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But Who Protects Us From You? Zur Kritischen Theorie Der Polizei

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(Near final draft, erschienen in jour-fixe-initiative Berlin (Hg.): Souveränitäten. Von Staatsmenschen und Staatsmaschinen, Münster 2010: Unrast) Daniel Loick But who protects us from you? Zur kritischen Theorie der Polizei Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hatte, wurde er eine Morgens verhaftet."[1] Der Protagonist in Franz Kafkas Roman Der Prozess macht unangenehme Bekanntschaft mit einer Institution, von der Walter Benjamin sagt, sie sei eine allverbreitete gespenstische Erscheinung im Leben der zivilisierten Staaten"[2]: der Polizei. Die Behörde, die K. belästigt, genießt in Literatur, Film und Musik keinen guten Ruf. Seltener als fiktionale Bearbeitungen der Polizei sind jedoch explizit philosophische oder politische Kritiken. Dass die Polizei eine Erscheinung im Leben der zivilisierten Staaten ist, darin sehen die allermeisten politischen Theorien nicht nur kein prinzipielles Problem, sondern auch ein schieres Erfordernis. Das Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden"[3], stellt zum Beispiel Immanuel Kant in seiner Metaphysik der Sitten bündig fest. Das Postulat, dass eine staatliche Institution eingerichtet werden muss, welche die Hindernisse des Rechts und damit der Freiheit zuverlässig ausräumen kann, ist für Kant a priori evident. Diese Annahme wurde in der Folge von fast allen Rechtstheorien, wenn auch nicht immer mit demselben Begründungshintergrund, übernommen. Die Frage der Polizei scheint keinerlei eigenständiger Betrachtung mehr zu bedürfen: Wenn es Recht geben soll, so lautet die allgemein geteilte Prämisse, dann muss es auch eine rechtserhaltende Gewalt geben. Es ist nicht damit getan, ein Recht zu gründen und zu begründen, sondern es muss auch konserviert und vor seinem Verfall oder seiner Revolutionierung bewahrt werden. In der klassischen politikwissenschaftlichen Einteilung entspricht dies der Trennung in legislative und exekutive Gewalt: Ein neues Gesetz oder gar eine neue Verfassung müssen nicht nur ausgehandelt und beschlossen, sondern auch um- bzw. im Zweifelsfall durchgesetzt werden. Diese Funktion nimmt im gewaltenteiligen System der Moderne eben vor allem die Institution der Polizei wahr. Erst die Polizei stellt die Verbindlichkeit rechtlicher Normen faktisch her und nimmt so eine wichtige erwartungsstabilisierende und sozialintegrative Funktion wahr. Die Faktizität von Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung ist ferner nicht nur konstitutiv für moralentlastete Interaktionen"[4] zwischen Menschen, sondern auch für den Wesensgehalt der Demokratie: Nur die – im Zweifelsfall auch polizeilich erzwungene – Umsetzung demokratischer Beschlüsse lässt die Mitwirkung an demokratischen Willensbildungsprozessen überhaupt lohnenswert erscheinen. Volkssouveränität, wie jede Form der Souveränität, so scheint es, kann sich nur verwirklichen, wenn sie nicht nur mit legislativer Entscheidungskompetenz, sondern auch mit exekutiver Zwangsanwendungskompetenz ausgestattet ist. Staatliche Gewalt erscheint in diesem politischen Diskurs als derart alternativlos, dass man zögert, überhaupt von Gewaltverhältnissen zu sprechen; gerade in Zeiten der Krise und des Konflikts erscheint regelmäßig nur die Verstärkung exekutiver Maßnahmen als Lösungsoption, während alternative Auffassungen zur gesellschaftlichen Konfliktbewältigung im Bereich der Utopie oder Phantasie angesiedelt werden. Dieser diskursiven Situation gegenüber muss die Bedeutung eines simplen Hinweises als unausgeschöpft gelten, den Walter Benjamin in seinem frühen Text Zur Kritik der Gewalt (1920/21) gibt: Die Frage nach der Legitimität der Gewalt als Mittel ist durch die Legitimität des Rechts als Zweck niemals schon mit beantwortet. Es ist dieses ganz grundlegende Argument, das Benjamins Aufsatz trotz seines apodiktischen Stils, seiner opaken Metaphorik und seiner erratischen Argumentationsführung zu einem der bis heute wichtigsten Dokumente der wenig beachteten Geschichte der kritischen Theorie der Polizei gemacht hat. Gesetzeskraft: Polizei als Mittel zu Rechtszwecken Dass das Recht mit einer Zwangsbefugnis verbunden ist, ist deshalb so selbstverständlich, da sich Recht und Zwang zueinander verhalten wie Zweck und Mittel. Der Zwang ist das Mittel zum Zwecke des Rechts, er ist die Exekution" der Legislation. Seit Aristoteles ist die Zweck-Mittel-Relation auf syllogistische Weise geklärt[5]: Wo das Recht das Gute ist und der Zwang das Mögliche, folgt die Zwangsanwendung als logischer Schlusssatz. Bei Kant, in dessen Philosophie die Zweck-Mittel-Relation politisch und moralisch thematisch wird, ist dies noch immer apodiktisch gegeben: Wer den Zweck will, will (...( auch das dazu unentbehrlich notwendige Mittel, das in seiner Gewalt ist"[6]. Indem er den Erfolg implizit zum Maßstab für die Beurteilung der Mittel macht, klammert er dabei aber auch alle moralischen und empirischen Erwägungen aus, die bei der Frage der Mittelwahl potentiell eine eigenständige Rolle hätten spielen können: Sind alle Mittel, Hindernisse des Rechts auszuräumen, moralisch erlaubt? Und ist der Zwang als Mittel tatsächlich geeignet? Wenn Zweck und Mittel auf syllogistische Weise miteinander verbunden sind, dann ist keine eigene Prüfung der Berechtigung von Mitteln mehr vonnöten, sie ist über die Prüfung der Zwecke bereits gegeben. Die Polizei ist Mittel in doppelter Weise. Sie ist zum einen das Werkzeug, das Medium zur Umsetzung einer Entscheidung. Erst mithilfe dieses Mediums entäußert sich der souveräne Wille, erst die Polizei verschafft dem Recht Materialität, erst durch sie wird es im gewissen Sinne Wirklichkeit. Zum anderen ist die Polizei auch das Mittlere, als Vermittlungsinstanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit auch die zwischen dem Souverän und den Untertanen. Die Entscheidungen des Volks sind ja kein Pogrom, die Staatsbürger_innen gehen nicht selbst unmittelbar ans Werk der Umsetzung. Dem Willen des Souveräns kommt in der gewaltenteiligen Demokratie (wie ja auch schon in der Monarchie) keine unmittelbare perlokutionäre Wirkung zu, sondern erst durch die (tatsächliche oder potentielle) Durchsetzung durch die Polizei. Die Polizei ist gemäß des Selbstverständnisses moderner Gesellschaften Mittel und nur Mittel, wird sie zum Zweck oder beginnt sie Zwecke zu setzen, so ist die ursprüngliche Souveränität bedroht oder verschoben. Die Polizei muss daher stumm und unsichtbar bleiben und darf keinen eigenen Inhalt haben, sie muss sich auf den Vollzug eines von anderer Seite determinierten Willens beschränken. Wenn die Polizei also, gemäß des Selbstverständnisses moderner Gesellschaften, Mittel und nur Mittel ist, wie sind dann die Ereignisse zu interpretieren, die Josef K. widerfahren sind (und wie sie ähnlich immer wieder Menschen auch in der Realität widerfahren), der eben eines Morgens verhaftet wurde, ohne dass er etwas Böses getan hatte? Der erste Gedanke liegt nahe, dass K. in einem diktatorischen Unrechtssystem gelebt hat, in dem allein solcherlei Vorfälle auftreten können. K. selbst ist anderer Meinung. Nachdem von den Eindringlingen in seiner Wohnung keine Auskunft über den Grund der Verhaftung zu erhalten ist – Wir sind", kolportieren die Polizisten, die sich selbst nur als Mittel verstehen, nicht dazu bestellt, Ihnen das zu sagen"[7] – stellt K. eigene Überlegungen an: Was waren denn das für Menschen? Wovon sprachen sie? Welcher Behörde gehörten sie an? K. lebte doch in einem Rechtsstaat, überall herrschte Friede, alle Gesetze bestanden aufrecht, wer wagte ihn in seiner Wohnung zu überfallen?"[8] Auch in einem Rechtsstaat" in Friedenszeiten mangelt es nicht an Beispielen dafür, dass die Polizei selbst nicht als Agent des Rechts, sondern gerade des Rechtsbruchs fungiert. Dazu gehören kleinere Schikanen gegenüber Punks in der U-Bahn-Station ebenso wie die Gefahr einer Kultur der Korruption und im extremsten Fall sogar des (häufig rassistisch motivierten) Mordes. Diese Fälle des Rechtsbruches durch die Agenten des Rechts lieferten nicht nur den Stoff für eine Fülle von literarischen, musikalischen und filmischen Auseinandersetzungen (ganze Genres wie der Krimi oder der Western verdanken ihre Existenz größtenteils dieser Problematik), sondern können auch im alltäglichen Leben immer wieder beobachtet werden.[9] Dass in einer liberalen Demokratie ein Unschuldiger einfach eines Morgens verhaftet wird, ist für die meisten Rechtstheorien freilich inakzeptabel und ein Widerspruch: Wenn es sich wirklich um einen Rechtsstaat handelt und K. wirklich unschuldig ist, hat er die Möglichkeit, sich mit Mitteln des Rechts gegen die dann rechtswidrige Verletzung der Unversehrtheit seiner Wohnung zur Wehr zu setzen. Das Eindringen in K.'s Wohnung ist dann zunächst ein Zuviel an polizeilicher Aktivität, ein Exzess polizeilicher Befugnisse, der im Ergebnis aus den Agenten des Rechts selbst Verbrecher – und also eben nicht mehr Polizisten – macht. Nicht als Effekt legalen, polizeilichen Handelns erscheint dann K.'s Verhaftung, sondern als illegales Kidnapping, gegen das K. selbst mit Mitteln des Rechts und also der Polizei vorgehen könnte. Gesetzeskraft: die Polizei und der Ausnahmezustand Diese Möglichkeit erscheint aber angesichts des Fortgangs des Romans, aber auch angesichts der empirischen Häufigkeit und Regelmäßigkeit von polizeilichen Rechtsübertretungen in westlichen Rechtsstaaten, mindestens kontraintuitiv. Immer wieder erweisen sich auch Demokratien als unfähig, das Verhältnis von Recht und Polizei als eine reine Zweck-Mittel-Relation zu etablieren. Dies scheint zu indizieren, dass es sich hierbei nicht um kurzfristige Irritationen rechtsstaatlicher Normalität, um leicht korrigierbare Abweichungen oder Irrtümer handelt, sondern um einen festen Bestandteil des Konzepts der Polizei selbst. Hierfür lassen sich leicht praktische Gründe angeben, die vor allem mit der psychischen Konstitution zusammenhängen, die Polizist_innen mitbringen müssen und die ihnen immer weiter antrainiert wird, um sie in die Lage zu versetzen, ihren Job überhaupt zu machen – eben nicht gerechtigkeitssensible und also zarte Tugenden ermöglichen den Polizeidienst, sondern es sind Grobheit, Dumpfheit und Gewalttätigkeit, derer man zur Ausübung der Herrschaft bedarf"[10]: Ihre Sicherheit ist nur durch ihre Dummheit möglich"[11], kommentiert Kafkas K. lakonisch. Dies mag auch die ironischerweise ausgeprägte Legalitätsfeindlichkeit erklären, die bei den vorgeblichen Agent_innen der Legalität immer wieder anzutreffen ist. Neben diesen praktischen Gründen lassen sich aber auch systematische Gründe für die konstitutive Verunreinigung der Zweck-Mittel-Relation angeben. Die Behauptung", so stellt Walter Benjamin in seiner Kritik der Gewalt nämlich fest, dass die Zwecke der Polizeigewalt mit denen des übrigen Rechts stets identisch oder auch nur verbunden wären, ist durchaus unwahr." (KG 189) In der Analyse Benjamins erhält die Polizei nicht einfach nur (als Mittel) das von anderer Seite gesetzte Recht, sondern schafft auch selber neues Recht, weil ihr selbst die Befugnis zukommt, Erlasse mit Rechtskraft zu erteilen. Durch dieses Verordnungsrecht kann die Polizei die Kompetenz wahrnehmen, ohne Rücksprache mit dem Volk oder dem Parlament selbst neues legitimes Recht zu schöpfen. Diese Verordnungen können zwar gegebenenfalls im Nachhinein durch den Souverän wieder kassiert werden, deshalb stellt es allein noch kein Merkmal eines Polizeistaats dar. Entscheidend für Benjamins These von der Aufhebung der Trennung von rechtserhaltender und rechtsetzender Gewalt im Polizeiinstitut ist aber der Hinweis, dass die Polizei grundsätzlich immer, also auch in Situation der liberaldemokratischen Rechtsstaatsnormalität, der Sicherheit wegen" überall dort eingreift, wo keine klare Rechtslage vorliegt" (KG 189). Da die Polizei als Mittel zwischen der Allgemeinheit des Gesetzes und der Singularität der vorgefundenen Situation fungiert, kann sie nicht einfach passiv das fertige Gesetz anwenden, sondern muss selbst aktiv- interpretierend tätig werden.[12] Genau genommen sagt Benjamin also, dass die Polizei deswegen gelegentlich legislative, d.i. rechtsetzende Kompetenzen ausübt, weil sie gezwungen ist, judikative, d.i. rechtsinterpretierende Kompetenzen auszuüben. Sie hat dann also in diesen Momenten faktisch provisorisch alle drei Gewalten in ihrer Hand: Ein Tatbestand, der weder konstitutionell vorgesehen, noch juristisch eingestanden werden darf, der aber wesentlich für die Rechtsordnung insgesamt ist. Um dem Gesetz Geltung zu verschaffen, ist es zwangsbewehrt, also mit Gesetzeskraft ausgestattet. Da aber die Klarheit der Rechtslage niemals klar genug ist[13] und da das Recht nur durch Vermittlung der Polizei realisiert werden kann, behält polizeiliches Agieren immer eine Dimension eigenständiger Entscheidung. Da diese dezisionistische Dimension des Polizeihandelns vom Souverän schlechterdings nicht suspendiert werden kann, muss die Polizei eine permanente Bedrohung des Ortes der Souveränität darstellen, eine ständige Anfechtung der Letztinstanzlichkeit der souveränen Entscheidung – denn nach der Entscheidung des Souveräns kommt immer noch die Entscheidung der Polizei. Nicht auf den juristischen Bestand polizeilicher Verordnungen kommt es dabei an, sondern auf die Tatsache, dass grundsätzlich alle juristischen Verordnungen potentiell nur polizeilich aktualisiert werden können. Nicht die Fortdauer polizeilicher Entscheidungen in einem inner-juridischen Verhältnis ist hier entscheidend, sondern der konstitutive Bezug des Rechts auf das Leben. Giorgio Agamben hat die Tendenz dieser Kraft, die sie legitimierenden Gesetzen zu suspendieren und die Fesseln aller die exekutive Gewalt einschränkenden rechtlichen Schranken durchzustreichen, mit dem Term Gesetzeskraft"[14] dargestellt. Hierin spricht sich die Latenz des Ausnahmezustandes innerhalb der Regel aus, das Potential der Exekutive, sich von ihrem Status als reinem Mittel zu emanzipieren" (KG 189) und zur gesellschaftlichen Dominante zu werden. Auch Agamben beschreibt, Benjamin kommentierend, wie die Polizei, als Mittleres zwischen der Allgemeinheit des Gesetztes und der Konkretheit der Situation, diese Vermittlungsfunktion aufgibt (und damit als Mittel insgesamt diskreditiert bleiben muss): Wenn nämlich der Souverän derjenige ist, der dadurch, dass er den Ausnahmezustand ausruft und die Gültigkeit des Gesetzes aufhebt, den Ort bezeichnet, an dem kein Unterschied mehr zwischen Gewalt und Recht besteht, dann bewegt sich die Polizei sozusagen immer in einem solchen Ausnahmezustand'. Die Erfordernisse von öffentlicher Ordnung und Sicherheit, über die sie in jedem Einzelfall neu entscheiden muss, bilden eine Zone der Unterscheidungslosigkeit zwischen Gewalt und Recht, die in exakter Symmetrie zu derjenigen der Souveränität steht."[15] Die Suspension des Gesetzes durch die Polizei, in ihr immer schon angelegt, wird in dramatischen geschichtlichen Momenten akut.[16] Über den Ausnahmezustand zu entscheiden ist aber, anders als Carl Schmitt (und, mit Einschränkungen, auch Agamben) meint, eben nicht einfach ein Zeichen von Souveränität, sondern immer auch und gerade ein Moment des Verlustes von Souveränität, ein Moment, in dem der amtierende Souverän abgesetzt oder beurlaubt wird.[17] Gegen die Verunreinigung des Mittel-Status' der Polizei muss der Souverän darum Vorkehrungen treffen. Dies gilt insbesondere für die Volkssouveränität, denn in demokratischen Systemen bedeutet eine Suspendierung des Rechts nicht nur eine Missachtung eines einzelnen souveränen Befehls, sondern stellt immer gleich eine besondere Gefahr für das souveräne System insgesamt dar, da sich der souveräne Wille des Volkes überhaupt nur durch die Geltung von Grundrechten, d.h. durch das Vorhandensein von polizeifreien Sphären, herausbilden kann. Axel Honneth wirft Benjamin in seiner Kritik der Kritik der Gewalt vor, diesen Aspekt vernachlässigt zu haben. Honneth diagnostiziert Benjamin, es übersteige dessen Vorstellungshorizont", dass demokratische Gesellschaften mit der Zeit zivile Ressourcen der Bindung von Polizei und Militär"[18] entwickeln könnten. Aus radikaldemokratischer Perspektive sind als solche zivile Bindungsressourcen vor allem institutionelle Kontrollmechanismen vorgeschlagen worden, welche die Eigenständigkeit polizeilicher Aktivität begrenzen sollen. Der Weg von der Entscheidung zur Umsetzung soll besser überprüft und die Polizei so auf ihre Funktion als reines Medium fixiert werden. Karl Marx führt in seinem Text Der Bürgerkrieg in Frankreich die Pariser Kommune als Beispiel für eine solche radikaldemokratische Gesellschaftsorganisation an (sie stellt, provisorisch, zunächst eine volle Verwirklichung von Volkssouveränität dar, noch nicht die kommunistische Verwirklichung der Assoziation freier Individuen, die ganz auf die politische Gewalt würde verzichten können): Die Kommune sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit. Die Polizei, bisher das Werkzeug der Staatsregierung, wurde sofort aller ihrer politischen Eigenschaften entkleidet und in das verantwortliche und jederzeit absetzbare Werkzeug der Kommune verwandelt."[19] Marx hält also in der Pariser Kommune für verwirklicht, was Honneth für in gegenwärtigen liberalen Demokratien für verwirklicht hält: dass die Polizei nicht mehr als die Kraft des Gesetzes, dass sie Mittel und nichts als Mittel ist. Gesetzeskraft: Recht und Gerechtigkeit ohne Polizei Damit ist Benjamins grundlegendem Argument jedoch noch nicht erschöpfend Rechnung getragen. Seiner Ansicht nach ist es weder möglich, die Polizei aller ihrer politischen Eigenschaften" zu entkleiden, noch wäre dies als praktische Konsequenz seiner Kritik der Gewalt annähernd hinreichend. Die Polizei ist nie einfach nur Mittel des Rechts, und selbst wenn sie eines wäre, wäre dies noch keine ausreichende Legitimation. Dies ist gerade der Widerspruch, den Benjamin den Aktivist_innen attestiert, welche die Todesstrafe oder die Wehrpflicht kritisieren, ohne die Rechtsgewalt insgesamt in Frage zu stellen: Die Kritik der Gewalt, so Benjamin, fällt mit der Kritik aller Rechtsgewalt, das heißt mit der Kritik der legalen oder exekutiven Gewalt zusammen und ist bei einem minderen Programm gar nicht zu leisten" (KG 187). Die Entscheidung, zu töten oder zum töten zu zwingen, sind legitime rechtserhaltende Maßnahmen aus dem Register des Souveräns, so lange man sie innerhalb des normativen Koordinatensystems des zwangsbewehrten Rechtssystems beurteilt. Auch Kants kategorischer Imperativ reicht zu einer Kritik der Gewalt nicht hin, so lange er sich mit dem Mimimalprogramm" begnügt, wonach man sich der anderen Person nur nicht ausschließlich als Mittel, aber durchaus auch als Mittel bedienen dürfe (vgl. KG 187), denn Gewalt ist bei Kant konsequenterweise selbstverständlicher Bestandteil im Repertoire der Mittel einer demokratischen Republik. Benjamin erhebt aber nicht nur den Anspruch einer realpolitischen Intervention, sondern avisiert eine transzendentale Zurückweisung der Zweck-Mittel-Relation auf dem Gebiet der Moral und der Politik insgesamt.[20] Eine Kritik der Gewalt als Mittel, so lautet die weit reichende Feststellung, die Benjamins gesamte Abhandlung eröffnet, ist nicht über eine Kritik der Zwecke bereits gegeben, denn ein solches System, angenommen, es sei gegen alle Zweifel sichergestellt" (wie Benjamin vielleicht vom System der Zwecke der Pariser Kommune durchaus schon angenommen haben mag), enthält noch nicht ein Kriterium der Gewalt selbst als eines Prinzips, sondern eines für die Fälle ihrer Anwendung. Offen bliebe immer noch die Frage, ob Gewalt überhaupt, als Prinzip, selbst als Mittel zu gerechten Zwecken sittlich sei." (KG 179) Diese Frage wird sowohl vom rechtsphilosophischen Kanon umgangen, da die meisten Rechtsphilosophien die aristotelisch-kantianische Auffassung vom Mittel-zum-Zweck als gegeben voraussetzen. Das rechtsphilosophische Grunddogma: Gerechte Zwecke können durch berechtigte Mittel erreicht, berechtigte Mittel an gerechte Zwecke gewendet werden" (KG 180) schließt daher nicht aus, dass die Prinzipien der Zwecke und die der Mittel miteinander kollidieren. Um eine solche mögliche Kollision überhaupt registrieren zu können, folgert Benjamin, bedarf es für beide Ebenen voneinander unabhängiger Kriterien. Für die Sphäre der Mittel, also die Frage der prinzipiellen Berechtigung von staatlich sanktionierter Gewalt, ist so die Frage nach einem Kriterium ohne Ansehung der Zwecke" aufgeworfen. Ein solches Kriterium zu liefern, ist nicht das Ziel von Benjamins geschichtsphilosophischer Rechtsbetrachtung" und auch nicht ihre Aufgabe.[21] Ist aber die Konsubstantialität von Recht und Gewalt einmal enthüllt und zugleich das syllogistische Band von Zweck und Mittel gelöst, so steht jede gewaltförmige Exekution des Rechts ohne apriorische Legitimation da.[22] Dass sich im fortgeschrittenen Stadium von Zivilisation eher die Gewalt als die Gewaltlosigkeit vor dem Maßstab von Kritik auszuweisen hat, scheint für Benjamin selbstverständlich zu sein, weshalb er sich im Fortgang seiner Untersuchung auch nicht auf den Nachweis der normativen Richtigkeit, sondern vor allem auf die praktische Möglichkeit gewaltfreier menschlicher Interaktion konzentriert. Wenn bei ihm also von reinen Mitteln" die Rede ist, dann meint dies zunächst nicht, dass die Mittel rein von Zwecken, also zweckfrei wären, sondern dass sie rein von Gewalt sind. Als solche gewaltfreie reine Mittel scheiden zunächst alle Mittel aus, die in irgendeiner Beziehung zum mythischen" Recht stehen, dessen gewaltförmige Kontamination Benjamin ja bereits gezeigt hat. Dies betrifft jede Form des Vertrages, der als rechtlich sanktioniert immer eine Drohung zur Gewaltanwendung impliziert, als auch die Übereinkünfte in Parlamenten, die in Ursprung und Ausgang" ebenfalls mit Gewalt behaftet sind. Nur eine Politik kann das Etikett der Reinheit" für sich reklamieren, die jede Beziehung zur etablierten Rechtsgewalt aufgegeben hat und Gerechtigkeit auf eine vollständig nicht rechtsgewaltförmige Weise manifestiert. Eine vollständig gewaltlose, aber dennoch gerechte Beilegung von Konflikten jenseits der Rechtsgewalt ist für Benjamin dort möglich, wo das Recht noch nicht alle sozialen Sphären seiner Regelungsgewalt unterworfen hat, und zwar überall, wo die Kultur des Herzens den Menschen reine Mittel der Übereinkunft an die Hand gegeben hat." (KG 191)[23] Diese reinen Mittel beruhen auf der subjektiven Seite auf affektiv-habituellen Charakterdispositionen wie Herzenshöflichkeit, Neigung, Friedensliebe, Vertrauen" und auf der objektiven Seite auf der sachlichsten Beziehung menschlicher Konflikte auf Güter". Friedrich Engels' Formulierung, wonach im Kommunismus die Verwaltung von Sachen an die Stelle der Herrschaft über Menschen trete,[24] mag den Gedanken inspiriert haben, dass die Mittelbarkeit der Unterredung als Technik ziviler Übereinkunft" eine Sphäre der Verständigung jenseits aller Rechtsgewalt zum Ausdruck bringt. Hier zeigt sich auch, dass die Benjamin'sche Parlamentarismuskritik im Kern der konservativen Parlamentarismuskritik eines Carl Schmitt diametral entgegen steht; geißelte dieser die Parlamente als Schwatzbuden" und bemängelte das Fehlen ihres dezisionistischen Bewusstseins,[25] wollte jener gerade das deliberative Potential der direkten intersubjektiven Einigung gegen die heteronom-bürokratische Gewaltordnung der zeitgenössischen Parlamente verteidigen. In der Sprache ist nämlich Gewaltlosigkeit nicht nur möglich, sie verschließt sich der Kolonisierung durch rechtliche Gewalt sogar vollständig, wie Benjamin am Beispiel der Straflosigkeit der Lüge zu demonstrieren versucht. Lebensweltliche Kommunikation wird so zum alltagspraktischen Anknüpfungspunkt einer nicht- legalen Gemeinschaft, einer Sozialität jenseits des mythischen" Rechts.[26] Diese Idee einer nicht-legalen Gemeinschaft fordert regelmäßig den Einspruch der politischen Anthropologie heraus. Da die Menschen nun einmal nicht so", also zur Freiheit reif, seien, weil sie entweder ein Volk von Teufeln", mindestens aber in zwei Welten verhaftet seien, von denen nur eine ihnen ein vernünftiges Handeln ermöglicht, die andere sie aber an ihre aggressiven Leidenschaften bindet, könnte die von Benjamin geforderte Entsetzung des Rechts" nur zu katastrophalen Konsequenzen führen. Diese anthropologischen Annahmen sind die wesentlichen Voraussetzungen einer jeden Rechtfertigungstheorie der Souveränität von Hobbes bis Kant gewesen. Den Versuch einer empirischen Entkräftung dieser Befürchtungen unternimmt Marx, wenn er von den Veränderungen schwärmt, die sich in Paris zur Zeit der Kommune zugetragen haben sollen: Keine Leichen mehr in der Morgue, keine nächtlichen Einbrüche und fast keine Diebstähle mehr, seit den Februartagen von 1848 waren die Straßen von Paris wirklich einmal wieder sicher, und das ohne irgendwelche Polizei." (Marx hatte, der Möglichkeit einer Entkleidung der Polizei von allen politischen Eigenschaften" wohl selbst misstrauend, diesen Vorgang bereits im nächsten Absatz seines Textes mit einer Beseitigung" der Polizei gleichgesetzt.) Wir', sagt ein Mitglied der Kommune, wir hören jetzt nichts mehr von Mord, Raub und Tätlichkeiten gegen Personen; es scheint in der Tat, als ob die Polizei all ihre konservativen Freunde mit nach Versailles geschleppt habe.'"[27] Marx verschweigt hier freilich, dass in der Pariser Kommune vor allem deshalb keine Polizei benötigt wurde, weil die gesamte Bevölkerung in Waffen stand. Aber dennoch gibt seine Beschreibung einen wichtigen Fingerzeig zur Frage der Möglichkeit eines politischen Gemeinwesens ohne Polizei. Sicherheit kann hergestellt werden, so will Marx zum Ausdruck bringen, obwohl es keine Polizei gibt, aber auch weil es keine Polizei gibt. Durch tief greifende soziale und politische Umwälzungen können auch die Ursachen von Kriminalität beseitigt werden, gegen Straftatbestände wie Einbruch und Diebstahl gibt es keine bessere Politik als eine gerechte und ausreichende Verteilung von Gütern an alle. Dies verdeutlicht auch die folgerichtige Kampfansage, die der Polizei gelegentlich auf Demonstrationen gemacht wird: No justice – no peace", bzw. deren Umkehrschluss: Peace comes with justice. Kriminalität an der Wurzel, also auf einer nicht anthropologischen, sondern ökonomischen Ebene zu bekämpfen, stellt sich als das bessere Mittel zum Zwecke der Herstellung gesellschaftlicher Sicherheit heraus.[28] Bezüglich der anderen Straftatbestände, die nicht die Verteilung von Gütern, sondern das Leben und die körperliche Unversehrtheit von Menschen betrifft, geht Marx sogar noch einen Schritt weiter, hier ist es gerade die Existenz der Polizei (und ihrer konservativen Freunde"), die diese Gewalt immer wieder erzeugt. So lange eine Gesellschaft sich eine Institution leistet, die das soziale Leben prinzipiell mit Gewalt durchzieht, wird sie auf die Entwicklung gewaltloser Interaktionsmöglichkeiten nicht hoffen dürfen. Auf der Ebene von zwischenstaatlichen Beziehungen hatte Kant dieses Argument bereits in seiner Schrift Zum ewigen Frieden vorgebracht, auf die Benjamin in anderem Zusammenhang (vgl. KG 185 f.) verweist: So lange stehende Heere und damit die ständige implizite Drohung der Gewaltanwendung fortbestehen, ist kein dauerhafter Frieden zu verwirklichen.[29] Benjamin argumentiert jedoch wiederum nicht aus der historischen Erfahrung heraus, sondern transzendental. Weder auf empirisch anzweifelbare Daten noch auf die Spekulation über das Verhalten der Menschen im Kommunismus muss seine Kritik der Gewalt daher besonderes Gewicht legen. Sind Mittel und Zweck nicht mehr logisch miteinander verbunden, so kann aus dem Recht allein niemals schon seine Durchsetzung deduziert werden. Es sind immer noch zusätzliche Erwägungen und Rechtfertigungen vonnöten, welche die Ebene der Mittel betreffen, und hierbei spielen nicht nur Effizienz-, sondern auch moralische Kriterien eine Rolle.[30] Damit ist insbesondere das Strafrecht diskreditiert, das nicht einmal eine prospektive Erzwingung des rechtlich Gebotenen, sondern eine retrospektive Vergeltung eines rechtlich Verbotenen zum Inhalt hat. Aus der Übertretung des Gesetzes, sei es rechtlich oder moralisch kodifiziert, kann niemals ohne weiteres die Anwendung exekutiver Gewalt legitimiert werden, so schwer das begangene Verbrechen auch sei. Dies bedeutet auf keinen Fall, darin könnte Benjamin klarer nicht sein, dass die letale Gewalt den Menschen bedingungsweise gegeneinander" frei gegeben wäre – denn auf die Frage Darf ich töten?' ergeht als unverrückbare Antwort das Gebot Du sollst nicht töten'" (KG 200). Wird aber aus einer Übertretung des Tötungsverbots die Konsequenz einer Strafbefugnis geschlossen, liegt eine temporale Verwechslung vor. Das Gebot bezieht sich auf das Davor der Tat, während die Strafe sich auf das Danach bezieht, das mit dem Davor in keinem Kausalverhältnis steht. Benjamin, der hier ganz in der Tradition Kants steht, hält Abschreckung grundsätzlich nicht für einen legitimen Strafzweck: Die innere Triebfeder für Gesetzestreue darf niemals einfach Furcht vor Strafe sein. Wenn das der Fall ist, kann es aber genau genommen gar keinen legitimen Strafzweck geben: Aber es (das Gebot( bleibt freilich, so wahr es nicht Furcht vor der Strafe sein darf, die zu einer Befolgung anhält, unanwendbar, inkommensurabel gegenüber der vollbrachten Tat. Aus ihm folgt über diese kein Urteil. [...] (Das Gebot( steht nicht als Maßstab des Urteils, sondern als Richtschnur des Handelns für die handelnde Person oder Gemeinschaft, die mit ihm in ihrer Einsamkeit sich auseinanderzusetzen und in ungeheuren Fällen die Verantwortung, von ihm abzusehen, auf sich zu nehmen haben." (KG 200 f.) Hier zeigt sich ganz deutlich, dass Benjamin nicht grundsätzlich jede Form des Rechts oder des Gesetzes kritisiert, sondern die Frage seiner staatlich-polizeilichen Applikation thematisieren will. Gegen die bisherigen Formen des Rechts und der Rechtsgewalt, die Benjamin als mythisch" bezeichnet, soll eine nicht-etatistische Form des Gebots und der Gebothaftigkeit verteidigt werden, die sich in einer bestimmten jüdisch- messianischen Tradition in Distanz oder Opposition zum Staat verstehen lässt.[31] Die Inkommensurabilität des Gebots gegenüber der vollbrachten Tat veranschaulicht die alttestamentarische Geschichte von Jona, die Benjamins Freund Gerschom Scholem zum Gegenstand einer Exegese gemacht hat, welche er Benjamin bereits vor dem Abfassen der Kritik der Gewalt vorgelesen hatte.[32] Jona wird von Gott ausgesandt, um dem Sündenpfuhl Ninive die Vernichtung als göttliche Strafe zu verkünden. Nachdem Ninive daraufhin umkehrt und den Sünden entsagt, verzichtet Gott auf die Vollstreckung seines Urteils. Jona überkommt daraufhin eine tiefe Enttäuschung, seiner Ansicht nach macht sich Gott der Lüge schuldig, wenn er das einmal verkündete Urteil nicht vollzieht. Diese Enttäuschung, so zeigt Scholem, verwechselt Prophetie mit Deskription. Wie dem Gebot geht es der Prophetie nicht um eine Beschreibung des Zukünftigen, um eine Aussage über die Folgen des Handelns, sondern um die Beeinflussung des Jetzigen. Jona spricht vom Standpunkt des Rechts aus, von dem aus er auch im Recht ist, aber Gott spricht vom Standpunkt der Gerechtigkeit aus. In der Bekehrung wird das Recht überwunden und das Urteil nicht vollstreckt. [...] Denn dies und nichts anderes bedeutet Gerechtigkeit im tiefsten Sinne: Dass zwar geurteilt werden darf, aber die Exekutive davon völlig unterschieden bleibt. Die eigentliche Beziehung des richterlichen Urteils auf die Exekutive, auf die eigentliche Rechtsordnung wird aufgehoben im Aufschub der Exekutive. Das tut Gott mit Ninive."[33] Die Kritik der Gewalt, die sich hier formuliert, ist nicht nur eine Kritik ihrer Latenz, sondern auch eine ihrer Performanz. Der Begriff von der Geltung des Gesetzes, der dem entspricht, könnte man in Anlehnung an Agamben vielleicht als Gesetzeskraft apostrophieren. Im göttlichen Gewaltverzicht, im Verzicht auf eine göttliche Polizei, enthüllt sich die Beziehung von Gesetz und Vollstreckung als arbiträr. Selbst wenn es einer Gesellschaft gelänge, das beste, das gerechteste Recht zu entwickeln, so wird hier deutlich, dass damit die Frage der Erhaltung dieses Rechts noch nicht mitgeklärt ist. Es kann sein, und es mag sich als die effektivere und gerechtere Wahl herausstellen, ein gerechtes Gesetz auszuhandeln und zu beschließen, aber auf seine gewaltförmige Implementierung zu verzichten. Dies heißt aber nicht, dass Gerechtigkeit keine andere Möglichkeit hat, wirksam zu werden, als die des Rechts.[34] Die nihilistische Position Benjamins – nihilistisch, weil sie auf eine Vernichtung des mythischen Rechts zielt, nicht weil sie moralisch prinzipienlos wäre – ist keine quietistische Position der Passivität. Scholem schreibt: Der zur Handlung gewordene Aufschub ist Gerechtigkeit als Tat."[35] Sie ist es als Tat, denn es handelt sich um den Aufschub einer Exekutive durch eine andere: Gerechtigkeit ist die Vollstreckung einer Nichtvollstreckung."[36] Die Suspendierung der Rechtsgewalt muss aktiv verfolgt werden, sie vollzieht damit selbst die Unter- und Durchbrechung des Bannes der mythischen Rechtsformen" (KG 202). Nur sind die Mittel dieser Suspendierung der Exekution reine Mittel, insofern sie eben frei von jeder Beziehung zur Rechtsgewalt sind. Hierin, in also dem Dementi des syllogistischen Bandes von Zwecken und Mitteln, von Recht und Polizei, von Legislation und Exekution stellt sich emphatisch eine Gesellschaftlichkeit erst her, eine Gesellschaftlichkeit, die, wie Werner Hamacher schreibt, es sicht versagt, anders denn als in ihrem bloßen Dasein wirksam zu werden"[37]. Eine Gesellschaft, die nur in ihrer puren Gesellschaftlichkeit wirksam wird, muss freilich nicht unbedingt eine freiere Gesellschaft sein. Auf diesen Punkt weisen insbesondere die beiden durch Althusser beeinflussten Polizeitheorien von Foucault und Rancière hin, die eine ganz andere Herangehensweise an das Problem der Polizei entwickelt haben. In Althussers berühmter Anrufungsszene" wird die Polizei erstmals nicht als exekutive staatliche Institution betrachtet, sondern im weiteren Sinne als Metapher der allgemein gesellschaftlichen subjektivierenden, also sowohl unterwerfenden als auch subjektkonstitutiven, Machteffekte.[38] Ausgehend von einer Analyse der Mikropolitiken der Macht lehnt Foucault darum die traditionelle Souveränitätstheorie ganz als Holzweg ab, weil sie von den wichtigeren, nicht nur politisch-repressiven, sondern sozial-produktiven lokalen Verästelungen der Macht ablenkt, die nicht von Recht und Polizei determiniert sind. Die Polizei ist bei ihm eine historisch spezifische gouvernementale Technik, welche die Gesamtheit aller Maßnahmen bezeichnet, die auf das Glück" der Bevölkerung gerichtet sind.[39] Bei Rancière erfährt der Polizeibegriff eine noch größere Ausweitung, indem er mit Polizei pauschal die Stabilität des ästhetischen, das heißt sinnlichen Regimes einer Gesellschaft insgesamt bezeichnet, die durch politische Interventionen allenfalls kurzfristig unterbrochen, niemals jedoch dauerhaft überwunden werden kann.[40] Aus foucaultianisch-rancièristischer Perspektive könnte ein Einwand gegen Benjamins Kritik der Polizei lauten, dass mit dem einfachen Wegfall staatlicher repressiver Macht wenig gewonnen wäre, da in diesem Fall lediglich andere soziale Disziplinierungsmaßnahmen an die Stelle der wenigstens leicht überblickbaren Polizeigewalt treten könnten. Dies wird mit Benjamin nicht geleugnet. Ihm geht es aber auch nicht um die Entwicklung einer gesamtgesellschaftlichen Utopie, sondern um die Kritik der Staatsgewalt als eines legitimen Mittels zu Rechtszwecken. Mit der von Benjamin geforderten Entsetzung des Rechts samt den Gewalten, auf die es angewiesen ist wie sie auf jenes" (KG 202) ist nicht bereits die Ankunft des Messias eingeläutet, wohl aber die Verwerfung eines Anteils manifester Gewalt in der Gesellschaft. Die utilitaristische Befürchtung, diese Verwerfung könnte in der Konsequenz ein größeres Maß an Gewalt in der Gesellschaft hervorrufen, ist Benjamins System, das nicht konsequentialistisch, sondern deontologisch aufgebaut ist, ganz fremd. Erscheint Benjamins Rigorismus, der ganz wie der Kantische den Blick auf die Wirkung aus der moralisch-politischen Erwägung vollständig verbannen will, zunächst auch kontraintuitiv, so kann sich dessen Sinn erhellen, wenn man das Problem der Polizei mit anderen moralisch-politischen Fragen vergleicht. Auch z.B. die Folter lehnen (die meisten) liberalen Rechtsstaaten ganz unabhängig von der Bewertung ihrer Erfolgschancen ab, hier erscheint es allgemein als plausibel, dass die unveräußerliche Menschenwürde keinem Kosten-Nutzen-Kalkül zum Opfer geworfen werden darf. Benjamins Zug ist es nun, auf dem kantianisch bereiteten Boden einer transzendental argumentierenden Rechtskritik auch die Polizei und die Polizeigesellschaft aus dem Bereich der naiv stattgegebenen Gewalt zu verbannen und unter verschärften philosophischen Rechtfertigungszwang zu stellen. Eine Gesellschaft ohne Polizei ist noch nicht automatisch eine freie Gesellschaft. Aber die Gesellschaft wird so lange nicht frei sein, so lange sie sich vorbehält, ihre Mitglieder (oder ihre Gäste) zu bestrafen oder zu disziplinieren, zu segregieren oder zu exkludieren, zu dirigieren oder zu exploitieren. All diese Maßnahmen umfasst aber der Begriff der Polizei, und sei es der demokratisch kontrollierten und durch liberale Grenzen eingeschränkten Polizei, irreduzibel. Ist aber die Polizei als politisches Mittel diskreditiert, muss auch die politische Strategie der Verrechtlichung in einem anderen Licht erscheinen. Gerechtigkeit stellt sich dann nicht mehr durch das Recht, sondern durch die Durchstreichung seiner Geltung und durch die Inswerksetzung gewaltfreier reiner Mittel her. Die auf eine solche Deaktivierung des Rechts abzielende politische Praxis kann heute also nicht mehr nur auf die Inklusion von aus dem Recht ausgeschlossenen Gruppen und auf eine intern so gerechte Struktur des Rechts wie möglich zielen, sondern muss auch die Etablierung nicht von Rechtsgewalt und also Polizei durchdrungener Bereiche anstreben. Es ist eine solche Destitution und Suspension der souveränen Ordnung, die Bertolt Brecht eingedenk der Pariser Kommune in seiner Resolution der Kommunarden ebenso fordert wie vollzieht: In Erwägung unsrer Schwäche machtet / ihr Gesetze die uns knechten soll'n / die Gesetze seien künftig nicht beachtet / in Erwägung, dass wir nicht mehr Knecht sein woll'n." Die Profanierung der Gesetze durch ihre Nicht-Beachtung: In einer solchen Welt hätte Josef K. am Leben bleiben können. Daniel Loick ----------------------- [1] Franz Kafka: Der Proceß, Frankfurt am Main 1990, S. 7. [2] Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt, in Gesammelte Schriften Band II.1, herausgegeben von Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1991, S. 189 – Im folgenden in Klammern zitiert als KG" + Seitenzahl. [3] Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, in Werke in sechs Bänden, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Bd. IV, Darmstadt 1998, S. 340. [4] Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt am Main 1992, S. 151. [5] Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik, übersetzt und eingeleitet von Ursula Wolf, Reinbek 2006, S. 104 ff. (1112b); vgl. zu Benjamin und dem aristotelisch-kantianischen Verständnis der Zweck-Mittel-Relation ferner Beatrice Hanssen: Critique of Violence. Between Poststructuralism and Critical Theory, London/New York, S. 18. [6] Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in Werke in sechs Bänden, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Bd. IV, Darmstadt 1998, S. 46. [7] Franz Kafka: Der Proceß, a.a.O., S. 9. [8] Ebd., S. 11. [9] Dass ein Unschuldiger ohne erkennbaren Grund von der Polizei verhaftet wird, setzt Kafka als Verfremdungseffekt ein. Für viele Nicht-Weiße sind solche Schikanierungen eine banale alltägliche Tatsache. Im zeitgenössischen US-amerikanischen Rap wimmelt es von Auseinandersetzungen mit derartigen Erfahrungen. So heißt es im Song Who protects us from you? von KRS-One: Well, back in the days of Sherlock Holmes / A man was judged by a clue / Now he's judged by if he's Spanish, Black, Italian or Jew / So do not kick my door down and tie me up / While my wife cooks the stew / 'Cos you were put here to protect us / But who protects us from you?" [10] Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in Gesammelte Schriften 4, Frankfurt am Main 1997, S. 27. [11] Franz Kafka: Der Proceß, a.a.O., S. 15. [12] In Überwachen und Strafen verweist Michel Foucault auf die Instructions von Katharina II., in denen diese programmatisch formuliert, dass die Polizei sich um die Dinge des Augenblicks kümmert, während die Gesetze sich um die dauernden Dinge kümmert. Foucault bringt dieser Augenblicksbezogenheit der Polizei mit einem Überwachungsmechanismus in Verbindung: Zu ihrer Durchsetzung muss sich diese Macht mit einer ununterbrochenen, erschöpfenden, allgegenwärtigen Überwachung ausstatten, die in der Lage ist, alles sichtbar zu machen, sich selbst aber unsichtbar." (Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1994, S. 275) [13] Zwecke", schreibt Benjamin später in einem anderen Zusammenhang, welche für eine Situation gerecht, allgemein anzuerkennen, allgemeingültig sind, sind dies für keine andere, wenn auch in anderen Beziehungen noch so ähnliche Lage." (KG 196) [14] Giorgio Agamben: Ausnahmezustand (Homo Sacer II.1), Frankfurt am Main 2004, S. 42. [15] Giorgio Agamben: Souveräne Polizei, in ders.: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Freiburg/Berlin 2001, S. 99 f. [16] In Agambens Analyse besteht die Gefahr für eine weltweite Ausweitung von Ausnahmezuständen immer dann, wenn Kriege vom Standpunkt einer Weltinnenpolitik" aus betrieben werden und daher als reine Polizeiaktionen konzipiert werden. Dies macht die Kriminalisierung des Feindes notwendig und verunmöglicht Verhandlungen auf gleicher Augenhöhe", wie sie unter gleichen Souveränen noch möglich war (vgl. ebd., S. 102). Dies entspricht auch Hannah Arendts Beobachtung, dass wer die ganze Erde als sein zukünftiges Territorium betrachtet, das Gewicht auf das Instrument der innenpolitischen Gewaltausübung legen und das eroberte Territorium weniger mit den Methoden und dem Personal der Armee als mit denen der Polizei zu regieren suchen" (Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München 2006, S. 649) muss. Vgl. auch Arendts ausführliche Analyse der eminenten Bedeutung, welche die Polizei im allgemeinen für die Ausübung totaler Herrschaft spielt, ebd. S. 867 ff. [17] Dies trifft sich mit den – diskutablen – Analysen des Nationalsozialismus von Franz L. Neumann, der den Nationalsozialismus nicht als Ausdruck einer extremen Souveränität betrachtet, sondern als Nicht- Staat, in dem kein souveräner Wille mehr exekutiert werden kann, vgl. Franz Neumann: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1984. [18] Axel Honneth: Eine geschichtsphilosophische Rettung des Sakralen. Zu Benjamins Kritik der Gewalt', in ders.: Pathologien der Vernunft. Geschichte und Gegenwart der Kritischen Theorie, Frankfurt am Main 2007, S. 143. [19] Karl Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW 17, S. 339 f. [20] Eine ähnliche Zurückweisung der Zweck-Mittel-Relation findet sich auch bei Hannah Arendt, welche die instrumentelle Rationalität auf dem Gebiet der Politik als eine Verdrängung von im emphatischen Sinne verstandenem menschlichem Handeln zugunsten eines bloßen Herstellens" interpretiert, vgl. Hannah Arendt: Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München 2007, S. 291. [21] Dass die Kritik der Gewalt die Philosophie ihrer Geschichte" sei, wie Benjamin konstatiert, bedeutet, dass ihr Maßstab nicht unmittelbar gegeben ist, sondern nur auf dem Umweg der Idee ihres Ausgangs" gewonnen werden kann, die allein eine kritische, scheidende und entscheidende Einstellung auf ihre zeitliche Data ermöglicht." (KG 202) Eine Rechtfertigung von Gewaltlosigkeit, wenn man sie überhaupt für notwendig erachtet, verbietet sich Benjamin, so wird zum Ende seines Textes deutlich, aus epistemologischen Gründen. Erst der Standpunkt der Gerechtigkeit selbst, die als allgemeine Erlösung die bisherige Geschichte beenden könnte, mag man ihn als Ankunft des Messias oder als Kommunismus chiffrieren, könnte die bisherige Weltgeschichte der Erkenntnis aufschließen. [22] Benjamin kam mit Kant vor allem durch den Marburger Neukantianer Hermann Cohen in Kontakt, der die Ironie bereits klar analysiert hatte, die sich bei Kant durch die Vermischung des Rechts mit der polizeilichen Zwangsbefugnis ergeben hat. Hätte Kant dem Zwang entsagt, so hätte er eine freie, unbefangene, souveräne Kritik an dem positiven Rechte" (Hermann Cohen: Kants Begründung der Ethik nebst ihren Anwendungen auf Recht, Religion und Geschichte, repr. Nachdruck der 2. verb. und erw. Auflage von 1910, Werke 2, Hildesheim 2001, S. 399) üben und seine Philosophie tatsächlich zum Instrument von Herrschaftskritik werden können. Aber", diagnostiziert Cohen, es lag in dem Begriffe des Zwangs, an den er sich anklammerte, um eine feste Unterscheidung gewinnen zu können, ein verhängnisvoller Zauber der Verführung." Durch die unhinterfragte Prämisse von der Notwendigkeit des Zwangs verschließt sich Kant auch den Blick auf die mögliche Ungerechtigkeit der bestehenden Rechtsordnung insgesamt: Wie konnte es ihm (Kant( dabei entgehen, dass im Recht sehr viel Unrecht aufgespeichert ist? Wie konnte sich ihm die drückende Einsicht verschleiern: dass die Unzulänglichkeit der Erfahrung gegenüber der Idee ihre unzweifelhafte geschichtliche Dokumentierung findet in der Ungerechtigkeit so vieler Rechte?" (ebd., 397). – Bei KRS-One klingt das so: Lookin' through my history book / I've watched you as you grew / Killin' blacks and callin' it the law / and worshipping jesus, too." [23] Die Kritik an kontraktualistischen Staatsbegründungen, die vom Menschen als rationalem Egoisten ausgehen, wurde in der Geschichte der Politischen Philosophie am prominentesten von David Hume vertreten. Mit der Haltung des Wohlwollens gegenüber anderen verfügen Menschen über eine Bandbreite an emotionalen Einstellungen, die sich nicht auf rein egoistische Interessen reduzieren lassen. Obwohl Benjamin mit den Schriften Humes vertraut war, dürfte es wahrscheinlicher sein, dass Benjamin den Gedanken der Rationalität der gegenseitigen Hilfe" vom Anarchisten Kropotkin übernommen hat (vgl. Peter Kropotkin: Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, Frankfurt am Main 2005). Benjamin zitiert jedenfalls mehrfach den wichtigsten Schüler Kropotkins, Gustav Landauer. [24] Friedrich Engels: Herr Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, MEW 20, S. 262. [25] Vgl. Carl Schmitt: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin 1985, S. 46. – Benjamin ergreift mit seiner kritischen Theorie der Souveränität entschieden Partei gegen den Staat an sich und damit auch gegen den bürgerlich-parlamentarischen Rechtsstaat. Dass er dies zur Zeit der Weimarer Republik getan hat, hat ihm den häufigen Vorwurf eingebracht, er habe die wahren Gegner seiner Zeit verkannt oder ihnen sogar in die Hände gespielt. Benjamins linke" Parlamentarismuskritik weise eine gefährliche Nähe zu rechten" Varianten der Parlamentarismuskritik auf, so dass Benjamin an der Dekomposition der politischen Institution der labilen Weimarer Demokratie indirekt mit beteiligt gewesen sei. Diese Kritik scheint pauschal jeden Versuch diskreditieren oder zumindest unter Generalverdacht stellen zu wollen, zur gegenwärtigen Form der parlamentarischen Demokratie Alternativen zu entwickeln. Die angebliche geheime Allianz" von Benjamins Kritik der Gewalt mit konservativen oder reaktionären Parlamentarismuskritiken ist heute so sehr zum Gemeinplatz geworden, dass sie kaum mehr hinterfragt wird; sie geht aber an der Sache vorbei. Es ist die syndikalistische und bolschewistische Kritik an den Parlamenten, die Benjamin als im ganzen treffend" (KG 191) bezeichnet. Aber der Kern dieser Kritiken ist gerade nicht, die parlamentarische Deliberation durch dezisionistische Entscheidung abzukürzen, sondern im Gegenteil, die Arenen und Foren für Kommunikationsprozesse durch die Einrichtung von Räten zu vervielfältigen. Was Benjamin am Parlament kritisiert, ist nicht seine Entscheidungs-, sondern seine Kommunikationsunfähigkeit; es ist für ihn nicht mit zuwenig, sondern mit zuviel Gewalt behaftet. Auch der misanthropische Massenhass, der rechte Parlamentarismuskritiken von jeher kennzeichnete, kann Benjamin kaum attestiert werden, zeigt doch schon ein kurzer Blick in dessen rezeptionsästhetische Schriften, dass ihm ein bürgerlicher Elitismus, auf dem der anti-demokratische Dezisionismus meistens aufgebaut ist, ganz fremd ist. [26] Es ist wenig überraschend, dass dieser Gedanke Benjamin das Lob von Jürgen Habermas eingebracht hat (vgl. Jürgen Habermas: Bewusstmachende oder rettende Kritik – die Aktualität Walter Benjamins, in Siegfried Unseld (Hrsg.): Zur Aktualität Walter Benjamins, Frankfurt am Main 1972, S. 220); nach der poststrukturalistischen Dekonstruktion des Gegensatzes von Sprache und Gewalt ist er aber zumindest in der ursprünglichen Formulierung nicht mehr aufrechtzuerhalten. Es genügt bereits, an die juristische Regulierung von Hate Speech zu erinnern, um die weit reichende These von einer prinzipiellen Unzugänglichkeit der Sprache für juridische Gewalt zu widerlegen, vgl. etwa Judith Butler: Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998, insgesamt zum Nicht-Gegensatz von Sprache und Gewalt vgl. auch Daniel Loick: Words like violence. Konstellationen des Unvernehmens, in Steffen K. Herrmann, Sybille Krämer und Hannes Kuch (Hrsg.): Verletzende Worte. Die Grammatik sprachlicher Missachtung, Bielefeld 2007. – Dies muss aber Benjamins grundlegendes Argument nicht unbedingt aushebeln: Es gibt auch schon in der bestehenden Gesellschaft affektive und rationale Ressourcen sozialer Kooperation jenseits des Rechts, deren Ausschöpfung aber durch die Dominanz polizeilicher Konfliktschlichtungsmaßnahmen verstellt ist. [27] Karl Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich, a.a.O., S. 349. [28] Diesen Gedanken hat – mit dann allerdings unübersehbar autoritären bzw. konformistischen Implikationen – am prägnantesten Ernst Bloch weiter verfolgt, indem er den Schluss zog, die Revolution sei die einzige wirklich radikale Straftheorie", vgl. Ernst Bloch: Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt am Main 1980, S. 297 ff. [29] Stehende Heere (miles perpetuus) sollen mit der Zeit ganz aufhören.' Denn sie bedrohen andere Staaten unaufhörlich mit Krieg, durch die Bereitschaft, immer dazu gerüstet zu erscheinen; [...] wozu kommt, dass zum Töten, oder getötet zu werden in Sold genommen zu sein einen Gebrauch von Menschen als bloßen Maschinen und Werkzeugen in der Hand eines andern (des Staats) zu enthalten scheint, der sich nicht mit dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person vereinigen lässt." (Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in Werke in sechs Bänden, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Bd. VI, Darmstadt 1998, S. 197 f.) – alles Argumente, die sich auf die Agenten der staatlichen Zwangsbefugnis ebenfalls anwenden lassen. [30] Dies gilt übrigens auch für linke und linksradikale Zusammenhänge, die häufig ihre eigene polizeiliche Logik herausbilden. Dass Leute, die ein Palituch tragen, aus einem autonomen Zentrum herausgeschmissen werden, folgt weder direkt daraus, dass das Palituch ein Symbol für Antisemitismus ist noch daraus, dass das Plenum des Zentrums dies demokratisch beschlossen hat. Es sind immer noch zusätzliche Überlegungen zur Frage notwendig, ob und wenn ja wie ein solcher Beschluss umgesetzt werden soll. Es könnte das Ergebnis einer solchen Überlegung sein, dass es besser ist, den Beschluss zwar zu fällen, aber nicht umzusetzen: aus Angst davor, zur Polizei zu werden, d.h. selbst auf gewaltbasierte Interaktionsformen zurückzugreifen, Mackerstrukturen und Ausschlüsse zu produzieren, etc. [31] Zur Wahlverwandtschaft" von libertärem Denken" und jüdischem Messianismus" vgl. Michael Löwy: Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und libertäres Denken. Eine Wahlverwandtschaft, Berlin 1997, zu Benjamin insbes. Kap. 6, sowie Judith Butler: Kritik, Zwang und das heilige Leben in Walter Benjamins Zur Kritik der Gewalt', in Susanne Krasmann und Jürgen Martschukat (Hrsg.): Rationalitäten der Gewalt. Staatliche Neuordnungen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, Bielefeld 2007. [32] Die Idee des Aufschubs, schreibt Scholem in seinen Erinnerungen, hat Benjamin beeindruckt und seine eigenen Überlegungen zum Konzept der Gerechtigkeit inspiriert, vgl. Gershom Scholem: Walter Benjamin – Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt am Main 1975, S. 180. – Zum Vergleich von Scholem und Benjamin und dem Zusammenhang von Zeit, Schuld und Rechtsordnung vgl. Werner Hamacher: Schuldgeschichte. Benjamins Skizze Kapitalismus als Religion', in Dirk Baecker (Hrsg.): Kapitalismus als Religion, Berlin 2003, S. 113 ff. [33] Gershom Scholem: Über Jona und den Begriff der Gerechtigkeit, in ders.: Tagebücher nebst Aufsätzen und Entwürfen bis 1923, 2. Halbband: 1917- 1923, Frankfurt am Main 2000, S. 526. [34] Dies scheint aber Jacques Derrida anzunehmen, wenn er in seiner ansonsten instruktiven Benjamin-Lektüre ohne Umschweife voraussetzt, dass die Gerechtigkeit [...] erfordert, dass sie in einem Recht sich einrichtet, das enforced' werden muss" (Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der mystische Grund der Autorität", Frankfurt am Main 1991, S. 46) – eine Behauptung, die Derrida ganz untypischerweise unhinterfragt aus dem rechtsphilosophischen Kanon übernimmt. [35] Gershom Scholem: Über Jona und den Begriff der Gerechtigkeit, a.a.O., S. 528. [36] Ebd., S. 341. [37] Werner Hamacher: Afformativ, Streik, in Christiaan L. Hart Nibbrig (Hrsg.): Was heißt Darstellen"?, Frankfurt am Main 1994, S. 347. – Ähnliche Überlegungen finden sich auch bei Agamben, der sich ebenfalls auf Benjamin bezieht: Im Recht seine Nicht-Beziehung zum Leben und im Leben seine Nicht-Beziehung zum Recht offenbar werden zu lassen heißt, zwischen ihnen einen Raum für menschliches Handeln zu eröffnen, der vormals den Namen des Politischen' für sich einforderte. (...( Wahrhaft politisch ist indessen nur solches Handeln, das den Bezug zwischen Gewalt und Recht rückgängig macht. Und nur vom Raum aus, der so sich öffnet, wird es möglich sein, die Frage nach einem eventuellen Gebrauch des Rechts nach der Deaktivierung des Dispositivs zu stellen, das es (...( an das Leben band." (Giorgio Agamben: Ausnahmezustand, a.a.O., 103 f.) [38] Vgl. Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate, in ders.: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Staatstheorie, Hamburg/Berlin, S. 140. [39] Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen, a.a.O., S. 86. [40] Vgl. Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt am Main 2002, S. 40 ff.