wie einige Dutzende von Belegen und sogar Beispiele von Ausrufen zeigen. Im Genesisapokryphon aus Qumran (1QGenAp II,24) redet Methusalem seinen Vater Henoch mit „Oh mein Vater, oh mein Herr/Meister!“ (und vorangehender Vokativpartikel y!!) an: y!! !abî, y!! m!rî, und im aramäischen Tobitbuch Tob 7,5 (4Q196 [Tobita] frag. 14 ii:11) begegnet der Ausruf: „Er (Tobit) ist mein Vater!“ (!abî hû!), was der These von Jeremias, dass ABBA „mein (lieber) Vater“ bedeuten müsse, klar widerspricht. Ebenso ist talita (qum/qumi) „Mädchen (steh auf)!“ in Mk 5,41 ein Vokativ, und niemand würde diesen Befehl mit „mein liebes kleines Mädchen, steh auf“ zu übersetzen gedenken. Abba war zur Zeit Jesu noch ein reiner Vokativ und respektvolle Anrede für „oh Vater!“. Trotz der Fülle der Vater-Belege im Neuen Testament ist das aramäische „Abba“ als Anrede dort nur dreimal belegt: nämlich in Mk 14,36; Gal 4,6 und Röm 8,15, wo die griechische Übersetzung ! "#$%& der beiden letzteren Beispiele bestätigt, dass es sich hier um einen vokativischen status emphaticus für „Vater!“ handelt und keinesfalls um das kindliche „Papa“ welches pappas im Griechischen wäre. Die erwähnten Beispiele zeigen im Übrigen deutlich, dass die Gottesanrede „Vater“ nicht 123 D. SCHWIDERSKI, Die alt- und reichsaramäischen Inschriften, Bd. 1, Berlin/New York 2008, 797. 124 Die aramäischen Privatgebete aus Qumran werden gerne mit der berî!-Einleitungsformel eröffnet: „gepriesen sei der Herr/allerhöchste Gott“ (!"#$% $& '()& *#+, in 1QapGen XX,12; XXII,20), was dem Griechischen '()*+,$-. /0&1*. entspricht wie in Lk 1,68 oder mit „gepriesen ist dein heiliger Name“ [ !"#$% &'"] !"#$% in 4QTob [196] f6,7. In den hebräischen Texten findet man neben der Formel !"!# ! %$ & (' )*$+ „gepriesen bist Du, (oh) Herr“ Gebetseinleitungen mit den Vokabeln hll oder ydh.
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nur die Beziehungsaspekte der Fürsorge, Treue und Barmherzigkeit beinhaltet, sondern auch die Aspekte des Respekts und der Instruktion. Sie widerlegen definitiv die Gleichsetzung (!abbâ) mit „mein Vater, Väterchen, lieber Vater, Papa“ und geben dem Vokativ seine respektvolle, wenngleich nicht weniger liebevolle, Bedeutung zurück. Erst die mittelaramäischen Beispiele aus Inschriften des 2. Jh. und den Bar-KochbaBriefen bezeugen den Wandel im Sprachgebrauch von !"!/Abba ohne vokativische Bedeutung, welche in Richtung „mein Vater“ geht. Erst in den Targumim, von denen Onkelos ins 2./3. Jh. datiert werden kann, wird das hebräisch-masoretische !"# „mein Vater“ generell mit !"! wieder125 gegeben. Auf die Belege dieser sprachlichen Stufe hatte sich Jeremias für seine These zur jesuanischen Vateranrede berufen. Jeremias! Behauptung, die Anrede „Vater“ erscheine vor Jesus nicht in jüdischen Gebetsformulierungen,126 ist durch die Befunde Strotmanns und Schelberts klar dementiert. M.E. sind sowohl die lukanische als auch die matthäische Anrede in diesem Horizont historisch vorstellbar: Der irdische Jesus könnte in seinem individuellen Gebet Gott mit „Vater!“ angeredet haben, die Anrede des Jüngerkreises bzw. der Gemeinde jedoch könnte „unser Vater“ gelautet haben. Da zur Zeit Jesu Gott oft mit dem Zusatz „im Himmel“ versehen wurde, könnte die matthäische Anrede sehr wohl auf eine parallele Urfassung zurückgehen. Abschließend ist zu bemerken, dass die schon früher erwähnte alttestamentliche Gottesanrede in Jes 63,11–15 das Exodus-Motiv mit dem von Gott-Vater kommenden Heil 127 verbindet und darin eine Brücke zum Vaterunser bildet. Gott wird in diesem Text nicht nur in der zweimaligen Gebetsanrede als „unser Vater“ angesprochen (insgesamt dreimal mit 64,7), auch die Verbindung zur Exodus-Erlöser-Typologie, mit der vorangehenden Erinnerung an die Erlösung aus der Knechtschaft, ist ein Motiv, das sich wie ein roter Faden durch das Vaterunser zieht und in der Brotbitte und der Bitte um Abwendung der Versuchung ebenso präsent ist. b. Die Heiligung des Gottesnamens: !"# #$%&' Mt 6,9 und Lk 11,2: Geheiligt werde Dein Name. Gr: "#$%&'()* )+ ,-./0 &.1 PA: yitkadda! !em"! Parallelen: Jes 29,3; Ez 36,23; Ps 145,2; etc.
125
S. die Belege bei G. SCHELBERT, Abba Vater, 96, und U. SCHATTNER-R IESER, Rez. Schelbert, EC 4 (2012), 144. 126 JEREMIAS, Abba, 63. 127 Dazu G. FISCHER, in: K. Backhaus/G. Fischer, Beten (NEB.Themen 14), Würzburg 2009, 38.
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Die Rückübersetzung birgt grammatikalisch keine Schwierigkeit. Hinter 128 dem Imperativ 3. Pers. Sing. Aorist passiv !"#$%&'() steht als aramäisches Pendant yitqadda!, die Jussivform (Imperativ 3. Pers. mask. sing.) der Hitpa‘al-Konjugation, d.h. des externen Passivs der Grundform Pe!al. Da dem Verb yitqadda! keine eindeutige Agens-Ergänzung folgt (theoretisch kann „der Name“ dafür stehen“), kann die Bedeutung reflexiv oder 129 passiv sein. Im gewöhnlichen Passivsatz wäre „dein Name“, also Gott, das Patiens und die Menschen, also das „wir/uns“ der Wir-Bitten das 130 Agens: Dein Name werde geheiligt (durch uns). Gibt man der reflexiven Bedeutung mehr Gewicht, ist das Subjekt „Name“ = Gott auch das Agens: Er (Gott) erweist sich als heilig. In den QA-Gebeten begegnet die Heiligung des Gottesnamens, jedoch in anderen Formulierungen. Das Klagelied Saras im aramäischen Tobittext aus Qumran enthält eine Bitte um Erhörung in einer Gebetseinleitung, die dem VU nahe steht: bryk !mk qdy!! wyqyr!… „Gepriesen ist/sei dein heiliger, herrlicher Name [in alle Ewigkeit. Alle deine Werke sollen dich ewig preisen.]“ (4Q196 Tobita f6,7 = Tob 3,11). Vergleichbar ist die Gebetsanrede im Danklied und Lobpreis Tobits (Tob 13,1–18) ybrkwn !mh qdy!! „Man (= die Völker) preise seinen heiligen Name (in alle Ewigkeit)!“ (4Q196 Tobit a f18,11=Tob 13,3). Dieses Gebet enthält thematisch noch weitere Parallelen zum Vaterunser, wie die Anrede Gottes als „unser Vater“ (Tob 13,3), ewiger König (Tob 13,16), Gott als himmlischer König (Tob 13,9.13), dessen Königreich in Jerusalem aufersteht (Tob 13,16–17), der Barmherzige, der Sünden vergibt (Tob 13,5–6.8). In den genannten 128
Schon Origenes beschäftigte sich eingehend mit dem Imperativ „geheiligt“ in seiner Abhandlung „Vom Gebet“ und kommt zum Schluss, dass es sich zwar im griechischen Text des NT grammatikalisch um eine Befehlsform handle, jedoch mit der Bedeutung der Wunschform, wie an vielen anderen Stellen der Bibel auch ein Imperativ anstelle des Optativ stehe. Gemeint sei, dass „der Name Gottes geheiligt werde“ in einem „miteinander“. Für Origenes ist es die Menschheit, die Gott bzw. seinen Namen zu heiligen hat. Siehe O RIGENES, Vom Gebet, nach der Übersetzung von P. Koetschau, bearbeitet von Gregor Emmenegger, Kleine Bibliothek der Kirchenväter Bd. 1, Norderstedt 2009. Die Kap. 18-30 dieser Schrift sind dem Vater Unser gewidmet mit Erläuterung der Befehlsform !"#$%&'() in Mt 6,9 in Kap. 24 (S. 91). Weiter W. G ESSEL, Die Theologie des Gebetes nach „De Oratione“ von Origenes, München 1975, und die philologische Studie von A. L ÉONAS, Recherches sur le langage de la Septante (OBO 211), Fribourg/Göttingen 2005, 210ff. 129 Zum Epitheton „Name“: Wie schon erwähnt, ist diese umschreibende Gottesbezeichnung im AT beheimatet und kommt häufig in Gebetsformulierungen im QA vor, wie z.B. in der Opferhandlung von 1Q20 [1QapGen] XXI,2–3: whllt l!m !lh! wbrkt !lh! w!dyt tmn qwdm !lh! „Ich lobte den Namen Gottes und pries Gott und dankte dort vor Gott“, ebenso preist Tobit in 4Q196 [4QToba] f6,7 Gott mit „gepriesen werde dein heiliger Name!“ (wbryk !mk qdy!!) und f18,11 „preist seinen heiligen Namen!“ (ybrkwn !mh qdy!!). 130 Das Subjekt der innewohnenden passiven Bedeutung ist „man; es“, gemeint ist (unausgedrückt) die Menschheit. Vgl. das Hitpa!el ytbqr „gesucht werden, erforschen“ in Esr 5,17.
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Beispielen aus den individuellen Gebeten des Buches Tobit aus Qumran sind es eindeutig die Menschen, die Gott und seinen heiligen Namen preisen. Anstatt der berikh-Formel hätte man sich analog zu 4Q545 f4,17 (qdy! lhwy zr!k „heilig sei/ist“ oder „geheiligt werde deine Nachkommenschaft“) der Konstruktion des Adjektivs qaddî! „heilig“ oder des internen Passivs Pe!îl qedî! und des Hilfsverbs „sein“ mit dem Personalpronomen 131 bedienen können: qdy! lhwy !mk „heilig ist/sei dein Name“.
Mit der ersten Bitte und dem Verb ytqd! „geheiligt werde“ des Vaterunsers stehen wir vor einer crux interpretum, denn im Gegensatz zu den QAGebeten lässt die grammatikalische Struktur des Vaterunsers zwei Interpretationsmöglichkeiten zu. Was ist gemeint mit „geheiligt werde dein Name“? Bedeutet es analog zu Lev 20,7, dass Gott sich als heilig erweisen soll (weil er heilig ist), oder geht es darum, den Gottesnamen zu ehren, d.h. den Mose offengebarten heiligen Namen, das Tetragramm, das man nicht achtlos aussprechen soll, wie es in den Dekalogversionen von Ex 20 und Dtn 5 aufgrund der Heiligkeit Gottes selbst geboten ist (Ex 20,7–8; 22,32)? Die Forschung steht hier vor einer Frage, auf die es vielleicht nie eine 132 Antwort geben wird. Joachim Jeremias, der den Ausdruck passivum divinum geprägt hat, sieht in den Passivkonstruktionen zur Umschreibung des Handelns Gottes ein Hauptkennzeichen der ipsissima vox Jesu.133 „Es kann nicht zweifelhaft sein, daß Jesus mit der häufigen Verwendung des Passivs zur Umschreibung von Gottes Handeln an den apokalyptischen Stil anknüpft.“134 Doch ist Jeremias! These, dass es sich hier um ein reines passivum divinum handelt, durchaus fraglich: „Von Dalman bis Jeremias wird undiskutiert und wie selbstverständlich vorausgesetzt, daß derlei Passivkonstruktionen zur Vermeidung der Nennung Gottes erst im nach-alttestamentlichen 135 Judentum aufgekommen seien.“ Doch obwohl derlei Konstruktionen im NT sehr häufig sind, kommen sie bereits im AT vor und begegnen dann 136 vermehrt in der intertestamentarischen Literatur. 131
So auch in 4Q547 f6,1 lhw" q[dy!] „er sei heilig“ oder „er wird heilig sein“ oder mit dem Pronomen hw" wie in 11Q18 f19,3 qdy! hw" „er ist heilig“, beide Konstruktionen finden sich in den Targumim, z. B. TpsJ Lev 21,7. 132 A. STEUDEL, Die Heiligung des Gottesnamens im Vaterunser – Erwägungen zum antik-jüdischen Hintergrund, in: L. Doering/H.-G. Waubke/F. Wilk (Hg.), Judaistik und neutestamentliche Wissenschaft (FRLANT 226), Göttingen 2008, 242–256: 242. 133 J. JEREMIAS, Die Abendmahlsworte Jesu, Göttingen 41967, seit der 3. Aufl. (1960), 194ff. 134 J. JEREMIAS, Neutestamentliche Theologie I: Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 1971, 24. 135 C H. M ACHOLZ, Das Passivum divinum, seine Anfänge im Alten Testament und der ‚Hofstil‘, ZNW 81 (1990) 248. 136 Nach Jeremias kommt das passivum divinum in den Worten Jesu ungefähr hundertmal vor (JEREMIAS, Neutestamentliche Theologie I: Die Verkündigung Jesu,
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Das Hitpa!el der Wurzel qd! findet im Hebräischen des AT selten Verwendung – und vorwiegend in nachexilischen Schriften. Auch in den 138 Qumrantexten ist es relativ selten. Im Aramäischen ist das Entsprechende htqd! erst in den Targumim belegt. Direkt inspiriert scheint das Vaterunser hier (wie das Qaddish) von Ez 38,23 zu sein. 139
Die Problematik bei der Übersetzung der 17 Beispiele des masoretischen qd!-Hitpa!els 140 141 zeigt sich in den Targumim, besonders im Neofiti, dessen Sprachgut sich durch ein authentischeres Aramäisch auszeichnet, während Onkelos eine getreue, fast wörtliche
Gütersloh 41988, 19–24, bes. §2: Von Jesus bevorzugte Redeweisen, 21). Im QA haben wir zwar kein Hit-passiv der Wurzel qd! „heilig“, allerdings treten interessanterweise die Hit-formen in einigen Texten vermehrt auf, wie z. B. im „Sohn Gottes Text“ 4Q246 (yt!mr, ytknh, ytqr!); ebenso in 4Q545 f 4, 18–19 (yt!mr, ytqr!, ytb!r). Man gewinnt den Eindruck, dass letztgenannte Texte in einem entwickelteren Aramäisch geschrieben oder kopiert worden sind (dies trifft auf jeden Fall für 4Q545 zu). 137 Im AT kommt das Hitpa!el von qd! nur 17x vor – generell in postexilischen Schriften, davon 13x in den Chronikbüchern: 4x wytqd!w (1Chr 15,14; 2Chr 29,15; 30,15.40); 1x whtqd!w (2Chr 35,6); 1x whtqd!ty (Ez 38,23); 2x whtqd!tm (Lev 11,44; 20,7); 9x htqd!w (Num 11,18; Jos 3,5; 7,13; 1Sam 16,5; 1Chr 15,12; 2Chr 5,11; 29,5; 30,3.17); 1x htqd! (Jes 30,29). 138 In den nichtbiblischen (hebräischen) Qumranschriften kommt es nicht mehr als 10x vor, z.B. in 1QS III 4f. ( ... !"#$%" &'(') *+,!' -".") und 1x in 4Q504 f3 ii 6 (!"#$% !"#$#), 4QSongs of the Sabbath Sacrificea [4Q400] f1 i,15 + einige Rekonstruktionen. Die Heiligung des Gottesnamens wird aber anders ausgedrückt in Konstruktionen, in denen Subjekt und Agens klar ersichtlich sind, wie in der hebräischen Segensformel aus der Kriegsrolle (1Q33 Col. XIV 12) „Wir, dein heiliges Volk … wir preisen deinen Namen“ (Pi!el); ebenso in 4Q416 [Instructionb] Frag. 2 iii 4; 4Q418 [Instructiond] Frag. 9,11 (!mw hll tmyd „preise seinen Namen für immer!“). Die Heiligung des Gottesnamens wird in den hebr. Qumrantexten bevorzugt mit dem Hif!îl ausgedrückt, so in 4Q177 col. iv 15 (wy]r!w !l yqd!w !mw „die, die Gott fürchten, werden seinen Namen heilig machen“) und im Hodayothymnus 4Q427 7 i 16 hqdy!w !mw „heiligt seinen Namen!“ 139 Die 17 Hitpa!el-Formen werden in Neofiti nur 4x und 1x in einer Glosse mit dem Hitpa!al wiedergegeben und man bedient sich meist anderer Strukturen um die Mehrdeutigkeit zu vermeiden wie in TN zu Ex 29,37; 30,29; Lev 6,11.20; 10,3; 20,7. 140 Targumim gibt es schon in Qumran zu Hiob und Levitikus sowie eine Paraphrase zu Jesaja (s. o. Abschnitt II.1). Der älteste vollständig erhaltene Targum ist Onkelos dessen Redaktion sich in das 2. Jh. n. Chr. datieren lässt (s. B. G ROSSFELD, The Targum Onkelos to Genesis [ArB 6], Edinburgh 1988, 35). 141 Targum Neofiti (TN) sei der älteste Repräsentant des westaramäischen Dialekts und wurde von seinem Entdecker Díez Macho ins 1. Jh. datiert, von anderen aber zu Recht in das 4. Jh. Aufgrund dieser Ungewissheit bezüglich des Alters von Neofiti ist es wissenschaftlich nicht haltbar, das Aramäische des Neofiti als repräsentativ für das Aramäische zur Zeit Jesu anzusehen (der Konsonantentext des TO ist auf alle Fälle älter). Der Vergleich ist jedenfalls interessant. Targum Neofiti scheint offensichtlich zwischen reflexiver und passiver Bedeutung in der Anwendung der Verbalformen unterscheiden zu wollen – und dies scheint den Autor vor eine Herausforderung zu stellen.
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Wiedergabe des masoretischen Textes ist und jedes hebräische Hitpa!el mit einem aramäischen Hitpa!al gleichsetzt. 142 Während das hebr. Hitpa!el essentiell eine reflexive Konstruktion ist, mit der Bedeutung „sich heiligen“ oder „sich selbst als heilig erweisen“, ist die aramäische Hit143 Form mehrdeutig. Im Aramäischen gibt es keine eigene, dem hebräischen Nif!al vergleichbare Passivform, und die Hit-Formen erfüllen somit neben der reflexiven auch 144 die passive Bedeutung. Die rein passive Bedeutung des Nif!al yiqq!d"# (Ex 29,37; Lev 6,11) wird in TN mit yhw(w)y qdy# übersetzt, in Targum Onkelos unter anderem aber mit yitqadda#: „Sieben Tage lang sollst du am Altar die Sühnehandlung vollziehen und ihn heiligen. So wird der Altar hochheilig werden. Alles, was den Altar berührt, wird heilig (MT: yiqq!d"#; TN: yhwwy qdys). Auch in Ex 30,29 wird die passive Bedeutung des hebräischen Nif!al yiqq!d"# „jeder, der ihn berührt, wird heilig (werden)“ oder „werde geheiligt“ mit yhwwy qdy# übersetzt (genau wie in Lev 6,11.20). Die eindeutig reflexive Bedeutung in Lev 10,3 wird dagegen auch in TN mit dem Hitpa!al ytqd# wiedergegeben: „An denen, die mir (dem Herrn) nahe sind, erweise ich 145 mich heilig (!tqd#)“. Die perfekte Unterscheidung gelingt aber nicht, denn in TN zu Num 20,13 wird die Nif!alform yiqq!d"# des masoretischen Texts mit wqd# #mh übersetzt: „Das ist das Wasser von Meriba (Streitwasser), wo die Israeliten mit dem Herrn haderten und er ihnen seinen Namen als heilig erwies (wqd# #mh bhwn). Allerdings korrigiert die Glosse in Neofiti Marginalia zu wytqd#! #my myyqrh. Abschließend sei zu bemerken, dass die reflexive Bedeutung der aramäischen Hitpa!el-Form klar ersichtlich ist im Beispiel von Lev 20,7, wo alle Targumim dieselbe Übersetzung aufweisen: „Ihr sollt euch heiligen (wttqd#wn), um heilig zu sein (wthwwon qdy#yn); denn ich bin der Herr, euer Gott. Wer sich als heilig erweist (yitqadda#), wird heilig sein oder heilig werden (lhwh qdy#)“.
142 Die Hitpa!elform im Hebräischen ohne andere Objektergänzung ist eindeutig – Objektergänzung und Subjekt sind identisch – und bedeutet „sich selbst als heilig erweisen“ wie in Ez 38,23 „So werde ich mich selbst als groß (whtgdlty) und heilig (whtqd#ty) erweisen und mich vor den Augen vieler Völker zu erkennen geben“. 143 Die aramäischen Hitpe!el und Hitpa!al-Formen haben ebenso wie das Hebräische zuerst reflexive Bedeutung, so htkns „sich versammeln“; htrwmm „sich erheben“, „sich heiligen“ oder „sich als heilig erweisen“, und sie kann weiter reziproke und passive Bedeutung haben „geheiligt werden“. S.H. B AUER/P. L EANDER, Grammatik des BiblischAramäischen, Halle-Saale 1927, 275–276. 144 Dabei kann das Agens mit den Präpositionen min oder b- verbunden sein, siehe dazu die verschiedenen Konstruktionen des Verbs !"# $" &% '( „er soll benetzt werden“ in Dan 4,12.20; 5,3. 145 Ebenso in TN zu Lev 22,32 „Ihr sollt meinen heiligen Namen (yt #my qdy#!), nicht entweihen, damit sich mein herrlicher Name als heilig erweise (wytqd#! #my myyqrh) inmitten der Israeliten; ich bin der HERR, der euch heiligt (dqd#yt ytkwn).
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Oft wird die Heiligungs-Bitte des Vaterunsers mit dem Beginn des Qaddishgebetes verglichen, dessen Bedeutung jedoch eindeutig ist: yitgaddal weyitqadda! !em"h rabbâ be!#lmâ dî berâ kir!ût"h „Erhoben und geheiligt werde sein großer Name in der Welt, die er schuf nach seinem Willen“ (so auch zitiert im Midrasch BerR 13:15 aus dem 4. Jh.). Im Qaddish sind es eindeutig die Menschen in der Welt, die Gottes Namen Ehre erweisen und ihn heilig halten. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass das Qaddishgebet später als das VU anzusetzen ist. Es ist nicht vor dem 4. Jh. belegt, und es könnte durchaus sein, dass es selbst vom Vaterunser inspiriert ist, dessen Zweideutigkeit es dann durch eine explizitere Ausdrucksweise ersetzt hätte. Da die Form ytqd! zugleich „Dein Name erweise sich als heilig“, oder „erweise Du (Gott) Dich selbst als heilig“ und „Dein Name werde geheiligt (von anderen, hier: uns)“ bedeuten kann und man sich einer anderen 146 Ausdrucksweise bedienen hätte können, um das eine oder andere auszudrücken, scheint die Wahl der Verbalform absichtlich beide Aspekte verbinden zu wollen, was den eschatologischen Charakter der Gebets147 formel unterstreicht. c. Die Königsherrschaft Gottes: !"#$%& '"(" Mt 6,10: Dein Reich komme. Gr: !"#$%& ' ()*+",-) *./ PA: t""t" mal$ût#$ Parallelen: 4Q246; Dan 3,33; 4,34 und 7,27; TO zu Gen 49,10
Grammatikalisch ist die Rückübersetzung unproblematisch; sie setzt sich zusammen aus dem Jussiv (Imperativ der 3. Person fem. sing.) von "th „kommen“ und dem fem. Substantiv mal$û „Königreich“ + Suffixpronomen 2. Person mask. sing. „dein; von dir“. Das Imperfekt Pe!al 2. Person mask. sing. t"th des Verbs "th „kommen“ ist im Tobittext belegt (4Q197 [Tobitb] f5,10). Die Imperativformen und der Jussiv fem. sing. der Lamed-
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Wie z. B. „heiligt (Pa!el) seinen Namen“ oder „gepriesen sei sein Name“. So auch A. STEUDEL, Die Heiligung des Gottesnamens im Vaterunser, 256. Klar ist die Bedeutung auch in der ähnlichen Formulierung in Ezechiel 36,23: „ich werde meinen großen Namen wieder heilig machen, der entweiht ist unter den Nationen“ mit kausativer Bedeutung des Pi!el hebr. beziehungsweise des aram. Pa!el oder Jes 29,23, wo es heißt: „man wird meinen Namen heiligen/heilig machen“ im Kausativ (! #" %$ &%!"' ($ )!), was im Aramäischen des Prophetentargums im Pa!el ausgedrückt wird ( ! #" %$ &'%$( *) $!). Die Ezechielparallele Ez 38,23 (u. thematisch auch Ez 36,23), mit ihrem Pendant in der Einleitung des Qaddish, und eine vergleichbare Parallele in der Kriegsrolle aus Qumran (1QM XI 15) haben Gott als Subjekt und bezeugen ebenfalls den eschatologischen Charakter der Gebetsformel. 147
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He-Verben enden in Qumran auf yod, weshalb die bisher vorgeschlagenen Rückübersetzungen auf yod hin zu berichtigen sind. Eine Parallelstelle zur neutestamentlichen Vorstellung des himmlischen Gottesreichs und der Vaterunser-Bitte begegnet im aramäischen Gottessohn-Text aus Qumran (4Q246), wo es heißt, dass sich ein Erlöser, der „Sohn Gottes“ (brh dy !l) und „Sohn des Allerhöchsten“ (br "lywn) genannt wird (vgl. Lk 1,33), erheben werde, dessen Königreich ewig währt, (mal!ut!h mal!ût ""lam), dessen Wege Wahrheit sind und dessen Herrschaft eine ewige Herrschaft ist (#olt"n!h #olt"n ""lam) (vgl. Ex 15,18). Diese Stelle scheint inspiriert vom Königspsalm Ps 145, wo es nach dem Targum zitiert heißt: mlkwtk mlkwt! dkl "lmy! w#ltnwtk bkl dr wdr „Dein Reich ist ein ewiges Reich und Deine Herrschaft währt von Generation zu Generation“ (Tg Ps 145,13). Dieser Psalm enthält neben dem immerwährenden Königreich Gottes auch den Lobpreis seines Namens (Ps 145,1–2). Das Targum zu Mi 4,8 bezieht das Kommen des Königreichs Gottes auf Jerusalem. Das Gottkönig-Motiv und das damit verbundene Motiv der Königsherrschaft Gottes ist alt und nicht spezifisch jüdisch. Es ist der Literatur 149 des Alten Orients und dem AT gemeinsam und fand wahrscheinlich in 150 seiner hymnischen Gestalt, in den Königspsalmen, Verwendung in der Tempelliturgie. Die mit der Vorstellung der Königsherrschaft Gottes verbunden Abstrakta mal!ût (1Chr 17,14; Ps 103,19 etc.), maml"!â (1Chr 29,11) und mem#"lâ (Ps 103,22; 145,13 etc.) begegnen jedoch erst in 151 jüngeren Texten. In Qumran ist diese Vorstellung vor allem in den
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U. SCHATTNER-R IESER, L’Araméen des manuscrits de la mer Morte, Lausanne 2004, 71, und T. M URAOKA, A Grammar of Qumran Aramaic, Leuven 2011, 100 u. 133 149 Z.B. in Ex 15,18; Ps 22,28. S. dazu H. SPIECKERMANN, God and His People: The Concept of Kingship and Cult in the Ancient Near East, in: R.G. Kratz/H. Spieckermann (Hg.), One God – One Cult – One Nation. Archaeological and Biblical Perspectives (BZAW 405), Berlin u.a. 2010, 341–356; S. dazu B. JANOWSKI, Der Himmel auf Erden. Zur kosmologischen Bedeutung des Tempels in der Umwelt Israels, in: ders./B. Ego (Hg.), Das biblische Weltbild und seine altorientalischen Kontexte (FAT I/32), Tübingen 2001, 229–260. 150 M. SAUR, Die Königspsalmen. Studien zur Entstehung und Theologie (BZAW 340), Berlin u.a. 2004. 151 Dazu die vollständige Begriffsauflistung in H. R INGGREN/K. SEYBOLD/H.-J. FABRY, Art. "! $# %# mælæk (ThWAT IV), Stuttgart u.a. 1984, 926–957. Weiter dazu: B. JANOWSKI, Das Königtum Gottes in den Psalmen, in: ders., Gottes Gegenwart in Israel, Neukirchen-Vluyn 2004, 148–213: 150ff., und M. L EUENBERGER, Konzeptionen des Königtums Gottes im Psalter (AThANT 83), Zürich 2004, 40ff, ferner E. Z ENGER, Art. Herrschaft Gottes/Reich Gottes II (TRE 15), Berlin 1986, 176–189; B. JANOWSKI, Art. Königtum Gottes im Alten Testament (RGG4 4), Tübingen 2001, 1591–1593.
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Sabbatliedern gut belegt. Die Königsherrschaft Gottes begegnet im Aramäischen in den apokalyptischen Passagen des Buches Daniel (Dan 3,33; 4,34 und 7,27). Und in den Targumim zu Gen 49,10, Ruth 1,1 und Qoh 7,24 wird der Messias als König bezeichnet und eschatologisch gedeutet. Der Vaterunser-Bitte ähnlich ist die Stelle der testamentarischen Verordnung Jakobs an seinen Sohn Judah: „bis er kommt, der König Messias (aus dem Hause Judah), dem das Königreich/Königtum gehört (dyyty mlk! m!y!! ddydyh hy! mlkwt!) und dem sich alle Königreiche der Nationen unterstellen werden“ (TN Gen 49,10). d. Der Wille Gottes: !"#!$ %! !&'($) *+,"# -$"++ Mt 6,10b: Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden. Gr: !"#$%&'( ') %*+$,- ./0, 12 3# /456#7 869 3:9 !;2 PA: tit"a""d re"ût## ke"i!mayyâ! !af be!ar"â Parallelen: in BA: Esra 7,18 „tut es nach dem Willen eures Gottes (kr"wt !lhkyn t"bdwn)“; in QA: 4Q198 [Tobc] f1,5 „alles geschehe zu seiner Zeit (kl! yt"bd lzmnyhwn); Tg zu: Ps 135,6 (kl dy ytr"y "bd b!my! wb!r"!); Jes 48,14; Ps 40,9; Ps 143,10
Die dritte Bitte ist nicht in der lukanischen Version, aber bei Matthäus und in der Didache belegt. Mit Philonenko kann angenommen werden, dass sie ursprünglich ist und in Lukas wahrscheinlich aus metrischen Gründen 153 nicht aufgenommen wurde. Diese liturgische Formel findet sich auch im Qaddish. Das gesamte Vokabular dieser Bitte ist in QA belegt. Das fem. Nomen !"# „Wille“ findet sich in 1Q20 XX,23, in 4Q545 f4,18 und im Testament Qahats (4Q542 f1 i,3) sogar mit dem Verb „machen“ verbunden: „… denn er ist der ewige Gott, der Herr aller Werke und der Herrscher über alles, um an ihnen nach seinem Willen zu handeln (lm"bd bhwn lr"wth)“. Die wörtliche Übersetzung des Griechischen !"#$%&'( setzt einen Jussiv fem. sing. Hitpe!el tt"bd „werde gemacht > geschehe“ voraus, der im aramäischen Tobittext belegt ist: 4Q198 [Tobc] f1,5 „alles geschehe zu seiner Zeit (kl! yt"bd lzmnyhwn). Die Unterschiede der Rückübersetzungen betreffen einzig die Komparativpartikel des Syntagma „wie ihm Himmel, so auf Erden“ mit dem griechischen Element $% – &'í (wie in der Bitte um Schuldenerlass). Die 152 O. C AMPONOVO, Königtum, Königsherrschaft und Reich Gottes in den frühjüdischen Schriften (OBO 58), Freiburg (CH)/Göttingen 1984; A.M. SCHWEMER, Gott als König und seine Königsherrschaft in den Sabbatliedern von Qumran, in: M. Hengel/A. M. Schwemer (Hg.), Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult im Judentum, Urchristentum und in der hellenistischen Welt (WUNT I/55), Tübingen 1991, 45–118; M. L EUENBERGER, Art. !"#/m#lak etc., in: H.-J. Fabry/U. Dahmen (Hg.), Theologisches Wörterbuch zu den Qumrantexten, Bd. 2 (ThWQ 2), Stuttgart u.a. 2013. 153 M. PHILONENKO, Le Notre Père, Paris 2001, 104.
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Vergleichspartikel „wie“ im Aramäischen ist k-, kmh oder kwt. (ähnlich wie z. B. in Tob oder 1QapGen). In TO und Qumran findet man für „wie – so auch“ kmh d(y) – kyn; in TN hyk mh d- – kdn (belegt in den Targumim zu Lev 8,34; 24,19.20). Für den ersten Teil findet sich paralleles Vergleichsvokabular in den Targumim zu Ps 143,10 „lehre mich Deinen Willen zu tun“ (!lp yty lmy!bd r!wtk), und zu Ps 40,9 „Deinen Willen zu tun (lm!bd r!wtk), mein Gott, ist mir eine Lust, und dein Gesetz trage ich im Herzen.“ (hebr. l!!wt r!wnk). Der Ausdruck nach „dem Willen handeln“ ist zwar gut belegt und in den Targumim immer mit r!w und !bd „tun, machen“ gebildet (weiter in 1Sam 13,14; 2Kön 18,12; Jes 48,14), allerdings nie in der Passivform Hitpe"el. Eine dieser Vaterunserbitte verwandte Idee findet sich in einer rabbinischhebräischen Formulierung, die auf R. Eliezer zurückgeführt wird: „Wenn die Israeliten Gottes Willen tun, ist sein Name in der Welt groß, und wenn 154 sie ihn nicht tun, ist sein Name in der Welt gleichsam entweiht.“ Auch wenn die Idee der Erfüllung „im Himmel wie auf Erden“ häufig 155 vorkommt, gibt es für den komparativen Ausdruck „wie (!") im 156 Himmel, so auf Erden“ des Vaterunsers wenige vergleichbare Redewendungen wie z. B. im TpsJ zu Lev 22,28, wo Gott sein Volk ermahnt „Söhne Israels, mein Volk, wie ich im Himmel barmherzig bin, so sollt ihr auf Erden barmherzig sein“ (hykm" d"n" r"mn b"my" kn thwwn r"mnyn b"r!"). In TJ steht die komparative Partikel hykm‘ d- durchwegs für das konservativere Aramäisch von TO anstelle von kmh/km" d-, was gut in QA belegt ist, wohingegen die Redewendung hyk dy in QA nur in den rekonstruierten Stellen des Henochbuches vorkommt (und auch das exklamative hyk „wie nur!“). Der Komparativ !" „wie – so auch“ kann im Aramäischen des 1. Jh. anhand der Partikel k-,kmh d- oder kdy formuliert
154
Mechilta zu Ex 15,2, zitiert in G. D ALMAN, Die Worte Jesu, 318. Das Wortpaar „Himmel und Erde“ ist ein gut belegtes Beispiel eines synthetischen Parallelismus zur Bezeichnung der Herrschaft Gottes über die ganze Welt: „der Herr ist Gott des Himmels und der Erde (z.B. Gen 14,22; 24,39; 1Kön 8,23; Esra 5,11). So wie im Himmel die Engel gehorsam Gottes Willen befolgen (Ps 103,21) so sollen die Menschen auf der Erde Gottes Willen gerecht werden. Auch im Teil der 2. B erakha der Kedusha des Achtzehngebets (Amida, bzw. Tefilla), die 2x täglich vom Vorbeter gebetet wird, kommt diese Vorstellung zum Ausdruck: „Wir wollen deinen Namen heiligen in dieser Welt, wie sie ihn heiligen im Himmel oben“,155 und von der Gemeinde mit: „Heilig, heilig, heilig, Herr Zewaoth! Erfüllt ist die ganze Erde von seiner Ehre.“ im Chor beantwortet wird. 156 Obwohl Mt 6,10 #$% &'" hat und !l "r!" (wörtl. „auf oder über der Erde“) auch im Aramäischen vorkommt, wird die Redewendung „im Himmel und auf Erden“ im Aramäischen immer mit der Präposition b- konstruiert. 155
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werden in Verbindung mit der Bekräftigungspartikel !af oder k!n, die in QA gut belegt sind – allerdings in keiner Konstruktion, die der VaterunserBitte parallel wäre. Es ist sogar fraglich, ob es in der Urfassung überhaupt eine Bekräftigungspartikel gab, denn im Griechischen findet man auch nur 158 !"í („und/auch auf Erden“). Zu dem „so auf Erden“ ist zu bemerken, dass das Griechische nie #$ %&' (&', sondern #)* %&' (&' (Lev 22,24) hat, was aramäisch b!r"! (be!ar"â) entspricht und parallel zu b"my! steht. Die 2. Bitte führt durch den matthäischen Zusatz direkt zur 3. matthäischen Bitte, sie holt sozusagen die himmlische Welt auf die Erde herunter und stimmt im Wortlaut mit dem Targum zu Ps 135,6 überein: kl dy ytr"h YHWH "bd b"my! wb!r"! „alles, was dem Willen des Herrn entspricht, geschieht im Himmel wie auf Erden“. e. Die Brotbitte: !"# !"#$ !"# !" !"#$% !"# !"#$ !"#$% 159
Mt 6,11: Das Brot, das wir nötig haben, gib uns heute. Gr: %+$ ,-%.$ /01$ %+$ #)2.342.$ 5+' /06$ 4708-.$ PA: la!mánâ pitg"m (se#ôm) yôm beyômâ/ ha$ lánâ yômâ denâ Parallelen: Tg; TN Ex 16,4; TpsJ Ex 16,13; 1Q20 XX,30 Lk 11,3: Das Brot das wir nötig haben, gib uns an besagtem Tag. Gr: %+$ ,-%.$ /01$ %+$ #)2.342.$ 595.: /06$ %+ !";< /0=-"$ PA: la!mánâ pitg"m (se#ôm) yôm beyômâ / ha$ lánâ yômâ weyômâ (oder yômâ denâ) Parallelen: Tg zu: Gen 47,15 (hb ln! l!m!); Ex 16,4.15.25 (ptgm ywm bywmh); T2Est 3,8 (!lh! d%my!… dyhb ln! l!m!)
Auch der Wortlaut dieser Bitte ist vollständig in QA belegt. Der erste Teil „Unser Brot, das wir nötig haben“ ist bei Matthäus und Lukas identisch, der 2. Teil der Bitte ist unterschiedlich wiedergegeben, wobei die zwei Varianten m.E. aus einer gemeinsamen aramäischen Quelle schöpfen, mit 160 ursprünglich einfacherem Wortlaut. Das Vokabular für die Rückübersetzung der Bitte in das Aramäische ist auf jeden Fall zur Gänze in QA belegt (l!m!, yhb, ywm bywm!, ywm! dnh/dn, ptgm), und parallele Syntagmen finden sich in den Targumim und im Qumranhebräischen. Die Wurzel yhb „geben“ ist in QA gut belegt, darunter auch der Imperativ hb „gib!“ (1QapGen XXII,19). Das Adverb „heute“ ist in QA mit yômâ denâ (![!"#]! !"# in 1QapGen XX,30) oder yômâ d!n (!" #$%& in 1QapGen XX,5) belegt 157 Die von G RELOT (L’arrière-plan araméen du „Pater“, 3) vorgeschlagene Partikel kn ist nicht auszuschließen, auch wenn sie in QA eher als Demonstrativpronomen fungiert, s. T. M URAOKA, A Grammar of Qumran Aramaic, Leiden 2013, 48. 158 Vergleichbar sind z.B. TO zu Ex 39,43: km! dpqyd YWY kyn "bydw „wie Gott es befahl, so taten sie es“ und BerR 45,5: kmh dyhb lk kn hwh yhb ly „Wie er dir gibt, so gebe er mir“. 159 Könnte auch mit „rationiert, zugeteilt“ übersetzt werden. 160 Wahrscheinlich hieß es in der Urfassung: ha$ lanâ la!manâ pitg#m yôm b eyômâ.
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und hat als targumische Entsprechung: beyômâ h!d"n (s. TN Gen 30,33). In den Targumim gibt es viele Belege und wörtliche Entsprechungen zur neutestamentlichen Brotgabe, u.a. wiederum in der Wiedergabe der 161 Manna-Episode aus Exodus (Ex 16,29): „Dies ist das Brot, das euch der HERR zur Nahrung gegeben hat (TO: hw! l!m! dyhb lkwn YWY lmykl)“. Ein entsprechender Imperativ zur Brotbitte findet sich in Targumim zu Gen 47,15, wo sich die hungrigen Ägypter an Josef wenden mit der Aufforderung: hb ln! l!m! (TO) „Gib uns Brot!“. Ein ähnlicher Wortlaut findet sich im Targum Sheni zu Est 3,18: „den Gott des Himmels preisen wir, der uns Brot und Wasser gibt“ (!"#$ !#%& !'& ()"* +",-(# !"#.* !)&!&). 162 Einzig das Wort !"#$%$' birgt Schwierigkeiten. Die diversen Rückübersetzungen unterscheiden sich diesbezüglich am meisten, denn die Übersetzung des Wortes ist bedingt durch die Interpretation. Diese neutestamentliche Neuschöpfung im Griechischen, die nur in Lk 11,3 und Mt 6,11 vorkommt, leitet man entweder von < !" ()*+# (als Partizipialadjektiv: kommend) oder !", + $%$' < $-&,+ (Sein, Substanz, Wesen, 163 Eigentum) ab. Nach Jeremias hätten die Judenchristen um das escha164 tologische, himmlische Manna, das „Brot der Heilszeit“ gebetet: „Unser Brot für morgen gib uns heute“ beinhalte eine antithetische Gegenüberstellung von heute – morgen. Folglich sei !"#$%$' eine Wortschöpfung, die sich von < !" + ()*+# „der kommende Tag > morgen“ 165 ableitet.
161
Vgl. auch Ex 16,29. Siehe dazu W. FOERSTER, Art. !"#$%$' (ThWNT 2), Stuttgart 1937, 590–597. 163 JEREMIAS, A BBA. Studien, 167 u.a. vermuten, dass ./01+* dem Adverb &2/31$* „heute“ (Mt 6,1) antithetisch gegenübersteht und ein Wortpaar „morgen und heute“ bildet. Die Bestätigung liege in der Gegenüberstellung des Wortpaares „heute / morgen“ im Zusammenhang mit dem Broteinsammeln des himmlischen Manna (als Brot des Himmels) in TpsJ zu Ex 16,23: „Und Moses sagte zu ihnen: Was der Herr euch sagte, tut. Morgen ist der heilige Ruhetag, der Sabbat für den Herrn. Was ihr für morgen an Gebackenem benötigt, backt heute. Und was ihr für morgen (! #" $" ) an Gekochtem benötigt, kocht heute. Und alles, was heute an Essbarem übrigbleibt, legt beiseite und es wird bis morgen (! #" $" ) halten.“ Für M. PHILONENKO (Le Notre Père, 118–122) handelt es sich um eine frühe mündliche Tradition, die bei den Kirchenvätern belegt ist, die sich im späten Targum widerspiegelt und einen Bezug zu Hieronymus und dem von ihm bezeugten Hebräerevangelium darstellt, wo !"#$4$* mit crastinum erklärt wird und für aramäisch ma!ar stehe. Vgl. dazu J. C ARMIGNAC, Recherches sur le „Notre Père“, Paris 1969, 200–202. 164 JEREMIAS, Abba. Studien, Göttingen 1966, 166. 165 Als Beiform von . !"#$5&+ (./01+), welche nur in Spr 3,28 und 27,1 mit der Bedeutung „am kommenden nächsten Tag > morgen“ vorkommt. 162
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Diese Interpretation ist beeinflusst durch die Notiz des Hieronymus über eine Variante ma(h)ar (
kommend, aram. ywm bywm!) verschmolzen ist, und tatsächlich an die Episode der rationierten Gabe des himmlischen Brotes in der Exodusepisode 16,4 anspielt, was sich in der targumischen Redewendung 168 169 pitg!m yôm beyôm"h oder sekôm yôm beyôm"h reflektiert, die im AT 170 mehrmals belegt ist und wörtlich „die Sache [das Nötige] eines jeden Tages an ihrem Tag“ designiert: „Da sprach der HERR zu Mose: Sieh, ich lasse euch Brot vom Himmel (TO: l!m! mn #my!) regnen, und das Volk soll hinausgehen und den Tagesbedarf täglich (LXX: 12 1;0 171 172 5#6%)0 $<0 5#6%)'; TO: pitg!m yôm beyôm"h; TN sekôm yôm beyôm"h ; Syr: sûnkon e e … ma!akûlto d yaumo b yaumo) sammeln, damit ich es auf die Probe stellen kann (TO: 173 bedîl da!anasenûn; LXX: =.>0 .$,%?!> )81&@0 ), ob es nach meiner Weisung lebt oder nicht. Wenn sie aber am sechsten Tag zubereiten, was sie einbringen, wird es
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S. Hieronymus, Kommentar zu Mt 1,34 und Mt 6,11: in evangelico, quod appelatur secundum hebraeos pro supersubstantiali pane reperi mahar (!"#) quod dicitur crastinum; ut sit sensus: Panem nostrum crastinum, id est, futurum da nobis hodie. Die Editionen sind nach den Hieronymus-Handschriften uneinheitlich: maar nach der Edition in CSEL, mahar nach Mignes Patrologie. 167 Die Stelle wird im Targum Onkelos mit !"#$ %&' (#$& und in TN mit !"#$% &'() *#%' oder mit !"#$% [!"#$%] !"# $%&'( beyômâ h!d"n ûlm!!ar in TN Gen 30,33 wiedergegeben. 168 In den hebräischen und aramäischen Qumrantexten ist ptgm gut belegt (4Q161 5_6 10; 4Q533 3,3; 11Q10 9 2; 11Q10 29 4 u.a, das Wort skwm dagegen nie. 169 ptgm ywm bymyh/bywm! ist eine idiomatische Redewendung, die in den Targumim gut belegt ist und hebr. dbr ywm bywmw „die Ration des Tages (jeweils) an seinem Tag“ tradiert. Siehe dazu auch J. POUILLY, Dieu notre Père (Cahiers-Evangile 68), Paris 1989, 45. 170 Die gesamten Belegstellen sind: Ex 5,19; 16,4; Lev 23,27; 1Kön 8,59; Jer 53,34, Dan 1,5. 171 Das Substantiv sekôm „die nötige Ration < das Gezählte, Nötige“ < !"# „zählen, zuerkennen“ kommt in QA nicht vor, das Wort ist in den Targumim jedoch belegt; s. M. JASTROW, Dictionary, 991: „to count, muster, agree, to approve“. 172 Wörtlich: „Tag für Tag“, s. dazu MT zu Ex 16,4: !"!#$% !"#$%&' )( ; LXX: 12 1;0 5#6%)0 $<0 5#6%)'. 173 .$,%?!> „in Versuchung führen“, vom selben Wortstamm wie in der Bitte um Abwehr von Versuchung (.$,%)!#A0) in Mt 6,13 und Lk 11,4.
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doppelt so viel sein, wie sie sonst Tag für Tag gesammelt haben (LXX: !" #$%& 175 '()*$+174 ,-. ' ()*$+; TO: yôm yôm; TpsJ: yômâ w eyômâ; Sy: deyaumo beyaumo).“
Vermutlich entspricht /0123412. (05 + 2645$) dem Wort pitg!m 176 (Dekret, Entscheidung, Sache, Bedarf, Wort) und spielt an das Einsammeln der täglichen Ration himmlischen Brotes (des Manna) an, und die Redewendung l!m! mn "my! … ptgm ywm bywmh aus Ex 16,4 stellt einen eindeutigen Bezug zur Brotbitte des Vaterunsers dar. Dieses Brot 177 wird im AT mehrheitlich als „Brot des Himmels“ (l!m mn h"mym) bezeichnet (und viel seltener bei seinem Eigennamen Manna) und bedeutet nicht nur Brot im engen Sinn, sondern ganz allgemein Nahrung in den westsemitischen Sprachen, und im Aramäischen auch „Festmahl“ und ist wohl eschatologisch zu verstehen, wenn man bedenkt, dass „Tag für Tag“ auch das Kommende beinhaltet. In diesem Sinn wird im Midrasch Genesis Rabbah das himmlische Brot, das Manna, als Lebensbrot für die messianische Zeit verstanden (BerR 48,10). Die von Pierre Grelot vorgeschlagene Version178 nimmt zwar den Wortlaut von Ex 16,4 auf, gibt aber der Variante sekôm (!"#$)179 aus TN den Vorzug,180 ein Wort, das im Qumranaramäischen allerdings nicht
174
Der Ausdruck !" #$%& '()*$+ ,-. '()*$+ bezeichnet Handlungen, die sich Tag für Tag abspielen, wie die tagtägliche Opferdarbringung oder eben das Einsammeln des Manna-Brotes in der Wüste während des Auszugs aus Ägypten (2Chr 30,21; 1Es 6,29; Spr 8,30, Ex 16,4). Auch in Lk 11,3 führt das Syntagma !" #$%& '()*$+ zur Brotgabe in Ex 16,4–5, wo dasselbe Syntagma ebenfalls mit „Tag für Tag; jeden Tag“ und „täglich“ steht. Auch in TO zu Levitikus 23,37 wird die täglich vorgeschriebene Menge mit pitg!m yôm beyôm#h übersetzt (TN mit skwm ywm bywm!). Die Redewendung #$%& '()*$+ der griechischen Übersetzung der LXX zu Lev 23,27 entspricht wiederum dem Ausdruck „jedes an seinem jeweiligen Tag“ des VU der lukanischen Version in Lk 11,3: „Dies sind die Festzeiten des HERRN, die ihr ausrufen sollt als heilige Versammlungen und an denen ihr dem HERRN Feueropfer darbringen sollt, Brandopfer und Speiseopfer, Schlachtopfer und Trankopfer, jedes an seinem Tag (!" #$%& '()*$+ [,-. '()*$+]); TO: pitg!m yôm beyôm#h; TN sekôm yôm beyômâ.“ Im NT kommt die kürzere Variante 2x vor (Lk 11,3 und 19,47): !" #$%& '()*$+ vor, vielleicht weil der matthäischen und lukanischen Version doch eine gemeinsame Vorlage zu Grunde liegt, die yoma dena wäre. 175 In TN zu Ex 5,13; 16,4; 23,37 lautet die alltägliche Portion skwm ywm bywmyh. 176 MT: d787r. S. Anm. oben. 177 Ex 16,4; Neh 9,15; Ps 78,24; 105,40; Jes 55,10. 178 P. G RELOT, L’arrière-plan araméen du ‚Pater‘, RB 9 (1984) 531–556: 555. Siehe dazu die Synopse im Anhang. 179 Grelot übersetzt: dîskom yôm yômâ „das tagtäglich Gezählte/Rationierte“ < skm „to count, muster, agree, to approve“, s. JASTROW, Dictionary, 991. Siehe im Anhang die Synopse. 180 So auch in Neofiti zu Ex 5,13; 16,4.5; 23,37; Ex 5,1.
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belegt und mit TO und Qumran zu ptgm zu berichtigen ist.181 Diese Version könnte der Auffassung des Hieronymus entsprechen, der 182 !"#$%$' von $(&)* abgeleitet hat. Die Brotbitte der matthäischen Version (Mt 6,11) schließt mit &+,-.$/ ab, was mit „heute“ übersetzt wird, und dem Targumaramäischen ywm! 183 dyn (TO; in TN mit ywm! hdyn) „an seinem jeweiligen Tag/an besagtem Tag“ entspricht. Im Reichsaramäischen und in QA entspricht dies dem Ausdruck ywm! dnh (1QapGen XX,30) oder ywm! dn, einer späteren Form 184 (1QapGen XXI,5). Auch dieser Ausdruck führt wiederum zu Exodus und der Gabe des „himmlischen Brotes“: „Mose sagte: Esst es [das himmlische Brot] heute (LXX &+,-.$/; aram.: ywm! dyn), denn heute (LXX &+,-.$/; aram.: ywm! dyn), ist ein Sabbat für den HERRN! Heute werdet 185 ihr auf dem Feld nichts finden.“ (Ex 16,25). Gewöhnlich steht (&+,-.$/ 186 für ywm! dyn steht, der Ausdruck 01 2*34 5,6.*/ (N.acc. < 5,6.*) hat 181
S. P. G RELOT, L'arrière-plan du Pater, 546; in einer anderen Studie schließt Grelot die Variante pitgam yom yomeh mit TO aber nicht aus und verweist eben auf QA (s. P. G RELOT, La quatrième demande du ‚Pater‘ et son arrière-plan sémitique, NTS 25 [1978/79] 299–314: 306). 182 Hieronymus übersetzt !"#$%$' in Mt 6,11 mit panis supersubstantialis (< epi = super und ousios = substantialis), in Lk 11,3 jedoch mit panis cotidianus. Die unterschiedlichen Übersetzungsversuche von Hieronymus beweisen, dass es ihm unmöglich war, die semitische Redewendung wörtlich zu übersetzen. Die Version der Vetus Latina zu Lk 11,3 spiegelt die zugrunde liegende aramäische Vorlage besser wider und ist wohl nicht aus dem Bibelgriechischen übernommen, da sie offensichtlich die aramäische Redewendung yôm beyôm!h widerzugeben versucht: panem nostrum cottidianum da nobis hodiecottidie „unser tägliches Brot gib uns heute jeden Tag/täglich“, s. A. JÜLICHER/W. M ATZKOW/K. A LAND (Hg.), Itala. Das Neue Testament in altlateinischer Überlieferung nach den Handschriften: Lucas-Evangelium, Bd. 3, Berlin/New York 1976, 127. Die kürzere Variante: panem nostrum cottidianum da nobis hodie zu Mt 6,11 entspricht hingegen offensichtlich dem griechischen Text, s. W. M ATZKOW/K. A LAND (Hg.), Itala. Das Neue Testament in altlateinischer Überlieferung: Matthäus-Evangelium, Bd. 1, Berlin/New York 1938, 31. Mehr zur Übersetzungsproblematik bei A. H AMMAN, Le Pater explique par les Pères, Paris 1952; D ERS., Le Notre Père dans l’Eglise ancienne, Paris 1995. 183 So in Gen 7,13; 17,23; 30,33 etc. 184 In QA ist das Demonstrativpronomen hdn (hdyn), eine spätere Form des klassischen dnh < znh, nur zweimal belegt; die gängige Form in QA ist dn, s. U. SCHATTNER-R IESER, L’Araméen des manuscrits de la mer Morte, Lausanne 2004, 62–63. Zur Erhaltung des Reims gebe ich der klassischen Form den Vorzug. 185 Das mit mehr als 300 Beispielen belegte &+,-.$/ bezeichnet im MT einen bestimmten Tag, einen auserwählten Tag und übersetzt durchgehend den Ausdruck hayyôm „diesen/jenen Tag; einen bestimmten Tag > heute“ (s. Gen 19,37; 31,46) und entspricht in den Targumim yômâ d!n (!"#$ % '& (") oder hebräisch yôm yôm „Tag für Tag“ (s. Ex 16,5). 186 Im MT bezeichnet 5,6.* einen bestimmten Tag (Gen 2,7; Ex 12,17; 16,4) oder den Tag (die Tageszeit) im Gegensatz zur Nacht (Gen 1,5; 8,22; 16,5). In der LXX steht
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jedoch nur gelegentlich diese Bedeutung und steht vielmehr für ywm! wywm! „Tag für Tag, täglich“. Übersetzt man die griechischen Versionen der neutestamentlichen Brotbitte wörtlich ergibt sich ein langer, redundanter Satz, der mit der syrischen Version aber in der Urfassung tatsächlich kürzer gewesen sein und sich aus der aram. Fassung Gen 47,15 und Ex 16,4 zusammensetzen 187 könnte, nämlich: ha! lanâ la"manâ pitg!m yôm beyômâ. Leider entspricht der Wortlaut der syrischen Version zu Ex 16,4188 nicht genau dem Wortlaut der neutestamentlichen Brotbitte in Mt 6,11189 und Lk 11,3, 190 aber interessanterweise entspricht die syrische Version von Mt 6,11 der Targumversion zu Ex 16,4 (und ist identisch mit TN, mit snqnn für skwm). Wie schom erwähnt gibt Grelot, der eine ähnliche Übersetzung vorschlägt, skwm „Menge, Ration“ anstelle von ptgm den Vorzug. Da skwm zwar in den Targumim mehr als zehnmal belegt ist, aber in den Qumrantexten nie begegnet, gebe ich ptgm den Vorzug, doch ist nicht auszuschließen dass 191 skwm zur Zeit Jesu Verwendung fand. Zur Erhaltung des Reims im VU ist auf jeden Fall die Rückübersetzung pitg!m (oder sekôm) yôm beyômâ (!"#$% $ '() der Redewendung yôm beyôm"h (Tag nach seinem Tag) zu bevorzugen wie z. B. in yôm weyômâ in TpsJ zu Ex 16,4 (!"#$# !"#$). das Syntagma !" #$%& '()*$+ für MT ywm ywm, aram. ywm! dnh „heute“ (Dtn 10,15; Dan 9,7); „jenem bestimmten Tag“ oder „jeden Tag“ und Lk 11,3 und führt ebenfalls zur Brotgabe in Ex 16,4–5, wo dasselbe Syntagma für „jedes an seinem Tag“ steht. Im Zusammenhang mit der Mannageschichte in Exodus alternieren übrigens semeron und hemera: „Am sechsten Tage (MT bywm, LXX !, '()*- !, .#!/) aber wird’s geschehen, wenn sie zubereiten, was sie einbringen, daß es doppelt so viel sein wird, wie sie sonst täglich (MT ywm ywm, LXX, #$%& '()*$+ 012 '()*$+, TpsJ ywm wywm!, TN skwm ywm bywmyh) sammeln.“ (Ex 16,5) und „Da sprach Mose: „Eßt dies heute (MT hywm, LXX semeron, Tg ywma dyn/ !"#$ % '& ("), denn heute (MT hywm, LXX semeron, TA ! #" $% !"#$) ist der Sabbat des Herrn; ihr werdet heute nichts finden auf dem Felde.“ (Ex 16,25). In Ex 16,4: „Da sprach der Herr zu Mose: Sieh, ich lasse euch Brot vom Himmel regnen, und das Volk soll hinausgehen und sammeln, was es für den Tag braucht (MT dbr ywm, LXX !" !32 '()*$2 012 '()*$+, TpsJ ptgm ywm bywmh, TN skwm ywm bywmyh), damit ich es auf die Probe stellen kann, ob es nach meiner Weisung lebt oder nicht.“ (Ex 16,4). 187 Jean Starcky schlug dieselbe Version vor, allerdings auf Hebräisch, s. P. G RELOT, La quatrième demande, 305. 188 Nämlich: l"m! mn smy! … m!kwlt! dywm! bywm! „Siehe ich will euch Brot vom Himmel regnen lassen … die Nahrung für den täglichen Bedarf“. 189 Das ntl. 4*!52 67859:852 wird im Syrischen mit l"m! dswnkqnn ywmn! (Mt 6,11) und l"m! dswnkqnn klywm (Lk 11,3) übersetzt. 190 Syr. Mt 6,11: h! ln l"m! dswnqnn ywmn! versus TN zu Ex 16,4: l"m … skwm ywm bywmyh. Die syr. Fassung der Brotbitte ist offensichtlich von Ex 16,4 inspiriert, allerdings in einer Version, ähnlich dem TN. 191 P. G RELOT, La quatrième demande du ‘Pater’ et son arrière-plan sémitique, 306– 310: la"mánâ dî sekôm (oder: pitg!m) yôm / hab lánâ beyôm"h (oder: beyômâ).
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Der Bezug zur himmlischen Brotgabe der Exodusgeschichte, v.a. Ex 16 192 ist evident und m.E. für die Rekonstruktion des Vaterunsers nicht nur zu berücksichtigen, sondern philologisch zu bevorzugen. Schon in Dtn 8,3 193 symbolisiert das himmlische Brot „Manna“ das Wort Gottes. Die Auslegung des Mannawunders, welches sich in der messianischen Zeit wiederhole und den Gerechten in der kommenden Welt ewiges Leben spendet, ist in der jüdisch-rabbinischen und apokryphen Literatur gut 194 vertreten (z.B. Weish 16,20–28; 2Bar 29,3–8). f. Die Schuldenvergebung: !"#$#%& !"'$( !"#"! $! !" #$% #&!'() #&* +',( Mt 6,12: !"# $%&' ()*+ ,- .%&/01)"," ()2+, 3' !"# ()&*' 4%1!")&+ ,5*' .%&/06,"/' ()2+ 195 e e e e PA: û! !uq lánâ "ô!ênâ k mâ dî [!af !ana"nâ] ! !aqnâ l "ayy"!ânâ Lk 11,4: !"# $%&' ()*+ ,-' 7)"8,9"' ()2+, !"# :-8 ";,5# 4%95)&+ <"+,# .%&905+,/ ()*+· !"# )= &>?&+6:!@' ()A' &>' <&/8"?)B+ e e e e PA: û! !uq lánâ "ô!ênâ k mâ dî !af !ana"nâ !a qîn l ol "ayy"!ânâ Parallelen: Tg zu Num 14,19 (!!oq k"#an l""o!ê … k"mâ di!"!aqtâ); Ex 34,9 (wt!bwq l"wbyn!); Jes 53,5 ("wbn! y!tbwq ln!);); Jes 53,12; 2Chr 6,26; Lev 5,26; Ex 32,32; 34,7.9; QA; Mk 11,25: Und wenn ihr steht und betet, so vergebt, wenn ihr etwas gegen jemanden habt, damit auch euer Vater im Himmel euch vergebe eure Übertretungen.
Das Vokabular birgt keine Schwierigkeiten: Wir haben in QA alles, was wir für eine sichere Rückübersetzung benötigen: die zu vergebende (!bq) Schuld ("wb) und die Schuldner oder Schuldiger ("yb). Der erste Teil der Bitte ist in allen Rückübersetzungen identisch. Das Verb !bq „lassen, verlassen, erlassen, vergeben“ ist in den Targumim und den aramäischen Texten von Qumran gut belegt und entspricht griechisch 196 4%9C)/. Die Wurzel !bq im Sinne von „(ver)lassen, erlassen“ kommt auch im neutestamentlichen &0D/ &0D/ 0&)" ?"E"FG"+/ (Mk 15,34 und Mt 27,46) vor. Selbst die unterschiedliche Übersetzung hinsichtlich der Wörter .%&/01)"," „Schulden“ und 7)"8,9"/ „Sünden“ birgt keine 192
Weiter dazu J. C ARMIGNAC, Recherches sur le „Notre Père“, Paris 1969, 192–196. „Und er demütigte dich und ließ dich hungern. Und er speiste dich mit dem Manna, das du nicht kanntest und das deine Väter nicht kannten, um dich erkennen zu lassen, dass der Mensch nicht von Brot allein lebt. Sondern von allem, was aus dem Mund des Herrn hervorgeht, lebt der Mensch.“ 194 Vgl. die ausführliche Darstellung bei J. C ARMIGNAC, Recherches sur le „Notre Père“, 196–200. 195 Der Zusatz !af !ana"nâ ist mit dem Perfekt nicht notwendig und fügt nur eine emphatische Nuance bei. 196 Die Wurzel !"# entspricht griechisch 4%HC)/ impf. I%/5+; fut. 4%1?D; 1 aor. 4%J!"; der Imperativ 2. P.m.sg. #bwq gr. aor. $%&'. 193
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Schwierigkeit, denn es handelt sich um ein und dasselbe aramäische Wort, 197 nämlich !ô" (!"#) oder !ô"âh, das sowohl für Schuld oder Sünden, und allgemein für jegliches Verschulden steht und nicht die Geldschuld allein 198 bezeichnet, wie Jeremias meinte. In dieser Bedeutung ist es sogar selten belegt. Das Substantiv „Verschulden, Schuld“ erscheint in QA insgesamt 199 fünfmal, davon dreimal als maskulines Nomen !ô" (!"#) und zweimal 200 als feminines Nomen !ô"âh (!"#$) . Der erste Teil ist bei Mt und Lk identisch und lautet wörtlich nach dem Griechischen: û!e"uq lánâ !ô"ênâ. Die Konstruktion mit dem Dativ ethicus lánâ ist zwar nicht nötig, wie es die targumischen Parallelen bestätigen, aber in QA gut belegt: w!#!y !bq lh gzr „meine Sünden erließ ein Exorzist“ (4Q242 f1_3,4) und w!bq lhwn !#!hwn „und er erließ ihnen ihre Sünd(en)“ im Qumrantargum zu Hiob 38,23 (11Q10[11QTgJob] XXXVIII 3). Hier wird wie im Vaterunser das Subjekt durch die Partikel l(lhwn) hervorgehoben und wiederholt (!#!hwn). Eine derartige Konstruktion verwendet nur einmal die Präposition l-, welche die Akkusativ201 ergänzung des Verbs !bq einführt, obwohl es aber zahlreiche Vergleichsstellen in den Targumim gibt und alle dieselbe Struktur aufweisen: in TO zu Ex 34,9 findet sich die perfekte Entsprechung zum VU mit dem Unterschied, dass statt dem Imperativ ein Imperfekt Qal 2.p.m. steht und das Subjekt nur als Suffixpronomen am Nomen angefügt ist: wt!bwq l!wbn! ( !"# %$ &'() !"! "! $# !%) wl!#!n! „und erlasse unsere Schuld und 202 unsere Sünden“; auch der Imperativ ist gut belegt: !bwq l!wby (!"#$" 203 !"#$%) „erlasse meine Schuld“ (Ex 10,17 und Gen 50,17).
197 Das aramäische Substantiv !wb übersetzt hebr. !$%mâ „Sünde“ (Lev 4,3), ""wôn „Schuld“ (Num 14,19; Ps 25,11), !##/!a#a!t „Sünde, Vergehen“ (1Sam 15,25; 1Kön 18,34) und pe!a" „Vergehen“ (1Sam 25,28); in der Bedeutung „Pfand; Obligation“ kommt das Wort nur in (Ez 18,7) vor. 198 J. JEREMIAS, Abba, 159. 199 Als mask. Nomen: 11Q10[11QTgJob] XXIX 4; in 4Q537 [Apocryphon of Jacob] f6 1 und 4Q534 [Elect of God] f1 ii+2,16 (20) kommen im selben Satz die Worte Sünden (!#!) und Schuld (!wb) vor. 200 lm!zy! kl !wbt !yby "lmyn „um zu schauen alle Schuld der Schuldigen/Schuldner der Welt“ in 4Q[TQahat]542 f1 ii,6 und der stat.con. sing. !wbt! „die Schuld“ in 4Q213 [Aramaic Levi.a] f4 3. 201 So auch in der syrischen Pshittaversion: w!bwq ln !wbyn. 202 Weiter in TO Ex 10,17; TJ zu Jes 53,4.12; sowie in den Targumim zu Num 14,19: ! #" %$ &'()*+, !"# "! #$! #" „erlasse/vergib nun die Schulden des Volkes“; TJ zu 2Chr 6,27 !"#$%" !"#$%& „und vergib die Schulden“, vgl. TO Ex 10,10, TgN 50,17 + TgO 50,17; TJ zu 2Ch 6,27 findet sich !"#$%& !"#$%" „und vergib die Sünden“. 203 Ebenso in TJ zu 1Sam 15,25: !"#$%&' ()* +& ,$# -& ()*+. „und nun vergib meine Sünde“; TO zu Ex 10,17; TJ zu Jes 53,12; die Targumim zu Num 14,19: ! #" %$ &'()*+, -$% .+ /)( 0+ „erlasse/vergib nun die Sünden des Volkes“.
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Auch zu dieser Bitte gibt es wiederum einen Bezug zum Auszug aus Ägypten im Zusammenhang mit der Sünde des Volkes und dem goldenen Kalb: „Doch jetzt erlasse du ihre Schuld (!bqt l!wbyhwn)! Wenn nicht, dann streich mich aus dem Buch, das du geschrieben hast.“ (TO Ex 32,32). Der 2. Teil der Bitte ist unterschiedlich wiedergegeben bei Matthäus und Lukas, und zwar hinsichtlich der Morphosyntax: Anstelle des Perfekt !"#$%&'( (aram.: !bqn!) „wir haben vergeben“ in Mt 6,12, hat Lukas ein Präsens !")*&'( (aram.: !bqyn) „wir vergeben“. In Anbetracht der Targumformulierung in TO Num 14,19 erscheint die matthäische Version authentischer und scheint den ursprünglichen aramäischen Wortlaut kemâ dî "e#aqnâ le!ayy$bânâ bewahrt zu haben. Das Perfekt !bqn! könnte von Lukas anders verstanden worden sein, nämlich als Resultativum. Zugegebenermaßen ist diese Erklärung nicht sehr zufriedenstellend, auch nicht die Erklärung, dass es sich um einen kleinen Schreibfehler für !bqyn handelt, 204 oder ein Präsens mit enklitischem Personalpronomen !"beqîn-nan. Diese Form ist ein spätes Phänomen, gängig im Syrischen, aber im palästinischen Aramäisch nicht vor 130 n. Chr. und erstmals in einem Brief Bar Kochbas belegt.205 In der LXX wird hebräisch k!!r gewöhnlich mit $%+ ,-. übersetzt und 206 in den Targumim wiederum mit !arûm (!rw in QA) oder !ûf wiedergegeben; /0 $%í oder $%+ /0 tradiert im AT die hebräische Partikel k- und 207 k!!r, was die Targumim mit k- oder mit kmh/! d- oder hykmh übersetzen, wobei die letztere Variante manchmal den Komparativ „wie-(so) auch“ tradiert; $%í alleine gibt auch hebräisches gam und !af wieder. Da dy an und für sich schon kausale Bedeutung haben kann, kommen als mögliche 208 209 Partikel im Vaterunser km!/h dy oder kdy in Frage. Die Lukasvariante
204 Grelot (L’arrière plan araméen du Pater, 548) erwähnt diese Möglichkeit mit einem großen Fragezeichen. 205 S. U. SCHATTNER-R IESER, L’Araméen des manuscrits de la mer Morte, Lausanne 2004, 72 (b. Les participes). 206 Zur begründenden und kausalen Bedeutung der Partikel bdyl, !rw und !pw, s. U. SCHATTNER-R IESER, L’Araméen des manuscrits de la mer Morte, Lausanne 2004, 96–97 und 100; mehr zur Bedeutung der Partikel kmh/!, !p und !pw, T. M URAOKA, A Grammar of Qumran Aramaic, 92. 207 Z.B. Num 2,17; 15,15; 18,30; Ri 9,48; 2Chr 32,19. 208 In den QA-Texten ist der Komparativ kmh zwar oft belegt, allerdings nie gefolgt von der Relativpartikel dy (so auch in BA) und auch nicht im Sinne der Targumanwendung, aber dies schließt nicht aus, dass kmh dy wie in den Targumim mit kausaler Bedeutung verwendet wurde 209 Siehe dazu T. M URAOKA, A Grammar of Qumran Aramaic, 94 und den Eintrag kdy „so as“ in 1QapGen XXII,33 und in den Handschriften von Na1al 2ever.
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Das Aramäische zur Zeit Jesu, „ABBA!“ und das Vaterunser 210
benötigt zusätzlich die Partikel !af, die in QA gut belegt ist, um die komparative Bedeutung des Griechischen mit dem Partizip zu erreichen. Die passendste Stelle zum VU, die uns auch als Vorlage für unsere Rückübersetzung dienen soll, findet sich in TO Num 14,19: „Vergib doch die Schuld (!e!oq ke"an le"o!ê) dieses Volkes nach der Größe deiner Gnade und so, wie du diesem Volk vergeben hast (kemâ di!e!aqtâ le"ammâ) von Ägypten an bis hierher!“ g. Und führe uns nicht in Versuchung: !"#$%"& !"#$"% &!' Mt 6,13 und Lk 11,4: !"# $% &'( &)*+!,( -$.( &'( /&01"2$3) e! e e PA: w al t nassînâ b nisyônâ Parallelen: Tg zu Ex 17,7; Ps 66,10; TN Gen 22,1 (nsy … bnsywnyh); Sir 2,1
Das Vokabular dieser Bitte ist im limitierten Wortschatz des QA nur teilweise belegt. Die Wortgruppe „jemanden versuchen/in Versuchung bringen“ ist v.a. als ein „auf die Probe stellen“ (gr. /&01456, 7!/&01456), zu verstehen wie in Dtn 6,16; Jes 7,12. In Matthäus und Lukas wird vom selben Stamm das Substantiv /&01"2$3( verwendet, welches sich häufiger im AT findet, wie etwa in der „Versuchungs-Episode“ von Massa und Meriba in Ex 17,7 oder auch in Sir 2,1 (&'( /&01"2$3)) wie in Mt 6,13 und Lk 11,4. Griechisch /&01"2$3( entspricht hebräisch und aramäisch 211 nissayôn. Die Wurzel nsh „auf die Probe stellen, versuchen“ ist in diversen Verbformen der Qumrantexte belegt, nicht jedoch das Substantiv nsywn oder nsyt!, das in den Targumim geläufig ist. In den diversen Rückübersetzungen wird die Bitte mit dem Verb „hineinführen“ wortwörtlich mit dem Haf!el von "ll „eintreten“ (so Jeremias, Kuhn, Grelot) gebildet. Seit Dalman wird das Verb wörtlich nach dem Griechischen mit lâ oder !al ta"elna(n) übersetzt, obwohl man sich für diese Variante nur auf eine (nicht wirklich entsprechende) hebräische Vergleichsstelle in bBer 60b stützt, nämlich w!l tby!ny l! lydy h#! „und bringe mich nicht in die Nähe (wörtl. in die Hände) der Sünde“. Das Vorgangsverb bw!/"ll bedeutet aber generell ein Hinführen von einem Ort zum anderen und wird im Aramäischen nicht in Verbindung mit „Versuchung“ und „auf die Probe stellen; prüfen; testen“ verwendet. Da in der hebräischen Bibel und den Targumim das Verbum nsh/y ein internes Objekt nisyônâ „in die Sünde/Schuld einzuführen“ hat, und dieses Wort auch in den Targumim belegt ist, erscheint mir die Konstruktion mit dem Verb nsy („versuchen, prüfen, testen, auf die Probe stellen“) und dem 210 Zur Bedeutung und Anwendung von !p siehe T. M URAOKA, A Grammar of Qumran Aramaic, 251. 211 Aber auch dem Ort der Versuchung Massa und wird in LXX als Eigenname 8&01"2$9 belassen (s. Dtn 6,16 und Dtn 9,22).
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internen Akkusativ plausibler. In der Bibel ist es gewöhnlich Gott, der sein Volk „prüft“ und in Versuchung führt, wie z. B. in der Erzählung von der Bindung Isaaks und der Versuchung Abrahams, wo es mit TN zu Gen 22,1 heißt: „und der Herr stellte (nsy) Abraham auf die Probe (bnsywnh)“, ebenso auch in Targum zu Ps 66,10 „Du hast unsere Väter versucht.“ Es kommt aber auch vor, dass das Volk Gottes seinen Herrn herausfordert und „versucht“. Das Wortpaar „in Versuchung führen“ (nsy bnsyn!), auf das ich mich in meiner Rückübersetzung stütze und das mit der Präposition b- gebildet wird, aber bei allen Rückübersetzungen fälschlich mit l- übersetzt 212 wurde, kommt außer in TN zu Gen 22,1 auch in TN zu Dtn 33,8 (dnsyth … bnsywnh), im Fragmententargum zu Ex 15,25 und im Targum zu Hld 7,9 vor. An der letztgenannten Stelle wird auf die Genesis Bezug genommen wird: „und ich führte Daniel in Versuchung (w!nsh), um zu sehen, ob er der Versuchung standhalten (lmqm bnsywn!) kann, wie Abraham den zehn Versuchungen standhielt.“ Theoretisch könnte man „uns“ betonen und den dativus ethicus lánâ einfügen: we!al tenassî lánâ ( !"# (!")!"#$ %&') „und uns, führe uns nicht in Versuchung.“ Doch ist dies hier nicht notwendig, und m.E. ist die simple Suffigierung zu bevorzugen. Dieser Wortlaut findet sich in T2Est 5,1 in Verbindung mit der Versuchung Abrahams (der seinen Sohn opfert). Wieder finden wir in der Exoduserzählung mehrere passende Stellen zu „in Versuchung führen“, die mit dem Verb !"#/!"# „versuchen“ verbunden sind, so z. B. in TO Ex 20,20, wo Gott das Volk bei den Wassern von Mara „versucht“, d.h. auf die Probe stellt: „dort versuchte (ns!h) er [der Herr] es (das Volk Israel)“. Eine weitere Stelle im Zusammenhang mit den „Wassern von Massa und Meriba“ findet sich in Ex 17,7 „weil die Israeliten dort gehadert hatten und den HERRN versucht hatten“. Auch in TO Ex 16,4 (ein Vers, der schon die Brotbitte des VU inspirierte) führt Gott das Volk in Versuchung, d.h. er stellt es auf die Probe: „Da sprach der HERR zu Mose: Sieh, ich lasse euch Brot vom Himmel regnen, und das Volk soll hinausgehen und sammeln, was es für den Tag braucht, damit ich es auf die Probe stellen kann, ob es nach meiner Weisung lebt oder nicht.“ h. Bitte um Erlösung: !"#!$ %& !'#() !*! Mt 6,13: sondern erlöse uns von dem Bösen. Gr: !""# $%&'( )*+, !-. /0% -01230% PA: !ellâ pe!înâ min be!î!â Parallelen: 11QTgJob XIV 6; 1QapGen XXII,11; Tg zu Ps 119,153
212
Dafür gibt es keine Belege.
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Der Schlusssatz kommt nur in Mt 6,13 vor – die Rückübersetzung an sich ist nicht schwierig. Die adversative Partikel !""# hat als aramäisches Äquivalent das ähnlich klingende !ellâ. Welches aramäische Verb hinter dem gr. $%&'() „erlösen, erretten“ steht, ist nicht mit Sicherheit zu bestimmen. In den Targumim gibt es drei Entsprechungen für $%&'()): p!y, prq und !yzb. Meine Analyse ergab, dass in den QA-Texten nur p!y und einmal das Verb !zyb mit der Bedeutung „erretten, erlösen“ belegt ist: im Targum Hiob aus Qumran: „siehe, ich habe den Armseligen erlöst“ (!zybt) 213 (11QTJob XIV,6). Mit der Wurzel p!y gibt es allerdings treffendere Parallelen p!yhy „er erlöste ihn“ in 11Q10 (11QTgJob) XVI,1; 11Q10b XXIII,1 und p!!hy mn "bl! „er erlöste ihn vom Übel“ in 11Q10 XVI,1; p!! „er rettete“ 1Q20 (1QapGen) XXII,11. Unter der Berücksichtigung der Häufigkeit sowie der wahrscheinlich intentionellen Alliteration (Labial214 laute b/f, Zischlaute !/z, î-Laut) ist die Wurzel p!y im Vaterunser zu e e bevorzugen und der Satz mit: !ellâ p !înâ min b !î!â zu übersetzen.
VI. Zusammenfassung Die hier vorgeschlagene Rückübersetzung des Vaterunsers stützt sich in Vokabular und Morphologie auf das qumranaramäische Material und die dem Vaterunser korrespondierenden Formulierungen der palästinischen Targumim. Man könnte dagegen argumentieren, dass die Qumrantexte selbst kein homogenes Korpus darstellen und dass sich das literarische Aramäisch wohl vom alltäglichen Sprachgebrauch unterschied, doch sollte man den Unterschied nicht zu sehr betonen, da geschriebene Texte in einem gewissem Maße immer literarisch sind. Der hier gebotene Konsonantentext entspricht sicher weitgehend der aramäischen Urform. a) Sprachlich ist zu bemerken, dass das Vokabular des Vaterunsers mit 215 Ausnahme der Wurzel nsy „versuchen; testen; prüfen“ zur Gänze im palästinischen Aramäisch der Qumrantexte der Zeit Jesu belegt ist (1. Jh. v.– 216 1. Jh. n. Chr.), es unterscheidet sich deutlich vom späteren galiläischen 213
P. Grelot schlägt außerdem das Verb n. im Haf!el vor; zum einen kommt es aber nur in 1QapGen XIV,16) vor, und zum anderen bedeutet es mehr „entreißen“. 214 Im AT übersetzt aram. p!y die hebräische Wurzel n!l (Ps 7,2; 39,9; 140,2, u.a.). 215 Die Wurzel nsy „testen, prüfen, auf die Probe stellen; versuchen“ ist allerdings gut im Qumranhebräischen belegt und die Absenz in den aramäischen Qumrantexten ist wohl zufällig. 216 Diese Texte sind nicht in einem homogenen Aramäisch geschrieben und sind zum Teil Kopien viel älterer reichsaramäischer Texte, weisen aber doch gemeinsame Charakteristika auf und sind allesamt Vertreter der ausklingenden reichsaramäischen Phase. Dialektale Entwicklungen finden sich v.a. in den späten Texten, wie z. B. 11QTgJob (1. Jh. v. Chr.) und 1QapGen (1. Jh. n. Chr.). Auch der konsonantische Text des Targum
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Dialekt, der Joachim Jeremias und auch schon Gustaf Dalman zur Rekonstruktion des Vaterunsers diente. Die hier vorgeschlagene morphologische Struktur nach dem QumranAramäischen ergibt ein einheitliches Bild hinsichtlich der Beibehaltung 217 oder Kürzung der Auslautvokale, die durch die Pleneschreibung oder die 218 Absenz von matres lectionis bestätigt wird, der selbständigen Relativ219 partikel dy, etc. sowie der vokativischen Bedeutung des status emphaticus. Dies impliziert, dass der Anrede Abba definitiv eine respektvolle Deutung zukommt, diese ist mit „Vater!“ wiederzugeben, wohingegen die „Väterchen, lieber Papa“-These endgültig widerlegt ist. 220 Wie schon Kuhn bemerkte, zeichnet sich das Vaterunser durch Endreim und Vokalassonanz aus. Den bisherigen Beobachtungen hinzufügen kann ich hier eine auffällige konsonantische Alliteration in den Wir-Bitten, durch die die Labiallaute m und p in (e) der Brotbitte, die Kehl- und Gaumenlaute q und ! in (f) der Bitte um Schuldenvergebung, die Dentalund Sibilantlaute n und s in (g) der Abwehr um Versuchung und die Liquidae und Labilallaute l, n, m, p, b in (h) der Bitte um Erlösung. Die reimartige Volkalassonanz der Endlaute auf -â, -nâ und -ak ergibt sich ganz natürlich aus dem palästinischen aramäischen Dialekt der Zeit Jesu, wo der status determinatus oder emphaticus auf -â endet und die das Suffixpronomen der 2. Person m. sg. schon lange von *-kâ zu -a" gekürzt war, das Suffixpronomen der 1. Person pl. jedoch noch auf -nâ lautete, wie es Kuhn und Grelot richtig wiedergegeben haben – im Unterschied zu Jeremias, der aufgrund seiner Option für das späte galiläische Aramäisch die späte Form -nan und -ain für die Suffixpronomen der 1. Person pl. annahm. Die seltene Passivkonstruktion yitqadda! ist nicht als simples passivum divinum zu klassifizieren. Onkelos gehört diesem Stratum an, wie auch überhaupt Kernteile der palästinischen Targumim. 217 Anders steht es mit den Inlautvokalen, die in den Aramaismen des NT offensichtlich noch erhalten waren (s. SCHATTNER-R IESER, L’araméen des manuscrits de la mer Morte, 48–49), aber der Text des Vaterunsers ist so formuliert, dass sich im Falle der Beibehaltung von Vollvokalen in den Vortonsilben und den Präpositionen nur minimale Abweichungen ergäben und dies den Endreim nicht beeinflussen würde. 218 Dies gilt für die Pronominalendung -na „wir; von uns“ und beschränkt, aber für poetische Zwecke gerechtfertigt, auch für das Demonstrativpronomen dnh/dn!, auch wenn die Kurzform dn im Qumran-Aramäischen besser belegt ist. Das Suffixpronomen der 2. Person m. sg. ist im Qumran-Aramäischen defektiv geschrieben und endet auf -k (-a"). 219 Die Relativpartikel dy dominiert im Qumran-Aramäischen, die spätere proklitische Form ist selten und findet sich v.a. in 1QapGen, einem der spätesten im aramäischen Texte aus Qumran (1. Jh. n. Chr.). Vgl. dazu SCHATTNER-R IESER, L’araméen des manuscrits de la mer Morte, 65. 220 K UHN, Achtzehngebet, 80.
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Auffallend ist der starke Bezug der Formulierungen des Vaterunsers zu targumischen Formulierungen im Zusammenhang mit dem Aufenthalt Israels in Ägypten und mit der Exodusgeschichte – wobei neben der eigentlichen Exoduserzählung (Ex 15–17) auch andere, auf den Exodus zurückblickende Passagen wie Jes 63,7ff oder 1Chr 29,10–18 als Bezugspunkte fungieren. b) Das Gebet ist sehr strukturiert und poetisch ein Meisterwerk, das sich von anderen jüdischen Gebeten trotz seiner Kürze, durch seine Prägnanz und Aussagekraft unterscheidet. Das VU wird zwar nicht mit der BerîkhFormel „Gepriesen bist du“ eröffnet, inhaltlich beinhaltet der erste Teil – von der Anrede bis zu den Du-Bitten – jedoch alles, was eine „volle Berakha“ persönlicher Gebete zu beinhalten hat: den Gottesnamen (hier Abba), die Heiligung des Gottesnamens, Erwähnung des Königtums Gottes221 und die Willensbitte.222 Die Anrede in der 2. Person ist charakteristisch für die spätbiblischen und apokryphen Berakhot der intertestamentarischen Literatur.223 Dieser erste Teil fungiert als Eröffnungsberakha, welche zur eigentlichen Sache führt: dem Bittgebet, im Vaterunser also die Wir-Bitten. Eine abschließende Formel fehlt in der lukanischen Fassung, wogegen die Doxologie der matthäischen Version einen geschlossenen Rahmen bildet und der rabbinischen Liturgiepraxis ähnelt.224 Sachlich verbindet das Vaterunser in einzigartiger Weise die göttliche und menschliche Dimension, Gott und Mensch, Himmel und Erde, Verheißung und Erfüllung, Versuchung, Schuld und Schuldvergebung. Von der Anrede (a.) des himmlischen Vaters (!a!ûnâ dî !i"mayyâ) an wird mit jeder Bitte der Himmel mehr und mehr auf die Erde ‚geholt‘: der Blick des Betenden geht von oben, wo der himmlische Vater residiert, 225 nach unten auf die Erde, wo dessen Wille wie im Himmel, so auch auf 221 S. bBer 12a und 46a; weiter J. H EINEMANN, Once again Melekh ha Olam, JJS 15 (1964) 149–154. 222 S. bBer 40b; diese an und für sich schon vollständige B erakha ist durch die matthäischen Expansionen „Dein Wille geschehe“ sowie dem, das Universum umfassenden Zusatz „wie im Himmel und auf Erden“ komplettiert zu einem fast standardisierten Modell, welche im rabbinischen Judentum eine volle B erakha (Preis- und Segensformel) privater Gebete beinhalten muss, s. H EINEMANN, Prayer in the Talmud, 157, 161, 180. 223 E. C HAZON, Looking Back: What the Dead Sea Scrolls Teach Us About Biblical Blessings, in: Nora David et al., The Hebrew Bible in Light of the Dead Sea Scrolls, Göttingen, 2011, 155–171, bes. 162 u. 166. 224 Diese Beobachtung betrifft eine Thematik und Stoff für weitere Untersuchungen. In den hebräischen, persönlichen und täglichen Gebeten von Qumran begegnen beide Gebetstypen (mit Einleitungs- und/oder Schlussformel) und kündigen das rabbinische standardisierte Traditionsmodell an, s. E. C HAZON, Looking Back, 170–171. 225 Siehe dazu die ähnliche Schlussfolgerung bei J. FREY, „Wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat ...“ Zur frühjüdischen Deutung der ‘ehernen Schlange’ und ihrer
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Erden geschieht. Gerade die doppeldeutige Passivkonstruktion der ersten Bitte (b.), yitqadda!, führt wie eine Brücke vom himmlischen Vater, der sich selbst als heilig erweist (wie in Ez 36,23) und zugleich auch von den Menschen geheiligt wird, auf die Erde. Die Komplexität dieser Form und ihre beiden Bedeutungen, nämlich „dein Name (du Gott) erweise dich als heilig“ und „dein Name werde (von den Menschen) geheiligt“, wurde oben eingehend demonstriert. Obwohl das passivum divinum im NT besonders häufig Verwendung findet, kann man in diesem Fall nicht wie Jeremias 227 von einem reinen passivum divinum sprechen. Der Weg führt weiter über die dritte Bitte (c.) um das Kommen des Königreichs Gottes und (d.) vierte, rein matthäische Bitte: „dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden“, die ihr perfektes Pendant in Ps 135,6 hat. Die vierte (e.) und erste Wir-Bitte führt nun definitiv auf die Erde mit der Bitte um das tägliche Brot. Dass das Gebet nicht mit einer Doxologie abschließt, erklärt sich aus dem vorerst nicht-liturgischen Gebrauch. Erst von dem Moment an, in dem das persönliche Gebet Jesu vom Privatgebet zum liturgischen Gebet wurde, konnte diese hinzutreten. c) Inhaltlich schöpfen die Formulierungen des Vaterunsers auffällig stark aus Passagen, die mit dem Exodus verbunden sind und die Erinnerung an den Aufenthalt in Ägypten und die Ereignisse im Zuge der Befreiung implizieren. Ganz offensichtlich ist der Exodusbezug ab der Mitte des Gebets und der Brotbitte, aber auch in der Versuchungs-Bitte. Doch greift schon die Anrede Abba in ihrem Bezug auf Ps 89,27ff eine Stelle auf, in der die messianische Hoffnung formuliert wird, und zur anderen zentrale alttestamentlichen Stelle mit der Vater-Anrede in Jes 63,11–16 wird im TJ (zu 63,16) der Ruhmestaten des barmherzige Herrn gedacht, der sein Volk aus Ägypten erlöst hat: „du Herr erbarmtest dich unser so sehr, wie ein Vater für seine Söhne, du hast uns erlöst und dein Name währt ewig“ (m!b "l bnyn prqn! w!mk m"lm). Es wäre lohnend, diese Bezüge noch weiter auszuwerten, was im vorliegenden Rahmen nicht mehr geschehen kann. d) Zur Frage nach der Urform des Gebetes ist grundsätzlich zu unterscheiden zwischen dem persönlichen Gebet Jesu, das er selbst rezitierte, und der Variante, die er seine Anhänger lehrte. Dies kann auch die unterschiedliche Anrede erklären. Jesu selbst wird seinen Vater mit christologischen Rezeption in Johannes 3,14f, in: M. Hengel/H. Löhr (Hg.), Schriftauslegung im antiken Judentum und im Urchristentum (WUNT 73), Tübingen 1994, 153– 205, 167. 226 Diese Vorstellung der Parallelwelten, einer himmlischen und irdischen, tritt in mehreren Qumranhandschriften und insbesondere den Sabbatopferliedern hervor. 227 Zu anderen eindeutigen Konstruktionsmöglichkeiten, s. oben S. 113.
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„Abba“ angeredet haben, die Gemeinde jedoch mit „unser Vater“, und durch die Präzisierung „im Himmel“ unterscheidet sich die Gebetsanrede vom gängigen Ausdruck „unser Vater“, mit dem im NT auch oft Abraham bezeichnet wird (Mt 3,9; Lk 3,8; 16,24.30; Joh 8,39 u.a.). Außerdem ist die Vater-im-Himmel-Formel nicht nur eine typische matthäische Bezeichnung, die elfmal im Matthäusevangelium belegt ist, vielmehr ist die epithetische Beifügung „im Himmel; himmlisch“, wie z. B. „Herr des Himmels und Gott des Himmels“, ein altes und allgemein semitisches Epitheton und seit der Perserzeit in der jüdischen kanonischen und nichtkanonischen Literatur präsent, und der Ausdruck „Vater im Himmel“ ist eine gängige Bezeichnung in der rabbinischen Literatur nach 70 n. Chr. Spezifisch christlich oder jesuanisch ist in den Gebetsformulierungen nichts. Die Formulierungen und Redewendungen, die das Gebet charakterisieren, sind alle in den Targumim teilweise wörtlich belegt. Es handelt sich dabei aber keineswegs um eine simple copy-and-paste-Version, sondern entspricht der jüdischen Tradition, in der man die Bibel auswendig kannte, und zu Jesu Zeit vielleicht eher in ihrer aramäischen Version als der hebräischen. Mit jedem Zitat oder hier mit jeder Bittformel sind zeitgenössische Auslegungen und Gedanken verbunden, wie etwa die messianische Heilserwartung und die Hoffnung auf Gottes Beistand in einer Zeit, in der die jüdische Bevölkerung unter römischer Besatzung lebte. Ein Unterschied zu den targumischen Formulierungen besteht in der Anwendung emphatischer Personalpronomen, die nicht erforderlich sind, aber hier betont insistierend vorkommen (in „gib uns unser Brot“, „vergib uns unsere Schuld“). e) Die diversen Rückübersetzungen sind in den Du-Bitten identisch bis auf die feminine Jussivform (t!ty „es komme!“). Meine Rückübersetzung unterscheidet sich jedoch von den älteren Vorschlägen in den Wir-Bitten. Die Brotbitte wird einstimmig mit der Mannagabe und dem himmlischen Brot in Verbindung gebracht und betrifft das tägliche Brot (!"#$%$'). Meine Variante ähnelt jener von Pierre Grelot228 am meisten, der ein hervorragender Aramaist und Kenner der Qumranliteratur sowie der Targumim war.
228
P. G RELOT, L’arrière-plan araméen du Pater, 546; DERS., La quatrième demande,
306.
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Wie Grelot bin ich davon überzeugt, dass das enigmatische !"#$%$' 230 die Redewendung ptgm229 oder skwm ywm bywmh aus Ex 16,4 (für hebr. dbr ywm bywmw) wiedergibt und beide möglichen Ableitungen von !"#$%$' < !" + ()*+# und < !", + $-&,+) in einer Redewendung vereint. Kuhns Übersetzung ignoriert diese Redewendung und übersetzt somit nur einen Teil, dabei wird !"#$%$* einfach ausgeklammert. Jeremias stützt sich auf eine Notiz des Hieronymus und fügt ein „morgen“ ein, das er im eschatologischen Sinn versteht. Im Unterschied zu Grelot, der !"#$%$' mit der Neofitivariante (TN Ex 16,4) sekôm (Menge, Ration) übersetzt, pitg!m aber nicht ausschließt, gebe ich der TO-Variante pitg!m den Vorzug, denn erstens ist skwm, im Gegensatz zu ptgm in Qumran nicht belegt und zweitens weist Targum Neofiti eindeutig ein späteres Aramäisch auf als Targum Onkelos. Außerdem fügt Grelot die Partikel dy ein, welche in dieser fixen Redewendung nie vorkommt.231 f) Die Schuldenvergebung wird bis auf die komparative Partikel „wie“ identisch übersetzt. Meine Wahl für kmh dy beruht erstens auf der komparativen Anwendung in QA und der identischen Struktur in TO Num 14,19 (kmh d"bqt! l"m!).232 g) Die sechste Bitte formuliere ich anhand der parallelen targumischen Belegstellen anders, denn es gibt keinen Beleg in der jüdisch-rabbinischen Literatur oder den Qumrantexten, nach dem jemand in die „Versuchung einführt“, unter Verwendung eines Verbs der Bewegung (wie "ll). Vielmehr bedient man sich einer gemeinsemitischen Konstruktion, wo Verb und interne Objektergänzung mit derselben Wurzel und diese Ergänzung außerdem immer mit der Präposition b- und dem status determinatus gebildet wird. Die hier unternommene Retroversion ist eine palästinisch-aramäische Version, die dem Urtext des 1. Jh.s nahestehen, aber natürlich nicht beanspruchen kann, das Original widerzuspiegeln. Jede Rückübersetzung ist und bleibt eine Hypothese, und solange wir keinen aramäischen Urtext haben, bleiben die griechischen Versionen allein maßgeblich. Doch kann die Rückübersetzung die Unterschiede zwischen der matthäischen und der lukanischen Vaterunser-Version etwas reduzieren, ohne alle Unebenheiten 229 In dieser gut belegten Redewendung tradiert ptgm immer hebr. dbr und bezeichnet neben der Grundbedeutung „Wort“ auch die hebr. semantische Tragweite nämlich: „Sache, Angelegenheit, Ration“ und ywm bywmh oder ywm bywm! etwas sich wiederholendes, Alltägliches, d.h. „eine Sache, jede an ihrem besagten Tag“. 230 Wörtl.: „jede Sache/Substanz, an ihrem Tag (oder täglich)“. 231 Kein einziges der Beispiele der Formulierung skwm ywm bywmh od. bywm! wird mit dy eingeführt, s. die Tg zu Ex 5,13.19; 16,4.5; Lev 23,37. 232 TN un TJ haben anstelle von kmh d- die komposite Partikel hykmh d-. In QA ist !yk „wie“ einige wenige Male belegt, aber nicht in der komparativen Konstruktion !yk kmhdy, welche dem targumischen hykmh d- entspräche.
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zu glätten. Das hier präsentierte Resultat der philologischen Untersuchung bietet insofern immerhin die Idee eines möglichen Urtextes, und wie Pierre 233 Grelot resümierte, „une idée rapprochante vaut mieux que rien“.
233
G RELOT, L’arrière-plan araméen du Pater, 554.
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Anhang a. Das Vater Unser in Rückübersetzung nach den Erkenntnissen des Qumran-Aramäischen und der Targumim Lk 11,2–4
Mt 6,9–13
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c. Vater Unser – Synopse234 Während das VU in Matthäus den Kern der Bergpredigt bildet (Mt 5–7), kommt es in Lukas außerhalb der Feldrede (Lk 6,20–49) vor. a b c d e
J. Jeremias !"! !"# #$%&' !"#$%& '"("
P. Grelot !"! !"# #$%&' !"#$%& '"("
K.G. Kuhn !"#$ "! "! $# $%& '% (# )* "! $# %&!' )( * $+ , -+
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!Abbâ
!Abbâ
[!A!ûnâ de!i"mayyâ]
b c d
yitqaddá" "emák t$!tê mal%ûtá%
[tihwê re"ût#k k !i"mayyâ k$n be!ar"â]
la&mán delim&ár hab lán joma dén
yitqadda" "em#k t$!tê mal%ût#%
yitqadda" "em#k t$!tê mal%ûtá% e
e
[!Abbâ de!i"mayyâ]
la&mánâ dî sekôm yôm hab lánâ beyôm$h
[tit"a!ed re"ût#% k !i"mayyâ k$n be!ar"â] e
la&mánâ lejôm jômâ ha! lánâ
[od. beyômâ d$n] e
f
u" boq lán &obaín kedi"ebaqnan le&ajjabaín
g
w ela! ta"elínnan lenisjón
h
e
u" boq lánâ &ôbênâ kedî !af !ana&nâ "ebaqnâ lekål &ayy#bánâ w e!al ta""elánâ benisyôn235 !ellâ !a))$lánâ min be!i"â
u"e!uq lánâ &ô!ênâ ke'i"e!aqnâ le&ajj#!ánâ w elâ( taʽelnâ lenisjônâ !ellâ "$z$!nâ min bi"â [od: *#+#nâ]
234
Rekonstruktionen nach: J. JEREMIAS, Abba, 60–61; P. G RELOT, L’arrière-plan araméen du ‘Pater’, RB 4 (1987) 55; K.G. K UHN, Achtzehngebet und Vaterunser und der Reim, Tübingen, 1950, 32–33. Die Ergänzungen in eckigen Klammern [ ] stammen aus der jeweiligen Mt-Variante. 235 Grelot optiert in der Lukasvariante für lenisyôn, in Mt 6,13 dagegen für benisyôn, was den Targumstellen entspricht, allerdings nicht im status absolutus, sondern im status determinatus.
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d. „Vaterunser“ anhand paralleler Targumstellen und QA-Beispielen (keine Rückübersetzung aus den Evangelien) a.
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b.
Vater! (Tg Ps 89,27); Unser Vater! 238 (TJ Jer 2,27); Gott des Himmels. (T2 Est 1,2); Herr des Himmels (1QapGen XI,12-13; XII,17) !"&$
Heilig erweise sich mein Name/Geheiligt werde mein Name 239 !"'$
Gepriesen sei Dein heiliger Name! (Tob 3,11)
c. 240 $ !"(
d.
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Bis komme der König Messias und sein Reich! (TO Gen 49,10) Gib uns Brot! (TO Gen 47,15)
Tg Ps 89,27: „Er rief Mein Vater bist du ( abbâ at), mein Gott und der Fels meiner Rettung!“; TJ Jer 2,27: Unser Vater! ( a ûnâ!); T2Est 3,8 „wir preisen den Gott des Himmels ( â ! emayyâ), 236 der uns Brot und Wasser gibt“ 237; T2 Est 1,2: „wir haben den Willen unseres Vater im Himmel nicht erfüllt [wörtl. gemacht]“; 1QapGen XI,12-13: „Und ich pries den Herrn des Himmels.“ TN Num 20,13 „und er heiligte seinen Namen (wqd! !mh); Lev 22,32: „Entheiliget nicht meinen heiligen Namen (!emî qaddî!â), damit ich mich als heilig erweise [od. damit ich geheiligt werde] ( =weyitqadda! !emî) unter den Israeliten; ich der HERR bin es, der euch heiligt!“ 4Q196 Tobita f6,7=Tob 3,11 „gepriesen sei qaddî!â), dein heiliger Name“ (berî !e ebenso „man preise seinen heiligen Namen“ in 4Q196 Tobita f18,11=Tob 13,3 TO und TN Gen 49,10: „Nicht weiche das Zepter von Juda, noch der Herrscherstab zwischen seinen Füßen, bis komme der König Messias dem das Reich ist und dem die Völker gehorchen werden.“ TO u. TN Gen 47,15: (ha lanâ la mâ); T2Est 3,8 „wir beten zum Gott des Himmels der uns Brot und Wasser gibt“ 241 !"#$
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Hier nicht als Anrede, aber in einem Lobpreis. Die Stelle spielt an den Auszug aus Ägypten an, wo Gott sein Volk bei der Wüstendurchquerung mit Speis und Trank versorgte und somit vor Hunger und Durst bewahrte. 238 Die dreimalige Anrede „unser Vater“ aus MT Jes 63,16; 64,7. 239 In TN findet sich auch: yhwwy qdy! „(er) sei heilig“. 240 TN hat die späte Form der Possessivpartikel dyd-: . 241 Siehe Fußnote 237 und die Erinnerung an den Ägyptenaufenthalt und Exodus. 237
Digitaler Sonderdruck des Autors mit Genehmigung des Verlags
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