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Beeinflusst Die Direkte Demokratie Das Wirksamkeitsgefühl Von Bürgerinnen?

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Beeinflusst die direkte Demokratie das Wirksamkeitsgefühl von BürgerInnen? Laurent Bernhard und Marc Bühlmann Dieser Artikel erscheint in leicht veränderter Form in: Ursula Münch, Uwe Kranenpohl & Eike-Christian Hornig (2015): Direkte Demokratie: Analysen im internationalen Vergleich. Baden-Baden: Nomos. 1. Einleitung Die Einführung von Institutionen der direkten Demokratie ist so aktuell wie umstritten. Die etablierte repräsentative Demokratie verliert weitherum an Vertrauen (Putnam u.a. 2000). (Wut-)BürgerInnen scheinen zusehends politisch desillusioniert. Regierungen und Parlamente werden als eine Art Oligarchien betrachtet, die ihre Entscheidungen unter Missachtung der Anliegen der Bürgerschaft fällen. Mancherorts wird die Einführung unmittelbarer Mitentscheidung als Heilmittel gegen die gegenwärtige Krise der Demokratie ausgerufen. Direkte Demokratie – so die Idee – hilft den Glauben an und das Vertrauen in die Volksherrschaft wieder herzustellen. Eine wichtige Rolle in der Debatte um die Einführung direktdemokratischer Instrumente spielt die Kompetenz der BürgerInnen. Zwei Extreme stecken den Rahmen der Kontroverse ab. Aus einer elitistisch-realistischen Perspektive Schumpeterscher (1942) Provenienz ist die Bürgerschaft von sachunmittelbaren Entscheidungen überfordert und sollte lediglich in regelmässigen zeitlichen Abständen ihr Wahlrecht ausüben. Ein Ausbau der direkten Demokratie wird aus dieser Warte strikte abgelehnt. Aus einer partizipatorischen Perspektive (Barber 2003, Pateman 1970) entfalten Beteiligungsopportunitäten dagegen eine emanzipatorische Wirkung. Mehr direkte Demokratie hat ein erhöhtes politisches Selbstvertrauen, eine Erweiterung der partizipativen Fähigkeiten und ein verstärktes Engagement in der Gemeinschaft zur Folge. Kritiker dieser Position wiederum streiten mögliche positive Wirkungen sachunmittelbarer Entscheidungskanäle nicht ab, monieren aber, dass dieser Effekt diskriminierend sei. Lediglich bereits politisch kompetente BürgerInnen würden davon profitieren, was auf lange Frist zu einer Benachteiligung weniger politisch befähigter Individuen führe (Linder 1999). 1 Die vorliegende Analyse leistet einen empirisch untermauerten Beitrag zu dieser Debatte. Es wird untersucht, inwiefern die direkte Demokratie das politische Wirksamkeitsgefühl von Individuen beeinflusst. Das Konzept von Campbell u.a. (1954) entwickelte Konzept des Wirksamkeitsgefühls (efficacy) bezieht sich auf die individuelle Einschätzung, politische Entscheidungen zu können. Im Folgenden gehen wir der Frage nach, ob die direkte Demokratie das Wirksamkeitsgefühl der BürgerInnen verstärkt und ob dabei eine diskriminierende Wirkung festzustellen ist. Der Beitrag folgt der Tradition jenes Forschungszweigs, der die Auswirkung direkter Demokratie auf individuelle Einstellungen untersucht. In dieser Hinsicht wurden in den letzten Jahren zahlreiche Befunde publiziert, die u.a. einen Einfluss von erhöhten Partizipationsmöglichkeiten auf politisches Wissen (Benz und Stutzer 2004; Smith/Tolbert 2004), auf Partizipation (Smith 2011) oder auf politische Unterstützung (Bühlmann 2007) nachweisen. Untersuchungen zur Wirkung direkter Demokratie auf das Wirksamkeitsgefühl wurden bisher lediglich für die USA durchgeführt und kommen zu unterschiedlichen Befunden (Dyck/Lascher 2009; Schlozman/Yohai 2008). Unsere Analyse basiert auf einer Befragung in Schweizer Gemeinden. Die Fokussierung auf die lokale Ebene ist dabei nicht nur aus theoretischer, sondern auch aus praktischer Perspektive relevant. Die meisten Verfechter stärkerer Einbindung von BürgerInnen setzen ihre Reformvorschläge auf lokaler Ebene an, da sie postulieren, dass der unmittelbare Kontakt mit dem persönlichen Lebenskontext das ursprünglichste Umfeld politischer Betätigung darstellt (Barber 2003). Hinzu kommt, dass in den letzten Jahren in verschiedenen Staaten direktdemokratische Instrumente vorwiegend auf lokaler Ebene eingeführt wurden. Es ist also wichtig zu in Erfahrung zu bringen, ob und wie sich lokale direktdemokratische Kontexte auf das Wirksamkeitsgefühl von BürgerInnen auswirken. Die Schweiz bietet sich für die Untersuchung der Wirkung direkter Demokratie als eigentliches Forschungslabor gerade an. Die Schweizer Gemeinden unterscheiden sich hinsichtlich geographischer, soziodemographischer oder kultureller Eigenschaften und auch hinsichtlich ihres institutionellen Settings stark voneinander (Ladner/Bühlmann 2007). Der zuletzt erwähnte Aspekt ist für unser Vorhaben von zentraler Bedeutung. In den meisten Gemeinden der Schweiz wird die legislative Funktion einer Bürgerversammlung übertragen, die als eine Urform direkter Demokratie betrachtet wird. Alle wahlberechtigten Personen einer Gemeinde haben hier die Möglichkeit, politische Entscheidungen zu Sachthemen zu fällen, Anträge zu stellen und direkt darüber zu befinden. In einigen Gemeinden wird die legislative Funktion von einem Parlament wahrgenommen. Hier wird im Gegensatz zu den 2 Versammlungsgemeinden das repräsentative Element gegenüber dem direktdemokratischen stärker gewichtet. Bevor wir empirisch untersuchen, ob sich die Unterschiede der Gemeinden hinsichtlich der Betonung direktdemokratischer Organisation ihrer Legislative auch in einer unterschiedlichen Wirkung auf das Wirksamkeitsgefühl der jeweiligen EinwohnerInnen manifestieren (Abschnitt 4) erörtern wir nachfolgend die theoretischen Grundlagen dieser vermuteten Wirkungsweise (Abschnitt 2). Zudem beschreiben wir in Abschnitt 3 die Daten und die verwendete Methode. Schlussfolgerungen runden den vorliegenden Beitrag ab (Abschnitt 5). 2. Wirksamkeitsgefühl und direkte Demokratie Das Vertrauen in demokratische Systeme und Entscheidungsträger steht und fällt mit der Überzeugung der BürgerInnen, dass ihre Präferenzen auch tatsächlich in die politische Arena gelangen, dort aufgenommen und verarbeitet werden. Mit anderen Worten: Schätzen sie ihre eigene Stimme als nicht wirksam ein, werden sie der Politik eher fern bleiben oder mittels Protest versuchen, ihrem Unmut Luft zu machen. Wenn sie das gesamte politische System als nicht wirksam bzw. nicht responsiv beurteilen, werden sie diesem über kurz oder lang die Unterstützung entziehen. Diese These ist Grundlage der Überlegungen von Campbell u.a. (1954), in denen das Konzept der efficacy begründet wird, was wir in diesem Beitrag als Wirksamkeitsgefühl umschreiben. Efficacy wird definiert „the feeling that individual political action does have, or can have, an impact upon the political process, i.e. that it is worthwhile to perform one’s civic duty.“(Campbell u. a. 1954: 187). Dabei erweist sich das Wirksamkeitsgefühl als zweidimensional (Lane 1959: 149). Das interne Wirksamkeitsgefühl (internal efficacy) beruht auf der Einschätzung der eigenen Fähigkeiten, den politischen Prozess verstehen und auf effektive Weise daran teilnehmen zu können. Die externe Dimension (external efficacy) bezieht sich hingegen auf das politische System und insbesondere auf den Aspekt der Responsivität, d.h. auf die Frage, inwieweit die Individuen die Anliegen der Individuen berücksichtigen. Die Unterscheidung der beiden Wirksamkeitsdimensionen hat sich in der theoretischen und der empirischen Literatur bewährt (Craig u.a. 1990). Beide Dimensionen von Wirksamkeitseinschätzungen sind nun nicht nur zentrale Voraussetzungen für das Funktionieren demokratischer Systems, sondern eignen sich auch hervorragend für die empirische Überprüfung eines wichtigen Bestandteils der partizipatorischen Demokratietheorie. Diese behauptet nämlich, dass ein 3 partizipationsförderliches Umfeld das Wirksamkeitsgefühl von Individuen positiv beeinflusst (Barber 2003; Pateman 1970). Die Ermöglichung sachunmittelbarer Partizipation sollte auf der einen Seite die Kompetenz von Individuen fördern, also sich positiv auf ihr Gefühl auswirken, genügend kompetent zu sein und in der Politik tatsächlich etwas bewegen zu können. Auf der anderen Seite erlauben die Instrumente einer ausgebauten direkten Demokratie einen unmittelbareren Einfluss auf öffentliche Politik, was zu einer höheren Responsivität des Systems (Bühlmann 2007) und auch zu einer entsprechend positiven Einschätzung der externen Wirksamkeit durch ein Individuum führen sollte. Diese Wirkung wird von Verfechtern elitistisch-realistischer Positionen bestritten. Da Sachpolitik die einfachen BürgerInnen überfordere, nehme durch einen Ausbau der direkten Demokratie nicht die Kompetenz, sondern eher das Frustpotenzial zu, was nicht nur partizipationshemmend wirke, sondern woraus dann noch zusätzliches Misstrauen in die Möglichkeiten der Einflussnahme und die Demokratie entstehe (Offe, 2003). Die Inkompetenz der Bürgerschaft für Sachentscheide leiste zudem populistischer Vereinfachung Vorschub, was wiederum zu wenig responsiven Entscheiden und letztlich zu einer negativen Einschätzung der Wirksamkeit des Systems führe. Bisherige empirische Analysen der Wirkung von direkter Demokratie auf das Wirksamkeitsgefühl stammen vorwiegend aus den USA und haben widersprüchliche Befunde zu Tage gefördert. Bowler und Donovan (2002) ziehen auf Basis der Wahlbefragung ANES von 1992 ein positives Fazit: direkte Demokratie wirkt sich laut ihrer Analyse positiv sowohl auf das interne wie das externe Wirksamkeitsgefühl aus. Hero und Tolbert (2004) erweitern diese Studie mit Daten für die Wahlen 1988 und 1998. Auch sie finden einen positiven Effekt des Grades an direkter Demokratie in den Staaten - allerdings lediglich auf das externe Wirksamkeitsgefühl. Die Untersuchung von Smith und Tolbert (2004) bestätigt diesen Zusammenhang. Neuere Studien, welche die älteren Beiträge replizieren, finden hingegen mit Ausnahme des Jahres 1992 gar keine Wirkung mehr und äussern sich entsprechend skeptisch was den postulierten Effekt von direkter Demokratie anbelangt (Dyck/Lascher 2009; Schlozman/Yohai 2008). Der vorliegende Beitrag nimmt eine dreifache Erweiterung der bisher vorliegenden Untersuchungen vor. Erstens wird mit dem Fokus auf die Schweiz ein neuer Kontextrahmen untersucht. Zweitens konzentrieren wir uns auf die lokale Ebene, was der neoinstitutionalistischen Idee des Einflusses von Institutionen besser entsprechen dürfte als der Fokus auf die subnationale Staatenebene der US-Studien, 4 da der Handlungskontext enger ist. Drittens erweitern wir unsere Analyse durch eine interaktive Hypothese. Tatsächlich wird beim Ausbau mit direktdemokratischen Beteiligungsmöglichkeiten auch vor Diskriminierungstendenzen gewarnt (Linder 1999). Zwar wird durchaus ein positiver Effekt der direkten Demokratie auf das Wirksamkeitsgefühl vermutet, dieser stelle sich aber vorwiegend bei Individuen ein, die bereits über überdurchschnittlich hohe politische Kompetenz verfügen. Volksgesetzgebungsverfahren seien also – ähnlich wie Wahlen – „systematically biased in favour of priviliged citizens.“ (Lijphart 1998: 1). Die förderliche Wirkung sachunmittelbarer Entscheidinstrumente wäre in diesem Fall aber als höchst ambivalent zu beurteilen, weil sie einer ungleichen Partizipation zugunsten bereits einflussreicher weil kompetenter BürgerInnen Vorschub leisten würde. In der Folge untersuchen wir die folgenden zwei Hypothesen: A In Gemeinden mit ausgebauter Direktdemokratie entwickeln Individuen ein stärkeres Gefühl der (internen und externen) Wirksamkeit als in Gemeinden, die eher repräsentativ organisiert sind. B Die direkte Demokratie wirkt sich diskriminierend auf die Individuen aus: der positive Effekt der politischer Kompetenz auf (interne und externe) Wirksamkeit wird durch ein direktdemokratisches Umfeld verstärkt. 3. Daten und Methode Für unsere Analysen verwenden wir einen hierarchischen Datensatz aus dem Jahre 2001, welcher Antworten von 1680 RespondentInnen aus 56 unterschiedlichen Schweizer Gemeinden zu Fragen bezüglich politischen Verhaltens und Einstellungen enthält (Fors 2002). Zudem wurden für die 56 Gemeinden zahlreiche Sekundärdaten bereitgestellt. Um unsere Hypothesen zu überprüfen, wenden wir Mehrebenenanalysen an, die nicht nur die simultane Schätzung individueller und kontextueller Determinanten auf die Einschätzung individueller Wirksamkeit, sondern auch die Modellierung interaktiver Effekte erlauben. Das Wirksamkeitsgefühl wird in der Befragung analog zu bisherigen Studien (Craig u.a. 1990) in einer Batterie mit folgenden sechs Items erfragt, die mit Hilfe einer Skala von 1 (stimme überhaupt nicht zu) bis 5 (stimme stark zu) beantwortet wurden: (1) Ich schätze mich als genug kompetent ein, an der Gemeindepolitik teilzunehmen. (2) Ich denke, dass ich die wichtigsten politischen Themen in meiner Gemeinde verstehe. (3) Ich denke, dass ich einen guten Job machen würde, wenn ich im Gemeinderat [Exekutive] wäre. (4) Die Gemeinderäte kümmern sich nicht um die 5 Sorgen der Menschen in meiner Gemeinde. (5) Der Gemeinderat in meiner Gemeinde ist an den EinwohnerInnen nur dann interessiert, wenn es um Wahlen geht. Die Meinungen, Sorgen und Wünsche der EinwohnerInnen interessieren ihn ansonsten nicht. (6) Der Gemeinderat nimmt bei seinen Entscheidungen Rücksicht auf die Wünsche und Sorgen der EinwohnerInnen der Gemeinde. Mit Hilfe einer explorativen Faktorenanalyse lassen sich diese sechs Items in die beiden Bereiche der internen und der externen Wirksamkeit redimensionieren (Tabelle 1). Tabelle 1: Resultate der Faktorenanalyse Item Interne Wirksamkeit Externe Wirksamkeit (1) Subjektive Kompetenz .834 .048 (2) Subjektives Verständis .757 .149 (3) Subjektive Regierungsfähigkeit .716 -.069 (4) Responsivität der Exekutive .017 .774 (5) Interesse der Exekutive am Elektorat .050 .700 (6) Berücksichtigung Wünsche und Sorgen .042 .829 Wie erwartet resultiert die Faktoranalyse in einer Einfachstruktur und die sechs Items lassen sich zu zwei Faktoren redimensionieren, welche die Konzepte der internen Wirksamkeit sowie der externen Wirksamkeit widerspiegeln. Für die nachfolgenden Analysen verwenden wir die regressierten Faktorenwerte der RespondentInnen und Respondenten als abhängige Variablen. Deren Werte sind einfach zu interpretieren: 0 kennzeichnet einen Wert, der ein durchschnittliches Gefühl der Wirksamkeit angibt. Unsere wichtigste unabhängige Variable stellt ein einfacher dichotomer Indikator dar, der die unterschiedliche Organisation der kommunalen Legislative abbildet. 70% der Gemeinden in unserer Stichprobe kennen die Gemeindeversammlung, an der BürgerInnen jährlich oder halbjährlich direkt über die Geschicke der Gemeinde bestimmen. In den restlichen Gemeinden obliegt die legislative Verantwortung einem Gemeindeparlament. Wir argumentieren, dass direkte Demokratie in Versammlungsgemeinden weiter entwickelt ist.1 Für die Überprüfung der interaktiven Wirkung direkter Demokratie verwenden wir drei Individualvariablen, mit denen der Grad individueller Kompetenz bestimmt wird. Das 1 Die Verwendung eines derart simplen Masses für direkte Demokratie mag ob der Komplexität der direkten Demokratie in den Schweizer Gemeinden erstaunen (Ladner 1991). Die Nuancen auf lokaler Ebene sind jedoch von der politikwissenschaftlichen Forschung noch nicht erfasst. 6 lokalpolitische Interesse, die subjektive Informiertheit über die Politik in der Gemeinde und die individuelle Partizipationshäufigkeit bei lokalen Wahlen. Darüber hinaus findet sich in der Literatur eine Reihe von individuellen und kontextuellen Erklärungsfaktoren für internes und externes Wirksamkeitsgefühl, die wir in diesem Beitrag als Kontrollvariablen verwenden. Wir vermuten, dass sowohl Humankapital in Form von Bildung als auch Sozialkapital in Form von informeller Einbindung in die Nachbarschaft (Wohndauer) und formeller Einbindung in frei- und arbeitszeitliche Netzwerke zentrale Ressourcen für die Entwicklung des Wirksamkeitsgefühls darstellen. Wir erwarten zudem, dass mit zunehmendem Alter aufgrund zunehmender Erfahrung auch das Gefühl der Wirksamkeit steigt. Schliesslich zeigt die Forschung Unterschiede in der Einschätzung der Wirksamkeit von Frauen und Männern. Für die Schweiz vermuten wir, dass sich Frauen als weniger wirksam einschätzen als Männer, weil erstere erst seit 1971 umfassende politische Rechte geniessen und entsprechend über weniger politische Erfahrung verfügen. Kontextuelle Erklärungsgrössen sind insbesondere kulturelle Faktoren, die in der Schweiz eine prominente Rolle bei der Erklärung individuellen politischen Verhaltens spielen. Hinsichtlich der Einschätzung der Wirksamkeit erwarten wir geringere Ausprägungen in der französisch- und italienischsprachigen Schweiz, da in diesen Regionen eine eher repräsentative Kultur gelebt wird (Linder 1999). Gestützt auf die Überlegungen Webers (2000) zur protestantischen Ethik vermuten wir zudem ein geringeres Ausmass an efficacy in katholisch dominierten Gemeinden. Die Grösse einer Gemeinde dient vorwiegend der Kontrolle der Wirkung der direkten Demokratie, weil Gemeindeversammlungen eher aber nicht ausschliesslich in kleinen Gemeinden vorherrschen. Wohlstand – hier gemessen anhand der Steuereinnahmen einer Gemeinde – dürfte zu einer positiveren Einschätzung der Systemwirksamkeit führen. Wir vermuten zudem eine Wirkung des Wahlsystems. Die eigene Wirksamkeit, aber auch die Wirksamkeit des Systems wird also umso höher eingeschätzt, je grösser die Wahrscheinlichkeit ist, dass die Abgabe der eigenen Wahlstimme auch tatsächlich Auswirkungen hat. Dies müsste eher bei Proporz- als bei Majorzwahlen der Fall sein. Unser Beitrag stellt gegenüber den bisherigen US-Studien auch eine methodische Innovation dar, indem wir unsere Modelle mit Hilfe von Mehrebenenanalysen schätzen, die als eigentlicher Königsweg für die simultane Analyse von individuellen und kontextuellen Einflussgrössen auf individuelle Einstellungen oder Verhaltensweisen gilt (Bühlmann 2006). Mit dieser Methode lassen sich zudem interaktive Wirkungen von Kontexten auf den Effekt von individuellen Charakteristika 7 auf Verhalten modellieren. Für eine ausführliche Methodendiskussion sei auf die einschlägige Literatur verwiesen (Hox 2010; Snijders/Bosker 2011). 4. Ergebnisse Die Überprüfung der Hypothese A ist in Tabelle 2 zusammengefasst. Die Nullmodelle (1 und 4) weisen auf eine geringe, jedoch signifikante Kontextvarianz hin, was eine hierarchische Modellierung als angemessen erscheinen lässt. Die schwache Kontextvarianz ist dem Datensample geschuldet. Die ausreichen hohe, aber doch geringe Zahl an Individuen pro Kontext verhindert eine hohe Zwischen-KontextVariabilität (Bühlmann 2006). Von Interesse sind die Modelle 2 und 5. In Übereinstimmung mit unserer ersten Hypothese zeigt sich ein positiver Effekt der direkten Demokratie auf das interne und das externe Wirksamkeitsgefühl. Ein Individuum, das in Versammlungsgemeinde wohnt, schätzt seine interne Wirksamkeit um 0.3 Skalenpunkte (Skala von -2.8 bis +1.7) höher ein als ein Individuum mit den genau gleichen Eigenschaften, das aber in einer Gemeinde mit einem Parlament lebt. Ähnliches gilt für die Einschätzung der externen Wirksamkeit. Diese ist um rund 5% höher bei Individuen, die in Gemeinden mit stärker ausgebauter direkter Demokratie wohnen. Die Wirkung des direktdemokratischen Umfeldes auf das Wirksamkeitsgefühl hat auch unter von Kontrolle zentralen individuellen und kontextuellen Erklärungsgrössen Bestand (Modelle 3 und 6). Bei Betrachtung der Kontrollgrössen lassen sich Unterschiede zwischen der internen und der externen Wirksamkeit feststellen. Wie vermutet beeinflusst das Geschlecht und das Alter das Wirksamkeitsgefühl. Allerdings gilt dies nur für die interne Wirksamkeit. Jüngere Menschen und Frauen schätzen sich selber als weniger wirksam ein. Ebenfalls nur auf die interne Wirksamkeit wirkt sich Sozialkapital bzw. die Einbindung in Vereine und Netzwerke am Arbeitsplatz aus. Beide Dimensionen des Wirksamkeitsgefühls werden von politischer Kompetenz beeinflusst: Mit zunehmender Bildung, stärkerem lokalpolitischem Interesse, besserer Informiertheit und regelmässiger elektoraler Partizipation wird nicht nur die eigene Wirksamkeit, sondern auch die Responsivität des politischen Systems positiver eingeschätzt. Keinerlei Wirkung entfaltet die Wohndauer. Auf der Kontextebene zeigt sich neben unserem Mass für direkte Demokratie keine weitere Kontextgrösse als erklärungskräftig. 8 Tabelle 2 : Mehrebenenanalysen Interne Wirksamkeit Modell 1 Modell 2 Modell 3 Externe Wirksamkeit Modell 4 Modell 5 Modell 6 Individualebene Alter .39** (.13) -.08 (.15) Geschlecht -.25** (.04) .04 (.05) Bildung .63** (.09) .31** (.11) Wohndauer -.04 (14) -.09 (.16) Vereinsmitgliedschaft .08* (.05) .08 (.06) Beschäftigung .11** (.05) .06 (.06) Interesse 1.01** (.09) .34** (.10) Informiertheit .64** (.11) .54** (.12) Partizipation .29** (.05) .16** (.06) Kontextebene .31** (.07) Direkte Demokratie .19** (.06) .24** (.08) .22** (.10) Gemeindegrösse -.18 (.21) -.05 (.32) Wohlstand -.06 (.12) -.11 (.18) Sprachregion .09 (.07) -.15 (.11) Katholikenanteil -.13 (.09) .06 (.14) Wahlsystem .01 (.06) -.15 (.10) Modellgrössen Konstante .00 -.22** -2.03** -.00 -.17** -.86** 9 (.04) (.06) (.13) (.04) (.07) (.18) Kontextvarianz .04** (.01) .03** (.01) .01 (.01) .05** (.01) .04** (.01) .04** (.01) Individualvarianz .96** (.04) .96** (.04) .68** (.03) .95** (.04) .95** (.04) .88** (.03) 4051.7 4035.5 3500.2 4042.5 4034.9 3904.5 1429 (56) 1429 (56) 1429 (56) 1429 (56) 1429 (56) 1429 (56) Devianz Beobachtungen * p<0.1; ** p<0.05. Ausgewiesen sind nicht-standardisierte Koeffizienten (Standardfehler). Alle unabhängigen Variablen sind auf eine 0-1-Skala umgerechnet. 0 = geringste Ausprägung im Sample und 1 = höchste Ausprägung. Die Koeffizienten geben also den Effekt bei einem Sprung vom Mindest- zum Maximalwert einer Variable wieder. Von Interesse ist nun, ob sich dieser Effekt in diskriminierender Weise stärker bei Individuen zeigt, die bereits über politische Kompetenz verfügen, wurden doch stark positive Effekte unsere Kompetenzvariablen auf das individuelle Wirksamkeitsgefühl festgestellt. Die Überprüfung der zweiten Hypothese basiert auf den Modellen 3 bzw. 6 aus Tabelle 2. Zusätzlich wird jeweils ein Interaktionsterm zwischen einer der drei Kompetenz-Variablen (Interesse, Informiertheit, Partizipation) und unserem Mass für direkte Demokratie mitberechnet. Dabei wird der Effekt des jeweiligen KompetenzIndikators über die Gemeindekontexte randomisiert. Es werden unterschiedliche Steigungen zwischen den Gemeinden modelliert, die durch den Interaktionsterm erklärt werden sollen. Bei der Interpretation der Interaktionseffekte folgen wir den Empfehlungen der neueren methodischen Literatur (Brambor u.a. 2006) und berechnen die marginalen Effekte und deren Standardfehler. Die Wirkung der Interaktionsvariablen auf diese marginalen Effekte illustrieren wir in Abbildung 1. Die Y-Achse stellt die marginalen Effekte dar. Je grösser die Zahl, desto stärker ist der Effekt der jeweiligen Kompetenzvariable auf das interne bzw. externe Wirksamkeitsgefühl. Auf der X-Achse ist die Variable für direkte Demokratie abgetragen. 0 kennzeichnet die Parlaments- und 1 die Versammlungsgemeinden. Jede Grafik stellt ein einzelnes Modell dar, in welchem die entsprechende Interaktion auf der Basis der Modelle 3 bzw. 6 (aus Tabelle 2) modelliert wurde. Die in Tabelle 2 ausgewiesenen Effekte der einzelnen Variablen verändern sich nicht. 10 Abbildung 1: Interaktive Wirkung der direkten Demokratie Kompetenzvariable Interne Wirksamkeit Externe Wirksamkeit Interesse Informiertheit Partizipation Gestrichelte Linie: 95%-Konfidenzintervall Würde die Hypothese eines diskriminierenden Effekts zutreffen, so müssten die einzelnen Graphiken eine nach rechts ansteigende Kurve zeigen. In diesem Fall wäre der positive Effekt einer Kompetenzvariable auf das Wirksamkeitsgefühl noch stärker in Gemeinden mit Gemeindeversammlungen (rechts) als in Gemeinden mit Parlament (links). Mit Ausnahme der Wirkung von politischem Interesse auf das interne Wirksamkeitsgefühl ist dies aber nicht der Fall. Die positiven Effekte von Informiertheit und Partizipation auf das interne und externe Wirksamkeitsgefühl sowie von Interesse auf die externe Dimension sind in Gemeinden mit Versammlung gar schwächer ausgeprägt als in repräsentativ organisierten Gemeinden. Mit anderen Worten: politisches Interesse, Informiertheit und Partizipationsbereitschaft scheinen in Gemeinden mit Gemeindeversammlung weniger wichtige Voraussetzung für die Entwicklung von Wirksamkeitsgefühl zu sein als in Gemeinden, in denen das Parlament die legislative Funktion einnimmt. Einzige Ausnahme stellt das lokalpolitische Interesse dar. Erhöhtes politisches Interesse führt in 11 direktdemokratischen Gemeinden zu einem grösseren Wirksamkeitsgefühl als in Parlamentsgemeinden. Insgesamt kann also gemäss unserer Analyse von einem diskriminierenden Effekt der direkten Demokratie nicht die Rede sein. 5. Schlussfolgerungen Die Einführung direktdemokratischer Partizipationsformen wird gemeinhin als mögliches Heilmittel gegen die Krise der repräsentativen Demokratie betrachtet. Dabei ist umstritten, ob dieses Heilmittel tatsächlich wirkt. Es streiten sich die Verfechter einer partizipativen Demokratietheorie, die durch mehr Beteiligungsmöglichkeiten eine Zunahme der politischen Kompetenz der BürgerInnen erwarten, mit den Anhängern eines realistischen Demokratiemodells, die bei einem direktdemokratischen Ausbau eine Überforderung der Bürgerschaft befürchten. Unsere Mehrebenenanalysen zum individuellen Wirksamkeitsgefühl in Schweizer Gemeinden sprechen eher der partizipatorischen These das Wort. Individuen, die in Gemeinden mit einer Gemeindeversammlung leben, schätzen ihre eigene Wirksamkeit (intern) und die Wirksamkeit des politischen Systems (extern) als höher ein als Individuen mit identischen Eigenschaften, die aber in Gemeinden mit einem Gemeindeparlament leben. Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten scheint die direkte Demokratie in der Schweiz also ihr partizipatorisches Versprechen zu halten. Darüber hinaus widerlegen unsere Resultate auch der kritischen Demokratietheorie, wonach erhöhte Beteiligungsopportunitäten vor allem den haves, nicht aber den have nots zu Gute kommen. Unsere Befunde weisen auf keine diskriminierenden Effekte hin. Die positive Wirkung politischer Kompetenz (Interesse, Informiertheit, Partizipation) auf die Entwicklung des internen und externen Wirksamkeitsgefühls ist in Versammlungsgemeinden nicht stärker als in Parlamentsgemeinden. Im Gegenteil scheint in eher repräsentativ organisierten Gemeinden Kompetenz eine wichtigere Voraussetzung für die Entwicklung von interner und externer Wirksamkeit darzustellen. Es stellt sich die Frage, weshalb die Resultate unserer Analysen den Befunden der US-Studien widersprechen. Ein erster Grund könnte in der geringen Grösse der hier untersuchten Kontexte liegen. Im Gegensatz zu den amerikanischen Staaten sind die Gemeinden der Schweiz äusserst klein. In solchen Kontexten entfalten sich die positiven institutionellen Wirkungen möglicherweise weit effektiver (Mansbridge 1983), weil Partizipation, politisches Engagement und deliberative Entscheidfindung sich einfacher gestaltet und auch häufiger vorkommt (Ladner/Bühlmann 2007). Ein zweiter Grund könnte in der unterschiedlichen Befragung liegen: Die RespondentInnen der Schweizer Studie werden zu ihren Einschätzungen zur Lokalpolitik befragt und nicht wie in den amerikanischen Studien auf ganz allgemeine 12 Art und Weise. Ein Unterschied zu den amerikanischen Studien lässt sich drittens im verwendeten Mass für direkte Demokratie finden. Indem wir die Auswirkungen von Gemeindeversammlungen messen, rekurrieren wir auf eine ursprüngliche Form direkter Demokratie. Partizipation kann in Versammlungen wesentlich deliberativer und unmittelbarer stattfinden als mittels Referenden. Unsere Befunde reden also der partizipatorischen Idee einer deliberativen, aktiven lokalen Partizipation das Wort. Direkte Demokratie ist der Einschätzung der eigenen Wirksamkeit und der Responsivität des politischen Systems förderlich. Es bleibt dabei festzuhalten, dass gemäss unsere nicht die tatsächliche Partizipation an einer Gemeindeversammlung zu stärkeren Wirksamkeitsgefühlen führt. Alleine der Umstand, dass eine solche Institution in der Gemeinde existiert, scheint aber die BürgerInnen überzeugter von ihrer eigenen Wirksamkeit und der Wirksamkeit des politischen Systems zu machen. 13 Literatur Barber, Benjamin R., 2003: Strong democracy: Participatory politics for a new age, Berkeley. Benz, Matthias/Stutzer, Alois, 2004: Are voters better informed when they have a larger say in politics? Evidence for the European Union and Switzerland, in Public Choice, 119 (1-2), 31-59. Bowler, Shaun/Donovan, Todd, 2002: Institutions and attitudes about citizen influence on government, in BJPS 32 (2), 371-390. 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