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Das Geplante Kind. Demographischer, Wirtschaftlicher Und Sozialer Wandel In Einer Mexikanischen Gemeinde

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Thomas Schweizer (1949 – 1999) und Uta Holter (1935 – 1995) gewidmet Vorwort Demographische Prozesse sind in jeder Gesellschaft von fundamentaler Bedeutung. Die momentan in Deutschland geführte Diskussion über den ‚demographischen Faktor‘ im Rentensystem zeigt, welche gesellschaftlichen Konsequenzen das Zusammenspiel von Fertilität, Mortalität und Migration haben kann. Die Bedeutung von demographischen Prozessen wird nicht nur in Deutschland und Europa diskutiert. In fast allen Teilen der Welt setzen sich Wissenschaftler, Politiker, Sozialarbeiter und Entwicklungshelfer mit den Ursachen und Folgen demographischer Transformationen auseinander. In Deutschland und Westeuropa werden die sehr niedrigen Geburtenziffern beklagt, im südlichen Afrika zeigen sich die katastrophalen Folgen der Aidsepidemie immer deutlicher und in Mittelamerika nimmt die Zahl der illegalen Arbeitsmigranten in die USA beständig zu. Die ethnologische Herangehensweise an demographische Phänomene verfolgt dabei einen spezifischen Ansatz. Um der kulturellen Komplexität demographischen Wandels gerecht zu werden, versucht der ethnologische Ansatz, möglichst viele der Verflechtungen der demographischen, wirtschaftlichen und sozialen Prozesse zu erfassen. Dies kann nur gelingen, indem sich die Untersuchung über einen längeren Zeitraum auf eine überschaubare Gruppe konzentriert. Die vorliegende Arbeit stellt die Ergebnisse einer Feldforschung vor, die ich 1996/1997 in einer Gemeinde Zentralmexikos zu demographischen, wirtschaftlichen und sozialen Transformationsprozessen durchgeführt habe. Wie in ganz Mexiko ist die Bevölkerung der Gemeinde aufgrund sehr hoher Geburtenraten und zurückgehender Sterbeziffern in den letzten Jahrzehnten sehr stark gewachsen. Die Lebenserwartung ist ebenso wie die nationale und internationale Migration angestiegen. Seit einigen Jahren sinken jedoch auch die Geburtenziffern. Die Planung der Geburt eines Kindes ist in der deutschen Gesellschaft ein bekanntes Phänomen. Die Frage, wann der richtige Zeitpunkt für ein Kind gekommen ist, ist für die meisten zukünftigen Eltern nicht leicht zu beantworten. Es gilt, die Vor- und Nachteile der Entscheidung gut abzuwägen. Auch in der untersuchten mexikanischen Gemeinde gibt es immer mehr geplante Kinder. Der Zugang zu effizienten Verhütungsmethoden, aber auch ein veränderter Diskurs zwischen den Geschlechtern und neue Möglichkeiten, sich wirtschaftlich zu etablieren, haben dazu geführt, daß immer mehr Paare eine aktive Familienplanung praktizieren. VII VIII Von vielen Seiten habe ich Zuspruch und Unterstützung erfahren, ohne die diese Arbeit nicht möglich gewesen wäre. Ich danke zunächst meinen Informanten und Freunden in Pueblo Nuevo. 1 Ihre Gastfreundschaft, Offenheit und Hilfsbereitschaft haben mich sehr berührt, und ich bin dankbar dafür, daß sie mich an ihrem Leben haben teilnehmen lassen. Auch wenn ich nicht alle Informanten namentlich nennen kann, danke ich jedem einzelnen für die Zeit und die Informationen, die ich erhalten habe. Meine Freundin, Feldforschungsassistentin und comadre Angela Maya und ihre Familie sind Teil von meinem und dem Leben von Michael Schnegg, meinem Lebensgefährten, geworden. Das Wiedersehen Anfang diesen Jahres war eine Fortsetzung dieser besonderen Beziehung. Ich danke auch Margarita Evaristo, ihrer starken und bemerkenswerten Mutter Maria, und ihrer Familie. Ebenfalls bedanken möchte ich mich bei Graciella Morales, Gloria Bautista, Julia Hernandez, Herlinda Albarado, Felica de la Cruz, Guadalupe Guerrero, Carmela Hernandez, Mariebel Reyes, Berta Guerrero und Lidia Vanseca. Das Vertrauen und die Zuneigung, die mir diese Frauen entgegengebracht haben, haben mein Verständnis der Lebenssituation von Frauen im ländlichen Mexiko wesentlich bedingt. Fransisco Maya hat für mich eine Erhebung des Land- und Viehbesitzes durchgeführt, die für mein Verständnis der Wirtschaftsweise sehr wichtig war. Mein Assistent Miguel Garcia hat für mich einen Großteil der Männer der Gemeinde befragt. Sein beeindruckendes Verständnis für mein Vorgehen und die hilfreichen Gespräche zur Lebenssituation der Männer der Gemeinde haben meine Arbeit wesentlich bereichert. Bei ihnen allen bedanke ich mich sehr. In Mexiko war außerdem die Unterstützung von Prof. Dr. Homero Martínez (UNAM, Mexiko-Stadt) und seiner Familie, die mich schon bei meinem ersten Aufenthalt 1995 herzlich aufgenommen haben, entscheidend für das Gelingen der Forschung. Prof. Dr. H. Russell Bernard (University of Florida, Gainesville), den ich das Glück hatte, während seines Humboldt-Aufenthaltes 1994/1995 an der Universität zu Köln kennenzulernen, vermittelte mich an Dr. Martínez. Für diesen entscheidenden Kontakt, aber auch für seinen in vielen Gesprächen vermittelten visionären ethnologischen Ansatz, bin ich sehr dankbar. Er hat mich gelehrt, daß die Antwort auf eine Frage nicht präzise genug sein kann und daß hierbei eine methodische Kompetenz jenseits wissenschaftlicher Grabenkämpfe entscheidend ist. Durch Dr. Martínez bekam ich Kontakt zu Nutrición, dem nationalen Institut für Ernährungswissenschaften ‚Salvador Zubirán’, in Mexiko-Stadt, und einem seiner Direktoren, Dr. Adolfo Chavez. Aufgrund der Empfehlungen von Nutrición, Dr. 1 Der besseren Lesbarkeit halber wird im folgenden immer dann die maskuline Form verwendet, wenn von einer Gesamtheit an Personen die Rede ist. IX Martínez und Dr. Chavez war es relativ einfach möglich, eine Forschungserlaubnis zu erhalten. Hierfür und auch für die vielen Gespräche und Ideen zu meiner Arbeit bin ich sehr dankbar. Durch den Kontakt zu Nutrición lernte ich auch Liliana Valencia kennen, die im Tal von Solís ein ernährungswissenschaftliches Projekt durchführte. Daß ich sie gleich zu Beginn der Forschung kennenlernte und sie mich schon nach sehr kurzer Zeit in ihre Familie integrierte und mir jede nur denkbare Unterstützung gab, empfinde ich als großes Glück. Ihrer Freundschaft verdanke ich sehr viel. Den Mitarbeitern des Gesundheitszentrums Solís, insbesondere Dr. Benigno Linares und seiner Frau Estella, Edricy Morales und seiner Frau Carmen und der Krankenschwester Anita Maldonado, danke ich für ihre fortwährende Unterstützung meiner Forschung. Sie haben mir Einblick in die Archive des Zentrums gewährt, den ersten Kontakt zu Angela Maya hergestellt und mir die Räumlichkeiten des Zentrums zur Verfügung gestellt. Ebenfalls bedanken möchte ich mich bei den Lehrern der primaria und tele-secundaria in Pueblo Nuevo und dem Pfarrer von Solís, die sich die Zeit genommen haben, meine vielen Fragen zu beantworten. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstütze meine Arbeit großzügig mit einem dreijährigen Stipendium im Rahmen des von Prof. Dr. Thomas Schweizer initiierten und geleiteten Leibniz-Programms. Den Mitgliedern des Leibniz-Programms, Klaus Auer, Christine Avenarius, Stefanie Lang, Sandra Liebscher, Dorothea Meyer-Bauer und Sara Thesen, danke ich für ihre hilfreiche und konstruktive Kritik. Ebenfalls bedanken möchte ich mich bei den Mitgliedern von Thomas Schweizers Forschungskolloquium und der ‚Kaffeerunde‘ des Kölner Instituts, die mir viele wichtige Anregungen gegeben haben. Im Herbst 1995 halfen mir Prof. Dr. Arthur Rubel (University of California, Irvine) und seine Frau Prof. Dr. Carole Browner (University of California, Los Angeles) während eines Aufenthaltes in Irvine, meine Forschungsfragen zu präzisieren. Hierfür und auch für das Zurverfügungstellen ihrer ethnodemographischen Fragebögen bin ich ihnen sehr dankbar. Den Teilnehmern des von Thomas Schweizer auf der DGV Tagung 1997 in Frankfurt/Main geleiteten Workshops zu ‚Flexibilität und Wandel‘ und den Teilnehmern des von Thomas Schweizer und Prof. Dr. Douglas White (University of California, Irvine) geleiteten Workshops in Köln im Mai 1998 danke ich für die anregenden und hilfreichen Diskussionen erster Ergebnisse meiner Arbeit. Meine Eltern Gerhard und Margret Pauli haben mich vor, während und nach der Forschung immer unterstützt. Durch ihre fortwährende Ermutigung und ihren Zuspruch haben sie wesentlich zum Gelingen der Arbeit beigetragen. Mein Vater hat die Arbeit mehrfach Korrektur gelesen und durch seine sprachlichen Fähigkeiten an mehreren wichtigen Stellen entscheidend verbessert. Hierfür danke ich ihnen sehr. X Mein herzlicher Dank geht auch an Dr. Rita Kramp für ihre sehr hilfreiche Diskussion meiner Ergebnisse und ihre Unterstützung bei der Eingabe der Zensusdaten. Stefanie Lang und Anne Scholz haben das Manuskript Korrektur gelesen und wertvolle Verbesserungsvorschläge gemacht. Sie haben mir wichtige Hinweise gegeben und sich die Zeit genommen, ausführlich meine Ergebnisse mit mir zu diskutieren. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Jeder Ethnologe, dessen Partner auch Ethnologe ist, weiß, wie wertvoll diese Unterstützung während des gesamten Forschungsprozesses ist, und daß es kaum möglich ist, die vielzähligen Dimensionen der Unterstützung gebührend in einem Vorwort zu würdigen. Für die unzähligen Diskussionen, Anregungen und Hilfen von Michael Schnegg, der mir den Mut gegeben hat, an das zu glauben, was ich weiß, und das auch auszudrücken, bin ich mehr als dankbar. Meine Arbeit hat sich durch sein intellektuelles Gespür und seinen kritischen, aber immer konstruktiven Blick, wesentlich verändert und verbessert. Ich widme diese Arbeit Prof. Dr. Thomas Schweizer und Dr. Uta Holter. Zu Beginn meines Ethnologiestudiums habe ich Uta Holter als meine Dozentin kennengelernt und war von Anfang an von ihrer Persönlichkeit beeindruckt. Sie ist für mich als Forscherin und Mensch ein großes Vorbild. Ihre Fähigkeit zuzuhören, die richtigen Fragen zu stellen, zu ermutigen und zu begeistern fehlen mir sehr. Ich empfinde es als großes Glück, Thomas Schweizer als Doktorvater und Mentor gehabt zu haben. Er hat mein Verständnis der Ethnologie entscheidend geprägt und mich schon früh während meines Studiums gefördert. Er hat mich in sein Leibniz-Programm aufgenommen und war später für meine Anstellung am Kölner Institut verantwortlich, wofür ich sehr dankbar bin. Durch ihn war es mir möglich, meine Arbeit mehrfach auch international vorzustellen. Ich habe sehr viel von ihm gelernt und seine analytischen Fähigkeiten und seine konstruktive Kritik des Manuskripts haben meine Arbeit ganz wesentlich verbessert. Seine wissenschaftliche Arbeit ist für mich wegweisend. Sein viel zu früher Tod hinterläßt eine nicht zu schließende Lücke. Zu großem Dank verpflichtet bin ich Prof. Dr. Hartmut Lang (Universität Hamburg). Wie Thomas Schweizer hat er meine Arbeit von Anfang an begleitet und mir in vielen Phasen des Projekts durch seine Unterstützung geholfen. Seine Arbeit ‚an der Sache‘ fernab von Hierarchien und Richtungskämpfen, seine Begeisterung an Erkenntnisgewinn und seine Anerkennung der oft mühseligen Datenauswertung waren für das Gelingen der Arbeit entscheidend. XI Ganz besonders dankbar bin ich auch Prof. Dr. Michael Casimir vom Kölner Institut, der nach Thomas Schweizers Tod die Betreuung der Arbeit übernahm. In einer für mich schwierigen Zeit waren seine konstruktive Kritik, seine Ermutigungen und unser gemeinsames Interesse an populationsdynamischen Fragestellungen mehr als hilfreich. Der Herausgeberin der Reihe, Prof. Dr. Ulla Johansen, bin ich für die sorgfältige Lektüre des Manuskripts sehr dankbar. Ihre unschätzbare Erfahrung als Herausgeberin hat das Manuskript in vielen Punkten verbessert. Dr. Margarete Schweizer hat den entscheidenden Hinweis für den Titel der Arbeit gegeben, wofür ich ihr herzlich danken möchte. Vom Rektor der Universität zu Köln habe ich einen Druckkostenzuschuß erhalten, für den ich mich sehr bedanke. Viele Personen haben mich bei dieser Arbeit unterstützt, für das Ergebnis bin ich allein verantwortlich. Die Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln im August 1999 als Dissertation angenommen. Die Gutachter waren Prof. Dr. Michael Casimir und Prof. Dr. Hartmut Lang; der Tag des Rigorosums war der 8. Dezember 1999. Köln, im August 2000 Julia Pauli Inhaltsverzeichnis 1 2 3 4 Einleitung: Fertiler Wandel im kulturellen Kontext 1 1.1 Zum Verhältnis von Ethnologie und Demographie ............................. 1 1.2 Schwerpunkte, Ziele und Aufbau der Fallstudie.................................. 5 Grundlagen einer Theorie des fertilen Wandels 9 2.1 Wandel der sozialen und wirtschaftlichen Vorteile von Kindern...... 12 2.2 Reproduktive Entscheidungen als bewußte Entscheidungen............. 23 2.3 Wissen über und Zugang zu effizienter Geburtenkontrolle............... 30 Methoden und Daten 33 3.1 Auswahl des Forschungsortes ............................................................ 33 3.2 Aufbau und Verlauf der Forschung ................................................... 36 3.3 Rolle und Probleme während der Forschung..................................... 52 Ethnographie Pueblo Nuevos 57 4.1 Der regionale Kontext - Das municipio Temascalcingo im Tal von Solís, Bundesstaat México............................................... 57 4.2 Von der Hazienda über das ejido bis in die USA Die Gemeinde Pueblo Nuevo............................................................. 63 4.2.1 Entstehung und Entwicklung Pueblo Nuevos............................... 64 4.2.1.1 Die Vorläufer – Das Tal und die Hazienda von Solís 4.2.1.2 Der Kampf des Juan Correas um das ejido 64 69 4.2.2 Pueblo Nuevo am Ende des 20. Jahrhunderts............................... 77 4.2.2.1 Lebensbedingungen und Infrastruktur 4.2.2.2 Demographische Charakteristika 4.2.2.3 Sprache, Ethnizität und Religion 4.2.2.4 Wirtschaftliche Organisation 4.2.2.5 Politische Organisation 4.2.2.6 Soziale Organisation und Verwandtschaftssystem 4.3 77 98 117 120 126 128 Zusammenfassung der Ergebnisse ................................................... 144 XIII XIV 5 Soziale Netzwerke und reproduktives Verhalten 5.1 Bisherige Ansätze............................................................................. 147 5.2 Das soziale Umfeld der Frau anhand ihres persönlichen Netzwerkes ................................................................. 153 5.2.1 Unterteilung des Lebenszyklus der Frau .................................... 153 5.2.2 Operationalisierung des Konzepts der sozialen Rolle ................ 154 5.2.3 Von der Herkunftsfamilie zur Prokreationsfamilie – Die wichtigsten Merkmale der mexikanischen Familienstruktur ..... 156 5.2.4 Die Sozialstruktur der Frau in vier verschiedenen Phasen des Lebenszyklus............................................................ 159 Soziale Rollen im Kontext ............................................................... 172 5.3.1 Von der Freundin zur comadre................................................... 178 5.3.2 ‚An erster Stelle meine Mutter‘ .................................................. 182 5.3.3 Der strenge, aber auch helfende Vater........................................ 185 5.3.4 ‚Weil ich immer auf meine Geschwister aufpassen mußte‘ ....... 186 5.3.5 Der Ehemann als Versorger........................................................ 188 5.3.6 Konkurrenz unter Frauen Schwiegermutter und Schwiegertochter .................................... 193 5.3.7 ‚Meine cuñadas retteten mich‘ ................................................... 196 5.3.8 Von der Altersversorgung zur Aufwärtsmobilität Der sich wandelnde Wert von Kindern ...................................... 200 5.3.9 Die weibliche und männliche Verwandtschaft ........................... 207 Zusammenfassung der Ergebnisse ................................................... 208 5.3 5.4 6 147 Der fertile Wandel 211 6.1 Ein kausales Modell zur Erfassung des fertilen Wandels................ 211 6.2 ‚Regieren heißt Bevölkern‘ – Die Jahre anhaltenden Wachstums (≈1940-1970) ................................................................ 214 6.2.1 Die Fertilität der Frauen mit abgeschlossener reproduktiver Phase .................................................................... 219 6.3 Wandel der Fertilität (≈1970- ) ........................................................ 233 6.3.1 Der fertile Wandel Mexikos seit den siebziger Jahren ............... 233 6.3.2 Der fertile Wandel Pueblo Nuevos seit den siebziger Jahren..... 237 Ursachen des fertilen Wandels......................................................... 248 6.4.1 Die Diffusion effektiver Verhütungsmethoden .......................... 249 6.4.2 Wirtschaftliche und soziale Vorteile einer Reduzierung der Fertilität ........................................................... 256 6.4.3 Das Planen reproduktiver Entscheidungen................................. 262 Zusammenfassung der Ergebnisse ................................................... 267 6.4 6.5 XV 7 Variationen fertilen Verhaltens 7.1 7.2 7.3 8 269 Von der Homogenität zur Heterogenität fertilen Verhaltens........... 269 7.1.1 Möglichkeiten und Probleme bei der Messung von fertilen Variationen ..................................................................... 270 Erklärung der fertilen Variationen ................................................... 275 7.2.1 Die zu erklärenden Variablen ..................................................... 275 7.2.2 Motivation und Handlungsfreiheit – Hypothesen und Ergebnisse zur Erklärung fertiler Variationen..................... 281 7.2.3 Prototypische Fälle ..................................................................... 304 7.2.4 Investitionen in Kinder – Eltern und ihre wirtschaftlichen und reproduktiven Strategien........................... 320 Zusammenfassung der Ergebnisse ................................................... 327 Zusammenfassende Diskussion 333 Anhang 343 9.1 9.2 9.3. 9.4. Fragebögen ....................................................................................... 343 9.1.1 Zensus und erster Fragebogen ................................................... 343 9.1.2 Der zweite Fragebogen ............................................................... 345 9.1.3 Fragebogen für die männlichen Dorfbewohner.......................... 349 9.1.4 Netzwerkfragebogen ................................................................... 351 9.1.5 Fragebogen zu Land- und Viehbesitz ......................................... 352 9.1.6 Netzwerkfragebogen ‘Frauenthemen’ und Fill-in-the-blank...... 353 Beobachtungsbogen Stillen.............................................................. 353 Leitfäden........................................................................................... 354 9.3.1 Leitfaden Lebensgeschichten...................................................... 354 9.3.2 Leitfäden Gruppeninterviews ..................................................... 355 Beschreibung der Indizes und der erklärenden Variablen ............... 356 Bibliographie 357 XVI Verzeichnis der Abbildungen Abbildung 3.1: Zeitplan der Forschung................................................................. 38 Abbildung 4.1: Karte des Estado de México und umliegender Bundesstaaten, Zentralmexiko ..................................................... 57 Abbildung 4.2: Karte eines Ausschnitts des Valle de Solís im municipio Temascalcingo .............................................................................. 58 Abbildung 4.3: Altersverteilung des municipio Temascalcingo, Gemeinden <2500 Einwohner ...................................................... 61 Abbildung 4.4: Altersverteilung Pueblo Nuevos 1997 ......................................... 62 Abbildung 4.5: Säuglings- und Kindersterblichkeit 1947-1996 ......................... 103 Abbildung 4.6: Die sozialen Beziehungen der 53 Informanten ......................... 143 Abbildung 5.1: Die Sozialstruktur der Frau in verschiedenen Phasen des Lebenszyklus............................................................ 160 Abbildung 5.2: Soziale Rollen und Hilfeleistungen: Unverheiratete Frauen...... 163 Abbildung 5.3: Soziale Rollen und Hilfeleistungen: Ein halbes bis fünf Jahre verheiratete Frauen .................................................... 165 Abbildung 5.4: Soziale Rollen und Hilfeleistungen: Sechs bis zwanzig Jahre verheiratete Frauen ............................................. 167 Abbildung 5.5: Soziale Rollen und Hilfeleistungen: Über zwanzig Jahre verheiratete Frauen............................................................ 169 Abbildung 6.1: Kausales Modell zur Erfassung fertilen Wandels ...................... 213 Abbildung 6.2: Fertilitätsverlauf Frauen 45 Jahre und älter (N=56)................... 225 Abbildung 6.3: General Fertility Rate, Pueblo Nuevo, 1947-1996 .................... 238 Abbildung 6.4: Fertilitätsverlauf der Altersklassen über die Zeit, Pueblo Nuevo, 1947-1997 .......................................................... 239 Abbildung 7.1: Fertilität der Eltern und ihre wichtigsten wirtschaftlichen Strategien ......................................................... 324 XVII Verzeichnis der Tabellen Tabelle 3.1: Grundgesamtheiten der Datensätze ................................................... 51 Tabelle 3.2: Anteil befragter Frauen hinsichtlich ihres Familienstandes.............. 52 Tabelle 4.1: Wachstumsraten Pueblo Nuevo, municipio Temascalcingo und Mexiko........................................................................................ 60 Tabelle 4.2: Aussagen zur Entstehung des ejidos ................................................. 72 Tabelle 4.3: Hausart und Konsumgüter................................................................. 84 Tabelle 4.4: Anzahl tatsächlicher und potentieller Schüler für das Schuljahr 1996/97.............................................................................. 87 Tabelle 4.5: Kohorten Frauen/Männer und Schulbildung..................................... 88 Tabelle 4.6: Bildungsstand und gewünschte Schulbildung für Mädchen und Jungen......................................................................................... 90 Tabelle 4.7: Bildungsstand und gewünschte Schulbildung für Mädchen und Jungen, Frauen mit Kindern im Schulalter................................. 91 Tabelle 4.8: Tatsächliche Investition in die Bildung der Kinder .......................... 92 Tabelle 4.9: Besitzverhältnisse und Schulbildung ................................................ 93 Tabelle 4.10: Beschäftigungen von Frauen 1997 in Pueblo Nuevo ........................ 94 Tabelle 4.11: Kohorten und Ort der Geburt ............................................................ 97 Tabelle 4.12: Sexualproportion Pueblo Nuevo Juni 1997....................................... 99 Tabelle 4.13: Alter bei Tod der verstorbenen Kinder unter fünf Jahren ............... 101 Tabelle 4.14: Säuglings- und Kindersterbeziffern 1947-1996 .............................. 103 Tabelle 4.15: Kohorten, verstorbene Kinder < 5 Jahren und Tod/Fehlgeburten... 105 Tabelle 4.16: Kohorten Männer und Berufe ......................................................... 108 Tabelle 4.17: Nationale und internationale Migration, Kohorten Männer und Frauen ......................................................... 109 Tabelle 4.18: Entwicklung der internationalen Migration seit den siebziger Jahren ............................................................................... 111 Tabelle 4.19: Politische und wirtschaftliche Ämter des ejidos und der Gemeinde................................................................................... 123 Tabelle 4.20: Herkunftsort der Ehepartner............................................................ 130 Tabelle 4.21: Korrelationen zwischen Art der Hilfeleistung, Geschlecht und Rollen........................................................................................ 141 Tabelle 5.1: Biographischer Hintergrund der interviewten Frauen..................... 176 Tabelle 5.2: Free list Daten zum Ehemann: Erste Nennung .............................. 189 Tabelle 5.3: Hilfeleistungen der cuñada aufgrund der Lebensgeschichten ........ 197 Tabelle 5.4: Free list zum Wert von Kindern ..................................................... 201 Tabelle 6.1: Parität und ASGZ von 56 Frauen 45 Jahre oder älter ..................... 220 Tabelle 6.2: Altersspezifische Geburtenziffern und zusammengefaßte Geburtenziffern, Mexiko, 1970-1986.............................................. 234 XVIII Tabelle 6.3: Prozentualer Anteil verheirateter Frauen im reproduktiven Alter, die ein Verhütungsmittel benutzen; Mexiko 1977-1987................. 236 Tabelle 6.4: Altersspezifische Geburtenziffern Pueblo Nuevo, 1977-1997........ 240 Tabelle 6.5: Alter bei erster Geburt und durchschnittliche Geburtenintervalle, Pueblo Nuevo ................................................. 241 Tabelle 6.6: Alter bei letzter Geburt, Pueblo Nuevo ........................................... 243 Tabelle 6.7: Die proximaten Determinanten Heirat und Stillverhalten, Pueblo Nuevo ................................................................................. 244 Tabelle 6.8: Die proximate Determinante Verhütung, Pueblo Nuevo ................ 246 Tabelle 6.9: Beginn der Anwendung von Verhütungsmitteln............................. 251 Tabelle 7.1: Standardabweichungen der durchschnittlichen Anzahl an Kindern pro Kohorte........................................................................ 269 Tabelle 7.2: Verteilung der Kategorien, N=106.................................................. 274 Tabelle 7.3: Fertilitätskategorien und proximate Determinanten........................ 277 Tabelle 7.4: Lineare Regression mit den beiden Determinanten Verhütung und Alter bei erster Geburt; standardisierte Koeffizienten ............. 279 Tabelle 7.5: Hypothesen zum Zusammenhang von Verhütung, Alter bei erster Geburt, Residuen des Fertilitätsmaßes und wirtschaftlichen/sozialen Vorteilen von Kindern............................ 285 Tabelle 7.6: Pearson Korrelationen der erklärenden Variablen zu wirtschaftlichen/sozialen Vorteilen von Kindern............................ 286 Tabelle 7.7: Lineare Regression zur Erklärung des Alters bei erster Geburt aufgrund wirtschaftlicher/sozialer Variablen, standardisierte Koeffizienten........................................................... 287 Tabelle 7.8: Lineare Regression zur Erklärung der Intensität von Verhütung aufgrund wirtschaftlicher/sozialer Variablen, standardisierte Koeffizienten........................................................... 288 Tabelle 7.9: Lineare Regression zur Erklärung der Residuen des Fertilitätsmaßes aufgrund wirtschaftlicher/sozialer Variablen, standardisierte Koeffizienten........................................................... 289 Tabelle 7.10: Hypothesen zum Zusammenhang von Verhütung, Alter bei erster Geburt, Residuen des Fertilitätsmaßes und der Unabhängigkeit der fertilen Entscheidung ...................................... 296 Tabelle 7.11: Pearson Korrelationen der erklärenden Variablen zur unabhängigen, reflektierten Entscheidung ...................................... 297 Tabelle 7.12: Lineare Regression zur Erklärung des Alters bei erster Geburt aufgrund der sozialen und normativen Rahmenbedingungen, standardisierte Koeffizienten........................................................... 297 Tabelle 7.13: Lineare Regression zur Erklärung der Intensität von Verhütung aufgrund der sozialen und normativen Rahmenbedingungen, standardisierte Koeffizienten........................................................... 300 Tabelle 7.14: Lineare Regression zur Erklärung der Residuen des Fertilitätsmaßes aufgrund der sozialen und normativen Rahmenbedingungen, standardisierte Koeffizienten....................... 302 Tabelle 7.15: Verteilungen und Mittelwerte der drei abhängigen Variablen........ 304 XIX Tabelle 7.16: Prototypische Fälle für das Alter bei erster Geburt......................... 305 Tabelle 7.17: Die wichtigsten erklärenden Variablen und ihre Effekte auf das Alter bei erster Geburt............................................................... 309 Tabelle 7.18: Prototypische Fälle für die Benutzung von Verhütung................... 310 Tabelle 7.19: Die erklärenden Variablen und ihre Effekte auf die Benutzung von Verhütung............................................................... 314 Tabelle 7.20: Prototypische Fälle für die Residuen des Fertilitätsmaßes ............. 316 Tabelle 7.21: Die verschiedenen wirtschaftlichen Strategien der Eltern .............. 323 Tabelle 7.22: Fertilität der Eltern und wirtschaftliche Strategien ......................... 323 Tabelle 7.22: Lineare Regression zur Erklärung der Investition in bessere Schulbildung aufgrund wirtschaftlicher Variablen, standardisierte Koeffizienten........................................................... 325 Kapitel 1 Einleitung: Fertiler Wandel im kulturellen Kontext Gegenstand dieser Arbeit ist die Untersuchung des demographischen, wirtschaftlichen und sozialen Wandels in einer Gemeinde Zentralmexikos. Den theoretischen Bezugsrahmen liefert die Ethnodemographie, eine noch junge Subdisziplin zwischen Ethnologie und Demographie, deren Entwicklung und Fragestellungen ich zunächst kurz vorstelle. Anschließend erläutere ich die Schwerpunkte, die Ziele und den Aufbau meiner Fallstudie. 1.1 Zum Verhältnis von Ethnologie und Demographie Mehrfach ist in den letzten Jahren die Frage gestellt worden, in welcher Beziehung Ethnologie und Demographie zueinander stehen oder stehen könnten. 1 Ein zentrales Thema sowohl der Ethnologie als auch der Demographie ist die Untersuchung der Reproduktion menschlicher Populationen. Heirat und weitergefaßt Verwandtschaft spielen hierbei eine wichtige Rolle. Allerdings beschäftigen sich beide Disziplinen in sehr unterschiedlicher Art und Weise mit diesem Gegenstand. Das seit einigen Jahren verstärkt bestehende Interesse an einer Kooperation hängt ursächlich mit dem unterschiedlichen methodischen und theoretischen Zugriff zusammen, den beide Disziplinen auf den Gegenstand haben. In der Ethnologie gibt es eine lange Tradition der Untersuchung demographischer Phänomene. 2 In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts beschäftigten sich insbesondere Vertreter der britischen Sozialethnologie mit demographischen Phänomenen und Fragen. Die Erhebung und Analyse demographischer Daten, insbesondere in Form von Zensuserhebungen, nahmen in den Forschungen von Radc1 Ethnologen, die sich mit dieser Frage befaßt haben, sind etwa Hammel und Friou (1997) und Kertzer und Fricke (1997a). Auf demographischer Seite ist vor allem der Artikel von Pollak und Watkins (1993) zu nennen. 2 Zur demographischen Grundgleichung und ihren drei (vier, wenn man Migration in Zuwanderung und Abwanderung einteilt) Komponenten vgl. Lang (1993: 119). Dem Text wird der deutsche Gebrauch der einzelnen Termini hinsichtlich der menschlichen Fortpflanzung zugrundegelegt. Unter Fertilität und fertilem Verhalten werden die tatsächlich erfolgten Geburten verstanden, im Gegensatz zur Fekundität, womit die biologische Fähigkeit der Fortpflanzung gemeint ist (Höhn et al. 1987: 96, Krause 1996: 147). 1 2 DAS GEPLANTE KIND liff-Brown ebenso wie in den Studien der Vertreter der Manchester-Schule einen dominanten Platz ein (vgl. Kertzer und Fricke 1997a: 3-5). Hierbei standen zwei große Themenkomplexe im Vordergrund: Zum einen ging es um den Zusammenhang zwischen Verwandtschaftsstruktur - auch weitergefaßt sozialer Organisation und demographischen Phänomenen, wie Fertilität, zum anderen wurde schon in diesen frühen Arbeiten die Beziehung zwischen Ressourcen und Bevölkerungsentwicklung in den Mittelpunkt der Analyse gestellt. 3 Das Interesse an dem Zusammenhang zwischen Ressourcen und Bevölkerungsentwicklung, aber auch zwischen Verwandtschaft und Fertilität, verstärkte sich noch nach dem zweiten Weltkrieg und der Entstehung dessen, was als ‚Bevölkerungsproblem‘ nicht-westlicher Länder erkannt wurde (Kertzer und Fricke 1997a: 5). Während der sechziger und siebziger Jahre entstanden eine Reihe ethnologischer Studien, nun auch von amerikanischen Ethnologen, die in Ländern der sogenannten dritten Welt Ursachen der gleichbleibend hohen Fertilität untersuchten, die aufgrund eines Rückganges der Mortalität zu einem starken Bevölkerungswachstum in diesen Ländern geführt hatte. 4 Ein generelles Problem vieler dieser Arbeiten bestand allerdings in dem, was Fortes schon 1943 als ‚rough-and-ready fashion‘ der Auswertung demographischer Daten bezeichnete. Erst unter dem Einfluß der Arbeiten Howells (1976, 1979) entstand eine nennenswerte Zahl entsprechender Analysen der verhältnismäßig kleinen Fallzahlen ethnodemographischer Erhebungen (Lang 1997b: 6). Neben Howell begannen eine Reihe weiterer Ethnologen sogenannte demographische Mikroanalysen (Howell 1986: 226) durchzuführen, wie z.B. Netting (1981) in seiner historischen Untersuchung der demographischen und wirtschaftlichen Entwicklung einer schweizerischen Gemeinde. Diese Studien, an deren methodischem Vorgehen später auch Demographen großes Interesse entwickelten, zeichnen sich einerseits durch ihre gelungene Umsetzung demographischer Methoden aus, andererseits sind sie weiterhin ethnographisch. Im Gegensatz zu demographischen Erhebungen, die fast ausschließlich mit Fragebögen arbeiten, die auf nur wenige Variablen reduziert sind, erfassen diese Untersuchungen in ihrer holistischen Tradition die kulturelle Komplexität, in welche alle demographischen Phänomene eingebettet sind. Das Interesse der Demographie an ethnologischen Methoden und Theorien hat vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten stark zugenommen. Insbesondere nach der Publikation der Ergebnisse eines der größten demographischen Projekte in den 3 4 Hier ist insbesondere Firths Studie ([1936] 1968) zu nennen. Als Überblick vgl. die Sammelbände von Nag (1975) und Polgar (1971). KAPITEL 1. EINLEITUNG 3 achtziger Jahren, des Princeton European Fertility Projects, begannen Demographen, sich theoretisch und methodisch neu zu orientieren (Coale und Watkins 1986). Die Arbeiten der Princeton Gruppe um den Demographen Ansley Coale, die die Erklärung des fertilen Rückgangs in Europa seit dem neunzehnten Jahrhundert zum Ziel hatten, zeigten, daß die klassischen sozioökonomischen Variablen, wie der Grad der Urbanisierung, die Alphabetisierungsrate oder die Kindersterblichkeit, den fertilen Wandel nur unzureichend erklären konnten. 5 Diese Ergebnisse waren in gewisser Hinsicht die Eintrittskarte für Ethnologen in den demographischen Diskurs. Wichtige Vertreter innerhalb der Demographie begannen, Kultur als das fehlende Element in der Erklärung demographischer Phänomene anzusehen. Daß viele Ethnologen dieses Angebot bis heute ablehnen, hängt nicht zuletzt mit der Art und Weise zusammen, in der Kultur in diesem Zusammenhang konzeptualisiert und definiert wird. Wie Kertzer (1995) es treffend formuliert, besteht eines der größten Probleme dieser Ansätze darin, daß Kultur eine Residualkategorie ist, die das fassen soll, was übrigbleibt, wenn man alle wirtschaftlichen und demographischen Faktoren analysiert hat: „[They] often do not differentiate among variables that are noneconomic and nondemographic, lumping them all together in one hodge-podge which some label ‚culture‘.“ (1995: 44). Nun ist es bekanntlich keineswegs so, daß es in der Ethnologie eine einheitlich Kulturdefinition gibt und daß Demographen es schlicht versäumt haben, diese aktuelle Definition in ihre theoretischen Erklärungsmodelle zu integrieren. Sammelbände wie der von Borofsky (1994a) zeigen, wie divers prominente Vertreter unterschiedlicher ethnologischer Richtungen Kultur definieren. 6 Zu Beginn der neunziger Jahre reagierte eine Gruppe amerikanischer Ethnologen verstärkt auf das demographische Interesse an ihren Methoden und Theorien. Es entstanden mehrere theoretische Entwürfe einer anthropological demography (Fricke 1997, Greenhalgh 1990, 1995a, Hammel 1990, Hammel und Friou 1997, Kertzer 1995, Kertzer und Fricke 1997a). Grob lassen sich die vorgeschlagenen Konzeptualisierungen von Kultur der Vertreter dieser neu entstandenen Subdisziplin in 5 Trotzdem war das Princeton Projekt sicherlich kein Mißerfolg, wie man nach der Lektüre einiger ethnodemographischer Arbeiten meinen könnte (vgl. etwa Greenhalgh 1990, 1995a). Im folgenden Kapitel wird diese Thematik noch einmal aufgegriffen und vertieft. 6 Z.B. ziehen es seit einiger Zeit mehrere Ethnologen vor (etwa Keesing 1994 und Bororfsky 1994b), nicht mehr von Kultur (culture), sondern von dem Kulturellen (the cultural) zu sprechen, um durch diese Begriffswahl den konstruktiven Charakter der Vorgehensweise zu betonen: „(...) I use the term ‚cultural’ rather than ‚culture’. The adjectival form downplays culture as some innate essence, as some living material thing. Culture is an anthropological abstraction.“ (Borofsky 1994b: 245). 4 DAS GEPLANTE KIND zwei Gruppen gliedern: Zum einen wird Kultur als ein Überzeugungssystem einer Gemeinschaft aufgefaßt, welches aus Werten und Normen besteht und das Verhalten der Mitglieder dieser Gemeinschaft beeinflußt. 7 Zum anderen vertreten insbesondere Kertzer (1995, Kertzer und Fricke 1997) und Greenhalgh (1990, 1994a) eine holistische Auffassung, die am besten als ‚Kultur als System‘ (Lang 1988) zu umschreiben ist: „(...) culture is not opposed to economic factors in explanation, but rather is part of a model of the interaction of political, economic, and cultural processes which is designed to produce a better understanding of the determinants of demographic behavior.“ (Kertzer 1995: 29). Kertzers Aussage verdeutlicht, daß demographische Phänomene im kulturellen Kontext verstanden werden müssen. Lang zeigt in seinem Aufsatz über ‚Kultur als System‘ (1988) anhand eines Beispiels aus Malinowskis Trobriand Forschung, wie komplex verschiedene kulturelle Bereiche miteinander verflochten sind. Bei den von Lang angeführten kulturellen Bereichen (‚kulturelle Erscheinungen‘ Lang 1988: 393) handelt es sich keineswegs nur um Werte und Normen – ‚Kultur als System‘ umfaßt alle ethnologischen Arbeitsbereiche. 8 Diese Konzeptualisierung von Kultur hat für die Ethnologie und die Ethnodemographie eine wichtige methodische Konsequenz: Um einen kulturellen Bereich erklären zu können, müssen immer auch die Verbindungen zu anderen kulturellen Bereichen einbezogen werden. Die Kapazitäten eines Ethnologen sind jedoch begrenzt und es ist unmöglich, alles zu erfassen (Schweizer 1989: 1-2). Aus diesem Grund ist es in der Ethnologie heute üblich, einen Schwerpunkt zu setzen, etwa die Wirtschaftsweise einer Gemeinschaft (Schweizer 1989). Das demographische Interesse an ethnologischen Arbeiten beschränkte sich jedoch nicht nur auf die Integration von Kultur in demographische Erklärungsmodelle. Mehrere einflußreiche Vertreter der Demographie sind mittlerweile zu der Erkenntnis gekommen, daß die Fragebogenerhebung, häufig die einzige Erhebungsmethode der Demographie, nur begrenzt die Komplexität demographischer Phänomene erfassen kann: „For a number of years (...) survey research has been experiencing diminishing returns. We learn the same kinds of things about more and more societies, while important and interesting questions on the theoretical frontier 7 „We define culture for the purpose of this exposition as a set of norms and values that influence behavior.“ (Hammel und Friou 1997: 179). An anderer Stelle definiert Hammel Kultur aber über das Überzeugungssystem hinausgehend (Hammel 1990) und nähert sich stark dem hier als zweiten, vor allem von Greenhalgh und Kertzer vertretenen, vorgestellten Ansatz an. Eine weitergehende, kritische Auseinandersetzung mit Hammels Ansatz findet sich bei Lang (1998c). 8 Zur Gliederung der ethnologischen Arbeitsbereiche vgl. etwa die Einteilung in dem Sammelband von Fischer (1988) – dort wird in Wirtschaftsethnologie, Sozialethnologie, Rechtsethnologie, Politikethnologie, Religionsethnologie und Kunstethnologie unterschieden. KAPITEL 1. EINLEITUNG 5 remain out of reach – lying, so to speak, below the focal length of this instrument.“ (McNicoll 1988: 10). Einen guten Überblick zur Methodendiskussion innerhalb der Ethnodemographie bietet der Sammelband von Basu und Aaby (1998). Insbesondere der Demograph Jack Caldwell (1980, 1982, 1996) führt seit einigen Jahren, häufig in Zusammenarbeit mit Ethnologen, demographische Mikrostudien durch, die sich auf eine Gemeinde oder eine Region beschränken und holistisch mit ethnologischen Methoden, wie der teilnehmenden Beobachtung, arbeiten. Seine Arbeiten, aber auch die Arbeiten der Vertreter der sich neu etablierenden anthropological demography und ihrer Vorläufer, wie etwa Netting und Howell, zeigen, wie fruchtbar eine Kooperation von Demographie und Ethnologie sein kann. Beide Seiten können von einem solchen gemeinsamen Unternehmen sowohl methodisch als auch theoretisch profitieren. 1.2 Schwerpunkte, Ziele und Aufbau der Fallstudie Die hier vorgestellte ethnodemographische Fallstudie einer Gemeinde im ländlichen Zentralmexiko knüpft an diese Tradition an. Die heute in der untersuchten Gemeinde bestehenden Variationen fertilen Verhaltens - von Familien mit nur zwei Kindern, über Familien mit sechs Kindern bis hin zu Familien mit zwölf Kindern sind das Resultat eines demographischen Wandels, der seit mehreren Jahrzehnten in ganz Mexiko zu beobachten ist. Seit den vierziger Jahren ist es zu einem Rückgang der Mortalität gekommen. Da sich das fertile Verhalten bis in die siebziger Jahre allerdings so gut wie nicht änderte, kam es zu einem sehr starken Bevölkerungswachstum. Ungefähr seit den siebziger Jahren wandelte sich jedoch das fertile Verhalten. Generell kam es zu einem Rückgang der Geburtenraten, allerdings in sehr unterschiedlichem Ausmaß. Die heute in Mexiko zu beobachtenden Variationen fertilen Verhaltens beschränken sich nicht nur auf regionale Unterschiede, wie etwa eine höhere Fertilität in ländlichen als in städtischen Regionen. Auch innerhalb ländlicher Gemeinden, wie der hier untersuchten, gibt es starke Variationen der Fertilität. Ein wichtiger Schwerpunkt der Fallstudie ist deshalb die detaillierte Erfassung und Beschreibung des Wandels und der daraus resultierenden Variationen fertilen Verhaltens. Heute ist es möglich, ethnodemographische Daten umfassend auszuwerten, ein Wissen, das in dieser Arbeit zur Anwendung kommt. Das demographi- 6 DAS GEPLANTE KIND sche Phänomen soll also nicht nur beschrieben, sondern auch erklärt werden. 9 Folglich besteht ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit in der Systematisierung schon vorhandener Hypothesen und der Entwicklung neuer Hypothesen, die es zu überprüfen gilt. Für die Entwicklung neuer Hypothesen ist eine detaillierte Analyse des ethnographischen Kontextes notwendig. Zwei Themenkomplexe werden im Rahmen dieser Analyse besonders intensiv behandelt: 1. Der Zusammenhang von materiellen Ressourcen und Bevölkerungsentwicklung. Hierfür ist eine historische Perspektive notwendig, denn die heutige Situation ist das Resultat langfristiger wirtschaftlicher, sozialer und politischer Entwicklungen. Neben der historischen Darstellung werden die aus dieser Entwicklung entstandenen wirtschaftlichen und reproduktiven Strategien typischer Individuen und Gruppen analysiert. 2. Der Zusammenhang zwischen sozialem Umfeld und reproduktivem Verhalten. Reproduktive Entscheidungen sind nicht nur private Entscheidungen. Eine Vielzahl an Personen und Institutionen, sei es die Schwiegermutter, die Freundin, die Kirche oder die lokale Gemeinde, müssen in die Analyse miteinbezogen werden. Hinzu kommt, daß das Verhalten eines Individuums in verschiedenen Phasen seines Lebenszyklus in unterschiedlicher Form von seinem sozialen Umfeld beeinflußt werden kann. Um Überzeugungen und Verhaltensweisen zu erfassen, werden zwei Methoden miteinander kombiniert. Zum einen werden persönliche Netzwerke ausgewertet, die zeigen, mit welchen Personen Frauen in unterschiedlichen Phasen ihres Lebenszyklus interagieren. Zum anderen werden detailliert Lebensgeschichten analysiert, die Auskunft über die emische Sicht auf soziale Beziehungen geben. Durch dieses Vorgehen ist es möglich, zu allgemeineren Aussagen zu kommen, ohne den „point of view of the actors themselves“ (Fricke 1997: 253, ebenso Kertzer und Fricke 1997a: 16) aus den Augen zu verlieren. 9 Es wird immer noch von nur sehr wenigen Ethnologen versucht, Variationen von Fertilität auch statistisch – im Sinne einer statistischen Überprüfung von Hypothesen - zu erklären. Beispielsweise finden sich in den beiden Sammelbänden von Greenhalgh (1995b) und Kertzer und Fricke (1997b), die im Augenblick sicherlich the state of the art der Ethnodemographie (oder der anthropological demography) darstellen, nur sehr wenige Arbeiten, die über die Beschreibung der Fertilität und eine nicht-statistische Erklärung hinausgehen. KAPITEL 1. EINLEITUNG 7 Die wichtigsten Ziele dieser Fallstudie lassen sich wie folgt zusammenfassen: • Substanziell soll sie das immer noch begrenzte Wissen über die Ursachen von fertilem Wandel und fertilen Variationen erweitern. Dieses Wissen ist sowohl für die Ethnologie als auch die Demographie von Bedeutung. Demographische Prozesse sind zwar von bekannten Ethnologen, wie Fortes, Firth, Netting oder Howell, untersucht worden, doch gibt es viele ethnographische Arbeiten, die demographische Phänomene, trotz ihrer fundamentalen Bedeutung im Zusammenspiel mit anderen kulturellen Bereichen, wie z.B. der wirtschaftlichen und sozialen Organisation, ignorieren. Der Ruf nach ethnologischen Mikrostudien ist - wie in dem kurzen historischen Überblick gezeigt wurde - vor allem in den letzten Jahren in der Demographie immer stärker geworden (vgl. Kertzer und Fricke 1994a, McNicoll 1988). Für die Demographie kann die Fallstudie folglich dazu beitragen, explorativ Zusammenhänge und Ursachen aufzuzeigen, die u.U. im Rahmen einer repräsentativen Untersuchung überprüft werden können. • Ein weiteres Ziel dieser Studie besteht in einer Verfeinerung und Verbreitung ethnodemographischer Methoden. Die Erfassung und Erklärung der Variationen von Fertilität verlangt im Rahmen einer ethnologischen Untersuchung, die mit relativ kleinen Fallzahlen arbeiten muß, nach neuen Methoden. Das Modell, welches zur Erklärung entwickelt wird, basiert nicht nur auf den klassischen demographischen Variablen, sondern integriert die Befunde der ethnographischen Beschreibung und Analyse. • Die Fallstudie verfolgt auch ein regionalethnologisches Ziel. Die mexikanische Demographie hat die demographischen Veränderungen vor allem der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts auf der Makroebene gut erfaßt. Allerdings mangelt es an Mikrostudien. Diese sind insbesondere deswegen von Bedeutung, weil die demographische, ebenso wie die wirtschaftliche Entwicklung Mexikos heterogen verlaufen ist (Krause 1996). Trotz der regionalen Variationen ist die untersuchte Gemeinde aber kein Einzelfall. Wie die ethnographische Beschreibung und der Vergleich mit anderen Studien zeigen werden, treffen ein Teil ihrer Charakteristika, etwa die zunehmende Migration in die urbanen Zentren des Landes und in die USA, auf die meisten der in ejidos 10 organisierten Mestizo Gemeinden Mexikos zu. 10 Das ejido System, die kommunale Landverwaltung, wird ausführlich unter 4.2 beschrieben. 8 DAS GEPLANTE KIND Hieraus ergibt sich folgender Aufbau der Arbeit: Im anschließenden Kapitel (Kapitel 2) wird ein theoretischer Rahmen zur Erklärung der Ursachen des demographischen, wirtschaftlichen und sozialen Wandels vorgestellt. Die Ergebnisse des Princeton Projektes werden hierbei besondere Beachtung finden, allerdings um wichtige Faktoren erweitert. Danach werden die in der Feldforschung verwendeten Methoden sowie die verschiedenen Daten vorgestellt (Kapitel 3). In diesem Kapitel werde ich auch meine Rolle als Forscherin sowie während der Forschung entstandene Probleme diskutieren. Die Ethnographie (Kapitel 4) der untersuchten Gemeinde nimmt aus den oben genannten Gründen eine zentrale Position in der Arbeit ein. Ab Kapitel 5 werden die wichtigsten empirischen Ergebnisse vorgestellt. Leser, die vor allem an den Ergebnissen der Fallstudie interessiert sind, mögen sich auf diese Kapitel konzentrieren. In Kapitel 5 wird das soziale Umfeld von Frauen in verschiedenen Phasen ihres Lebenszyklus analysiert und in Zusammenhang zu ihren reproduktiven Entscheidungen gesetzt. Es folgt eine detaillierte Beschreibung und Analyse des fertilen Wandels der Gemeinde (Kapitel 6). Kapitel 7 befaßt sich mit den Variationen des fertilen Verhaltens. Dieses Kapitel faßt alle bis dahin ermittelten Ergebnisse zusammen und formuliert aus diesen Hypothesen, die überprüft werden, um die Ursachen für die Variationen des fertilen Verhaltens in ihrer kulturellen Komplexität zu erklären. In Kapitel 8 werden die Ergebnisse der Fallstudie abschließend diskutiert. Kapitel 2 Grundlagen einer Theorie des fertilen Wandels In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ist es in fast allen Teilen der Welt zu einem starken Rückgang der Geburtenziffern gekommen. So sank beispielsweise die zusammengefaßte Geburtenziffer, ein gängiges Fertilitätsmaß, nach offiziellen Schätzungen der UNO in den Entwicklungsländern um 36 Prozent – von 6 Geburten pro Frau Anfang der sechziger Jahre auf 3,8 Geburten Ende der achtziger Jahre (Bongaarts und Watkins 1996: 639). Die Frage, warum es zu einem solchen fertilen Wandel kommt, konnte in den letzten fünfzig Jahren allerdings nicht hinreichend beantwortet werden. Daß bis heute keine allgemeingültige Theorie dazu entwickelt werden konnte, liegt nicht an einem Mangel an theoretischen Ansätzen und empirischen Untersuchungen. Derer gibt es viele, allerdings sind sie alles andere als einheitlich. In seinem Überblick über ein halbes Jahrhundert der Forschung zu den Determinanten fertilen Verhaltens kommt van de Kaa (1997) zu dem Schluß, daß es nicht möglich ist, einer ‚Geschichte‘ fertilen Wandels den Vorzug zu geben. Er stellt sogar (ironisch?) fest „Wenn man wählen muß, steht man wirklich vor einem Problem.“ (van de Kaa 1997: 44). Einigkeit besteht darin, daß ein fertiler Wandel immer auch in Beziehung zu einem sozialen und wirtschaftlichen Wandel steht. Dies ist die Grundannahme der Theorie des demographischen Übergangs (Notestein 1953), die - vereinfacht - davon ausgeht, daß aufgrund einer zunehmenden Modernisierung einer Gesellschaft, gemessen beispielsweise am Grad der Schulbildung, der Verstädterung und der Industrialisierung, sich auch die wirtschaftlichen Vorteile von Kindern ändern, was wiederum Paare dazu motiviert, ihre Fertilität zu kontrollieren (Hirschman 1994: 211-214, Kirk 1996: 369-71). Trotz heftiger Kritik an dieser Theorie (als Überblick vgl. Krause 1996: 26-45), vor allem nach der Veröffentlichung der Ergebnisse des Princeton European Fertility Project (Coale und Watkins 1986), welches in großem Rahmen versucht hat, die demographischen Veränderungen in Europa mit Hilfe eben jener sozioökonomischer Variablen zu erklären, ist bis heute keine wirkliche Alternative zu dieser Theorie in Sicht. Das Princeton European Fertility Project hat gezeigt, daß die verwendeten erklärenden Variablen nicht die einzigen Faktoren sind, um den fertilen Wandel zu erfassen. Länder, die ein ähnliches sozioöko- 9 10 DAS GEPLANTE KIND nomisches Niveau aufwiesen, befanden sich teilweise in sehr unterschiedlichen Stadien des fertilen Wandels (Coale und Watkins 1986). Eine Folge dieser Ergebnisse bestand darin, daß die Bedeutung von kulturellen Faktoren in den Vordergrund gestellt wurde (Watkins 1986a). Allerdings war die Konzeptualisierung von Kultur in diesem Zusammenhang problematisch. Kultur war eine Residualkategorie unter die alles, was nicht durch die verwendeten sozioökonomischen Variablen erklärt werden konnte, subsumiert wurde. 1 Trotzdem bleibt die generelle Erkenntnis, daß fertiler Wandel in Zusammenhang zu wirtschaftlichem und sozialem Wandel steht, bestehen. Die Bedeutung dieser Faktoren wurde nicht widerlegt, sondern es wurde vielmehr gezeigt, daß sie einer Ergänzung durch weitere Faktoren bedürfen. Es kann nicht Ziel dieses Kapitels sein, einen Literaturüberblick zu den Ursachen fertilen Verhaltens und fertilen Wandels zu erstellen. Mittlerweile gibt es mehrere gute Überblicke dieser Art. 2 Vielmehr soll aufgrund der noch sehr allgemeinen, aber durch vorangegangene Arbeiten bestätigten Erkenntnis, daß ein fertiler Wandel immer in Beziehung zu einem wirtschaftlichen und sozialen Wandel steht, versucht werden, Grundlagen zur Erklärung der empirischen Befunde des hier untersuchten Falles zu formulieren. Jede reproduktive Entscheidung findet in dem, was McNicoll als decision environment (1980: 442) bezeichnet, statt. Dieser Entscheidungsrahmen konstituiert sich durch bestimmte kulturelle Rahmenbedingungen (McNicoll 1980: 443). Wie in dem Ansatz von McNicoll wird auch in dieser Arbeit davon ausgegangen, daß ein Individuum insoweit eine rationale Entscheidung trifft, als es ihm im Rahmen der von ihm wahrgenommenen Alternativen möglich ist. Die Wahrnehmung eines Individuums hinsichtlich seines Entscheidungsrahmens wird wesentlich von seiner Position innerhalb der Gesellschaft beeinflußt (McNicoll 1980: 451), denn seine 1 Diese Definition von Kultur ist aus ethnologischer Sicht nicht akzeptabel. Wirtschaftliche Aktivitäten sind ebenso wie z.B. das religiöse Überzeugungssystem oder das Verwandtschaftssystem Teilbereiche einer Kultur (vgl. z.B. Plattner 1989: 11). Diese Thematik, vor allem auch die ethnologische Kritik am Princeton Projekt, ist schon in der Einleitung behandelt worden. 2 Zur Theorie des demographischen Übergangs vor allem Kirk (1996), generell zu Theorien fertilen Wandels Hirschman (1994) und van de Kaa (1997), zu den Determinanten von Fertilität die beiden Sammelbände von Bulatao und Lee (1983) und der Sammelband von Höhn und Mackensen (1982), zum Zusammenhang von kulturellen und demographischen Faktoren die Sammelbände von Greenhalgh (1995) und Kertzer und Fricke (1997b). KAPITEL 2. THEORETISCHE GRUNDLAGEN 11 Position bestimmt etwa den Zugang, den ein Individuum zu Informationen hat. 3 Um nun zu spezifizieren, welche Rahmenbedingungen zu welchen reproduktiven Entscheidungen führen können, muß eine Ordnung der zahlreichen Faktoren, die in der Literatur genannt werden, vorgenommen werden. 1975 formuliert Coale drei Grundbedingungen des fertilen Wandels. Diese drei Grundbedingungen gelten noch heute als einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste Ansatz zur Strukturierung der diversen theoretischen Überlegungen und empirischen Erkenntnisse über den fertilen Wandel (van de Kaa 1997). Anhand dieser drei Grundbedingungen ist es möglich, ein Modell zur Erklärung des fertilen Wandels und der fertilen Variationen des hier untersuchten empirischen Falles zu entwickeln. Die wichtigsten theoretischen Annahmen dieses Modells bestehen darin, daß sich die Rahmenbedingungen reproduktiver Entscheidungen in der Form gewandelt haben, daß: 1. eine verringerte Kinderzahl für ein Paar vorstellbar wird und das Paar eine reflektierte Entscheidung über eine gewünschte Zahl treffen kann; 2. eine verringerte Kinderzahl von dem Paar als ein sozialer und wirtschaftlicher Vorteil wahrgenommen wird; 3. dem Paar effiziente Mittel bekannt sind und zur Verfügung stehen, damit es seine reproduktiven Vorstellungen auch umsetzen kann (Coale 1975: 353). Die drei Grundbedingungen stellen eine Art Gerüst der folgenden Analysen dar. Diese allgemeinen Erklärungsprinzipien werden in den folgenden Kapiteln der Arbeit durch weitere Hypothesen ergänzt. Zunächst fragt sich, welche spezifischen Rahmenbedingungen sich in welcher Form ändern müssen, damit diese drei Grundbedingungen erfüllt sind. Begonnen wird mit der zweiten Grundbedingung. 3 Die Frage nach der Rationalität reproduktiver Entscheidung ist innerhalb der Literatur ausführlich diskutiert worden (vgl. z.B. Becker 1991, Easterlin, Pollak und Wachter 1989, McNicoll 1980, Pollak und Watkins 1993). Meine vereinfachte Darstellung verzichtet auf eine Beschreibung der verschiedenen Modelle und postuliert nur, daß dem Modell des ‚rationalen Akteurs‘ in der Modifikation McNicolls gefolgt wird, der auf die begrenzte Wahrnehmung im Sinne Simons bounded rationality aufbaut. Sie ist damit gerechtfertigt, daß es Ziel dieser Arbeit ist, den Wandel der Rahmenbedingungen zu untersuchen, die die Entscheidungen der Akteure begrenzen. Eine Arbeit, die eine Klassifikation der Entscheidungen vornehmen wollte, beispielsweise in rationalere im Sinne von reflektierteren Entscheidungen, bei denen ein bewußteres Abwägen der Kosten und des Nutzens der Entscheidung vorgenommen wird, und routiniertere, auf Erfahrungen basierende Entscheidungen (Esser 1996, Leibenstein 1982), müßte anders mit den hier diskutierten Daten verfahren und bräuchte höchstwahrscheinlich auch andere Daten, um zu einigermaßen validen Aussagen zu gelangen. Hingegen ist die Fokussierung auf die sich wandelnden Rahmenbedingungen, die verhältnismäßig einfach zu erfassen und zu messen sind, in diesem Zusammenhang der naheliegendere Ansatz. Es wird davon ausgegangen, daß bestimmte Rahmenbedingungen eher dazu führen, daß ein Individuum in der Lage ist, eine im obigen Sinne reflektierte Entscheidung zu treffen. Welche spezielle (kognitive) Form diese Entscheidungsrationalität dann annimmt, kann allerdings im Rahmen dieser Arbeit nur vermutet werden. 12 DAS GEPLANTE KIND Dieses Vorgehen orientiert sich an der Argumentation von Lesthaeghe und Wilson (1986), die ebenfalls in ihrer Analyse mit der zweiten Grundbedingung beginnen und dies mit der basalen Bedeutung der Veränderungen der wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen begründen (Lesthaeghe und Wilson 1986: 262). 2.1 Wandel der sozialen und wirtschaftlichen Vorteile von Kindern Coale formulierte die zweite Grundbedingung folgendermaßen: „Reduced fertility must be advantageous. Perceived social and economic circumstances must make reduced fertility seem an advantage to individual couples.“ (Coale 1975: 353). 4 Die Bedeutung, die ein Kind für seine Eltern hat, ist immer multidimensional. Ein Kind kann je nach Alter z.B. für seine Eltern arbeiten, es kann ein wichtiger Ratgeber bei persönlichen Problemen sein oder eine wichtige finanzielle und emotionale Stütze im Alter. Drei Dimensionen von Vorteilen sind vorrangig zu unterscheiden: wirtschaftliche Vorteile, soziale Vorteile und emotionale Vorteile. 5 Innerhalb bestimmter sozialer und wirtschaftlicher Gegebenheiten kann eine Dimension mehr Relevanz haben als die anderen Dimensionen. 6 Insofern müssen die wahrgenommenen Vorteile eines oder auch mehrerer Kinder immer in Abhängigkeit zu den gegebenen wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen gesetzt werden. Gleiches gilt für die wahrgenommenen Kosten eines oder mehrerer Kinder. 4 Coale betrachtet das Paar als die sich entscheidende Einheit. Dieses Vorgehen entspricht der Auffassung vieler Demographen und Wirtschaftswissenschaftler (etwa Becker 1991). Wie sich im Verlauf dieser Arbeit aber noch zeigen wird, sind die Entscheidungen und Strategien von (Ehe)mann und (Ehe)frau nicht immer identisch und können u.U. sogar in einem Widerspruch zueinander stehen. 5 Die Thematik ist erheblich komplexer, als sie hier vorgestellt werden kann. Allein die Frage, welche der von verschiedenen Autoren verwendeten unterschiedlichen Begriffe zu wählen sind, stellt ein erstes Problem dar. Es wird von advantages, value, benefits und utility von Kindern gesprochen und die Abgrenzungen dieser Begriffe sind alles andere als einheitlich (z.B. Bulatao und Fawcett 1983, Clay und Vander Haar 1993, Friedman, Hechter und Kanazawa 1994, Lee und Bulatao 1983). Die hier vorgenommene Einteilung in wirtschaftliche, soziale und emotionale Vorteile ist sicherlich eine starke Vereinfachung, erfaßt aber dennoch die wichtigsten Dimensionen, wie sie sich aus den oben erwähnten Studien ergeben. Ein weiteres, hier nicht behandeltes Problem besteht darin, daß die von den Eltern wahrgenommenen Vorteile (ebenso wie die wahrgenommenen Kosten) eines Kindes in Abhängigkeit zu den schon vorhandenen Kindern stehen (Lee und Bulatao 1983). Die Vorteile und auch die Kosten des ersten Kindes sind häufig andere als etwa die des zweiten oder des achten Kindes (Bulatao und Fawcett 1983). 6 Unter 5.3 folgt eine detaillierte Diskussion der emotionalen Bedeutung von Kindern. KAPITEL 2. THEORETISCHE GRUNDLAGEN 13 Wirtschaftliche und soziale Vorteile einer unkontrollierten Fertilität Das Zusammenspiel von Kosten und Nutzen innerhalb bestimmter Rahmenbedingungen kann Paare dazu motivieren, keine Kontrolle ihrer Fertilität als einen wirtschaftlichen und sozialen Vorteil wahrzunehmen. Zurecht betonen Lesthaeghe und Wilson (1986, Lesthaeghe 1980) den Zusammenhang zwischen den wirtschaftlichen Vorteilen von Kindern und dem Haushalt als Produktionseinheit. In den letzten beiden Jahrhunderten ist die wirtschaftliche Entwicklung vieler Länder durch den Übergang von einer Produktionsweise, deren Basis der selbstversorgende Haushalt ist, hin zu einer graduellen Auflösung dieser Subsistenzökonomie und einer zunehmenden Einbindung in regionale, nationale und internationale Märkte gekennzeichnet (Hutaserani und Roumasset 1991). Viele Studien haben gezeigt, daß der Haushalt die Produktionseinheit in der prätransitionalen Phase, d.h. bevor eine Form der fertilen Kontrolle auftrat, gewesen ist (Alba und Potter (1986) für Mexiko, Lesthaeghe und Wilson (1986) für Westeuropa). 7 Betrachtet man nun die wirtschaftliche Produktionsweise des Haushalts im landwirtschaftlichen Bereich vor dem fertilen und ökonomischen Wandel, so sind viele der Vorteile von Kindern in dieser Produktionsumgebung offensichtlich. Bevor es zu technologischen Innovationen im landwirtschaftlichen Bereich kommt und teilweise auch noch nach der Einführung solcher Innovationen, hängt die Produktionskraft des Haushalts entscheidend von dem ihm zur Verfügung stehenden Humankapital ab. 8 (Viele) Kinder sind als kostengünstige Arbeitskräfte notwendig. Sie können sehr früh in den Arbeitsprozeß des Haushalts eingebunden werden und leisten somit auch früh einen wirtschaftlichen Beitrag zum Haushaltseinkommen. Dieser Vorteil verstärkt sich dadurch, daß die Kosten für Betreuung und Erziehung verhältnismäßig gering sind. Mehrere Studien haben belegt, daß die Betreuung in einer solchen Form der sozialen und wirtschaftlichen Organisation hauptsächlich von anderen Kindern, beispielsweise den Geschwistern und den Cousinen, aber auch anderen weiblichen Verwandten, übernommen wird (Oppong 1982, Whiting und Whiting 1975). Durch eine kollektive Kindererziehung sind die Kosten, etwa die Zeit, die dafür aufgebracht werden muß, einem Kind das Laufen und Sprechen beizubringen, für die 7 Bewußt wird hier nur die wirtschaftliche und demographische Entwicklung aus der Perspektive landwirtschaftlicher Gemeinden, so wie sie in Europa im 18. und 19. Jahrhundert und in Mexiko im 20. Jahrhundert dominierten und dominieren, geschildert. Die Aussagen sind deshalb auf diese Fälle begrenzt. 8 Gerade die wirtschaftliche Entwicklung Mexikos zeigt sehr deutlich, daß technologische Innovationen verschiedene landwirtschaftliche Zweige in sehr unterschiedlichem Ausmaß erreichen können. Dieser Punkt wird ausführlich in der ethnographischen Beschreibung diskutiert. 14 DAS GEPLANTE KIND einzelne Mutter relativ gering. Auch langfristig stellen viele Kinder einen wirtschaftlichen Vorteil dar. Da es keine offiziellen, bzw. staatlichen Sicherungssysteme gibt, leisten Kinder wichtige Hilfe bei Krankheiten, im Alter und bei anderen Risiken (Cain 1983, 1993, Nugent 1985). Mehrfach wurde darauf hingewiesen, daß die Absicherung durch Kinder vor allem für Frauen eine wichtige Motivation für eine nicht kontrollierte Fertilität ist (Cain 1993, Handwerker 1986, 1989). Aufgrund einer starken Trennung der Arbeitsbereiche von Mann und Frau, die sich vereinfacht als eine Trennung in einen öffentlichen Bereich, in dem der Mann wirtschaftet und interagiert, und in einen privaten Bereich, der in der Regel auf den Haushalt beschränkt ist und in dem die Frau gemeinsam mit anderen, meist weiblichen Verwandten, wirtschaftet, beschreiben läßt, sind die Möglichkeiten von Frauen, sich vom Mann unabhängig ökonomische Ressourcen zu erschließen, limitiert. Besonders Handwerker (1986, 1989) hat in seinen Arbeiten die Bedeutung von Kindern als häufig wichtigsten Zugang einer Frau zu diesen Ressourcen betont. 9 Neben wirtschaftlichen Vorteilen haben Kinder aber auch soziale Vorteile für ihre Eltern. Durch Kinder können die Eltern soziales Kapital akkumulieren. Beispielsweise kann eine strategisch geschickte Heirat neue Kontakte und Allianzen erschließen oder alte festigen. Von den sozialen Netzwerken der Kinder können auch die Eltern profitieren. Bei Entscheidungen, die nicht nur im Haushalt, sondern 9 Aufgrund dieser Erkenntnis vertritt Handwerker auch einen Ansatz, den man mit dem Satz ‚Entwicklung ist die beste Verhütungsmethode‘ bezeichnen kann. Handwerker (1986, 1989) hat immer wieder betont, daß nicht die Verbreitung von Familienplanungsprogrammen der Grund für einen Rückgang der Fertilität sein kann. Vielmehr muß sich die wirtschaftliche Struktur einer Gesellschaft seiner Meinung nach in der Form ändern, daß Frauen sowohl in der Lage sind, sich eigene Ressourcen zu erschließen (besonders durch eine verbesserte Schulbildung, Handwerker 1986), als auch ihre Fähigkeiten auf dem Markt umsetzen zu können. Das Problem dieses Ansatzes besteht meines Erachtens vor allem darin, daß er zu sehr auf der Variable ‚Anteil an arbeitenden Frauen‘ als erklärende Größe des fertilen Wandels aufbaut. Dieser Ansatz ignoriert völlig, daß es auch in Handwerkers Sinne ‚nicht arbeitende Frauen‘ gibt, die trotzdem ihre Fertilität kontrollieren und deren fertiles Verhalten durch Handwerkers Modell nicht erklärt werden kann. Hierbei kann es sich beispielsweise um Frauen handeln, die bewußt und gemeinsam mit ihren Männern die Entscheidung getroffen haben, wenige Kinder zu bekommen. Diese Kinder sollen aber eine besonders gute Erziehung und Versorgung erhalten. Um diese Erziehung und Versorgung zu gewährleisten, entscheiden sich die Frauen dafür, zu Hause zu bleiben und nicht zu arbeiten. Dieser Punkt wird im folgenden, wenn der fertile und wirtschaftliche (soziale) Wandel diskutiert wird, vertieft. Das andere Problem an Handwerkers Ansatz besteht darin, daß er die Bedeutung von effektiven Verhütungsmitteln nicht ausreichend in seine Analyse integriert. Es kann als gesichert gelten, daß nicht nur die Diffusion von effektiven Verhütungsmitteln den fertilen Wandel verursacht hat, aber ebenso ist eindeutig, daß ohne die Diffusion von effektiven Verhütungsmitteln es in dieser Form keinen fast global zu beobachtenden fertilen Wandel gegeben hätte (Coales 3. Grundbedingung, Coale 1975, Watkins 1987). KAPITEL 2. THEORETISCHE GRUNDLAGEN 15 innerhalb der Gemeinde, in der sich der Haushalt befindet, entschieden werden, haben kinderreiche Haushalte schon allein deshalb, weil sie quantitativ stark vertreten sind, eine gewichtigere Stimme. 10 Hinzu kommt, daß ethnographische Beschreibungen für Lateinamerika gezeigt haben, wie wichtig Kinder sowohl für Männer als auch Frauen zur Bestätigung ihrer sozialen Rolle sind. Teil der männlichen und der weiblichen Rolle ist die Vaterbzw. die Mutterschaft (Gutmann 1996, Lewis 1956, McGinn 1966, Nicassio 1977, Shedlin und Hollerbach 1981). Durch die Zeugung vieler Kinder entspricht der Mann dem kulturellen Stereotyp des potenten und dominanten Machos (Nicassio 1977: 578), durch die Geburt vieler Kinder entspricht die Frau der Rollenerwartung der aufopfernden Mutter (als Marianismo bezeichnet, Browner und Lewin 1982). Mehrfach wurde in ethnographischen Beschreibungen gezeigt, daß die Erfüllung dieser sozialen Rollen auch eine wichtige Quelle ist, zu sozialem Prestige zu gelangen (Behar 1993, LeVine 1993). 11 Innerhalb der sozialen und wirtschaftlichen Organisation, deren Basis der Haushalt ist, haben viele Kinder also eindeutig wirtschaftliche und soziale Vorteile für ihre Eltern. Da aber in der prätransitionalen Phase auch sehr viele Kinder und Säuglinge sterben (Alba und Potter (1986) für Mexiko, F. van de Walle (1986) für Westeuropa), kann der Wunsch nach vielen Kindern nur durch eine hohe, nicht kontrollierte Fertilität erfüllt werden. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß in einem solchen sozialen und wirtschaftlichen System die Eltern mehr (wirtschaftliche/soziale) Vorteile durch ihre Kindern haben als dies umgekehrt der Fall ist. Die Kosten vieler Kinder sind relativ gering, da die Kosten innerhalb des verwandtschaftlichen Kollektivs geteilt werden können, die Vorteile der Kinder sind hingegen für die Eltern groß. Caldwell (1980, 1982) beschreibt dieses Phänomen treffend als intergenerational wealth flow. In der prätransitionalen Phase ist dieser dadurch gekennzeichnet, daß (wirtschaftliche, soziale) Ressourcen hauptsächlich von den Kindern an die Eltern gehen, die ältere Generation folglich von der jüngeren Generation (wirtschaftlich, sozial) profitiert. Wie müssen sich nun die sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ändern, so daß eine kontrollierte Fertilität von Vorteil ist? 10 Dies wird besonders hinsichtlich des mexikanischen ejido Systems, der kommunalen Landverwaltung, deutlich. Innerhalb des ejido Systems werden Entscheidungen bezüglich der Landverwaltung und Landnutzung egalitär getroffen und eine Familie mit vielen erwachsenen Söhnen hat mehr Macht und Einfluß als eine Familie mit nur wenigen erwachsenen Söhnen. 11 Das gilt nicht nur für Lateinamerika. Dyson und Moore (1983) zeigen, daß in vielen Gemeinden Indiens die Mutterschaft die wichtigste Möglichkeit für eine Frau ist, soziales Prestige zu akkumulieren. 16 DAS GEPLANTE KIND Wirtschaftliche und soziale Vorteile einer kontrollierten Fertilität Die Ergebnisse des Princeton European Fertility Project haben gezeigt, daß im Zuge der sozioökonomischen Entwicklung eines Landes die landwirtschaftliche Subsistenzproduktion und mit ihr der Haushalt als wichtigste Produktionseinheit immer mehr an Bedeutung verlieren (Lesthaeghe und Wilson 1986). Die Eckpfeiler dieses Wandels entsprechen den Erklärungen des Princeton Projektes (Watkins 1986a) und der Theorie des demographischen Übergangs (Notestein 1953) und werden im folgenden vorgestellt: 12 1. Aufgrund einer zunehmenden Industrialisierung ergeben sich neue und diversere Einkommensmöglichkeiten. Da die neuen Einkommensquellen im Industriesektor und im Dienstleistungssektor überwiegend in urbanen Zentren zu finden sind, kommt es zu einer anwachsenden Arbeitsmigration und zunehmenden Urbanisierung. Watkins (1990) hat für Westeuropa überzeugend gezeigt, wie lokal, wirtschaftlich und sozial weitgehend abgeschlossene Gemeinden im Zuge dieser Entwicklung ihren sozialen, wirtschaftlichen und lokalen Radius immer mehr ausgedehnt haben. Industrialisierung und Urbanisierung sind für Lateinamerika ebenfalls gut belegt (als Überblick Cubitt 1996), wobei zu bedenken ist, daß es sich um keinen für ein ganzes Land homogenen Prozeß handelt, sondern sukzessive immer weitere Regionen eines Landes in diesen Wandel eingebunden werden (Krause 1996). Aufgrund neuer Einkommensquellen werden neue Formen sozialer Mobilität und Akkumula12 Es ist erstaunlich, daß häufig und gerade von Ethnologen davon gesprochen wird, daß das Princeton European Fertility Project ein Mißerfolg gewesen sei (Greenhalgh 1990, 1995, Fricke 1997). Es steht außer Frage, daß durch dieses Projekt nicht alle Fragen geklärt wurden, daß es sowohl Probleme bei der Operationalisierung und Messung der abhängigen Variablen als auch der unabhängigen Variablen gab und daß bestimmte erklärende Variablen in der Analyse fehlten (vgl. McNicoll 1980). Trotzdem war das Princeton Projekt in gewisser Weise ein Erfolg, wenn man bedenkt, daß trotz dieser Probleme in vielen Ländern und zu vielen Zeitpunkten sich erklärte Varianzen von über 50% ergaben (Watkins 1986a: 440) und Watkins in ihrer Zusammenfassung des Projektes zu dem Schluß kommt: „In general, relatively urban and industrialized provinces with low levels of illiteracy and infant mortality were the leaders in the transition.“ (1986: 440). Allerdings merkt sie auch zurecht an, daß die Beurteilung der Ergebnisse auch vom ‚eye of the beholder‘ abhängt (1986: 440), dessen Beurteilung aber ganz offensichtlich manchmal verzerrt ist. Eine ausgewogenere Kritik des Projektes und der Theorie des demographischen Überganges generell findet sich bei Krause (1996) und bei Mason (1992), die auch thematisieren, inwieweit es sich um eine Theorie handelt und ob eine Theorie im strikten wissenschaftstheoretischen Sinne innerhalb der Sozialwissenschaften überhaupt möglich ist. Ohne Frage ist Lang in seiner Kritik Greenhalghs (1995) und ihrer Überzeugung, daß die Theorie des demographischen Übergangs der Vergangenheit angehört, zuzustimmen, wenn er zu dem Schluß kommt: „In diesen Theorien dürfte danach noch mehr Leben stecken, als ihnen z.B. von Greenhalgh zugebilligt wird.“ (Lang 1997c: 265). KAPITEL 2. THEORETISCHE GRUNDLAGEN 17 tion von Besitz möglich. Lesthaeghe und Wilson (1986, Lesthaeghe 1980) zeigen, wie es durch diesen Prozeß zu einer Umstrukturierung der ländlichen Gemeinden kommt. Die Akkumulation von Besitz und sozialem Prestige ist in der prätransitionalen Phase fast ausschließlich durch Erbschaft und Heirat möglich. Da die älteren Generationen beide Faktoren kontrollieren, beispielsweise durch Aufrechterhaltung und Sanktonierung von Heirats- und Erbschaftsregeln (Lesthaeghe und Wilson 1986: 263), profitieren sie am stärksten von diesem System. Im Zuge einer zunehmenden Industrialisierung kann aber auch die jüngere Generation Besitz und Prestige unabhängig von der älteren Generation erwerben und akkumulieren. Dadurch kommt es zu einem Wandel der hierarchischen Ordnung und zu einer sich verschiebenden Stratifizierung der ländlichen Gemeinschaft: „Unmarried children became less pressured by parents to conform to traditional patterns of behavior, not because they were more likely to be more educated than their parents, but because the father was no longer the manager of the familial unit of production and was loosing economic control over wage-earning sons and daughters.“ (Lesthaeghe und Wilson 1986: 269). 13 Anhand dieses Prozesses kann jedoch noch nicht erklärt werden, warum der wirtschaftliche und soziale Nutzen von Kindern abnimmt und Paare motiviert werden, ihr Fertilität zu kontrollieren. Zumindest in der Anfangsphase des Übergangs ist es auch denkbar, daß die Kontrolle der älteren Generation über die jüngere Generation weiterhin besteht und daß die neuen Einkommensmöglichkeiten sogar einen Anreiz für eine unkontrollierte Fertilität darstellen, denn Familien, die viele Kinder zur Verfügung haben, können einerseits von den neuen Einkommensquellen profitieren, andererseits weiterhin ausreichend Kinder in der Landwirtschaft einsetzen. Es müssen sich also neben den neuen Einkommensquellen auch noch andere Rahmenbedingungen wandeln. 2. Die zunehmende Modernisierung eines Landes impliziert ebenfalls, daß es zu einer verbesserten Technologie innerhalb der Landwirtschaft kommt und die Mortalitätsrate aufgrund einer verbesserten Gesundheitsversorgung sinkt. Aufgrund einer verbesserten Technologie ist es unter Umständen gar nicht mehr notwendig, alle Kinder als Arbeitskräfte einzusetzen. Ebenfalls ist denkbar, daß aufgrund eines ansteigenden Bevölkerungswachstums, das die Folge einer gleich13 Die Verwendung des Begriffs Gemeinschaft ist in diesem Zusammenhang ein forschungspragmatischer und grenzt sich insofern von den theoretischen Implikationen, den dieser Begriff in der Soziologie hat, ab. Ethnologen untersuchen traditionell kleinere soziale Gruppen, die auf einem gemeinsamen Territorium leben und durch enge soziale Beziehungen miteinander verbunden sind. Diese sozialen Einheiten werden hier als Gemeinschaften bezeichnet. 18 DAS GEPLANTE KIND bleibenden Fertilität bei sinkender Mortalität sein kann, und einer daraus resultierenden Verknappung der Ressourcen, hauptsächlich des zur Verfügung stehenden Landes, gar nicht mehr alle Kinder in der Landwirtschaft tätig werden können. Eltern können deshalb motiviert sein, weniger Kinder zu bekommen. Generell kann also sowohl der Bedarf an Kindern in der Landwirtschaft als auch die Kapazität der zur Verfügung stehenden Ressourcen sinken, und es wird möglich, mit weniger Geburten einen ähnlichen wirtschaftlichen und sozialen Vorteil zu erzielen. 3. Neben diesen Veränderungen kommt es im Zuge einer Modernisierung auch zu weitreichenden Veränderungen im Bildungsbereich. Durch eine Ausbreitung dessen, was Caldwell als ‚mass education‘ (1980: 225) bezeichnet, kann die jüngere Generation eine ihren Eltern überlegene Ausbildung erhalten. Wie die neuen und diversen Möglichkeiten, ein Einkommen zu erwirtschaften, stellt auch der Zugang zu Schulbildung einen weiteren Faktor dar, durch den sich die Handlungsalternativen eines Individuums vervielfältigen. Der Zusammenhang zwischen einer solchen verbesserten Schulbildung und einer Reduzierung der Fertilität wurde in mehreren Untersuchungen bestätigt (als Überblick Cochrane 1983, Hirschman 1994). Man muß allerdings zwischen dem Effekt der Schulbildung auf die verschiedenen hier diskutierten Akteure unterscheiden. Einerseits können Eltern eine höhere Schulbildung haben, unter Umständen auch nur einer der Partner, andererseits können Eltern in die Schulbildung ihrer Kinder investieren, so daß diese ab einem bestimmten Punkt besser als ihre Eltern ausgebildet sind. Zuerst soll die Investition der Eltern in die Ausbildung der Kinder behandelt werden. Eine Investition der Eltern in die Schulbildung ihrer Kinder kann die wirtschaftlichen Vorteile der Kinder für den Haushalt einschränken (Caldwell 1980, Lesthaeghe und Wilson 1986). Kinder arbeiten, da sie zur Schule gehen, wenn überhaupt, erst viel später und weniger im Haushalt und in der Landwirtschaft mit. Die Kosten für jedes einzelne Kind steigen hingegen (Caldwell 1980). Caldwell hat gezeigt, daß sich die steigenden Kosten nicht nur auf zusätzliche Ausgaben, wie Schuluniformen, Schulgeld, Ausgaben für Bücher und Transport, beschränken, sondern weitergefaßt auch für die Eltern bedeuten, daß sie sich nicht mehr auf ihre Kinder als wirtschaftliche und soziale Ressource verlassen können (1980: 227). Aufgrund einer besseren Schulbildung können Kinder eine wirtschaftliche und soziale Entscheidungsautonomie erlangen, die sie von der traditionellen, von der älteren Generation dominierten, Struktur unabhängig macht. Hier zeigt sich deutlich eine Parallele zu der Argumentation von Lesthaeghe und Wilson (1986). Ähnlich KAPITEL 2. THEORETISCHE GRUNDLAGEN 19 wie neue Einkommensquellen und zunehmende Migration in Städte hat auch Schulbildung den Effekt, einen Wandel der traditionellen Hierarchiestrukturen zu initiieren und zu beschleunigen. Der oben beschriebene intergenerational wealth flow kann sich also umkehren – nicht mehr die ältere Generation, die Eltern, profitieren von der jüngeren Generation, ihren Kindern, sondern das Gegenteil setzt ein – Eltern investieren in ihre Kinder, was diesen soziale und wirtschaftliche Vorteile bringt, weniger aber ihren Eltern (Caldwell 1980, 1982). Allerdings ist hierbei zu bedenken, daß die generellen Vorteile von Kindern, auch bei abnehmenden wirtschaftlichen Vorteilen, nicht unbedingt geringer werden müssen. Vielmehr kann eine andere Dimension, etwa die emotionale Befriedigung, die die Erziehung eines Kindes darstellt, in den Vordergrund rücken. 14 Außerdem stellt sich weiter die Frage, ab wann ein Kind keinen wirtschaftlichen Vorteil mehr für seine Eltern darstellt. Durch die Investition in wenige, aber sehr gut ausgebildete Kinder, können sowohl die Eltern als auch die Kinder wirtschaftlich und sozial profitieren. Den Kindern stehen aufgrund ihrer formalen Qualifikationen besser bezahlte Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung. Zwar zeitlich verzögert, da die Jahre der Ausbildung des Kindes den Eltern noch keine wirtschaftlichen Vorteile bringen, sondern Kosten verursachen, können auch die Eltern profitieren. Eine bessere Schulbildung der Kinder und sich daran anschließend besser bezahlte Arbeitsmöglichkeiten können auch eine Strategie des sozialen Aufstiegs der Eltern durch ihre Kinder sein. Nicht die Vorteile von vielen schon im Alter von zehn Jahren auf den Feldern arbeitenden Kindern wird angestrebt, sondern beispielsweise die Unterstützung einer Tochter mit gesichertem Einkommen, die im Alter hilft. Es ist also anzunehmen, daß Eltern auf die neuen Rahmenbedingungen mit unterschiedlichen Strategien reagieren. Drei Strategien sind voneinander zu unterscheiden: (a) Eltern verfolgen weiterhin ausschließlich die traditionelle Wirtschaftsweise. Das bedeutet, daß sie sich relativ viele Kinder wünschen, in die sie relativ wenig investieren (vor allem hinsichtlich der Schulbildung der Kinder), damit die Kinder früh in der Landwirtschaft und im Haushalt arbeiten. Diese Strategie wird im weiteren Verlauf der Arbeit als TRADITIONELLE STRATEGIE bezeichnet. 14 Dieser Wandel der Bedeutung von Kindern, wobei es sich stark vereinfacht um eine Verschiebung von wirtschaftlichen Vorteilen hin zu emotionaler Befriedigung handelt, wird in der Literatur kontrovers diskutiert. Insbesondere die Frage, inwieweit es sich bei einem Kind um ein (emotionales) Konsumgut handelt, welches die Eltern, wie auch ein Auto oder einen Fernseher, erwerben und ‚konsumieren‘, steht hier im Mittelpunkt der Debatte (Becker 1991, Blake 1968, Caldwell 1982, Pollak und Watkins 1993). 20 DAS GEPLANTE KIND (b) Eine weitere Möglichkeit besteht darin, daß Eltern bewußt eine Strategie verfolgen, die alte Strukturen mit neuen Möglichkeiten kombiniert. Diese Strategie wird als GEMISCHTE STRATEGIE bezeichnet. Ein Teil der Kinder wird weiterhin in der Landwirtschaft eingesetzt, ein anderer Teil geht zur Schule und arbeitet nicht mehr in der Landwirtschaft. Auch Lesthaeghe und Wilson (1986: 269) formulieren die Hypothese, daß während einer Übergangsphase Haushalte in Westeuropa eine solche Strategie verfolgt haben. Da formale Qualifikationen immer wichtiger werden, um Anstellungen in den Städten zu finden, sind es gerade die besser ausgebildeten Kinder, die diese neuen Arbeitsmöglichkeiten ergreifen können. Diese Kinder geben ihr Einkommen weiterhin an den Haushalt ab, was die Position des Haushalts im Vergleich zu anderen Haushalten, die sich allein auf die traditionellen Produktionsweisen verlassen, verbessert. Durch eine Diversifikation der Einkommensquellen kann sich der Haushalt besser gegen Risiken absichern. (c) Die dritte Strategie besteht darin, daß Eltern nur noch wenige Kinder bekommen, die aber sehr gut ausgebildet werden. Diese Strategie wird als MODERNE STRATEGIE bezeichnet. Eine solche Strategie bietet den Eltern die größten Chancen einer wirtschaftlichen Aufwärtsmobilität durch ihre Kinder, ist aber auch mit Risiken verbunden, da sie die Loyalität der Kinder gegenüber ihren Eltern voraussetzt. Ist diese nicht (mehr) gegeben, wird es für die Eltern insbesondere in wirtschaftlichen Krisensituation und im Alter schwierig, ihr Überleben zu sichern. Sind die Eltern aber aufgrund einer eigenen Schulbildung und eines eigenen Zugangs zu sicheren und gut bezahlten Arbeitsmöglichkeiten in der Lage, dieses Risiko zu vermindern, steigt die Wahrscheinlichkeit, daß sie nur wenige Kinder bekommen, in deren Ausbildung sie investieren, wodurch sie längerfristig u.U. wiederum selber profitieren. Schulbildung und Arbeit der Eltern spielen also ebenfalls eine große Rolle im Hinblick darauf, welche reproduktive Strategie angewendet wird. Besser ausgebildete Eltern brauchen ihre Kinder nicht mehr, um wirtschaftlich zu überleben. Durch eine Investition in ihre Kinder ergibt sich für sie aber die Option, von dieser Ausbildung ebenfalls zu profitieren, ohne von ihr abhängig zu sein. Allerdings unterliegen die Möglichkeiten aller Eltern, unabhängig davon, welche Strategie sie verfolgen und verfolgen können, signifikanten Einschränkungen. Die Kosten für die Erziehung und Ausbildung von Kindern sind, wie oben anhand der Arbeiten von Caldwell beschrieben wurde, stark angestiegen. Gut ausgebildete und gut ernährte Kinder können sich auch Eltern mit gutem Einkommen nur begrenzt leisten. KAPITEL 2. THEORETISCHE GRUNDLAGEN 21 Eine bessere Schulbildung des Paares hat aber noch andere Konsequenzen für sein reproduktives Verhalten. Der offensichtlichste Effekt besteht darin, daß durch eine längere Phase der Ausbildung das Heiratsalter und das Alter bei erster Geburt zeitlich verschoben werden (für Lateinamerika vgl. Martín 1995). Dadurch wird die reproduktive Phase verkürzt, und es werden weniger Kinder als potentiell möglich geboren. Doch neben diesem direkten Effekt hat eine bessere Schulbildung unter Umständen auch die Konsequenz, daß Frauen beginnen, zu arbeiten und sich eigene Einkommensquellen, unabhängig von ihren Kindern und ihrem Partner, zu erschließen. 4. Insofern kann eine zunehmende Modernisierung und Industrialisierung eines Landes auch zu Veränderungen des Status der Frau führen. Status und Autonomie der Frau und deren Effekt auf ihr reproduktives Verhalten sind in den vergangenen Jahren verstärkt untersucht worden (Anker et al. 1982, Balk 1994, 1997, Dyson und Moore 1983, Federici et al. 1993, Handwerker 1989, Mason 1986, 1987, 1993), waren aber auch schon eine der erklärenden Variablen des Princeton Projektes (Watkins 1986a: 438). Eines der Probleme, das sich bei mehreren der Untersuchungen ergeben hat, besteht in der Operationalisierung des Status bzw. der Autonomie der Frau. Häufig werden diese als der von Kindern und Ehemann unabhängige Zugang der Frau zu Ressourcen definiert und beispielsweise anhand des Anteils an berufstätigen Frauen in einer Population gemessen (z.B. Handwerker 1986, 1989). Es wird davon ausgegangen, daß die Frau, da sie einen eigenen Zugang zu Ressourcen hat, auch unabhängiger reproduktive Entscheidungen treffen kann. Kinder verlieren für sie den Vorteil eines Zuganges zu Ressourcen, was ihre Motivation, viele Kinder zu bekommen, vermindert. Deshalb muß sie eine bewußte Entscheidung darüber treffen, wieviel ihrer Zeit und Energie sie bereit ist, in Kinder zu investieren, da die Erziehung von Kindern für sie in Konkurrenz zu anderen Aktivitäten, vor allem ihrer Berufstätigkeit, steht. Die wirtschaftliche und soziale Situation arbeitender Frauen und deren Effekt auf ihr reproduktives Verhalten sind aber nur eine mögliche Variante. Auch nicht berufstätige Frauen kontrollieren ihr reproduktives Verhalten. Gründe, warum diese Frauen ebenfalls eine Reduzierung ihrer Fertilität als vorteilhaft wahrnehmen, werden im folgenden Abschnitt ausführlich diskutiert, denn es handelt sich vor allem um Konsequenzen eines Wandels von Werten, der zu einer anderen Kommunikation mit dem Partner und zu einer anderen Abwägung der Vorteile und der Kosten von Kindern führt. Die Veränderungen der sozialen Rahmenbedingungen, die eine kontrollierte Fertilität als Vorteil erscheinen lassen, stehen mit den Veränderungen der wirtschaftli- 22 DAS GEPLANTE KIND chen Rahmenbedingungen in engem Zusammenhang und finden sich schon in der vorangegangenen Argumentation. Da außerhalb der ländlichen Gemeinden neue Einkommensquellen vor allem in Städten entstanden sind, sind die sozialen Netzwerke innerhalb einer Gemeinde nur noch eine Möglichkeit, um zu sozialem Prestige und wirtschaftlichem Einkommen zu gelangen. Auch ohne gute Kontakte innerhalb der lokalen Gemeinde ist ein wirtschaftlicher und sozialer Aufstieg möglich. Damit verlieren auch strategische Heiraten an Relevanz, denn der soziale Kontext der Gemeinde ist nur noch einer von mehreren dem Individuum zur Verfügung stehenden sozialen Kontexten. Auch die Geschlechterrollen wandeln sich aufgrund der neuen Möglichkeiten wirtschaftlicher und sozialer Mobilität. Dies ist besonders hinsichtlich der Rolle der Frau zu beobachten. Eine Frau mit einer guten Ausbildung und einer eigenen Arbeit befindet sich in einem größeren sozialen Netzwerk und ist weniger auf die soziale Anerkennung innerhalb des kleinen Kreises weiblicher Verwandter angewiesen. Doch auch die Rolle des Mannes ist weniger auf die Zeugung vieler Nachkommen festgelegt. Wie die Frau kann er sich durch bessere formale Qualifikationen und Berufstätigkeit außerhalb der Landwirtschaft nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sozial der traditionellen Kontrolle vor allem der älteren Generation entziehen (Lesthaeghe und Wilson 1986: 269). Ihm stehen mehr und diversere Möglichkeiten zur Verfügung, zu sozialem Prestige zu gelangen. Diese soziale Autonomie von Mann und Frau, die eine wirtschaftliche Unabhängigkeit voraussetzt, hat insofern einen Effekt auf das reproduktive Verhalten eines Paares, als dieses einerseits nicht mehr auf das soziale Prestige in Form von Kindern angewiesen ist, was die Vorteile von vielen Kindern mindert, und andererseits eher in der Lage ist, unabhängig von den wirtschaftlichen und sozialen Interessen des gesamten Haushalts seine reproduktiven Entscheidungen zu treffen. Generell ist festzuhalten, daß eine wichtige Ursache, die eine Kontrolle der Fertilität als Vorteil erscheinen läßt, in der zunehmenden wirtschaftlichen und sozialen Unabhängigkeit sowohl der Eltern von ihren Kindern als auch der Kinder von ihren Eltern besteht. Aufgrund der sich verändernden Rahmenbedingungen können sich Paare neue Einkommensquellen außerhalb der traditionellen Produktion auf Haushaltsbasis erschließen, die den Effekt haben, daß diese Paare nicht mehr auf Arbeitskraft und Altersversicherung durch ihre Kinder angewiesen sind. Die Unabhängigkeit der Kinder von ihren Eltern gilt allerdings nur mit Einschränkungen, denn während ihrer Erziehung sind sie alles andere als wirtschaftlich unabhängig. Ihre Eltern investieren in ihre Erziehung und Bildung. Diese Investition versetzt dann allerdings die Kinder in die Lage, ab einem gewissen Punkt ihrer Ausbildung von den Eltern unabhängig zu einem Einkommen zu gelangen. Sie müssen nicht KAPITEL 2. THEORETISCHE GRUNDLAGEN 23 mehr darauf warten, ein Stück Land zu erben, sondern können in relativ jungen Jahren autonom wirtschaften und entscheiden. Und auch die Eltern können u.U. von ihren gut ausgebildeten Kindern profitieren. Hier zeigt sich deutlich die Verbindung von Coales zweiter und erster Grundbedingung, die im folgenden diskutiert wird. Ein Paar, daß von traditionellen Produktionsformen weitgehend unabhängig eine eigene wirtschaftliche und soziale Position erlangen kann, ist erheblich weniger von den Werten und Normen seiner sozialen Umwelt, vor allem der erweiterten Familie und der lokalen Gemeinde, abhängig. Insofern ist es notwendig, in der ethnographischen Beschreibung die wirtschaftlichen Strategien von Haushalten und Paaren detailliert zu analysieren. Doch ist die wirtschaftliche Unabhängigkeit nicht die einzige Rahmenbedingungen, die dazu führt, daß ein Paar eine unabhängige und bewußte reproduktive Entscheidung (Coale 1975: 353) trifft. 2.2 Reproduktive Entscheidungen als bewußte Entscheidungen Coales zweite Grundbedingung lautet folgendermaßen: „Fertility must be within the calculus of conscious choice. Potential parents must consider it an acceptable mode of thought and form of behavior to balance advantages and disadvantages before deciding to have another child.“ (Coale 1975: 353). Die Frage danach, was unter einer bewußten Entscheidung zu verstehen ist, wird nicht immer in gleicher Art und Weise beantwortet. Nach E. van de Walle (1992) ist ein Indikator für eine bewußte und reflektierte Entscheidung, daß Frauen wie auch Männer ihre reproduktiven Entscheidungen als planbar wahrnehmen und eine konkrete Zahl nennen können, die sie an Kindern haben möchten. Ist dies nicht der Fall, antworten Paare, Männer oder Frauen zum Beispiel bei der Frage nach ihrer gewünschten Kinderzahl nicht mit einer Zahl, sondern mit Aussagen wie ‚Das ist Gottes Entscheidung‘, zeigt dies, daß solche Paare, Frauen oder Männer ihre reproduktiven Entscheidungen nicht bewußt abwägen. E. van de Walle (1992) stützt sich bei seiner Schlußfolgerung auf die Ergebnisse einer Untersuchung in Mali, die gezeigt hat, daß ein großer Teil der befragten Frauen keine Zahl angeben konnte, sondern Gott als Entscheidungsträger nannten: „Above all, the women lack the frame of mind and the clear numerical standard that would allow them to make sense of small families and the means to obtain them.” (E. van de Walle 1992: 496). E. van de Walles Argumentation birgt einige Probleme. Abhängig davon, wie weit der fertile und soziale Wandel fortgeschritten ist, werden verschiedene Frauen 24 DAS GEPLANTE KIND unterschiedliche Instanzen (wie etwa Gott) als Entscheidungsträger benennen. Auch nach zwanzig Jahren starker Propaganda für die Kleinfamilie, und mit ihr verbunden der Verbreitung des Zählens von Kindern, kann es in einer Gesellschaft immer noch Frauen und Paare geben, die keine Zahl nennen. Es ist zu vermuten, daß es sich hierbei um Frauen handelt, die ihre reproduktive Phase abgeschlossen haben. Nennen diese Frauen nun keine Zahl, sondern Gott als Entscheidungsgröße, heißt das nicht unbedingt, daß sie nicht in der Lage sind, numerisch zu denken, wie E. van de Walle (1992: 496) meint. Unter Umständen können diese Frauen beispielsweise für ihre Töchter und Schwiegertöchter eindeutige Zahlen angegeben, wie viele Kinder ihrer Meinung nach für diese ausreichend sind. In Bezug auf ihre eigene Fertilität befinden sie sich hingegen in einer Rechtfertigungsposition, denn mittlerweile ist das Ideal der Kleinfamilie so weit verbreitet, daß sie nicht mehr der Norm entsprechen und ihr Verhalten anders als mit ihrer eigenen bewußten Entscheidung rechtfertigen. Insofern ist die Fähigkeit, eine gewünschte Kinderzahl zu nennen, nur ein möglicher Indikator dafür, daß es sich um eine bewußte reproduktive Entscheidung handelt. Lesthaeghe (1980, Lesthaeghe und Wilson 1986) ist in seiner Argumentation allgemeiner und beschränkt sich nicht ausschließlich auf einen Indikator. Wie auch in dieser Arbeit, beginnt Lesthaeghe mit der Analyse des wirtschaftlichen und sozialen Wandels, um ihn in einem zweiten Schritt in Beziehung zu setzen mit dem, was er als Individualisierung und Säkularisierung der Gesellschaft bezeichnet (Lesthaeghe 1980: 537-9). Nicht nur die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen haben sich für ein Individuum gewandelt, sondern auch das, was Lesthaeghe als ideologische oder kulturelle Kodes (1980: 535) bezeichnet. Wie im Abschnitt über die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, beschränke ich mich hier auf die Situation in Westeuropa und Lateinamerika. Lesthaeghe (1980) macht auch Aussagen zu anderen ideologischen Kodes und ihrer Auf- und Ablösung. Das Endprodukt dieser Prozesse ist nach Lesthaeghe allerdings in allen Fällen ähnlich – nicht mehr eine oder einige wenige Institutionen und ihre ideologischen Vorgaben lenken die Entscheidungen eines Individuums, sondern viele mögliche ideologische Kodes, zwischen denen sich das Individuum entscheiden muß (Lesthaeghe 1980: 535). Vor einem umfassenden fertilen Wandel handelt es sich bei dem dominierenden ideologischen Kode im wesentlichen um eine christliche Ideologie, die von der Institution der katholischen Kirche verbreitet wird und bei abweichendem Verhalten auch zu Sanktionen führt. Diese ideologische Ordnung unterstützt die wirtschaftliche und soziale Organisation des Haushalts, so wie er im vorangegangenen Ab- KAPITEL 2. THEORETISCHE GRUNDLAGEN 25 schnitt beschrieben wurde: „The paternal control of this unit (des Haushalts, Anm. der Verf.) was thoroughly legitimized by the prevailing moral code, for which Christian churches acted as guardians.“ (Lesthaeghe und Wilson 1986: 270). Neben dem Einfluß der Kirche und des Haushalts hat auch die lokale Gemeinde großen Einfluß auf die Entscheidungsfreiheit eines Individuums. 15 Die Kontrolle der jüngeren Generation durch die ältere Generation innerhalb des Haushalts wurde schon im vorangegangenen Abschnitt beschrieben. All diesen Institutionen ist gemeinsam, daß sie nicht das Individuum, sondern ein Kollektiv und dessen Überleben in den Vordergrund stellen. Nur in der Gruppe kann das Individuum existieren, und durch die Gruppe wird sein Handlungsspielraum bestimmt und eingeschränkt. Daß es zu einem Wandel dieser handlungsweisenden Ideologie kommt, liegt vor allem an der Veränderung der wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen. Die zunehmende Autonomie eines Individuums führt auch dazu, daß es einerseits alternative Lebensentwürfe kennenlernt und andererseits potentiell aufgrund seiner wirtschaftlichen/sozialen Unabhängigkeit in der Lage ist, eine andere Orientierung anzunehmen. 16 Wiederum spielen Schule und Schulbildung als Katalysator eines neuen Normen- und Wertesystems eine wichtige Rolle. Neben der Schule gibt es aber noch weitere Institutionen, die dazu beitragen, daß es zu einer fortschreitenden Individualisierung und Säkularisierung kommt. Caldwell (1982) nennt hier neben der Massenschulbildung noch die Massenkommunikationsmittel, durch die gleichfalls neue Werte verbreitet werden. Lesthaeghe bezieht weiterhin Migration (1980) 15 Z.B. ist es innerhalb des mexikanischen ejido Systems dem einzelnen nur sehr begrenzt möglich, unabhängig von den anderen Mitgliedern des ejidos zu handeln. Entscheidungen werden gemeinsam getroffen und bei abweichendem Verhalten, beispielsweise einer nach Auffassung der ejido Mitglieder falschen oder unzureichenden Bestellung des Bodens, kommt es zu Sanktionen. 16 Fricke (1997) entwickelt ein ähnliches Modell zur Erklärung des Wandels reproduktiver Entscheidungen, spricht aber nicht von Ideologie oder ideologischen Kodes, sondern von einem Wandel der Wertvorstellungen einer Gruppe, so daß es zu Konflikten zwischen gegensätzlichen Werten kommt. Im Gegensatz zu Lesthaeghe beschreibt Fricke aber nur zwei alternative Wertsysteme, die in Konflikt geraten. Der große argumentative Vorteil von Lesthaeghe besteht darin, daß er zeigt, daß es sich nicht um eine Phase des Konfliktes zwischen zwei verschiedenen – einem alten und einem neuen – ideologischen Systemen handelt (oder in Frickes Terminologie ‚Wertsystemen‘), die dann in der Ablösung des alten durch das neue System mündet, sondern vielmehr um einen Übergang von einem dominierenden ideologischen System hin zu vielen ideologischen Kodes, zwischen denen das Individuum abwägen und entscheiden muß. Unter Umständen ist es auch denkbar, nicht von Codes zu sprechen, sondern von Schemata im Sinne der kognitiven Ethnologie (D’Andrade 1995), und erstens zu fragen, welche Schemata sich wie gewandelt haben, zweitens welche Schemata hinzu gekommen sind und drittens, welche der Schemata handlungsrelevant sind. Strauss (1992) zeigt sehr überzeugend, daß einem Individuum viele Schemata bewußt sind und es auch zwischen ihnen abwägt, so daß am Ende eines solchen abwägenden Prozesses nur wenige Schemata tatsächlich handlungsmotivierend sind. 26 DAS GEPLANTE KIND und politische Parteien (Lesthaeghe und Wilson 1986) mit ein, die nach Lesthaeghe und Wilson vor allem dann immer wichtiger werden, wenn der Einfluß der Kirche zurückgeht. Schulbildung ist nicht nur ein wichtiger Indikator des sozialen und wirtschaftlichen Wandels, da eine Schulbildung die Möglichkeiten eines Individuums, unabhängig von traditionellen Wirtschaftsformen zu einem eigenen Einkommen und sozialem Prestige zu gelangen, verbessert. Durch die in der Schule vermittelten Inhalte werden auch andere Werte und Normen als die traditionell vorhandenen vermittelt (Caldwell 1980). Besonders deutlich zeigt sich dies in zwei Bereichen – zum einen anhand der sich verändernden Beziehung zwischen dem Kind und seinen Eltern, zum anderen anhand der sich verändernden Beziehung zwischen Mann und Frau. Innerhalb des traditionellen Systems verbringt die Mutter relativ wenig Zeit mit der Erziehung ihrer zahlreichen Kinder, da nicht nur sie sich um die Kinder kümmert, sondern sich ein weibliches Kollektiv diese Aufgaben teilt (Oppong 1982: 142). Im Gegensatz dazu haben Studien gezeigt, daß (ehemals) berufstätige Frauen mit guter Schulbildung fast ausschließlich die Kinderbetreuung alleine übernehmen und folglich sehr viel Zeit mit ihren Kindern verbringen (LeVine et al. 1991, Oppong 1982: 143). Nach LeVine et al. (1991) resultiert diese veränderte Kindererziehung daraus, daß die gebildetere Frau ein anderes Konzept von der Interaktion zwischen Kind und Erwachsenem in der Schule vermittelt bekommen hat. Wie die Interaktion zwischen einem Lehrer und seinen Schülern, ist auch die Interaktion zwischen diesen Müttern und ihren Kindern sehr zeitaufwendig. LeVine et al. (1991) können in ihrer mexikanischen Fallstudie zeigen, daß gebildetere Mütter bedeutend mehr Zeit mit ihren Kleinkindern verbringen und häufiger und länger mit ihnen sprechen, was auch den positiven Effekt hat, daß die sprachlichen Fähigkeiten dieser Kinder früher und schneller entwickelt sind: „A new kind of motherchild relationship is built around reciprocal verbal interaction, one which helps mothers monitor the needs of their preschool children but which also demands so much of their attention that fertility control becomes imperative.“ (LeVine et al. 1991: 492). Die Qualität der Kindererziehung wird entschieden verbessert, was einen Effekt auf die Fertilität hat, denn wie LeVine et al. feststellen, ist ein so hoher Erziehungsstandard nur für eine begrenzte Anzahl an Kindern zu halten. Insofern ist es nicht erstaunlich, daß gerade die Mütter, die eine gute Schulbildung haben und sich intensiv mit ihren Kindern beschäftigen, auch diejenigen Frauen sind, die verhüten und weniger Kinder bekommen. Doch hat diese veränderte Form der Erziehung noch einen anderen Effekt, der in Beziehung zu Lesthaeghes These der KAPITEL 2. THEORETISCHE GRUNDLAGEN 27 Individualisierung der Gemeinschaft steht. In dieser neuen Art und Weise erzogene Kinder werden sich eher als eine Person mit individuellen Rechten, Ansichten und Meinungen wahrnehmen als Kinder, die in einem Kollektiv mit vielen anderen Kindern groß werden (Caldwell 1980: 228). Studien, die sich mit dem Status und der Autonomie der Frau beschäftigen, übersehen häufig genau diesen neuen Typus von Mutter. Schon im vorangegangenen Abschnitt wurde dargestellt, daß viele dieser Studien zu sehr darauf fokussiert sind, Status und Autonomie der Frau mit Erwerbstätigkeit gleichzusetzen. Geht man aber von dem Ansatz aus, den Lesthaeghe (1980) vorgibt, so ist es nicht nur der Zugang zu Ressourcen und damit verbundener wirtschaftlicher Autonomie, sondern eine generelle Individualisierung der Gemeinschaft, die zu einem Wandel des reproduktiven Verhaltens führt. Gerade durch die Schule aber auch durch die Massenmedien werden mehrere alternative Lebensentwürfe verbreitet. Die Entscheidung einer Frau, sich intensiv mit der Erziehung ihrer Kinder zu beschäftigen, stellt hierbei nur eine mögliche Option dar, ebenso wie die Entscheidung einer Frau oder auch eines Paares für eine Berufstätigkeit ohne Kinder. Wichtig ist, daß sich das Paar weitgehend unabhängig von Vorgaben anderer für eine Alternative entscheidet. Insofern sind reproduktive Entscheidungen auch nicht isoliert zu betrachten. Sie sind vielmehr Teil einer generellen Lebensplanung, die - anders als im traditionellen System, in dem die Rahmenbedingungen dem Individuum wenig Entscheidungsspielraum lassen - dadurch gekennzeichnet ist, daß Paare ihre Entscheidungen von vornherein abwägen können. Nicht nur reproduktive Entscheidung sind nun bewußte und unabhängige Entscheidungen, sondern auch Entscheidung darüber, ob z.B. der Mann migriert, ob die Frau arbeitet oder ob man sich scheiden läßt. Schulbildung wie auch Massenkommunikationsmedien haben weiterhin einen Einfluß auf die Art und Weise, wie Männer und Frauen einander wahrnehmen und miteinander interagieren. Beide Geschlechter gehen zur Schule. Immer mehr Frauen sind auch außerhalb ihres Haushalts berufstätig. Dadurch wird die Trennung in einen öffentlichen, männlichen Bereich und einen privaten, weiblichen Bereich sukzessive aufgelöst. Diese Situation erhöht auch die Wahrscheinlichkeit, daß Männer und Frauen Entscheidungen gemeinsam treffen. Das Ideal der Kleinfamilie, welches häufig durch staatliche Familienplanungsprogramme, so auch in Mexiko, propagiert wird, impliziert ebenfalls einen Wandel der Geschlechterrollen. Nicht mehr die erweiterte Familie gilt als kulturelles Ideal, sondern eine bewußt von Mann und Frau geplante Kleinfamilie. 28 DAS GEPLANTE KIND Watkins (1990) hat für Westeuropa gezeigt, daß es auch durch zunehmende Arbeitsmigration zu einem Wertewandel kommt. Ähnlich argumentiert Lesthaeghe (1980), wenn er darauf hinweist, daß einer der Gründe für die zunehmende Individualisierung darin besteht, daß ein Individuum alternative ideologische Kodes nicht nur durch die Schule vermittelt bekommt, sondern auch, indem es migriert. Der Verlust des sozialen Einflusses vor allem der katholischen Kirche auf individuelle Entscheidungen steht für Lesthaeghe und Wilson (1986) in starker Beziehung zur Entstehung von politischen Parteien, die die individuelle Verantwortung betonen. Durch eine Betonung der individuellen Verantwortung wird das Individuum eher dazu veranlaßt, seine Entscheidungen abzuwägen und kann sich weniger auf ideologische Vorgaben stützen, wird aber auch weniger von diesen eingeschränkt. Es ist davon auszugehen, daß der hier untersuchte empirische Fall nicht nur die beiden Extreme - Konformität mit dem traditionellen System auf der einen und vom traditionellen sozialen System weitgehend unbeeinflußte Individualität auf der anderen Seite - aufweisen wird, sondern sich eine Vielzahl an verschiedenen Lebensentwürfen finden werden. Generell ist zu vermuten, daß die Heterogenität an beobachteten Lebensverläufen zugenommen hat. Die vorher dominierende Wirtschaftsform ist nur noch eine Alternative unter vielen möglichen. Gleiches gilt für die, den Haushalt als Produktionseinheit und damit auch eine hohe Fertilität unterstützenden Ideologien und Institutionen. Immer noch wird es Paare in der Gemeinde geben, die aus religiösen Gründen eine Geburtenkontrolle ablehnen. Doch sie sind nur noch eine Gruppe unter mehreren. Ältere Kohorten 17 werden sehr wahrscheinlich weniger Variationen aufweisen. Sowohl das reproduktive Verhalten als auch andere Lebensbereiche, z.B. die Kommunikation zwischen Mann und Frau oder die Interaktion zwischen Eltern und Kindern, werden in diesen Kohorten relativ homogen sein. Im Verlauf des kulturellen Wandels nehmen die Variationen dann beständig zu, und eine detaillierte Analyse der unterschiedlichen individuellen Strategien muß durchgeführt werden. Indikatoren, an denen sich diese Variationen zeigen, können demographischer Natur sein, wie eine Verschiebung des Heiratsalters, eine Verlängerung der Geburtsabstände oder ein früheres Ende der reproduktiven Phase. Es wird aber z.B. auch Variationen in der Interaktion zwischen Mann und Frau geben oder in der Intensität der Investition in die Ausbildung und Erziehung der Kinder. Diese Variationen geben auch Auskunft darüber, inwieweit ein Paar in der Lage ist, seine reproduktiven 17 Bei allen in dieser Arbeit verwendeten Kohorten (vgl. Newell 1988: 52) handelt es sich immer um Geburtskohorten, also Personen, die im gleichen Zeitintervall geboren wurden. KAPITEL 2. THEORETISCHE GRUNDLAGEN 29 Entscheidungen zu planen. Die Kommunikation zwischen den Ehepartnern ist hierbei sicherlich eine wichtige Variable. Daß ein Paar seine reproduktiven Entscheidungen plant, drückt sich auch darin aus, inwieweit es in der Lage ist, eine gewünschte Kinderzahl zu nennen (E. van de Walle 1992). Diese Fähigkeit ist allerdings nur notwendig, aber nicht hinreichend, denn mehrere Studien haben gezeigt, daß es häufig große Differenzen zwischen Wunsch und Realität gibt (Martín 1995, Shedlin und Hollerbach 1981). Martín (1995) zeigt, daß gebildetere Frauen eher Wunsch und Realität in Einklang bringen, was in den bisher diskutierten Kontext zu integrieren ist. Außerdem haben Frauen, die länger zur Schule gegangen sind, eher etwas über effektive Verhütungsmittel und ihre Anwendung erfahren, als Frauen, die nicht oder nur einige Jahre zur Schule gegangen sind. Trotz dieses Prozesses einer zunehmenden Individualisierung reproduktiver Entscheidungen aufgrund der sich verändernden normativen Rahmenbedingungen ist auch zu bedenken, daß nicht alle Individuen gleichermaßen zu allen Zeiten ihres Lebens die Möglichkeit haben, an diesem Prozeß teilzuhaben. Die Position, die ein Individuum in seinem Lebenszyklus einnimmt, ist eine weitere Rahmenbedingung, die dazu führen kann, daß es zu einer starken Beschränkung der Entscheidungsfreiheit kommt (Epstein 1982). 18 Verschiedentlich wurde darauf hingewiesen, daß reproduktive Entscheidungen selten von einer Frau oder einem Paar alleine getroffen werden (Browner 1986b, Dyson und Moore 1983, Ryder 1973, Watkins 1993). Allerdings ist der Einfluß anderer Personen, insbesondere der Schwiegermutter (Dyson und Moore 1983), auf die reproduktiven Entscheidungen eines Paares nicht in allen Phasen des Lebenszyklus gleich stark und gleich wahrscheinlich. Um zu erfassen, welche sozialen Beziehungen in welchen Phasen des Lebenszyklus Einfluß auf die Entscheidungen eines Individuums oder Paares haben können, ist es notwendig, eine detaillierte Analyse der sozialen Netzwerke und ihrer Bedeutung in verschiedenen Phasen des Lebenszyklus durchzuführen. Die Analyse der Transformation der sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen muß also durch die Analyse des Wandels der normativen Rahmenbedingungen ergänzt werden, wobei allerdings zu beachten ist, daß die Rahmenbedingungen sich im Laufe des Lebenszyklus für ein Individuum ebenfalls ändern. 18 McNicoll (1980) kommt zu einer ähnlichen Schlußfolgerung. Allerdings erwähnt er die Analyse des Lebenszyklus nicht explizit, sondern spricht nur von sich wandelnden cultural patterns (1980: 443), in die ein Individuum eingebunden ist. 30 2.3 DAS GEPLANTE KIND Wissen über und Zugang zu effizienter Geburtenkontrolle Die dritte und letzte Grundbedingung formuliert Coale wie folgt: „Effective techniques of fertility reduction must be available. Procedures that will in fact prevent births must be known, and there must be sufficient communication between spouses and sufficient sustained will, in both, to employ them successfully.“ (Coale 1975: 353). Gerade diese letzte Grundbedingung zeigt, inwiefern die drei von Coale formulierten Bedingungen zueinander in Beziehung stehen. Daß Paare in der Lage sind, miteinander über ihre reproduktiven Entscheidungen zu kommunizieren, ist ein Ergebnis der sich verändernden normativen und sozialen Rahmenbedingungen. In der Demographie wird seit der Veröffentlichung der Ergebnisse des Princeton Projektes sowie des World Fertility Surveys (Cleland und Wilson 1987) verstärkt darüber diskutiert, inwieweit der beobachtete Rückgang der Fertilität in Europa, und im zwanzigsten Jahrhundert auch in fast allen anderen Teilen der Welt, eher ein Ergebnis der Verbreitung einer Innovation - neuen Mitteln zur Geburtenverhütung - oder eine Adaption von bekanntem Wissen, wie dem Coitus interruptus, an neue soziale und wirtschaftliche Rahmenbedingungen ist (Cleland und Wilson 1987, Guinnane et al. 1994, Okun 1994). Der gegenwärtige Stand der Erkenntnis weist aber schon darauf hin, daß beide Prozesse eine Rolle gespielt haben und spielen. In Übereinstimmung mit Lesthaeghe und Wilson wird hier von folgendem ausgegangen: „(...) the availability of methods of fertility limitation, takes the form of an enabling mechanism whereby the motives implied in the first two conditions (Coales ersten beiden Grundbedingungen, Anm. der Verf.) are realized.“ (1986: 262). Der Effekt, den staatliche Familienplanungsprogramme auf das reproduktive Verhalten einer Bevölkerung haben, ist allerdings nicht zu unterschätzen. Ob diese Programme aber primäre Ursache des fertilen Rückganges sind, ist ungeklärt und wird bezweifelt (Watkins 1987: 657). Vielmehr haben die meisten Studien gezeigt, daß Familienplanungsprogramme in Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Entwicklungsstand eines Landes stehen: „Dollar for dollar, family-planning programs are more effective in countries or areas that have experienced development. (...) The effect of family-planing programs is generally less than that of the socioeconomic setting, but they are significant.“ (Watkins 1987: 657). Für die Analyse des hier untersuchten Falles bedeutet dies, daß der Zugang zu, das Wissen über und die Verwendung von Verhütungsmitteln miteinbezogen werden müssen. Jedoch ist die Qualität der Erklärung dieser Variablen eine andere. Wie Lesthaeghe und Wilson anmerken: „We feel it (Coales dritte Grundbedingung, KAPITEL 2. THEORETISCHE GRUNDLAGEN 31 Anm. d. Verf.) does not possess explanatory power of the same order compared with the first two conditions.“ (1986: 262). Denn ohne den Wandel der kulturellen Rahmenbedingungen, so wie oben beschrieben, wird ein Paar nicht motiviert sein, zu diesen Mitteln zu greifen. Bevor nun der Wandel dieser Rahmenbedingungen für die hier untersuchte Gemeinde beschrieben wird, werden zunächst die verwendeten Methoden und die damit erhobenen Daten vorgestellt. Kapitel 3 Methoden und Daten 3.1 Auswahl des Forschungsortes Die Feldforschung wurde in einem von 19 Dörfern des Tals von Solís im Bundesstaat México, Zentralmexiko, durchgeführt. 1 Die Auswahl des Forschungsortes hatte schon ein Jahr vorher, während eines dreimonatigen Aufenthaltes, stattgefunden. Von August bis Oktober 1995 besuchte ich mehrere mögliche Feldforschungsorte. 2 Durch den Kontakt zu Homero Martínez, einem Epidemologen mit ethnologischer Ausbildung, lernte ich das Tal von Solís. Homero Martínez war über mehr als zehn Jahre hinweg der Direktor des ernährungswissenschaftlichen Forschungszentrums und der Gesundheitsklinik in Solís. Obwohl er heute nicht mehr für das Zentrum arbeitet, hat er weiterhin gute Kontakte sowohl zu Nutrición (Instituto Naciónal de la Nutrición ‚Salvador Zubirán’, nationales Institut für Ernährungswissenschaften ‚Salvador Zubirán’) in Mexiko-Stadt als auch zur lokalen Bevölkerung im Tal von Solís. Diese Kontakte waren aus mehreren Gründen wichtig. 1973 wurde das Gesundheitszentrum in Anwesenheit des damaligen Präsidenten Echeverría, seiner Frau und des Gouverneurs des Bundesstaates México, Carlos Hank González, in Solís eingeweiht (del Mazo, Chuayffet Chemor und López Gutiérrez 1988: 51). Es war Teil eines nationalen Entwicklungsplans, der einerseits die medizinische Versorgung der ländlichen Bevölkerung zum Ziel hatte, andererseits auch Familienplanung propagierte. Finanziert und verwaltet wurde das Zentrum zu der Zeit einerseits von DIF (Sistema Naciónal para el Desarrollo Integral de la Familia, Nationales System zur umfassenden Entwicklung der Familie) und andererseits von ISEM (Instituto de la Salud en el Estado de México, Gesundheitsbehörde des Bundesstaates México). Durch eine lokale Rekrutierung von sogenannten promotoras, Frauen, die aus einer der 19 Gemeinden kamen und eine medizinische Grundausbildung im Zentrum erhielten, wurde versucht, die medizini1 Das Tal von Solís gehört zum municipio Temascalcingo, das insgesamt 61 Gemeinden umfaßt. Im Tal von Solís liegen davon aber nur 20 Gemeinden (19 Gemeinden unter 2500 Einwohner und die Kleinstadt Temascalcingo). Im folgenden Kapitel wird die Region detailliert dargestellt. 2 Hierbei halfen mir die Empfehlungen des amerikanischen Ethnologen H. Russell Bernard. 33 34 DAS GEPLANTE KIND sche Versorgung der lokalen Bevölkerung zu verbessern. Forschungen fanden während dieser Zeit nicht statt. Dies änderte sich 1982. Sowohl die Klinik als auch das Forschungszentrum wurden im Jahr 1982 in einem Abkommen zwischen ISEM, DIF und Nutrición von Nutrición übernommen. 3 In diesem Jahr wurde Dr. Martínez Direktor des Zentrums. In den folgenden Jahren fanden viele Forschungen, vor allem im ernährungswissenschaftlichen Bereich, statt. Die promotoras wurden ab dieser Zeit mehr und mehr in die Forschungsvorhaben miteinbezogen, was bis heute andauert. In den neunziger Jahren fanden nur noch wenige Forschungen statt. Auch gab es mehrere Probleme bei der Instandhaltung der Klinik, die vor allem finanzieller Natur waren. Homero Martínez wollte mich bei meinem Forschungsvorhaben unterstützen. Er vermittelte mich an Adolfo Chavez, einen der leitenden Direktoren von Nutrición, der meine Forschung im Tal genehmigte. Bei meinem ersten Besuch 1995 in Solís stellte mich Homero Martínez dem Klinikpersonal und mehreren promotoras vor, die mir ebenfalls ihre Unterstützung zusicherten. Doch neben diesen bürokratischen Vorteilen und dem Nutzen von sozialem Kapital anderer Forscher war Solís auch in weiterer Hinsicht ein für meine Fragestellung interessanter Forschungsort. Das Tal und seine Dörfer sind für das ländliche Mexiko exemplarisch und haben auch eine typische Entwicklung durchlaufen. Der Anbau von Mais sowie die starke Arbeitsmigration in die USA seit Ende der siebziger Jahre sind hierbei Eckpfeiler. Außerdem ist auch die Installation eines Gesundheitszentrums mit einem promotora System zu Beginn der siebziger Jahre charakteristisch für viele ländliche Regionen Mexikos. Zwei weitere wichtige Grundbedingungen für die Auswahl des Forschungsortes bestanden in der Sprache und Ethnizität der lokalen Bevölkerung. Spanisch sprechende Mestizen stellen je nach Schätzung zwischen 70-90% der nationalen Bevölkerung (Biermann 1993: 17), wodurch eine Untersuchung einer Mestizen Gemeinde bezüglich des gewählten Thema besser in nationale Ergebnisse einzubetten ist. Anfang 1995 hatte ich begonnen, Spanisch zu lernen. Zu Beginn der Feldforschung im Juni 1996 waren meine Sprachkenntnisse für normale Alltagsgespräche sowie die Erhebung eines standardisierten Fragebogens ausreichend, doch es bedurfte weiterer Monate, bis auch sprachlich anspruchsvolle qualitative Interviews durchgeführt werden konnten. Auch aus diesem Grund war es wichtig, daß die untersuchte Gemeinde eine Mestizen Gemeinde war, in der alle Bewohner nur Spanisch sprachen. Die Arbeit mit einem Übersetzer kam aufgrund der Intimität be3 Zwar gehört das Gelände weiterhin ISEM, aber Nutrición verwaltet es. KAPITEL 3. METHODEN UND DATEN 35 stimmter Teilbereiche des Themas, vor allem Fragen der Sexualität und der Familienplanung, nicht in Frage (Hammel 1990: 471). Alternative Forschungsorte boten diese Vorteile nicht. 4 Ich entschied mich also schon vor Beginn meiner Feldforschung für einen bestimmten Ort, was den Vorteil bot, daß ich mich gezielter vorbereiten konnte. Allerdings hatte ich mich noch nicht für eine Gemeinde entschieden. Diese Entscheidung fand erst im darauffolgenden Jahr, zu Beginn der Feldforschung, statt. In den ersten zwei Wochen meiner Forschung besuchte ich alle 19 Gemeinden des Tals. Zwei Kriterien spielten für die Auswahl der Gemeinde eine Rolle. Einerseits sollte die Gemeinde weder zu klein, noch zu groß sein, sondern zwischen 100 bis 200 Haushalte haben, andererseits sollte sie nicht zu geographisch ausgedehnt sein. Pueblo Nuevo war die einzige Gemeinde, die sowohl in ihrer Größe als auch von ihrer Siedlungsform den Kriterien einer ethnodemographischen Forschung entgegenkam. In dieser Gemeinde war es möglich, zu Fuß ohne Probleme alle Haushalte zu besuchen. Aufgrund alter Daten des Zentrums wurde zu Beginn der Forschung davon ausgegangen, daß die Gemeinde ungefähr 120 Haushalte umfaßte. Erst durch die Erhebung des Zensus stellte sich heraus, daß es 165 Haushalte waren, eine immer noch angemessene Größe, wie sich im Laufe der Forschung zeigte. Ein weiterer, großer Vorteil Pueblo Nuevos bestand darin, daß eine promotora in Solís mir eine Frau aus Pueblo Nuevo vermittelte, die Interesse daran hatte, für mich zu arbeiten. Ich traf mich mit Angela, einer 27-jährigen Mutter von zwei Kindern, um ihr meine Forschung vorzustellen und sie über die Gemeinde zu befragen. Während der gesamten Feldforschung arbeitete Angela als meine Feldassistentin. Aufgrund der sehr offenen, herzlichen Art, mit der mir alle in der Gemeinde begegneten, entschied ich mich dann endgültig für Pueblo Nuevo. 4 Es wurden drei alternative Forschungsorte besucht. In Malinalco, ebenfalls im Estado de México gelegen, lebten zwar auch Mestizen, aber der Nachteil dieses Ortes bestand darin, daß zur gleichen Zeit eine Soziologin eine Forschung zu Wissen über Sexualität und Verhütung durchführte. Eine Gemeinde in Oaxaca kam auch nicht in Frage, da die lokale Bevölkerung überwiegend Zapotec sprach. Eine Gemeinde im Bundesstaat Guerreo schied ebenfalls aus, da ich dort keine institutionelle Einbettung und Unterstützung gehabt hätte. DAS GEPLANTE KIND 36 3.2 Aufbau und Verlauf der Forschung „(...) We have to face the fact that numbers and words are both needed if we are to understand the world.“ (Miles und Huberman 1994: 40). Gerade für eine ethnodemographische Feldforschung ist die in der Ethnologie sehr verbreitete Debatte zur Überlegenheit von qualitativen bzw. quantitativen Methoden mehr als obsolet. Sicherlich gibt es Forschungsfragen, die ein mehr qualitatives oder ein mehr quantitatives Design nahelegen. Bei bestimmten Fragen kann es problematisch sein, ‚zu zählen’, bei anderen Fragen ist es unabdingbar, systematisch zu quantifizieren. Die Ethnodemographie, die u.a. aus der fast nur quantifizierenden Demographie hervorgegangen ist, braucht als Grundlage immer quantitative Daten, die durch standardisierte Erhebungsmethoden erhoben werden. 5 Es ist unmöglich, über Bevölkerungs- oder Geburtenentwicklung zu sprechen, ohne die entsprechenden Daten gesammelt zu haben. Doch anders als in der Demographie ist eine ethnodemographische Forschung mit der Sammlung demographischer Daten und einiger weniger erklärender Variablen nicht beendet. Die Stärke ethnodemographische Forschungen liegt vor allem in ihrer Kombination aus quantitativen und qualitativen Informationen: „Die ‚nackten’ demographischen Angaben sind ethnologisch unbefriedigend. Es fehlt der kulturelle Kontext.“ (Lang 1997a: 2). In der Ethnologie gibt es eine Vielzahl von Methoden, sowohl qualitativer als auch quantitative Natur, um eben diesen kulturellen Kontext, der für die Erklärung der untersuchten Phänomene unabdingbar ist, zu erfassen. Hierin liegt auch der große Vorteil ethnodemographischer Forschungen, denn keine andere Disziplin ist in dieser Form in der Lage, demographische Phänomene in ihrer Komplexität zu erfassen. 6 Zwei Charakteristika ethnologischer Feldforschung sind hierbei grundlegend. Durch die stationäre und teilnehmende Feldforschung ist der Forscher überhaupt erst in der Lage, eine Vielzahl von Methoden, die sich gegenseitig ergänzen, anzuwenden (Epstein 1982: 151-5). Neben dieser methodischen Pluralität ist der andere große Vorteil ethnologischer Forschungen ihre Multidimensionalität (Lang 1997b: 6). Beispielsweise kennt der Forscher nicht 5 Die Ethnodemographie als eigenständige Forschungsrichtung gibt es nach Lang, der auf Howell verweist, ungefähr seit 1970 (Lang 1993, 1997b: 6). Erst ab diesem Zeitpunkt fanden sich Lösungen spezieller ethnodemographischer Probleme, vor allem des methodischen Umgangs mit kleinen Fallzahlen. 6 Neben der Demographie vor allem die Soziologie und die Wirtschaftswissenschaften (Caldwell 1996). KAPITEL 3. METHODEN UND DATEN 37 nur das Alter und die Kinderzahl einer Informantin, sondern weiß darüber hinaus, daß sie es ablehnt, zu verhüten, da sie glaubt, daß man von der Pille Krebs bekommt, daß sie mehrere Jahre in Mexiko-Stadt gearbeitet hat und dort von Verhütung erfahren hat, daß sie sich wünscht, daß es ihre Tochter mal besser hat und zur Universität gehen soll. Dieses Beispiel, das auf meiner Feldforschung basiert, zeigt nur einen kleinen Ausschnitt der Multidimensionalität, die ethnodemographische Forschungen erfassen können. Neben einigen wenigen Schlüsselinformanten, wie dieser Informantin, zu denen auch sehr viele qualitative Daten in Form von Feldnotizen, biographischen Interviews oder Gruppeninterviews vorliegen, ist aber auch die Erfassung der Haushalte multidimensional. Da alle Haushalte des Dorfes mindestens zweimal, in mehreren Fällen sogar dreimal und in einigen Fällen vier bis fünfmal systematisch befragt wurden, war es möglich, eine multidimensionale Tiefe für eine relativ große Anzahl an Haushalten zu erhalten. Dies ist vor allem für die Analyse und Erklärung fertiler Variationen von großer Bedeutung, die sich deshalb nicht nur auf die klassischen erklärenden Variablen, wie etwa Schulbildung, beschränken muß. Das Wechselspiel und die gegenseitige Ergänzung quantitativer und qualitativer Methoden, sowie eine mehrfache Befragung aller Haushalte, strukturierte die gesamte Feldforschung, wie es die Übersicht (Abbildung 3.1) zeigt. DAS GEPLANTE KIND 38 Daten über: Monat 6/96 7/96 ALLE HAUSHALTE Auswahl Forschungsort, Pretest Zensus in El Rodeo Zensus + erster Fragebogen 165 Haushalte ALLE FRAUEN AUSGEWÄHLTE FRAUEN MÄNNER KINDER SONSTIGE Recherche: Familienplanungsprogra. in Solís + MexikoStadt Geburtengeschichten 255 Frauen 8/96 9/96 Gruppeninterv., Netzwerke „Frauen“ 14 Frauen Gruppeninterv., free lists und fill in the blank 14 Frauen 10/96 11/96 12/96 1/97 Assistent: Landund Viehbesitz 165 Haushalte Stichproben Kontrolle Landund Viehdaten 89 Haushalte DEUTSCHLAND Persönliche Netzwerke 34 Frauen Biographische Interviews 12 Frauen 2/97 3/97 4/97 Erstellung des 2. Fragebogens Pretest in Rodeo Ein Teil des zweiten Fragebogens: Besitzund Migrationsdaten 165 Haushalte Schlüsselinformanten zur pol., relig. u. wirt. Organisation Zweiter Fragebogen 198 Frauen Biographische Interviews 12 Frauen 5/97 6/97 7/97 Abbildung 3.1: Zeitplan der Forschung Beobachtung Stillen 3 Frauen Persönliche Netzwerke 19 Männer Interviews Lehrer d. primaria/ secundaria Assistent: Interview Fragebogen lokale Hebamme 101 Männer Aufsätze Interview Arzt 64 Kinder Interview Krankenschwester Interview Geschichte + Priester Recherche: Solís KAPITEL 3. METHODEN UND DATEN 39 Die Forschung läßt sich in vier Phasen unterteilen. In der ersten Phase, die insgesamt vier Monate von Juni 1996 bis September 1996 dauerte, ging es vor allem um die Erhebung der Zensusdaten, eines ersten Fragebogens und der Geburtengeschichten. Diese Daten konnten zusammen in einer Befragung erhoben werden. In Abbildung 3.1 wird dies durch einen Doppelpfeil dargestellt. Die Fragebögen, mit denen diese erste Befragung durchgeführt wurde, finden sich, ebenso wie alle anderen Fragebögen und einige der Leitfäden, im Anhang (vgl. 9.1 bis 9.3). Nachdem diese erste Phase beendet und die demographische Grundlage der Forschung vorhanden war, ging es in der nächsten zweimonatigen Phase (Oktober und November 1996) vor allem darum, qualitative Daten mit Hilfe von Schlüsselinformanten über den ethnographischen Kontext zu sammeln. Erste Hypothesen, die sich aufgrund der vorhandenen Forschungsliteratur und der Erhebung des ersten Fragebogens entwickelt hatten, wurden in Gruppendiskussionen besprochen und auf ihre Bedeutsamkeit hin überprüft. Im Dezember 1996 war ich in Deutschland. Während meiner Abwesenheit erhob meine Assistentin Angela zusammen mit ihrem Vater, der zu dem Zeitpunkt eine wichtige Funktion innerhalb der kommunalen Landverwaltung ausübte und deshalb eine gute Beziehung zu den meisten Bewohnern des Dorfes hatte und ihre Landverhältnisse sehr gut kannte, Daten zum Land- und Viehbesitz. In der dritten Phase, die drei Monate von Januar 1997 bis März 1997 dauerte, wurden sowohl qualitative als auch quantitative Daten erhoben. Einerseits wurden die Land- und Viehdaten kontrolliert, andererseits persönliche Netzwerkdaten von 53 Informanten erhoben. Mit einer Stichprobe zufällig ausgewählter Männer wurden Daten zu ihren Einstellungen und Wertvorstellungen ähnlich den Fragen, die auch den Frauen im zweiten Fragebogen gestellt wurden, erhoben. In dieser Phase begann ich mit der Erhebung mehrerer Experteninterviews (Lehrer und lokale Hebamme) und mehrerer biographischer Interviews, die ich in der vierten und letzten Phase fortsetzte. Die vierte, vier Monate andauernde Phase (von April 1997 bis Juli 1997), war, wie auch die erste Phase, vor allem durch die systematische Erhebung eines zweiten Fragebogens gekennzeichnet. Es wurden aber auch weiterhin qualitative Daten erhoben, wie Experteninterviews, biographische Interviews und eine Befragung von Kindern. Außerdem wurde eine Stillbeobachtung durchgeführt. Nachdem nun der Ablauf der Forschung skizziert worden ist, werden im folgenden die einzelnen Phasen und die darin verwendeten Methoden detaillierter dargestellt. 40 DAS GEPLANTE KIND Zensus und Geburtengeschichten Die Geburtengeschichten der Frauen sind die Grundlage dieser Forschung. Um diese zu erheben, mußten alle Frauen ab eines bestimmten Alters zu ihren Geburten befragt werden. Die kleinste soziale Einheit, in die eine Frau in Pueblo Nuevo eingebettet ist, ist der Haushalt (Definition des Haushalts für Pueblo Nuevo siehe unten). Um nun Variationen und Wandel von Fertilität auch zu erklären und nicht nur zu beschreiben, war es notwendig, neben den Geburtengeschichten auch weitere Informationen, wie z.B. zur Haushaltszusammensetzung, zu bestimmten Attributen von Haushaltsmitgliedern usw., über den Haushalt zu erheben. Diese Informationen sollten in Form eines Zensus gesammelt werden. 7 Allerdings war die methodische Umsetzung schwieriger als erwartet. Die Literaturrecherche ergab, daß zwar in vielen ethnologischen Forschungen Zensusdaten erhoben werden, in der Regel aber nicht erwähnt wird, in welcher Form dies geschehen ist: „Weiterhin hat es mit dem ethnographischen Zensus seine besondere Bewandtnis. Er ist zwar nach wie vor Bestandteil von Feldforschungen. Man könnte fast sagen, er sei eine Art von Standardverfahren der Feldforschung. Aber es ist ein seltsamer Standard. Er existiert nicht explizit: Man macht es, aber man redet und vor allem schreibt nicht darüber. In allen neueren, selbst in den vielzitierten Methodenlehrbüchern, fristet er ein ‚Schattendasein’ in Nebensätzen und anderen kurzen durchweg ziemlich unbestimmt gehaltenen Textpassagen.“ (Lang 1997a: 3). Um die Erhebung der Geburtengeschichten und des Zensus zu konzipieren, waren die Arbeiten von Browner (1986a, 1986b), Fischer (1997), Howell (1976) und Lang (1997b, 1998a) daher besonders hilfreich. Die Abgrenzung des Gebietes, das der Zensus erfassen sollte, war nicht besonders schwierig, da es aufgrund der Geschichte des Dorfes festgelegte Grenzen gab, die sowohl von den Bewohnern des Dorfes als auch von der Administration in Solís als solche wahrgenommen wurden. Problematischer war die Festlegung der Untersuchungseinheit oder, anders formuliert, des Haushalts. 8 In der Literatur finden 7 Wie Fischer vorschlägt, wird auch in dieser Arbeit der Begriff Zensus als Bezeichnung für die Methode der ethnologischen Feldforschung benutzt, „(...) bei der demographische und soziologische Basisdaten einer bestimmten Population (der Untersuchungseinheit) aufgenommen werden.“ (Fischer 1997: 51). Eine Alternative wäre der Begriff Survey, doch Fischer zeigt in seinem Literaturüberblick überzeugend, daß der Begriff des Survey einerseits semantisch unscharf und andererseits auch im Deutschen nicht besonders verbreitet ist. 8 In dieser Arbeit wird der Begriff Haushalt verwendet. In der Literatur finden sich allerdings auch mehrere Arbeiten, die den Begriff Haushalt mit dem Begriff der domestic group gleichsetzen (z.B. Hammel und Laslett 1974 oder Sanjek 1982). KAPITEL 3. METHODEN UND DATEN 41 sich verschiedene Kriterien dafür, was einen Haushalt ausmacht. 9 Wichtige Merkmale eines Haushalts sind in fast allen Definitionen: gemeinsamer Besitz, gemeinsame Aktivitäten, Koresidenz und verwandtschaftliche Beziehungen. Bevor der Fragebogen konzipiert wurde, wurde in mehreren Gesprächen mit Bewohnern Pueblo Nuevos geklärt, inwieweit diese Haushaltskriterien auch auf die Gemeinde zutreffen. Mitglieder eines Haushalts in Pueblo Nuevo wohnen zusammen, allerdings gibt es, bedingt durch die starke Migration, temporäre Abwesenheit von Haushaltsmitgliedern. Mitglieder eines Haushalts wirtschaften auch gemeinsam und konsumieren das Erwirtschaftete ebenfalls gemeinsam. In den meisten Haushalten wird der größte Teil des Einkommens vom meist männlichen Haushaltsvorstand erwirtschaftet. Ein guter Indikator für das gemeinsame Wirtschaften und Konsumieren besteht im gemeinsamen Kochen und Essen. In Pueblo Nuevo ist es relativ weit verbreitet, daß sich mehrere Haushalte ein Haus teilen. Aufgrund der verbreiteten patrilokalen Residenz handelt es sich hierbei häufig um das Haus der Schwiegereltern der Frau, in welches das junge Paar einzieht. In nur vier Fällen bildeten diese beiden Kernfamilien (Murdock 1949: 1; siehe auch unten) aber auch einen gemeinsamen Haushalt. In allen anderen Fällen kochten die Frauen separat und hatten beide Kernfamilien getrennte Einkommen. Trotz des gemeinsamen Hauses handelt es sich daher um zwei Haushalte. 10 Grundlage eines jeden Haushalts in Pueblo Nuevo sind desweiteren die verwandtschaftlichen Beziehungen seiner Mitglieder. Insgesamt gab es in Pueblo Nuevo zum Zeitpunkt der Erhebung 165 Haushalte nach obiger Definition. Nach dem Schema von Hammel und Laslett (1974: 86f) lassen sich drei Haushaltsstrukturen voneinander unterscheiden: 9 Z.B. definiert Sanjek (1982) einen Haushalt für seine Forschung als: „(...) the set of persons (or the person) who sleep, store possessions, and refurbish themselves for the day ahead in the same room, or same set of rooms (the same rental unit for the Adabraka tenants).“ (Sanjek 1982: 81). Schmink definiert den Haushalt als: „(...) a coresident group of persons who share most aspects of consumption, drawing on and allocating a common pool of resources (including labor) to ensure their material reproduction.“ (Schmink 1984: 89). Lang und Holter geben als Kriterien für einen Haushalt an: „(...) residence, preparation of food, consumption, reproduction, production, and budgeting.“ (1996: 28). Hammel und Laslett (1974: 77) entwickeln drei Kriterien zur Festlegung eines Haushalts: ein lokales Kriterium, ein funktionales Kriterium und ein verwandtschaftliches Kriterium. Auch Robertson (1991: 9) kommt aufgrund der Arbeiten von Goody zu ähnlichen Kriterien. 10 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Schweizer (1989: 122) auch für javanische Haushalte. 42 DAS GEPLANTE KIND 1. Die conjugal family unit (Hammel und Laslett 1974: 86) bestehend aus der Kernfamilie (Murdock 1949: 1). 11 88% (N=145) aller Haushalte haben diese Struktur zum Zeitpunkt der Erhebung gehabt. 2. Der extended family household (Hammel und Laslett 1974: 87), der neben einer Kernfamilie weitere Verwandte miteinschließt, die aber keine eigene Kernfamilie bilden. 9% (N=15) der Haushalten lassen sich so klassifizieren. Bei den neben der Kernfamilie im Haushalt lebenden Verwandten handelt es sich hauptsächlich um verwitwete Mütter einer der Ehepartner oder um die Kinder alleinerziehender, unverheirateter Töchter (sogenannte madres solteras). In nur einem Fall lebt der verwitwete Vater mit im Haushalt. 3. Der multiple family household (Hammel und Laslett 1974: 87), der aus mindestens zwei verwandten Kernfamilie besteht. 3% (N=5) aller Haushalte haben diese Struktur zum Zeitpunkt der Erhebung gehabt. Dreizehn der 165 Haushalte haben einen weiblichen Haushaltsvorstand. Ein Haushaltsvorstand vertritt den Haushalt bei öffentlichen Versammlungen. Sieben dieser Haushalte bestehen aus einer verwitweten oder geschiedenen Frau und ihren unverheirateten Kindern. Diese Haushalte sind ebenfalls als conjugal family unit (erste Haushaltsstruktur des obigen Schemas) klassifiziert worden (Hammel und Laslett 1974: 86). Fünf Haushalte mit weiblichem Haushaltsvorstand sind extended family households. Diese Haushalte bestehen aus einer verwitweten Frau als Haushaltsvorstand, ihren unverheirateten Kindern, einer alleinerziehenden, unverheirateten Tochter und deren Kindern. Ein Haushalt mit weiblichem Haushaltsvorstand läßt sich als multiple family household beschreiben. In diesem Haushalt lebt eine verwitwete Frau gemeinsam mit ihren unverheirateten Kindern, einer verheirateten Tochter, deren Ehemann und deren Kindern. Es wurde ein ethnographischer Zensus, eine Kombination aus de facto-, de jureund genealogischem Zensus (Fischer 1997: 54, 72), erhoben. Ein ethnographischer Zensus erfaßt einerseits, wer sich zum Zeitpunkt der Erhebung tatsächlich im Dorf aufhält (der sogenannte de facto Zensus) und andererseits, wer darüber hinaus noch zum Haushalt dazugehört (der sogenannte de jure Zensus). Mit dem ethnodemographischen Fragebogen von Lang (1998a) wurden auch genealogische Informationen, wie z.B. Fragen nach den Eltern des Haushaltsvorstandes und dessen Ehefrau oder früheren Heiraten, erfragt. 11 Die Kernfamilie besteht aus einem (Ehe)mann, einer (Ehe)frau (es handelte sich nicht immer um staatlich, bzw. kirchlich verheiratete Paare, siehe unten) und ihren im Haushalt lebenden unverheirateten Kindern (Murdock 1949: 1). KAPITEL 3. METHODEN UND DATEN 43 Vor und während der Zensuserhebung stellten sich weitere methodische Fragen. Den Zensus erhob ich mit den im Haushalt anwesenden Frauen, meist nur der Ehefrau des Haushaltsvorstands und in einigen Fällen auch zusammen mit deren Kindern. Dies lag einerseits daran, daß ich als Frau in dieser ersten Phase nur Frauen befragen konnte, und andererseits daran, daß die Männer während des Tages auf den Feldern arbeiteten und keine Zeit für eine Befragung gehabt hätten. Daß ich mit der jeweiligen Frau häufig allein sprach, hatte auch Vorteile, da ich feststellte, daß Frauen ‚unter Frauen’ offener ihre Meinungen äußerten und auch ohne Scheu über ihre Schwangerschaften und Geburten sprachen. Der Zeitpunkt der Erhebung stand vor Beginn der Forschung noch nicht endgültig fest. Fischer (1997: 56-9) und Lang und Holter (1996: 20) zeigen, daß es auch Kulturen gibt, in denen eine Zensuserhebung zu Beginn der Forschung den Forschungsverlauf negativ beeinflussen kann. Um zu überprüfen, wie auf die Erhebung des Zensus und der Geburtengeschichten reagiert wird, aber auch um den Fragebogen zu testen, wurden in einem Nachbardorf (El Rodeo) zwölf Interviews durchgeführt. Dabei zeigte es sich, daß der Zensus ein guter Einstieg ist, was sich auch bei der eigentlichen Zensuserhebung bestätigte. Die Bewohner Pueblo Nuevos bekamen und nutzten die Gelegenheit, auch mich zu befragen, so daß ich mich allen vorstellen und mein Vorhaben erklären konnte. Ich wurde nie für einen Spion oder ähnliches gehalten (Agar 1980: 61). Parallel zur Auswertung und Überarbeitung des Pretests recherchierte ich in den Unterlagen der Klinik in Solís nach einer Karte Pueblo Nuevos. Ich fand eine Skizze, die ein mexikanischer Ethnologe Mitte der achtziger Jahre erstellt hatte. Die Skizze war zwar veraltet, doch als erste Orientierung auch hilfreich. Gerade in den neunziger Jahren sind im Dorf viele neue Häuser gebaut worden, was in Zusammenhang zur Migration in die USA steht. Da sich die Zensuserhebung über drei Monate erstreckte, beziehen sich auch die Aussagen der Befragten auf diese drei Monate. Alle demographischen Angaben, also alle Angaben zu Geburten, Todesfällen und Heiraten, wurden allerdings während der gesamten Forschung aktualisiert. Das heißt, daß der endgültige Zeitpunkt der Zensuserhebung der Juli 1997 ist. Bei einer erneuten Zensuserhebung ist dieser Zeitpunkt der Referenzpunkt. Für die Ereignisse Geburt, Tod und Heirat war dies auch kein Problem, da dies sehr öffentliche Ereignisse sind, die leicht zu erheben sind. Problematischer sind die Angaben zur Migration. Da viele Bewohner des Dorfes migrierten, kann nur zu einem Zeitpunkt, September 1996, genau gesagt werden, wer tatsächlich anwesend und wer abwesend war. 44 DAS GEPLANTE KIND Für alle Haushaltsmitglieder wurde im Zensus nach Namen, Geschlecht, Alter, Familienstand, Geburtsort, Schulbildung, Beruf und Aufenthaltsort zum Zeitpunkt der Erhebung gefragt. Darüber hinaus wurde gefragt, ob die Eltern noch leben. Alle zum Haushalts dazugehörigen Personen erhielten eine Identifikationsnummer, ebenso alle Kinder einer Frau, auch wenn diese nicht mehr im Dorf lebten, was vermerkt wurde. Alle Befragten wurden um die Erlaubnis gebeten, ein Photo von ihnen und ihren Kindern zu machen, um sie auch bei späteren Zensuserhebungen identifizieren zu können (Howell 1976: 226). Die Erhebung der Geburtengeschichten folgte einerseits der Vorgabe von Lang (1998a) und den Ausführungen von Howell zur Erhebung retrospektiver Daten (1976: 228-9), andererseits konnte ich mich an der medizinethnologischen Arbeit von C. Browner orientieren, die mir ihren Fragebogen zur Verfügung stellte (Browner 1986a, 1986b). Es wurde nach allen toten, auch Fehl- und Totgeburten, und lebenden Kindern aller Frauen des Dorfes gefragt, die älter als 15 Jahre waren. In der (ethno)demographischen Forschung hat es sich etabliert, nur Lebendgeburten in die demographische Analyse miteinzubeziehen, da es bei Fehl- und Totgeburten sehr viele Erinnerungsfehler gibt. Trotzdem wurden auch diese Informationen, soweit sich die Frauen daran erinnerten, notiert, da sie z.B. Aufschlüsse über sehr lange Geburtenintervalle geben können. Da die vollständigen Geburtengeschichten aller im Dorf lebenden Frauen, genaue Angaben über alle Heiraten und von jedem Paar Informationen zu dessen Eltern erhoben wurden, ist es auch möglich, genealogische Informationen aus diesen Daten zu gewinnen. Die verwandtschaftlichen Beziehungen aller zum Zeitpunkt der Erhebung im Dorf lebenden Personen können aufgrund dieser Daten dargestellt und analysiert werden. Probleme bei der Erhebung bestimmter Daten, wie dem Namen, dem Geschlecht oder dem Alter einer Person, auf die Fischer (1997: 62-6), Howell (1976: 230) und Lang (1993: 138) hinweisen, gab es kaum. Das bilaterale Verwandtschaftssystem drückt sich auch in der Namengebung aus - jedes Individuum hat einen Vornamen (z.B. María), den Familiennamen seines Vaters (apellido paterno, z.B. Hernandez) und den Familiennamen seiner Mutter (apellido materno, z.B. Evaristo). Diese Namen sind allen Dorfbewohnern bekannt und eine Person ist somit eindeutig identifizierbar. Das Geschlecht konnte für alle Personen erfragt werden, denn es war nicht immer eindeutig aufgrund des Vornamens erkennbar. 12 Nur bei Kindern, die schon als Säuglinge verstorben waren, konnte das Geschlecht nachträglich nicht immer festgestellt werden. Das Alter einer Person stellte nur bei den ältesten Dorf12 Z.B. wird der Vorname Guadalupe sowohl Mädchen als auch Jungen gegeben. KAPITEL 3. METHODEN UND DATEN 45 bewohnern, die zum Teil weder lesen noch schreiben konnten, ein Problem dar. Ältere Frauen hatten auch Schwierigkeiten, die genauen Geburtsdaten ihrer Kinder zu nennen. Doch mit Hilfe von Urkunden, Wahlausweisen, gut datierten Ereignissen und vor allem der Hilfe der erwachsenen Kinder der Frauen konnte das Alter in allen Fällen annähernd bestimmt werden. Ungefähr 50% der Kinder einer Frau bleiben auch nach ihrer Heirat im Dorf. Bei Unsicherheiten wurden die Angaben einer Frau mit den Angaben dieser Kinder verglichen und in einigen Fällen traf ich mich erneut mit allen Personen gemeinsam, also der Mutter, ihren Töchtern und manchmal auch ihren Söhnen, um die Angaben durchzugehen. Angaben zum Familienstand waren ebenfalls unproblematisch. Insgesamt gab es acht Kategorien: ledig; unión libre; madre soltera; kirchlich verheiratet; staatlich verheiratet; kirchlich und staatlich verheiratet; geschieden oder getrennt lebend und verwitwet. Paare, die in unión libre lebten, lebten in einem gemeinsamen Haushalt und hatten oft auch gemeinsame Kinder, waren aber weder staatlich noch kirchlich verheiratet. Eine madre soltera war eine Frau, die im elterlichen Haus ohne den Vater ihres/ihrer Kindes/Kinder lebte. Der jeweilige Aufenthaltsort der Familienmitglieder konnte ohne Probleme erhoben worden. Auch Beruf und Schulbildung machten keine Schwierigkeiten. Neben dem Zensus und den Geburtengeschichten wurden außerdem eine Reihe weiterer Fragen zur Bedeutung von Familie, idealer Familiengröße, dem Wunsch nach weiteren Kindern, Geschlechtspräferenz, und sozialen Beziehungen gestellt. Viele dieser Fragen waren offene Fragen, die keine Antwort vorgaben (Bernard 1994: 209-11). Aussagen, die die Frauen zur Geschlechtspräferenz und zur idealen Familiengröße machten, wurden aufgegriffen und in späteren Phasen der Forschung vertieft. Es war relativ schnell offensichtlich, daß es eine große Differenz zwischen gewünschter und tatsächlicher Familiengröße gab. Dieses Ergebnis war Gegenstand mehrerer Gruppeninterviews. Fragen zur Verhütung und zum Stillverhalten wurden in diesem ersten Fragebogen noch nicht gestellt, was sich auch als sinnvoll erwies. Beide Themenbereiche setzen in Pueblo Nuevo eine gewisse Vertrautheit voraus und sind als Einstiegs- und Vorstellungsfragen nicht geeignet. Die erhobenen Daten wurden jeden Tag in den Computer eingeben, was sich als sehr hilfreich erwies. Lang (1998a) hat ein Eingabeformat für Word-Programme entwickelt, mit dem es einfach möglich ist, die Daten einzugeben und zu überprüfen. Außerdem konnte dadurch vermieden werden, daß eine Person, die sowohl Mutter/Vater als auch Kind war, was aufgrund der starken Endogamie häufig vorkam, zwei verschiedene Identifikationsnummern bekam. Mit Hilfe der von Lang (1995a, 1995b und 1998b) entwickelten Programme zur Aufbereitung und Analyse 46 DAS GEPLANTE KIND von Zensusdaten und Geburtengeschichten wurden dann zum Teil schon während der Forschung und vor allem nach der Forschung die Daten analysiert. Die Darstellung der drei folgenden Phasen und der in ihnen verwendeten Methoden ist erheblich weniger ausführlich, als dies für den Zensus und die Geburtengeschichten geschehen ist. Ausführliche Beschreibungen der verwendeten Methoden finden sich in vielen ethnologischen und sozialwissenschaftlichen Lehrbüchern (z.B. Bernard 1994, Miles und Huberman 1994, Schnell, Hill und Esser 1995, Weller und Romney 1988). Auf diese wird verwiesen. Hinzu kommt, daß mehrere der verwendeten Methoden und der erhobenen Daten auch in anderen Kapiteln noch ausführlicher dargestellt werden. Schlüsselinformanten und Gruppeninterviews Die zweite Phase der Feldforschung war von zwei Erhebungsmethoden geprägt. Einerseits arbeitete ich intensiv mit wenigen Schlüsselinformanten (Bernard 1994: 166-8). Mit Hilfe dieser Schlüsselinformanten, z.B. dem offiziellen politischen Vertreter des Dorfes, dem Kirchenvorsteher und dem Vorsitzenden des ejido Rates, erhob ich Daten zur politischen, religiösen und wirtschaftlichen Organisation des Dorfes. Natürlich waren diese Themen hiermit nicht erschöpfend behandelt. Während der gesamten Forschung führte ich immer wieder Gespräche zu diesen Themen und besuchte verschiedene Versammlungen, wie z.B. ejido Versammlungen oder politische Versammlungen. Die Informationen, die ich durch diese informellen Gespräche sowie teilnehmende Beobachtung erhielt, wurden in Feldnotizen festgehalten und mit einem für meine Forschung erweiterten Kategorienschema, das auf den Codes from the Outline of Cultural Materials nach Murdock (Bernard 1994: 519-528) basiert, schon während der Forschung verkodet. Diese frühe Verkodung erwies sich als sinnvoll, denn dadurch konnte ich besser kontrollieren, wo es Unklarheiten und Lücken gab (vgl. auch Bernard 1994: 180-207, Miles und Huberman 1994: 55-76). Neben der Arbeit mit den Schlüsselinformanten führte ich mehrere Gruppeninterviews (Bernard 1994: 224-229) durch. Es gab zwei Gruppen mit jeweils sieben Frauen. Die erste Gruppe umfaßte Frauen zwischen 19 bis 25 Jahren. In der zweiten Gruppe waren Frauen zwischen 26 und 45 Jahren. Mit beiden Gruppen (pro Gruppe drei Sitzungen) wurden die gleichen Themen besprochen, die mit Hilfe eines Leitfadens (Bernard 1994: 209) vorher festgelegt worden waren. Alle Interviews wurden transkribiert (Bernard 1994: 220-2). Die wichtigsten Ergebnisse die- KAPITEL 3. METHODEN UND DATEN 47 ser Interviews wurden später im Rahmen der zweiten vollständigen Befragung aller Haushalte in den Fragebogen aufgenommen. Neben den Gruppeninterviews wurde mit den gleichen Frauen auch noch ein Netzwerkfragebogen und mehrere systematische, kognitive Verfahren (Weller und Romney 1988) durchgeführt. Bei dem Netzwerkfragebogen wurde nach Personen gefragt, mit denen die Frau Themen wie Verhütung, Sexualität, Gewalt in der Ehe und Kindererziehung bespricht. 13 Es wurden mehrere kognitive Verfahren, wie free lists (Weller und Romney 1988: 9-19) zu bestimmten Rollen (Ehemann, Ehefrau, Tochter, Sohn, Schwiegermutter) durchgeführt und sentence frame techniques (Bernard 1994: 243) angewendet. Aufgrund der Arbeit von Guarneros et al. (1990) wurden Sätze formuliert, in denen die Informantin eine Lücke füllen mußte. 14 Die so erhobenen Daten waren wiederum eine wichtige Anregung für folgende Methoden, vor allem für die biographischen Interviews und den zweiten Fragebogen. Persönliche Netzwerke, Leitfadeninterviews und Befragung ausgewählter Männer Nach einem einmonatigen Aufenthalt in Deutschland kehrte ich Anfang Januar nach Pueblo Nuevo zurück. Meine Assistentin und ihr Vater hatten in der Zwischenzeit Daten zu Land- und Viehbesitz erhoben, die ich stichprobenartig überprüfte. Es zeigte sich, daß die Viehdaten nicht besonders zuverlässig waren, da permanent Vieh an- und verkauft wurde. Diese Daten werden für die Analyse nicht berücksichtigt. Im Gegensatz dazu waren die Landdaten zuverlässig, und ich kam bei meiner Überprüfung zu den gleichen Ergebnissen wie meine Assistentin und ihr Vater. Während der Forschung wurde es immer deutlicher, daß es notwendig ist, auch Männer zu befragen. Vor allem Watkins (1993) hat darauf hingewiesen, daß Männer generell nicht genügend in Forschungen zur Fertilität berücksichtigt werden. In ihrer Übersicht der in der Zeitschrift Demography erschienenen Artikel kommt sie zu dem Schluß: „An outsider might wonder about the absence of the data on men. In the articles on fertility, marriage, and the family we learn even less about men 13 Das Ergebnis dieser Erhebung entspricht eher einem normativen Modell denn aktuellen Handlungen. Es wurden fast nur die Mutter der Frau und ihre Schwestern erwähnt. Der Fragebogen wird im Rahmen dieser Arbeit - einerseits aufgrund der sehr normativen Antworten, andererseits aufgrund der kleinen Fallzahlen - nicht weiter analysiert. 14 Zum Beispiel Sätze wie: ‚Das Schlimmste, was ich gemacht habe, war...’ oder ‚Am meisten bereue ich ...’. 48 DAS GEPLANTE KIND than about women. If men’s characteristics appear at all on our tables, they are most likely to be their income and/or occupation.“ (1993: 560). In den Gruppeninterviews, in informellen Gesprächen und während der Erhebung des Fragebogens sprachen Frauen sehr viel über ihre Männer und deren Sichtweise zu Themen wie Verhütung und Sexualität. Da aber keine Daten von Männern erhoben worden waren, konnte nicht abgeschätzt werden, inwieweit die Darstellung der Frauen verzerrt war. Wie schon oben ausgeführt worden ist, war es nicht möglich, daß ich selber die Männer befragte, denn das hätte u.U. bedeutet, daß die Frauen nicht mehr bereit gewesen wären, mit mir zu reden. Also beschloß ich, mit einem männlichen Assistenten zu arbeiten. Für eine zufällige Auswahl einer Gruppe von männlichen Dorfbewohnern war der schon eingegebene Zensus die Grundlage. Der Fragebogen für die männlichen Dorfbewohner ist fast identisch mit Teilen des zweiten Fragebogens und findet sich im Anhang (vgl. 9.1.3). Dies war notwendig, um die Sichtweise der Frauen und Männer zu vergleichen. Insgesamt wurden 53 persönliche Netzwerke erhoben. Diese Daten werden ausführlich im folgenden Kapitel vorgestellt und ausgewertet. Weiterhin wurden mehrere Leitfadeninterviews durchgeführt. Von zwölf Frauen wurden biographische Interviews erhoben. Der Leitfaden für die biographischen Interviews orientierte sich stark an der Arbeit von LeVine (1993), es wurden aber auch Hypothesen und Ideen thematisiert, die sich aufgrund der vorangegangenen Methoden ergeben hatten. Alle Interviews wurden transkribiert und verkodet. In dieser Phase wurde auch begonnen, lokale Experten für bestimmte Bereiche des untersuchten Themas (Religion, Gesundheit, Schule) zu interviewen. Die Interviews wurden alle auf Band aufgenommen, aber nur teilweise transkribiert. Während der ersten drei Phasen wurden viele Informationen gesammelt und Hypothesen gebildet, die in zusammengefaßter Form durch die Erhebung eines zweiten Fragebogens noch einmal mit fast allen Frauen des Dorfes überprüft werden konnten. Um die Konzeption, den Inhalt und die Durchführung des zweiten Fragebogens ging es vor allem in der vierten und letzten Phase der Feldforschung. KAPITEL 3. METHODEN UND DATEN 49 Zweite Fragebogenerhebung, Kinderbefragung und Stillbeobachtung Die zweite systematische Erhebung aller Haushalte und aller Frauen über 15 Jahre erfaßte einerseits noch fehlende Informationen zur Migration und zu den Besitzstrukturen, die im ersten Fragebogen nicht erhoben worden waren. Andererseits wurden durch den zweiten Fragebogen alle während der Forschung gesammelten Hypothesen und Themenbereiche, die am Anfang der Forschung noch nicht bekannt waren, überprüft und erfragt. Auf diese Weise konnten vor allem die qualitativen Informationen, die in den beiden mittleren Phasen der Forschung generiert worden waren, für alle Frauen erhoben werden. Der zweite Fragebogen gliedert sich in zehn Teilbereiche. Zunächst wurden Fragen zur Migrationsgeschichte des Haushaltsvorstandes, dessen Ehefrau und ihrer Kinder gestellt. Es folgte ein Teil, in dem es um schwierige Entscheidungssituationen ging, sogenannte Dilemmata, die mit Hilfe von Schlüsselinformanten entwickelt worden waren. Der dritte Teil beschäftigte sich mit dem Wert und Nutzen von Kindern. Der vierte Teil erfaßte die Schulbildung der Kinder der Frau und beinhaltete auch Fragen danach, warum und wann ein Kind die Schule beendet hatte. Im fünften Teil ging es um Wissen und Anwendung von Verhütung sowie Fragen zu Prokreationsvorstellungen. Im sechsten Teil wurde detailliert das Stillverhalten erfragt. Danach wurde über Nutzung und Einstellung zur Klinik in Solís gesprochen. Der achte Teil war eine Restkategorie. Hier wurden Fragen gestellt, die noch nicht durch die vorangegangenen Teile abgedeckt worden waren. Im neunten Teil des Fragebogens ging es schließlich um die Beurteilung von mehreren Aussagen, die aus den transkribierten Gruppeninterviews ermittelt worden waren. Der letzte Teil des Fragebogen erfaßte anhand mehrerer Indikatoren, wie Fernseher, Toilette oder Gasherd, die Besitzverhältnisse des Haushalts. Wie der Zensus und der erste Fragebogen wurde auch der zweite Fragebogen in einem anderen Dorf getestet und danach erneut verbessert. In der letzten Phase wurden auch noch weitere qualitative Daten erhoben und Informationen zum ethnographischen Hintergrund ergänzt. Ein Teil des zweiten Fragebogens war eine detaillierte Befragung zur Stillpraxis sowie damit verbundener Vorstellungen. Da es sich aber um kognitive Daten handelt, die u.U. systematisch verzerrt sein können, war es notwendig, auch Verhaltensdaten zu sammeln, um zumindest eine begrenzte Überprüfung der Informationen vornehmen zu können. Drei Frauen, die Säuglinge unterschiedlichen Alters hatten, wurden einen Tag lang beobachtet. Neben diesem Beobachtungstag wurde jede Frau auch zu ihrer Stillpraxis des vorangegangenen, nicht beobachteten Tages befragt. Mit diesen Daten kön- 50 DAS GEPLANTE KIND nen die Aussagen der Frauen natürlich statistisch nicht überprüft werden, da die Fallzahlen viel zu klein sind. Allerdings zeigen sich auch in diesen Daten die gleichen Muster wie in den Aussagen der Frauen. Neben der Stillbeobachtung wurde eine Aufsatzerhebung mit 64 Kindern der primaria und der tele-secundaria durchgeführt. Die Kinder wurden zu ihren Ängsten und Wünschen befragt. In der Klinik in Solís werden alle Behandlungen und verabreichten Medikamente, auch Verhütungsmittel, notiert. Diese Daten, die allerdings keine Auskunft über den Wohnort der Patienten geben, wurden gesichtet und kopiert. Schon in den vorangegangenen Phasen hat sich gezeigt, wie qualitative und quantitative Daten sich wechselseitig ergänzt haben und durch die Ergebnisse einer Methode die Konzeption der sich anschließenden Befragungen verbessert werden konnte. Vor allem für die abschließende Befragung durch den zweiten Fragebogen war dieses Vorgehen besonders sinnvoll. Die verschiedenen Datensätze zur Analyse des fertilen Verhaltens Für die demographische Beschreibung ist es möglich, mehr Frauen einzubeziehen als für die Erklärung der fertilen Variationen. Einschlußkriterium für die demographische Auswertung ist immer, daß eine vollständige Geburtengeschichte vorliegt. Ist das nicht der Fall, wird die Frau nicht bei der demographischen Analyse berücksichtigt. Insgesamt handelt es sich um 255 Frauen, die mindestens 15 Jahre alt waren und für die eine vollständige Geburtengeschichte erhoben werden konnte (vgl. Spalte 2, Tabelle 3.1). Nur für eine Frau, die fast während des gesamten Feldforschungsjahres bei ihrem Sohn in den USA lebte, liegt keine vollständige Geburtengeschichte vor. In der demographischen Beschreibung werden deshalb auch Frauen berücksichtigt, die verstorben sind oder nicht (mehr) in Pueblo Nuevo leben, die aber Kinder in Pueblo Nuevo haben, die dort bei Verwandten - in allen Fällen bei der Mutter der Frau - leben. Für diese sechs Frauen liegen vollständige Geburtengeschichten vor (vgl. Zeile 5, Spalte 2, Tabelle 3.1). Sieben Familien zogen im Laufe des Feldforschungsjahres von Pueblo Nuevo in ein Nachbardorf. Diese Frauen wurden alle zu ihren Geburtengeschichten befragt. Da davon auszugehen ist, daß diese Frauen sich nicht von den anderen untersuchten Frauen unterscheiden, werden sie in die demographische Beschreibung miteinbezogen (vgl. Zeile 6, Spalte 2, Tabelle 3.1). Zwei Frauen verstarben während des Feldforschungsjahres, konnten aber noch vor ihrem Tod befragt werden. Die verbleibenden acht Frauen waren schon vor Forschungsbeginn verstorbene Kinder von Frauen des Dorfes. Diese verstorbenen KAPITEL 3. METHODEN UND DATEN 51 Mädchen hatten alle mindestens ihr fünfzehntes Lebensjahr erreicht und können deshalb in die demographische Analyse miteinbezogen werden, denn ihre Geburtengeschichten können als vollständig gelten (vgl. Zeile 4, Spalte 2, Tabelle 3.1). 15 Verschiedene Grundgesamtheiten, die sich aus Demoden Fragebögen ergeben graphische Frauen älter Verheiratet/ Verheiratet/unión libre Analyse als 15 unión libre + zw. 15 – 44 Jahre Verwendete Fälle Fehlende Fälle: Verstorbene Frauen Abwesende Mütter mit Kindern in PN Frauen, die aus PN weggezogen sind Frau während 2. Erhebung in MS Frau während 2. Erhebung im Ausland Frau wollte nicht mehr partizipieren Frau nicht noch mal erreicht Frau unverheiratet/nicht in unión libre Witwe Madre soltera Geschieden 50 Jahre oder älter 255 198 145 110 1 Fall 57 Fälle, da: 110 Fälle, da: 145 Fälle, da: 10 6 7 X 1 X X X X X X X 10 6 7 25 4 4 1 X X X X X 10 6 7 25 4 4 1 28 13 8 4 X 10 6 7 25 4 4 1 28 13 8 4 35 PN = Pueblo Nuevo; MS = Mexiko-Stadt Tabelle 3.1: Grundgesamtheiten der Datensätze Für die Auswertung der Fragebögen gilt, daß nur Frauen berücksichtigt werden, über die sowohl die vollständigen Informationen aus dem Zensus vorliegen als auch die Antworten zu beiden Fragebögen (Spalte 3, Tabelle 3.1). Die verstorbenen, weggezogenen und nicht in Pueblo Nuevo lebenden Frauen (insgesamt 23 Fälle, Zeilen 4 bis 6, Spalte 2, Tabelle 3.1) werden hier nicht miteinbezogen. Einige Frauen wollten an der zweiten Befragung nicht mehr teilnehmen, waren nicht zu erreichen oder arbeiteten über mehrere Monate in Mexiko-Stadt oder im Ausland. All diese Frauen können nicht in die Auswertung der Fragebögen miteinbezogen werden (Zeilen 7 bis 10, Spalte 3, Tabelle 3.1). 15 Bei einigen der durchgeführten demographischen Analysen werden auch Frauen einbezogen, die zwischen 1983 und 1987 geboren wurden, also zum Zeitpunkt der Zensuserhebung zwischen 10 und 14 Jahre alt waren. Bezieht man auch diese Frauen mit ein und nicht nur die Frauen, die 15 Jahre oder älter waren wie oben (N=255), dann erhöht sich die Fallzahl auf 320 Fälle. In den folgenden Kapiteln wird die verwendete Grundgesamtheit jeweils explizit genannt. DAS GEPLANTE KIND 52 Die meisten Frauen, deren fertile Geschichte analysiert wird, leben oder lebten in einer Ehe oder eheähnlichen Form. Scheidungen sind äußerst selten, ebenso eine nochmalige Heirat nach dem Tod des Mannes. Tabelle 3.2 zeigt die Verteilung und Erfassung von Frauen unterschiedlichen Familienstandes. Die verschiedenen Kategorien wurden unter 3.2 beschrieben und erklärt. Anzahl Frauen insgesamt Anzahl befragter Frauen Kirch.+staat. verheiratet Kirch. verheiratet Staat. verheiratet Unión libre Madre soltera Verwitwet Geschieden / getrennt Ledig 115 1 20 18 8 13 4 53 108 1 18 18 8 13 4 28 Summe 232 198 % 94% 100% 90% 100% 100% 100% 100% 53% Tabelle 3.2: Anteil befragter Frauen hinsichtlich ihres Familienstandes Für fast alle Kategorien konnten über 95% der Frauen befragt werden. Die Kategorie der unverheirateten Frauen, bei der es sich hauptsächlich um junge Frauen zwischen 15 und 20 Jahren handelt, ist nur zur Hälfte erfaßt worden. Dies liegt daran, daß alle nicht befragten Frauen zum Zeitpunkt der Erhebung in Mexiko-Stadt als Hausmädchen arbeiteten und nur schwer zu erreichen waren. Nachdem nun alle verwendeten Methoden und erhobenen Daten vorgestellt worden sind, wird es im letzten Teil dieses Kapitels abschließend um meine Rolle als Forscherin gehen. 3.3 Rolle und Probleme während der Forschung Meine Rolle während der Feldforschung war alles andere als statisch. Bestimmte Attribute und Handlungen meiner Person beeinflußten und veränderten die Wahrnehmung und den Umgang zwischen mir und meinen Informanten während der gesamten Forschung (vgl. Bernard 1994: 154-6). Vor allem mein Wohnort während der Forschung, aber auch mein Geschlecht, mein Bildungsstand, mein Alter und meine ethnische Herkunft spielten hierbei eine Rolle. Da zu Beginn meiner Forschung in Pueblo Nuevo kein leerstehendes Zimmer bei einer Familie zu mieten war, entschloß ich mich dazu, während meiner Forschung nicht im Dorf zu wohnen. Statt dessen teilte ich mir mit einer mexikanischen Er- KAPITEL 3. METHODEN UND DATEN 53 nährungswissenschaftlerin ein Haus auf dem Gelände des Gesundheitszentrums in Solís, da es allgemein als gefährlich und kulturell unangebracht gilt, als Frau alleine zu wohnen. Neben den Nachteilen, die sich dadurch ergaben, daß ich nicht ‚vor Ort’ wohnte, sondern fünfzehn Minuten Fußweg entfernt, hatte dieser Wohnort auch Vorteile. Einerseits konnte ich die Infrastruktur des Zentrums nutzen. Es gab fast immer Elektrizität, so daß so gut wie alle Daten noch während der Forschung eingegeben und kontrolliert werden konnten. Vor allem hinsichtlich der Datenqualität des Zensus war dies von großem Vorteil. Die durchgeführten Gruppeninterviews fanden in den Räumen des Zentrums statt. In Pueblo Nuevo wäre es wohl unmöglich gewesen, solche Interviews durchzuführen, da zu viele Frauen untereinander zerstritten waren und sich nicht bereit erklärt hätten, mitzumachen. Generell konnte ich durch einen neutralen Wohnort auch neutraler bei sozialen Konflikten sein. Meine relativ neutrale Rolle ergab sich auch noch aus einem anderen Grund. Ab September 1996 und bis zum Ende der Forschung im Juli 1997 unterrichtete ich Mädchen zwischen vier und 20 Jahren in Jazztanz und eine Gruppe von verheirateten Frauen in Gymnastik in der Dorfgrundschule. Vorher hatten mich schon mehrere Frauen gebeten, ob ich nicht Englisch unterrichten könnte. Als dann aber publik wurde, daß ich in Deutschland Mädchen Tanzunterricht gegeben hatte, wurde diese Fähigkeit bei weitem vorgezogen. Im Gegensatz zu den Jungen, die nach der Schule Fußball spielen, haben Mädchen im Dorf keine Freizeitbeschäftigung. Deshalb wurde das Angebot begeistert aufgenommen. Für mich stellte dies auch eine Möglichkeit dar, im Austausch für die Zeit, die mir meine Informantinnen zur Verfügung stellten, etwas zurückzugeben. Bis zum Ende der Forschung unterrichtete ich ungefähr 90 Mädchen, aus jedem Haushalt mindestens ein Mädchen, die auch alle an einer Abschlußaufführung und einem Abschlußfest teilnahmen. Die Tanzstunden hatten neben dem Effekt, daß sich die Informanten nicht von mir ausgenutzt fühlten, da sie merkten, daß ich auch etwas für sie tun wollte, auch noch den für die Forschung sehr förderlichen Effekt, daß ich sehr viele der Frauen gut kennenlernte und mindestens einmal in der Woche mit ihnen interagierte. Viele der Mütter begleiteten ihre Kinder zu den Tanzstunden und vorher und nachher hatten wir dann Zeit, den neusten Klatsch auszutauschen. Dadurch baute sich ein Vertrauensverhältnis auf, wodurch es u.a. auch möglich war, Themen, wie Sexualität und Verhütung, zu besprechen, die sonst wohl kaum in dieser Ausführlichkeit zur Sprache gekommen wären. Außerdem war für die Frauen meine Rolle als Frau eindeutig, was auch durch die, für die Frauen und Mädchen veranstalteten Tanzstunden signalisiert wurde. Ich galt nicht als Konkurrentin, denn ich verzichtete bewußt darauf, mit Männern alleine zu sein. Gerade in einer Kultur, in der die Bereiche der 54 DAS GEPLANTE KIND Geschlechter so stark abgegrenzt sind, war es für mich und auch den Forschungsverlauf wichtig, zu erkennen, wo meine Grenzen sind. Ich bezweifle nicht, daß ich auch mit den Männern verstärkt hätte arbeiten können. Doch hätte dieses Vorgehen bestimmte Kosten impliziert, vor allem den Verlust der Solidarität und Offenheit der Frauen. Deshalb war es sinnvoll, nur die Ehemänner von mir sehr nahestehenden Frauen selber zu befragen und alle anderen Männer von einem männlichen Assistenten befragen zu lassen. Ich galt auch deshalb nicht als Konkurrentin, da mich während der Forschung Michael Schnegg, gleichfalls Ethnologe und mein Lebensgefährte, mehrfach besuchte. Seine Anwesenheit machte aber auch deutlich, daß eine von einem Paar durchgeführte Forschung am wünschenswertesten ist. Michael Schnegg war - anders als ich - aufgrund seines Geschlechts in der Lage, intensiv mit Männern des Dorfes zu interagieren und sie zu befragen. Insofern ist Golde zuzustimmen, wenn sie feststellt: „If the goal of research is unbiased understanding, two people working together, preferable one of each sex, would provide the balance, the necessary check of objectivity, and the control of sex-determined or personality factors that one person, however artful, cannot accomplish alone.“ (Golde 1986: 78). Im Austausch für die Hilfe und Informationen der Dorfbewohner gab ich also einerseits die kostenlose Tanzstunden und bezahlte andererseits einige meiner Informantinnen. Neben meiner Assistentin Angela bezahlte ich Frauen, mit denen ich über mehrere Stunden hinweg, wie z.B. bei der Stillbeobachtung, arbeitete. Wie in vielen ethnologischen Forschungen üblich, half ich bei kleineren Geldproblemen, mit diversen Geschenken und Medikamenten. Da mein Kontakt zum Gesundheitszentrum allen bekannt war, wurde ich auch mehrfach um medizinische Hilfe gebeten. Allerdings konnte ich in diesen Fällen nur an befreundete Ärzte weiterverweisen. Meine Beziehung zur Gesundheitsklinik hat u.U. noch einen anderen Effekt auf die Forschung gehabt. Nur sehr wenige Frauen berichteten davon, daß sie Kenntnisse im Umgang mit Kräutern, etwa, um zu verhüten, haben. Bis zum Schluß der Forschung konnte nicht geklärt werden, ob die Frauen wirklich nicht soviel über das Thema wußten, oder ob sie mit mir nicht darüber sprechen wollten. Ähnlich verhielt es sich mit dem Thema Abtreibung. Abgesehen von sehr vagen Aussagen wollten die Frauen nicht über das Thema reden. Die starke Tabuisierung des Themas spielte hier sicherlich eine große Rolle. Aber auch meine Verbindung mit dem staatlichen Gesundheitssystem kann die Frauen davon abgehalten haben, mit mir darüber zu sprechen. Hinzu kommt, daß ich, sobald ich merkte, daß eine Frau nicht mehr bereit KAPITEL 3. METHODEN UND DATEN 55 war, weiter zu diesem Thema etwas zu sagen, immer das Thema wechselte, da meines Erachtens jeder Informant und jede Informantin während der gesamten Forschung das Recht haben muß, Aussagen und Informationen zu verweigern. 16 Meine Ethnizität spielte insofern eine Rolle, als ich mehrfach gefragt wurde, ob ich nicht bei der Vermittlung von Arbeit in Deutschland helfen könne. Generell war das Bild ‚der Deutschen’, soweit es überhaupt eine Vorstellung davon gab, positiv und hauptsächlich von Fußball und Autos geprägt. Dies war sicherlich ein Vorteil gegenüber US-amerikanischen Forschern, deren ethnische Rolle in Mexiko erheblich problematischer sein kann. 17 Auch spielten mein Alter und meine Bildung eine Rolle, denn es erstaunte mehrere Frauen, daß ich in meinem Alter (zum Zeitpunkt der Forschung war ich 26 Jahre alt) noch kein Kind hatte. Diese Verwunderung war aber häufig auch Anlaß für ein längeres Gespräch darüber, warum Frauen meines Alters in Pueblo Nuevo schon Kinder hatten. Andere Frauen betonten wiederum, daß sie meinen Lebensweg für ihre Töchter anstreben würden, denn es wäre gut, wenn eine Frau so weit gebildet wäre, daß sie selber Geld verdienen könne. Generell ist es aber bei Untersuchungen zum Thema Fertilität sicherlich hilfreich, selbst ein Kind zu haben oder sogar gemeinsam mit einem Kind zu forschen, ähnlich wie es auch wünschenswert ist, als Paar zu arbeiten. 18 Auf die vielfältigen Quellen möglicher Verzerrungen bei ethnologischen und generell sozialwissenschaftlichen Forschungen wurde von sehr unterschiedlichen Autoren hingewiesen. 19 Neben den Effekten meiner Rolle als Forscherin, die man auch als Interviewereffekte bezeichnen kann (Schnell, Hill und Esser 1995: 328), war die andere Quelle möglicher Verzerrungen der Daten der sogenannte Anwesenheitseffekt (Schnell, Hill und Esser 1995: 328). Da ich zu Beginn meiner Forschung die Dorfbewohner nicht kannte und meine Spanischkenntnisse noch begrenzt waren, war ich auf die Hilfe meiner Assistentin angewiesen. Während der gesamten Zensuserhebung begleitete mich Angela. Dies kann die Antworten der Informanten beeinflußt haben und in einigen Fällen war dies auch sicherlich der 16 „The participation of people in our research activities shall only be on a voluntary and informed basis.“ (Bernard 1994: 517). 17 Im Mexiko-Stadt sprach ich mit einigen US-amerikanischen Forschern, die diesen Eindruck bestätigten. 18 Rita Kramp, die eine Forschung zum fertilen Wandel bei den Wampar in Neu Guinea durchführte, bestätigte, daß die Anwesenheit ihrer Tochter auch ihrer Forschung zu Gute kam (Rita Kramp, persönliche Kommunikation). 19 Z.B. Aus der Sicht empirischer Sozialforscher: Schnell, Hill und Esser 1995: 327-332; aus postmoderner Sicht: Fuchs und Berg 1993, Clifford 1993 oder aus feministischer Perspektive: Moore 1988: 1-11. 56 DAS GEPLANTE KIND Fall. Natürlich war Angela nicht mit dem ganzen Dorf befreundet und hatte mit einigen Befragten Konflikte, die mir jedoch während der Zensuserhebung in der Regel noch nicht bekannt waren. Erst später, als ich auch durch andere Frauen und Familien in das Dorfgeschehen integriert war, wurden mir diese Verzerrungen bewußt und ich hielt sie in Kommentaren zu den Erhebungen fest. Nach mehreren Monaten führte ich fast alle Interviews alleine durch. Doch auch in der zweiten Fragebogenerhebung gab es wiederum Anwesenheitseffekte, da ich einige der Frauen nur in Anwesenheit ihrer Schwiegermutter oder ihres Ehemannes befragen konnte. Die Anwesenheit Dritter wurde aber immer notiert. Nachdem nun der Forschungsprozeß und die erhobenen Daten vorgestellt worden sind, wird im folgenden Kapitel der ethnographische Rahmen der Forschung beschrieben. Kapitel 4 Ethnographie Pueblo Nuevos 4.1 Der regionale Kontext - Das municipio Temascalcingo im Tal von Solís, Bundesstaat México Der seit 1824 bestehende und in Zentralmexiko gelegene Bundesstaat México (Estado de México) ist einer von 29 mexikanischen Bundesstaaten. 1 Abbildung 4.1: Der Estado de México und umliegende Bundesstaaten, Zentralmexiko 2 1 Die Vereinigten Mexikanischen Staaten (Estados Unidos Mexicanos) unterteilen sich in 29 Bundesstaaten, einen Bundesdistrikt und zwei Territorien (Biermann 1993: 144). Zur Entstehung des Bundesstaates México vgl. 4.2. 2 Ich danke Michael Schnegg für das Erstellen der beiden Karten. 57 58 DAS GEPLANTE KIND Er grenzt im Süden an die Bundesstaaten Guerrero, Morelos und den Bundesdistrikt (Distrito Federal), in dem sich auch die Hauptstadt Mexiko-Stadt befindet, im Westen an den Bundesstaat Michoacán, im Norden an den Bundesstaat Querétaro und im Osten an die Bundesstaaten Hidalgo, Puebla und Tlaxcala. Insgesamt leben im Bundesstaat México laut der Zensuserhebung von 1995 11.707.964 Menschen (5.776.054 Männer/5.931.910 Frauen, INEGI 1996: 41). Der Bundesstaat México hat 120 municipios, politische Verwaltungseinheiten. Abbildung 4.2: Karte eines Ausschnitts des Valle de Solís im municipio Temascalcingo Das Tal von Solís, Valle de Solís, in dem sich Pueblo Nuevo befindet, grenzt im Westen an den Bundesstaat Michoacán und im Norden an den Bundesstaat Querétaro. Es ist Teil des municipio Temascalcingo, welches im Nordwesten des Bundesstaates liegt. Temascalcingo ist auch der Name der einzigen Kleinstadt des Tals, die auch die cabecera municipal, das Zentrum der Verwaltung des municipio, ist. Im municipio Temascalcingo leben in 61 Gemeinden 59.140 Menschen (29.312 Männer/29.828 Frauen; INEGI 1996: 162), davon allein in der Kleinstadt Temascalcin- KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 59 go 10.136 (17%). 3 Im eigentlichen Tal von Solís befinden sich 20 Gemeinden, die alle, bis auf die Kleinstadt Temascalcingo, weniger als 2500 Einwohner haben. Von den Einwohnern des Bundesstaates México, die das fünfte Lebensjahr beendet haben, sprechen 2,7% eine indigene Sprache. Die mit Abstand verbreitetsten indigenen Sprachen sind Mazahua (34%) und Otomí (32%) (INEGI 1996: 379). Im Gegensatz dazu ist der Anteil der Bevölkerung, die eine indigene Sprache spricht, mit 28% im municipio Temascalcingo recht hoch. 92% sprechen Mazahua und 7% Otomí. In keiner der 20 Gemeinden, die sich im Tal von Solís befinden, wird allerdings eine indigene Sprache gesprochen. Alle Gemeinden des Tals sind Mestizen Gemeinden, in denen nur Spanisch gesprochen wird. Die von INEGI veröffentlichten Daten sind nicht alle von gleichbleibender Qualität. Neben den Informationen zu den einzelnen municipios gibt es auch einige Daten auf Gemeindeebene. Nach diesen lebten in Pueblo Nuevo 1995 (Zeitpunkt der INEGI Erhebung) 776 Personen, 397 Männer und 379 Frauen. Im Juli 1997 waren es nach meiner Zensuserhebung 859 Personen, davon 437 Männer und 422 Frauen. 4 Dieser Zuwachs erscheint wenig realistisch, wie im folgenden zu sehen sein wird. Mit Hilfe unterschiedlicher Quellen lassen sich einfache Wachstumsraten für Pueblo Nuevo sowie für das municipio Temascalcingo berechnen. Drei Quellen können für Pueblo Nuevo verwendet werden. Die zeitlich früheste Quelle ist ein Photo aus dem Jahr 1944, das im Auftrag Juan Correas, dem Gemeindegründer, angefertigt wurde und nach Auskunft der Besitzerin des Photos, die auch auf dem Photo zu sehen ist und 1944 vierzehn Jahre alt war, alle damaligen Bewohner der neu gegründeten Gemeinde zeigt. Insgesamt sind 156 Menschen zu sehen. Die zweite Quelle sind die Daten von INEGI 1995 erhobenen Daten. Die dritte Quelle sind meine eigenen Daten aus dem Jahr 1997. Die Daten für das municipio Temascalcingo sind aus den Jahren 1970, 1980 (Secretaría de Programación y Presupuesto (SPP) 1984) und 1995 (INEGI 1997). Als Vergleich werden auch noch die nationalen Wachstumsraten abgebildet. Die Größe einer Bevölkerung P(x) nach z Jahren ergibt sich aus dem exponentiellen Wachstum (Schulze 1997: 102): P(x) = P(0) ∗ exp (r ∗ z); wobei P(0) die Ausgangspopulation und r die Wachstumsrate sind. Diese Gleichung läßt sich nun 3 INEGI (Instituto Nacional de Estadistica, Geografía e Informatica, Nationales Institut für Statistik, Geographie und Informantik) veröffentlicht nur die absoluten Zahlen. Alle Berechnungen sind von der Verfasserin durchgeführt worden. 4 Hierbei handelt es sich um die de facto Population (Fischer 1997: 54), es werden also nur Personen einbezogen, die sich tatsächlich im Juli 1997 in Pueblo Nuevo befanden. Alle nicht mehr im Haushalt lebenden Personen und weggezogene Familien werden nicht berücksichtigt. DAS GEPLANTE KIND 60 folgendermaßen transformieren, so daß die Wachstumsrate r berechnet werden kann: r = [ln (P(x) / P(0))] / z. Anhand dieser Formel sind die in Tabelle 4.1 zu sehenden Wachstumsraten, bis auf jene für ganz Mexiko, die aus der Literatur übernommen worden sind (zu den Quellen vgl. Fußnote 5), berechnet worden. 5 Pueblo Nuevo 6 Quelle/Jahr d. Erhebung N Photo 1944 156 INEGI 1995 (1997) 776 Pauli 1997 859 1944-1997 (Pauli) Municipio Temascalcingo +n % r Quelle/Jahr N +n Mexiko %r SPP 1970 (1984) 33.386 620 3,1 SPP 1980 (1984) 45.719 12.333 3,1 83 5,1 INEGI 1995 (1997) 59.140 13.421 1,7 703 3,2 25.754 2,3 1970-1995 (SPP/INEGI) Zeitpunkte %r 1921-1930 1930-1940 1940-1950 1950-1960 1960-1970 1970-1980 1,7 1,8 2,7 3,1 3,4 3,2 1980-1990 2,3 Tabelle 4.1: Wachstumsraten Pueblo Nuevo, municipio Temascalcingo und Mexiko Die Wachstumsrate von 3,2% pro Jahr für Pueblo Nuevo im Zeitraum von 1944 bis 1997 zeigt, daß Pueblo Nuevo stärker gewachsen ist als der regionale und nationale Durchschnitt. Die durchschnittliche Wachstumsrate von 3,2% entspricht einer Verdoppelungszeit der Bevölkerung von nur 22 (21,53) Jahren. Sowohl in gesamt Mexiko wie auch im municipio Temascalcingo sind die Wachstumsraten seit den achtziger Jahren, nach Jahrzehnten ansteigender Wachstumsraten, allerdings rückläufig. Leider liegen keine Daten zu mehreren Zeitpunkten für ländliche und urbane Regionen im Vergleich vor. Denn wie sich im Kapitel über den fertilen Wandel zeigen wird, sind die Fertilitätsziffern innerhalb ländlicher Regionen immer noch weitaus höher, als in den urbanen Zentren des Landes. Es ist zu vermuten, daß bei einer Differenzierung sowohl für das municipio Temascalcingo als auch für ganz Mexiko starke Abweichungen zwischen den Wachstumsraten für ländliche und urbane Regionen festzustellen wären. Eine Wachstumsrate von 5,1% für den Zeitraum von 1995 bis 1997 für Pueblo Nuevo erscheint aber trotzdem als zu hoch. Die Ursache 5 Quellen der Daten für ganz Mexiko: für 1921-1980 Dirección General de Estadística, Censos Generales de Población in: CONAPO 1988: 24; Alba und Potter 1986: 50; Krause: 1996: 126; für 1980-1990: CONAPO 1991: 12; Krause 1996: 126; für 1990: Ordorica Mellado 1994: 45. Eine Kritik der Datenqualität der nationalen Zensuserhebungen findet sich bei Krause 1996: 128-9. 6 Die fett geschriebenen Jahreszahlen beziehen sich auf die Erhebungsjahre, die anderen Jahreszahlen sind Erscheinungsjahre der Veröffentlichungen. KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 61 für diese zu hohe Wachstumsrate könnte darin bestehen, daß bei der Zensuserhebung von INEGI nicht alle Personen gezählt wurden und die Gesamtbevölkerung von 776 Personen für das Jahr 1995 zu niedrig liegt. 7 Die hohen Wachstumsraten für Pueblo Nuevo lassen schon vermuten, daß es sich um eine sehr junge Bevölkerung handelt. Da INEGI Daten zur Altersverteilung auf Ebene der municipios veröffentlicht, kann abgeschätzt werden, wie typisch Pueblo Nuevo in seiner Altersstruktur für die Region ist. Die Daten der bundesstaatlichen Zensuserhebungen werden in Gemeinden über 2500 Einwohner und Gemeinden unter 2500 Einwohnern unterteilt. Da Pueblo Nuevo mit 859 Einwohnern im Jahr 1997 zur zweiten Kategorie zählt, werden nur diese Daten hier abgebildet. Die Ergebnisse für das gesamte municipio sind aber sehr ähnlich. 3000 Frauen Häufigkeiten 2500 Männer 2000 1500 1000 500 0 04 J. 59 J. 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 -1 4 19 24 29 34 39 44 49 54 59 64 und J. J. J. J. J. J. J. J. J. J. J. ält er Altersklassen Quelle: INEGI 1996, S. 274 Abbildung 4.3: Altersverteilung des municipio Temascalcingo, Gemeinden <2500 Einwohner Es ist klar zu erkennen, daß die Bevölkerung der Gemeinden unter 2500 Einwohnern im municipio Temascalcingo sehr jung ist. 43% der Bevölkerung ist weniger 7 Während meiner Anwesenheit im Tal wurden eine nationale und eine bundesstaatliche Befragung (beide zu ernährungswissenschaftlichen Themen) durchgeführt. Beide sollten eigentlich das gesamte Dorf erfassen, doch da einige Häuser schwierig zu erreichen sind, wurden deren Bewohner nicht befragt. Dies könnte auch bei der Erhebung von INEGI geschehen sein. DAS GEPLANTE KIND 62 als 15 Jahre alt, 55% weniger als 20 Jahre alt. Die gleichen Prozentzahlen ergeben sich, wenn man sich alle Gemeinden des municipio ansieht. Betrachtet man nun die Altersverteilung Pueblo Nuevos im Jahr 1997, kommt man zu einem ähnlichen Ergebnis. Häufigkeiten 90 80 Frauen 70 Männer 60 50 40 30 20 10 0 . 4J -9 90 J . 9 -8 85 J . 4 -8 80 J . 9 -7 75 J . 4 -7 70 J . 9 -6 65 J. 4 -6 60 J . 9 -5 55 J . 4 -5 50 J . 9 -4 45 J . 4 -4 40 J . 9 -3 35 J . 4 -3 30 J . 9 -2 25 J . 4 -2 . J 20 15 9 -1 . 4 -1 . 9J 4J 10 5- 0- J. Alterklassen Abbildung 4.4: Altersverteilung Pueblo Nuevos 1997 Ähnlich wie für das ganze municipio hat auch die Gemeinde Pueblo Nuevo eine sehr junge Bevölkerung. 46% der Bewohner sind weniger als 15 Jahre alt, 58% weniger als 20 Jahre alt. Diese Zahlen erstaunen nicht, wenn man bedenkt, daß die Bevölkerung eine durchschnittliche Wachstumsrate von 3,2% pro Jahr von 19441997 hatte. Diese Zahlen und Entwicklungen gelten jedoch nicht uneingeschränkt für den gesamten Bundesstaat. Im Bundesstaat México sind ‚nur‘ 35% der Einwohner unter 15 Jahre alt und 46% unter 20 Jahren (INEGI 1996: 217). Diese Differenz ist auf Stadt/Landunterschiede zurückzuführen. Im Bundesstaat México befinden sich sowohl viele ländliche Regionen als auch einige urbane Zentren. Die ländlichen Regionen, zu denen das municipio Temascalcingo gehört, bestehen vor allem aus kleinen, weniger als 2500 Einwohnern zählenden, Gemeinden. Die Altersstruktur dieser Gemeinden ist anders als die der urbanen Zentren, wie etwa Toluca. Betrach- KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 63 tet man nur die Gemeinden des Bundesstaates, die unter 2500 Einwohnern zählen, kommt man zu ähnlichen Ergebnissen wie schon für das municipio Temascalcingo als auch für die Gemeinde Pueblo Nuevo – 42% der Einwohner sind unter 15 Jahre alt, 53% unter 20 Jahren. Hingegen sind nur 33% unter 15 Jahre und 44% unter 20 Jahre alt, wenn man municipios betrachtet, die mehr als 15.000 Einwohner zählen. Der stärkere Rückgang der Geburtenzahlen in den urbanen Regionen spielt hier wohl die größte Rolle. 8 Neben den Zensusinformationen erhebt INEGI auch Daten zu den allgemeinen Lebensbedingungen in den Gemeinden. Diese können verwendet werden, um die Repräsentativität Pueblo Nuevos innerhalb des regionalen Kontextes zu untersuchen. Nach diesen Daten haben im municipio Temascalcingo 93% der Gemeinden unter 2500 Einwohnern Elektrizität, 77% fließendes Wasser und 21% ein Abwassersystem (INEGI 1996: 593). Pueblo Nuevo hat sowohl Elektrizität als auch fließendes Wasser in allen Haushalten, aber kein Abwassersystem und ist somit auch in dieser Hinsicht exemplarisch für die meisten Dörfer des municipio, die weniger als 2500 Einwohner haben. 4.2 Von der Hazienda über das ejido bis in die USA Die Gemeinde Pueblo Nuevo Die folgenden Darstellungen basieren auf sehr unterschiedlichen Quellen. Die historische Darstellung stützt sich stark auf mehrere informelle Gespräche, die ich mit Bewohnern Pueblo Nuevos und Solís führte. 9 Vor allem ein Interview mit Doña Candelaria, die zum Zeitpunkt des Interviews mit 89 Jahren die älteste Frau des Dorfes war, half, die Ereignisse, die ich vorher nur fragmentarisch erfassen konnte, zu strukturieren. Neben diesen Darstellungen der Bewohner Pueblo Nuevos und Solís, fand sich in der Bibliothek des casa de la cultura (Kulturhaus) in Temascalcingo auch eine historische Abhandlung zur Geschichte Temascalcingos und des Tals von Solís (del Mazo, Chuayffet Chemor und López Gutiérrez 1988). Vor allem für die Zeit vor der Entstehung Pueblo Nuevos ist dies eine wichtige Quelle. 8 Eine Analyse der Alterspyramide hinsichtlich der Sexualproportion findet sich unter 4.2.2.2. Fast alle Namen der Informanten wurden anonymisiert. Einige Informanten bestanden jedoch ausdrücklich darauf, namentlich genannt zu werden. Diesem Wunsch wurde entsprochen. 9 64 DAS GEPLANTE KIND Neben diesen Quellen, die eine historische Rekonstruktion erlauben, werden für die Beschreibung der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und religiösen Organisation die Daten aus den beiden Fragebogenerhebungen, die Lebensgeschichten und vor allem Feldnotizen, die auf Beobachtungen und informellen Gesprächen beruhen, verwendet. Die Feldnotizen wurden nach einem erweiterten Kategorienschema, das auf der Arbeit von Murdock basiert, kodiert. 10 Diese Kategorien sollen als Orientierung für die ethnographische Beschreibung verwendet werden. Sechs Oberkategorien sind voneinander zu trennen. Zunächst wird die historische Entstehung und Entwicklung der Gemeinde dargestellt. Es folgt eine Beschreibung der heutigen Lebenssituation der Bewohner Pueblo Nuevos, die Auskunft über die Infrastruktur und die Lebensbedingungen gibt. Daran anschließend werden weitere demographische Ereignisse besprochen, die wirtschaftliche und politische Organisation vorgestellt und Ausführungen zur Religion, zur Sprache und zu verschiedenen Festen gemacht. Die ethnographische Beschreibung schließt mit einer Darstellung der sozialen Organisation der Gemeinde. 4.2.1 Entstehung und Entwicklung Pueblo Nuevos 4.2.1.1 Die Vorläufer – Das Tal und die Hazienda von Solís Das Tal von Solís liegt 2500m über dem Meeresspiegel, seine höchste Erhebung ist der Monte Altamirano mit einer Höhe von 3150m. Der Monte Altamirano trennt das Tal von Solís und den Bundesstaat México vom municipio Contepec im Bundesstaat Michoacán (vgl. Abbildung 4.2). Über diesen Berg kamen ungefähr Mitte der dreißiger Jahre die ersten Landsuchenden aus Contepec in das Tal. Doch diese Migration, die zur Entstehung der Gemeinde Pueblo Nuevo und des ejidos gleichen Namens führte, war nicht die erste und auch nicht die letzte Wanderungsbewegung in der Geschichte des Tals. Die ersten Ethnien, die das Tal in präspanischer Zeit bevölkerten, waren die Mazahua und die Otomí, deren Nachfahren noch heute in Ausläufern des Tals leben (del Mazo, Chuayffet Chemor und López Gutiérrez 1988: 33). Die Mazahua gründeten Temascalcingo. Allerdings stammt der Name Temascalcingo nicht von den Mazahua, sondern den Azteken, die nach den Mazahua das Tal besiedelten. Temascalcingo bedeutet soviel wie ‚Ort des kleinen Dampfbades‘ (del Mazo, Chuayffet Chemor und López Gutiérrez 1988: 13). Im Tal gibt es heute noch mehrere hei10 ‚Codes from the Outline of Cultural Materials’ nach Murdock in Bernard 1994: 519-528. KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 65 ße Quellen. Auch die Region, in der sich heute die Gemeinden Solís, San Miguel und San José befinden, hatte einen aztekischen Namen, der ebenfalls Bezug auf die heißen Quellen nimmt – Tentehuacán, was soviel bedeutet wie ‚An den Ufern des heiligen Wassers‘ (del Mazo, Chuayffet Chemor und López Gutiérrez 1988: 22). Die ursprünglichen Namen einiger Gemeinden, in Mazahua und teilweise auch in Otomí, sind heute keine offiziellen Bezeichnungen mehr, werden aber von den Mazahua bzw. den Otomí auch heute noch verwendet. Viele der Namen der verschiedenen Gemeinden des municipio Temascalcingo, die auch heute noch offiziell benutzt werden, sind aus dem Náhuatl, wie Temascalcingo oder auch Juanacatlán (=Ort der Zwiebeln). Neben diesen Namensquellen gibt es mehrere Dörfer, die während der Zeit der Hazienda von Solís entstanden sind, und die Namen von Heiligen tragen (z.B. San Antonío, San José, Santa Rosa). Der Name Pueblo Nuevo ist im ganzen Bundesstaat sehr verbreitet und es ist zu vermuten, daß einige dieser Gemeinden schon während der Kolonialzeit entstanden sind, andere aber auch während der Zeit der intensivsten Landreformen in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, in denen sich viele neue Gemeinden und ejidos (siehe unten) bildeten. 1519 begann die Eroberung Mexikos unter der Leitung Hernán Cortés (Biermann 1993: 41, König 1990: 207ff.). Nach del Mazo, Chuayffet Chemor und López Gutiérrez (1988: 34) verbündeten sich die vorher befeindeten Mazahua und Azteken, um gemeinsam gegen die Eroberung durch die Spanier zu kämpfen. Sie wurden von Gonzalo de Sandoval, einem von Cortés Hauptmännern, besiegt. Cortés, der vom König von Spanien den Titel eines Herzogs des Tals von Oaxaca verliehen bekommen hatte (Biermann 1993: 44), übergab das eroberte Tal an de Sandoval als Dank für seine Treue und Leistungen, der es wiederum an den Conde de Pignatelli weitergab (del Mazo, Chuayffet Chemor und López Gutiérrez 1988: 34). Nach mehreren weiteren spanischen Besitzern wurde das Tal an Manuel de Villegas übergeben, der sich 1571 in Temascalcingo niederließ. Einige Jahrzehnte später begann auch die systematische Christianisierung der lokalen Bevölkerung. Schon zu Beginn der Eroberung hatte Bruder Juan de San Miguel die Missionierung vorangetrieben, doch erst nach der Ankunft des ersten Pfarrers, Andrés de Reza, am 4. Juli 1618, wurden eine Kirche in Temascalcingo und in vielen Gemeinden Kapellen erbaut. Die Spanier etablierten auch ein administratives System, dessen Zentrum Temascalcingo war. Ungefähr in der Mitte des 16. Jahrhunderts begann der Bau der Hazienda von Solís unter Leitung des Baumeisters Pedro de Villegas, der mehrere Gebäude in 66 DAS GEPLANTE KIND Mexiko-Stadt errichtet hatte. Zur selben Zeit kamen mehrere Spanier ins Tal, die mercedes de tierras (königliche Landschenkung, König 1990: 217) erhielten. 11 Anfang des 17. Jahrhundert muß die Hazienda fertiggestellt gewesen sein, denn 1617 war sie im Besitz von Gaspara de Solís, von dem sie auch ihren Namen erhielt. 12 Neben der Hazienda von Solís, die die größte des Tals war und über den meisten Landbesitz verfügte, entstanden noch vier andere Haziendas. Wie auch in der präspanischen Zeit wurde weiterhin Mais, hauptsächlich zum Eigenkonsum, angebaut. Daneben begannen die Spanier mit dem Anbau von Weizen und Obst. Über die Region hinaus wurde das Tal von Solís als „Kornkammer Mexiko-Stadts“ (del Mazo, Chuayffet Chemor und López Gutiérrez 1988: 37) bekannt. Die Hazienda von Solís muß über mehrere Jahrhunderte hinweg sehr groß und einflußreich gewesen sein, denn noch heute ist ihr Name weit über die Region hinaus bekannt, auch wenn das Tal von Solís heute an wirtschaftlicher und politischer Bedeutung verloren hat. Während dieser Zeit entstand ein Kanalsystem zur Bewässerung der Felder. So konnten sowohl das Wasser des Río Lermas, der durch das Tal fließt, als auch die sich im Tal befindenden Seen zur Bewässerung genutzt werden. Noch heute werden die Kanäle von den Gemeinden benutzt – z.B. bezieht Pueblo Nuevo sein Wasser zur Bewässerung der Felder aus dem See bei Juanacatlán. Anfang des 19. Jahrhunderts begann die Unabhängigkeitsbewegung Mexikos von der spanischen Krone. 1821 wurde die Auflösung des Vizekönigreiches NeuSpanien, der Name Mexikos während der Kolonialzeit, besiegelt. Mexiko war von Spanien unabhängig. 1824 wurden die Estados Unidos Mexicanos, die Vereinigten Mexikanischen Staaten, gegründet. Im selben Jahr entstand der Bundesstaat México, dessen erster Gouverneur der General Melichor Múzquiz war. 13 Obwohl del Mazo, Chuayffet Chemor und López Gutiérrez (1988: 42) berichten, daß 1827 alle Spanier aus der Kleinstadt Temascalcingo vertrieben wurden, war die Hazienda 11 Ein Überblick der historischen Ereignisse – auch zur Situation der indigenen Bevölkerung während der Kolonialzeit und zur Entstehung der Haziendas, die das encomienda System ablösten, findet sich bei König 1990. 12 Weitere Besitzer der Hazienda waren: 1698 Juan Canalejo, 1713 Andrés Velázquez de la Rocha, danach die Familie Dosal, dann Don Fernando Orvañanos und nach dessen Tod die Witwe Dolores Quintanilla (del Mazo, Chuayffet Chemor und López Gutiérrez 1988: 37). Unter Umständen war Gaspara de Solís mit Antonio de Solís y Rivadeneyra (1610-1686) verwandt, der 1665 Historiograph für die amerikanischen Kolonien Spaniens wurde und eine ‚Geschichte von Mexiko‘ (1684 in Madrid erschienen) verfaßte (Brockhaus 1896: 35). Für diesen Hinweis danke ich meinen Eltern. 13 Nach der politischen Verfassung vom 14.2.1827 wurden die einzelnen Bundesstaaten in distritos, partidos und municipios unterteilt. Das municipio Temascalcingo entstand folglich 1827 und gehörte zum partido Ixtlahuaca und zum distrito Toluca. Heute gehört das municipio allerdings zum disitrito El Oro de Hidalgo. KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 67 von Solís weiterhin in spanischem Besitz. Wie in vielen Teilen Mexikos vor und auch noch nach der Unabhängigkeit weit verbreitet, arbeitete der größte Teil der Bevölkerung als peones, (Schuld) Knechte (König 1990: 214, 217), für die Hazienda von Solís, bei der sie auf Lebenszeit verschuldet waren. 1883 wurde die Eisenbahnstrecke Mexiko-Stadt – Morelia eingeweiht, die in den folgenden Jahren auch um eine Verbindung bis zur Hazienda von Solís erweitert wurde. 1901 konnten die Produkte der Hazienda via Eisenbahn bis nach Mexiko-Stadt transportiert werden. Während der Herrschaft von Porfirio Díaz (1876-1880 und 1884-1911) verstärkte sich die soziale und wirtschaftliche Ungerechtigkeit. Nach del Mazo, Chuayffet Chemor und López Gutiérrez (1988: 45) besaß die Hazienda von Solís zusammen mit den vier kleineren Haziendas insgesamt 30.000 Hektar der 35.101 Hektar Gesamtfläche des municipio Temascalcingos. Diese extreme Bodenkonzentration war für ganz Mexiko während der Regierungszeit Díaz charakteristisch. 1910 besaßen 834 Hazienda Besitzer in ganz Mexiko ca. 168 Millionen Hektar Land (Krause 1996: 86). Nach Schätzungen entsprach das ungefähr 97% der landwirtschaftlichen Nutzungsfläche (Krause 1996: 88). Diese Situation führte zu den ersten bewaffneten Aufständen und zum Beginn der mexikanischen Revolution im Jahr 1910. 14 1911 wurde Díaz gestürzt, 1917 kam die mexikanische Revolution mit der für die Zeit progressivsten bürgerlichen Verfassung zu ihrem Ende (Krause 1996: 89). Vor allem Artikel 27 der Verfassung von 1917 und die daraus resultierende Landreform war für die weitere Entwicklung Mexikos wegweisend. Der Staat ist nach Artikel 27 Eigentümer des Landes, der als oberste Verfügungsgewalt die Haziendas aufteilen, Privateigentum an Land insgesamt begrenzen, ausländische Eigentumsrechte an Land verbieten und den Dorfgemeinschaften das von den Haziendas enteignete Land zurückgeben kann (Krause 1996: 90). Das Land wurde allerdings nicht als Privateigentum, sondern in Form von ejidos vergeben. Die Entstehung und Entwicklung des ejido Systems ist gut dokumentiert (z.B. Alba und Potter 1986, Krause 1996, Sanderson 1984, Soberon-Ferrer und Whittington 1993, Wimmer 1996). 15 Das Land, nach der Verfassung von 1917 nationales 14 Einen Überblick der Ereignisse der mexikanischen Revolution gibt Biermann (1993: 55-61). Es besteht allerdings eine gewisse Uneinigkeit hinsichtlich der Definition des ejidos. Nach Krause (1996: 90) geht das ejido auf „präkolumbianische und frühspanische Traditionen“ zurück. König datiert die Einführung des ejidos präziser auf das Jahr 1573. In diesem Jahr teilte die spanische Krone indigenen Dorfgemeinschaften Land als unveräußerbares Gemeindeeigentum zu. Dieser Gemeindebesitz wurde nach König als ejido bezeichnet (1996: 213). Cubitt (1995), Wimmer (1996) und Soberon-Ferrer und Whittington (1993) hingegen verwenden den ejido Begriff nur für das 20. Jahrhundert: „Der Begriff ejido bezeichnet im weitesten Sinne jede Art von Landvergabe im Zuge der nachrevolutionären Landreform (...).“ (Wimmer 1996: 186). 15 68 DAS GEPLANTE KIND Eigentum, wird zur Nutzung kollektiv an Dorfgemeinschaften oder individuell an Familien neu verteilt oder auch zurückgegeben, wenn diese Dorfgemeinschaften/Familien noch Landansprüche aus präspanischer oder kolonialer Zeit haben. Die Landnutzungsrechte sind allerdings an bestimmte Bedingungen geknüpft: 1. Der Boden muß kultiviert werden (Krause 1996: 90, Soberon-Ferrer und Whittington 1993: 1249); 2. Das Land darf weder verkauft noch verpachtet werden (Krause 1996: 90, Soberon-Ferrer und Whittington 1993: 1249, Wimmer 1996: 186), kann aber vererbt werden (Wimmer 1996: 186); 3. Um Land zu erhalten, muß eine Gemeinde mindestens 20 Haushalte haben (Soberon-Ferrer und Whittington 1993: 1249); 4. Um Land innerhalb eines ejidos zu erhalten, muß man mexikanischer Staatsbürger von Geburt an sein (Soberon-Ferrer und Whittington 1993: 1249). Entgegen der Verpflichtung, kein Land zu verpachten, wurde dies dennoch häufig praktiziert (Wimmer 1996: 186). Die mexikanische Landreform und die damit verbundene Entstehung des ejido Systems in weiten Teilen Mexikos begannen zwar schon in den zwanziger Jahren, doch erst unter Präsident Lazaro Cárdenas erreichte die Landvergabe ihren Höhepunkt. In den sechs Jahren seiner Amtszeit (19341940) wurden 20 Millionen Hektar Land umverteilt, doppelt so viel wie in den 20 Jahren davor (Krause 1996: 90). Nach einer Schätzung waren 1940 fast 50% der mexikanischen Bevölkerung in das ejido System einbezogen (Krause 1996: 90). 16 Die Haziendas wurden durch die Einführung des ejido Systems zwar nicht generell, aber in beachtlichem Umfang enteignet. Das gesamte Land und die Gebäude der Hazienda von Solís sowie der vier kleineren Haziendas des municipio Temascalcingo wurden allerdings vollständig enteignet. Del Mazo, Chuayffet Chemor und López Gutiérrez (1988: 46) berichten, daß die erste Gemeinde des municipio Temascalcingo – San Pedro Potla – schon 1915 Landansprüche stellte. Doch erst am 18.4.1929 erhielt die Gemeinde als erste Gemeinde des municipio nach der Enteignung der Hazienda Toxi Land für die Gründung eines ejidos. Ende der zwanziger Jahre und zu Beginn der dreißiger Jahre wurden auch die anderen Haziendas des 16 Sowohl Krause (1996) als auch Alba und Potter (1986) gehen detailliert auf die, zum Teil negativen, gesamtwirtschaftlichen Konsequenzen des ejido Systems ein. Zwar war die Umsetzung des ejido Systems unter sozialpolitischen Gesichtspunkten ein großer Erfolg, doch konnte mit diesem System keine nennenswerte Steigerung des Produktionsniveaus erreicht werden (Krause 1996: 94). Neben den ejidos, die hauptsächlich Subsistenzwirtschaft betrieben, entstand, vermehrt vor allem nach der Amtszeit Cárdenas, das sogenannte Agrobusiness (Biermann 1993: 91). Die Agrobusinesses finden sich hauptsächlich im Norden des Landes (ejidos vor allem in Zentral- und Südmexiko), und sind große Unternehmen, die mit modernster Technologie arbeiten. KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 69 Tals enteignet. Die gesamte Landreform im municipio Temascalcingo umfaßte ungefähr zwanzig Jahre. Die überwiegende Mehrheit der ejidos, die sich während dieser Zeit formierten, basierte auf Gemeinden, die schon während der Kolonialzeit und teilweise sogar davor entstanden waren. Allerdings entstanden in dieser Zeit auch zwei neue Gemeinden, die zusammen ein ejido gründeten. Bezeichnenderweise gab sich eine dieser Gemeinden den Namen Pueblo Nuevo, das neue Dorf. 4.2.1.2 Der Kampf des Juan Correas um das ejido „Die Basis ist Contepec. Wir leben nur in der Erweiterung.“ (Candelaria, Feldnotiz Nr. 78, 14/5/97). Mit diesen Worten beendete die 89-jährige Informantin Candelaria ihre Beschreibung der Entstehung des ejidos Pueblo Nuevo. Die Rekonstruktion dieser Geschichte konnte durch sie erheblich ergänzt werden, doch vieles bleibt fragmentarisch, einiges widersprüchlich. Die Versionen, die ich von der Geschichte des Dorfes sammelte, waren vor allem vom Alter des jeweiligen Erzählers geprägt. Es ist nicht erstaunlich, daß die Informanten, die die Ereignisse selber als junge Frauen und Männer erlebten, diese präziser und konsistenter beschreiben können. Doch wie sich zeigen wird, ist das Alter eines Informanten nicht das einzige Kriterium. Da es bei der Darstellung der Geschichte nicht nur um das Memorieren von Jahreszahlen, sondern auch um Bewertung und Beurteilung bestimmter Ereignisse geht, spielen auch die Position und Herkunft, die ein Informant in dieser Geschichte hat, eine Rolle (vgl. Roß 1997). Juan Correa, zentrale Figur aller Ereignisse und Erzählungen, war ein Mann aus Contepec, der die Landsuchenden in das Tal von Solís führte. Contepec im Bundesstaat Michoacán ist nur knapp fünf Stunden Fußweg vom heutigen Pueblo Nuevo, im Bundesstaat México gelegen, entfernt. Getrennt werden die beiden Gemeinden und Bundesstaaten durch den Berg Altamirano, dem höchsten Berg (3150 m) des Tals von Solís. Die Situation der landlosen peones in Contepec war der der peones der Ex-Hazienda von Solís sehr ähnlich. Schon während und vor allem nach der mexikanischen Revolution begannen die peones in Contepec, eigenes Land zu fordern. Allerdings ist nicht ganz eindeutig, wer der Adressat dieser Forderungen war. Nach Candelaria gab es in Contepec keine Hazienda, wohl aber einen reichen Landbesitzer namens Miguel, den Correa enteignete, um ein ejido zu gründen. 17 Nachdem dieses Land verteilt worden war, hatten aber immer noch viele ehemalige 17 Feldnotiz Nr. 78, 14/5/1997 und Interview vom 12.6.1997. 70 DAS GEPLANTE KIND peones kein Land erhalten und deshalb faßte Correa den Entschluß, ins Tal von Solís zu gehen, um das Land der ehemaligen Hazienda von Solís zu erkämpfen. Candelaria datiert Correas ersten Aufbruch ins Tal von Solís Ende der zwanziger Jahre, spätestens Anfang der dreißiger Jahre. Als Correa ins Tal von Solís kam, war die Hazienda von Solís schon enteignet. Das muß ungefähr Ende der zwanziger Jahre geschehen sein, aber es fand sich keine Quelle, die das Ende der Hazienda genau datierte. Weder del Mazo, Chuayffet Chemor und López Gutiérrez (1988) machen dazu eine Aussage, noch kann Candelaria sich daran genau erinnern. Sie weiß nur, daß die ehemaligen Besitzer Spanier waren und die Hazienda sehr reich gewesen sein muß. Correa warb in Contepec Männer an und, nachdem das ejido erkämpft worden war, forderte er auch Familien auf, ins Tal zu kommen. Das Land, um das Correa und seine Männer kämpften, war nach Candelaria ehemaliger Besitz der enteigneten Hazienda von Solís. Die Gegner Correas waren folglich nicht mehr die ehemaligen Haziendabesitzer, sondern peones vor allem aus Solís, dem heutigen Nachbardorf Pueblo Nuevos, die ebenfalls Landansprüche stellten. Anders schildert die Familie Maya (Angela, Francisco und Irma) die Geschichte (vgl. Tabelle 4.2). Sie berichten, daß es eine Hazienda in Contepec gegeben hat und daß das Land, mit dem sich das ejido Pueblo Nuevo formierte, in Besitz dieser Hazienda, und nicht der Hazienda von Solís, befand. Allerdings stimmen sie mit Candelaria darin überein, daß Correa und seine Männer gegen peones aus Solís und nicht gegen die Hazienda Besitzer aus Contepec kämpften. Sie erklären dies damit, daß die peones aus Solís, die ja schon Land der Hazienda von Solís erhalten hatten, damit nicht zufrieden waren und noch mehr Land in Besitz nehmen wollten. Vieles spricht dafür, daß der Version Candelarias eher zuzustimmen ist. Einerseits ist Candelaria in ihrer gesamten Argumentation konsistenter. Im Gegensatz zur Familie Maya hat sie die Ereignisse selber als erwachsene Frau erlebt. Sie wurde in Contepec geboren und kam als eine der ersten Frauen in das neue ejido. Francisco und Angela kennen die Geschichte nur aufgrund der Berichte ihrer Mutter/Großmutter Irma. Diese kam aber nicht aus Contepec, sondern aus Puerto de Medina und wohnte zunächst auch nicht im neu gegründeten ejido Pueblo Nuevo, sondern im benachbarten San Vicente. Sie heiratete einen der Männer Correas, der allerdings früh verstarb. Die Familie Maya hat die Ereignisse nicht selber erlebt und es ist wahrscheinlich, daß sie Lücken in der Erzählung durch ‚erfundene Wahrheiten‘ auffüllt. Darüber hinaus gibt es Belege für die Version von Candelaria. Die Kanäle zur Bewässerung der Felder des ejidos stammen eindeutig aus dem KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 71 ehemaligen Besitz der Hazienda von Solís und es fragt sich, warum die Hazienda von Solís Felder bewässert haben sollte, die ihr gar nicht gehörten. Das Dorf Juanacatlán, das hinter Pueblo Nuevo und El Rodeo liegt, gehörte zur Hazienda von Solís. Um es zu erreichen, muß man durch Pueblo Nuevo und El Rodeo gehen und es ist wiederum unwahrscheinlich, daß der Hazienda von Solís das Land zwischen Solís und Juanacatlán nicht gehört haben sollte. Außerdem widerspricht das den Aussagen von del Mazo, Chuayffet Chemor und López Gutiérrez (1988: 48). Bei einem Besuch in Contepec stellte sich auch heraus, daß es keine Hazienda dort gab, wohl aber reiche Landbesitzer, wie es auch Candelaria geschildert hat. Während der mexikanischen Revolution verbrannte das Stadtarchiv von Contepec, so daß keine weiteren Nachforschungen möglich waren. Ein weiterer Punkt, der Candelarias Version glaubwürdig macht, besteht darin, daß auch die anderen älteren Informanten – abgesehen von Irma – angeben, daß das Land zur Hazienda von Solís gehörte (vgl. Punkt 1, letzte Spalte, Tabelle 4.2). 18 Einigkeit besteht über die Herkunft der Landsuchenden, die das ejido Pueblo Nuevo gründeten (Punkt 2, letzte Spalte, Tabelle 4.2). Alle Informanten geben an, daß die Männer und Familien Juan Correas aus Contepec waren. Irma differenziert diese Angabe, höchstwahrscheinlich über ihre eigene Situation reflektierend, indem sie noch erweitert, daß Correa vor allem Männer in das neue ejido brachte, die dann auch Frauen aus anderen Dörfern heirateten. 18 Bis auf die Aussagen Candelarias, mit der sowohl mehrere informelle Gespräche als auch ein Leitfadeninterview durchgeführt wurden, basieren alle anderen Informantenaussagen auf Feldnotizen, die nach den informellen Interviews geschrieben wurden. DAS GEPLANTE KIND 72 Name, Geburtsda- Beziehung zu tum u. Geburtsort Correa • Benita G.; 1962, Pueblo Nuevo Keine Quelle des Wissens Aussagen zur Entstehung des ejidos: 1. Ehemaliger Besitzer des ejido Landes 2. Herkunft der Landsuchenden 3. Datum der offiziellen ejido Gründung Schwieger- 1. vater Lazaro 2. H. 3. • Angela M.; 1969, Pueblo Nuevo Keine Großmutter 1. Irma A. 2. 3. • Francisco M.; 1946, Pueblo Nuevo • Chucha E.; 1940, Contepec, Mich. • Irma A.; 1928, Puerto de Medina, Estado de México Keine Mutter Irma A. 1. 2. 3. Kind im Dorf Eltern/ eige- 1. ne Erfah- 2. rungen 3. Versorgung der Männer des ejidos Eigene Erfahrung 1. 2. 3. • Lazaro H.; 1917 Contepec, Mich. Peón von Correa Eigene Erfahrung 1. 2. 3. • Reynalda M.; 1915, Contepec, Mich. Verheiratet mit peón v. Correa Eigene Erfahrung • Candelaria E.; 1908, Contepec, Mich. Verheiratet mit peón v. Correa Eigene Erfahrung 1. 2. 3. 1. 2. 3. Ejido ehemals Land der Ex-Hazienda Solís Landsuchende kamen alle aus Contepec Um 1940 gegründet Ejido Land der Ex-Hazienda Contepec Landsuchende waren ehemalige peones der Hazienda von Contepec In den zwanziger Jahren gegründet Ejido Land der Ex-Hazienda Contepec Landsuchende alle aus Contepec Anfang der dreißiger Jahre gegründet Keine Angabe zu den Haziendas Landsuchende alle aus Contepec 1937 gegründet Ejido Land der Ex-Hazienda Contepec Landsuchende Männer aus Contepec, heirateten aber auch Frauen aus anderen Dörfern Dreißiger Jahre gegründet Ejido Land der Ex-Hazienda Solís Landsuchende aus Contepec Anfang der dreißiger Jahre gegründet Keine Angabe zu den Haziendas Landsuchende aus Contepec Anfang der dreißiger Jahre gegründet Hazienda von Solís war schon enteignet, als Correa um das Land mit den Bauern aus Solís kämpfte; ejido erkämpfte Land der ehemaligen Ex-Hazienda Solís Landsuchende aus Contepec Ejido offiziell 1935 gegründet, seit Ende der zwanziger Jahre Kampf um das ejido Tabelle 4.2: Aussagen zur Entstehung des ejidos Ein offizielles Gründungsdatum des ejidos wird nur von Chucha (1937) und von Candelaria (1935) genannt (Punkt 3, letzte Spalte, Tabelle 4.2). Aber auch hier ist Candelaria eher zuzustimmen, denn Chucha wurde erst 1940 geboren und berichtet nur begrenzt aus eigenen Erfahrungen. Am stärksten weichen Angela und Benita von den Aussagen der anderen Informanten ab. Die älteren Informanten geben alle die dreißiger Jahre an, was sich mit den Angaben von del Mazo, Chuayffet Chemor und López Gutiérrez (1988: 48) deckt und auch in den allgemeinen mexikanischen Kontext paßt (vgl. 4.2.1.1), denn das ejido Pueblo Nuevo wurde mit hoher Wahr- KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 73 scheinlichkeit während der Amtszeit Cárdenas (1934-1940) gegründet. Hier läßt sich auch die Logik des kulturellen Konsensusmodells übertragen. Nach Romney, Weller und Batchelder (1986) stimmen diejenigen Informanten am meisten miteinander überein, die am kompetentesten sind. 19 Die älteren Informanten stimmen in ihren Aussagen weitgehend überein. Im Gegensatz dazu stimmen Benita, Angela und Francisco weder untereinander sonderlich überein, noch decken sich ihre Aussagen mit denen anderer Informanten (vgl. Tabelle 4.2). Diese drei Informanten können nur als begrenzt kulturell kompetent angesehen werden, eine Tatsache, die aufgrund ihres Alters nicht erstaunlich ist. Vor der offiziellen Gründung des ejidos 1935 kämpfte Correa zusammen mit seinen Männern um das Land gegen die peones von Solís. Diese Auseinandersetzungen, bei denen es auch zu Toten kam, gewann Correa. Es entstand ein ejido, welches zwei Gemeinden umfaßte. Bedenkt man, daß Soberon-Ferrer und Whittington (1993: 1249) angeben, daß eine Gemeinde für eine ejido Gründung mindestens 20 Haushalte haben mußte und Candelaria berichtet, daß Pueblo Nuevo bei Gründung des ejidos nur ungefähr 15 Haushalte hatte, ist es nicht erstaunlich, daß nur durch den Zusammenschluß von El Rodeo und Pueblo Nuevo ein ejido entstehen konnte. Die ersten Männer El Rodeos kamen ebenfalls aus Contepec und standen schon allein deshalb den Männern von Pueblo Nuevo nah. Pueblo Nuevo war aber immer – und ist es bis heute – die dominierende, da größere, Gemeinde. Das drückt sich im Namen des ejidos aus, welches weder El Rodeo noch Pueblo Nuevo/El Rodeo, sondern nur Pueblo Nuevo heißt. Die Beschreibung und Bewertung Juan Correas ist ebenso wie die Entstehung des ejidos widersprüchlich. Bestimmte Charakteristika Correas finden sich allerdings in fast allen Aussagen und lassen sich mit Candelarias Aussage zusammenfassen: Julia Pauli: „Mochten die Leute Juan Correa?“ Candelaria: „Wir haben ihm gehorcht. Er war fast wie unser Vater. Er gab uns zu essen.“ (Interview Candelaria, 12.6.1997) Ähnlich einem großzügigen Patron während der Zeit der Haziendas, der seine peones wie seine Kinder behandelte, wird Correa von den meisten Informanten geschildert. Einerseits wird betont, wie streng er war. Candelaria und andere Frauen schildern, daß sie von Correa in Contepec staatlich getraut wurden, da er der Mei19 „Under very general assumptions, informants who agree more with others tend to have more cultural knowledge than informants who agree less with others.” (Brewer, Romney und Batchelder 1991: 196). 74 DAS GEPLANTE KIND nung war, daß eine kirchliche Trauung nicht ausreichend sei. Correa kontrollierte jeden Morgen, ob alle Häuser geputzt waren. Er bestimmte, daß das neu gegründete ejido weiter Weizen anbaute. Erst nach Correas Tod wurde fast ausschließlichen Mais angebaut. Chucha erzählt, daß Correa es verbot, daß sich unverheiratete Paare alleine trafen. Wurde man erwischt, konnte man mit einer Strafe rechnen. Ebenfalls bestraft wurden Männer, die für Correas Begriffe nicht genug arbeiteten oder übermäßig tranken. Nach Candelaria ermordete Correa nie einen seiner eigenen Leute, aber bei Mißachtung seiner Regeln schlug Correa sie entweder selber oder beauftragte einen seiner Männer dazu. Correa hatte eine Gruppe von Männern, die seine Aufträge ausführten und das ejido bewachten, da Correa sehr lange befürchtete, daß die Männer aus Solís ihn erneut angreifen würden. Andererseits betonen fast alle Informanten, daß Correa nicht nur streng war, sondern auch großzügig. Er unterstützte Familien in Not, verschenkte Lebensmittel und half bei Familienstreitigkeiten. Diese Ambivalenz aus Großzügigkeit und Strenge sind auch Merkmale des prototypischen mexikanischen Vaters, der im folgenden Kapitel beschrieben wird. Generell wird bedauert, daß Correa ermordet wurde, da es nach Meinung der meisten Informanten Pueblo Nuevo heute besser ginge, wenn er noch länger gelebt hätte. Während Correas Lebzeiten soll es nie an Lebensmitteln und Waffen gefehlt haben, was damit erklärt wird, daß Correa gute soziale Beziehungen hatte. Hier deuten sich auch die Konflikte an, die noch heute zwischen Solís und Pueblo Nuevo bestehen. Solís, das eigentlich Anspruch auf das von den Leuten aus Contepec erkämpfte Land hatte, geht es heute wirtschaftlich erheblich besser als Pueblo Nuevo. Viele Bewohner Pueblo Nuevos betrachten die Entwicklung Solís mit Neid und sind der Überzeugung, daß mit Hilfe Correas Pueblo Nuevo Solís heute überlegen wäre. Der in Solís geborene Informant Lupe, der mit einer Frau aus Pueblo Nuevo verheiratet ist und auch dort lebt, beurteilt die Person Correas völlig anders als fast alle Informanten aus Pueblo Nuevo. Nach Lupe wären die Bewohner Pueblo Nuevos noch heute ‚die Sklaven Juan Correas‘, wenn dieser nicht ermordet worden wäre. Doch nicht nur Lupe beurteilt die Person Correas durchweg negativ. Mehrere Informanten hatten erzählt, daß Correa compadre (vgl. 4.2.2.6) des Präsidenten Lazaro Cárdenas war, da beide zusammen in der mexikanischen Revolution gekämpft hätten. Deshalb hätte Correa auch so gute Beziehungen gehabt. Cárdenas hätte ihn mit Waffen und Geld versorgt. Alberto, ein Informant aus Pueblo Nuevo, sagte hingegen, daß Juan Correa vor allem ein intelligenter Lügner war, der niemals compadre von Cárdenas war. Vielmehr hätte es einen General gleichen Namens wie Correa in Michoacán gegeben, der tatsächlich compadre Cárdenas war und KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 75 verstarb. Correa hätte die Identität dieses Mannes benutzt, um vor allem Land für sich zu erhalten. Er wäre nie so sehr am Wohl der Leute Pueblo Nuevos interessiert gewesen, sondern vor allem an seinem eigenen Wohl. Cárdenas hätte Correa nie getroffen, denn sonst wäre der Schwindel aufgeflogen. Welche der beiden Versionen näher an den historischen Tatsachen ist, ist schwer zu beurteilen. Die Beziehung Correas zu Cárdenas, sei es als eigentlicher Correa oder auch nur als angeblicher General Correa, ist ohnehin mit Skepsis zu betrachten, denn Correa hat den Kampf um das ejido sehr wahrscheinlich vor der Amtszeit Cárdenas (1934-1940) geführt. Eine mögliche Hypothese, warum Correas Beziehung zu Cárdenas so häufig erwähnt wird, könnte darin bestehen, daß durch diese Beziehung sowohl die Entstehung des ejidos als auch die Bedeutung Pueblo Nuevos stark aufgewertet werden. Pueblo Nuevo wird durch diese Version der Geschichte zu etwas Besonderem. Correa wird auch als ‚zu politisch‘ beschrieben und diese Eigenschaft ist nach Meinung mehrerer Informanten auch ein Grund, warum Correa ermordet wurde. Die Ermordung Correas ist mysteriös und trotz mehrerer Versuche war es nur unzureichend möglich, die Ereignisse zu rekonstruieren. Relative Einigkeit besteht darüber, wer Correa ermordet hat und wo dies geschah. Durch ein Photo Candelarias aus dem Jahr 1944, auf dem die Beerdigungsprozession für Correa zu sehen ist, kann davon ausgegangen werden, daß Correa in eben diesem Jahr ermordet wurde. Candelaria ist auch die einzige Informantin, die präzise Angaben zum Täter und Tathergang macht. Alle Informanten sind sich darüber einig, daß Correa von jemandem aus Contepec ermordet wurde. Candelaria gibt hier genauer an, daß es ein 18-jähriger Junge namens Emiliano war, der für den Mord bezahlt wurde, nach der Tat nach Mexiko-Stadt floh, bevor er dort selber ermordet wurde. Einige Informanten geben als Ort der Tat den Wald des Monte Altamirano an, durch den Correa auf dem Weg von Pueblo Nuevo nach Contepec ritt. Candelaria und Chucha sagen allerdings übereinstimmend, daß Correa schon am Eingang von Contepec war, als ihm von hinten eine Kugel in den Kopf geschossen wurde. Neben der Rekonstruktion des Tathergangs, die als relativ gesichert gelten kann, ist die Klärung der Frage, warum Correa eigentlich ermordet wurde und wer die Auftraggeber Emilianos waren, erheblich problematischer. Es ist auffällig, daß alle Befragten sich hier äußerst unklar ausgedrückt haben. Immer wieder wurde bei diesem Punkt, im Gegensatz zu allen anderen Punkten, gesagt, daß man es nicht mehr weiß, da es schon so lange her wäre. Es wurde darauf verwiesen, daß Correa sich eben zu sehr in die Politik eingemischt habe und deshalb viele Feinde in Contepec 76 DAS GEPLANTE KIND gehabt hätte, die ihn letztlich auch umgebracht hätten. Auf Nachfragen nach Feinden Correas in Pueblo Nuevo kam, wenn überhaupt, nur die Antwort, daß es die nicht gegeben hätte. Auch wenn die Version, daß Correa in Contepec von politischen Feinden ermordet wurde, prinzipiell nicht auszuschließen ist, so bleiben doch berechtigte Zweifel. Correa besaß auch Land in Contepec und hatte auch dort Landbesitzer enteignet. Doch muß dies mehr als 15 Jahre vor seiner Ermordung geschehen sein. Erheblich aktueller waren die Ereignisse, die sich im neuen ejido Pueblo Nuevos abspielten. Es ist zu bedenken, daß die Männer des Dorfes sofort nach Correas Ermordung begannen, nicht mehr Weizen anzubauen, von dessen Anbau vor allem Correa profitierte, sondern Mais, der ihnen selber mehr nützte. Außerdem wird Correa als extrem streng, manchmal fast wie ein ‚gütiger‘ Diktator, geschildert. Correa hatte einen Sohn, der bis zu Correas Ermordung in Pueblo Nuevo lebte. Nach Candelaria zog dieser Sohn nach der Ermordung Correas sofort von Pueblo Nuevo nach Contepec, da er um sein Leben fürchtete. Diese Mitteilung ist insofern erstaunlich, da Correa ja nach Angaben Candelarias von politischen Feinden aus Contepec ermordet wurde und der Sohn folglich Contepec viel mehr als Pueblo Nuevo hätte fürchten müssen. Insofern besteht zumindest die Möglichkeit, daß Correa nicht von dubiosen politischen Feinden aus Contepec ermordet wurde, sondern entweder von seinen eigenen Leuten aus Pueblo Nuevo oder unter Beteiligung seiner Leute. Da diese Version der Geschichte aber von keinem der Informanten auch nur im Ansatz bestätigt wurde, bleibt sie nur eine mögliche Version. Allerdings sprechen die Aussagen von Lupe und Alberto dafür, die Correa nicht als strengen, gütigen Vater, sondern als Despoten beschreiben. Warum die anderen Informanten diese Möglichkeit nicht einmal mehr in Betracht ziehen, ist ebenfalls ungeklärt. Ähnlich der als sehr wichtig und positiv geschilderten Beziehung Cárdenas zu Correa, die (fast) nicht in Frage gestellt wird, würde eine (Mit) Schuld der Bewohner Pueblo Nuevos am Mord Correas die heroische Geschichte der Entstehung des ejidos erheblich mindern. In der Version der Dorfbewohner wird Correa zu einer Art Märtyrer, der für das ejido gekämpft und gestorben ist. Diese Rolle wäre bei einer Beteiligung an dem Mord nicht mehr haltbar. Zu Beginn dieses Abschnitts wurde Candelaria zitiert, die sagte, daß Contepec die Basis ist und die heutigen Bewohner nur in der Erweiterung dieser Basis leben. Diese Wahrnehmung ist für die älteren Dorfbewohner charakteristisch. Noch Jahrzehnte nach der Gründung des ejidos und der Gemeinde Pueblo Nuevo fanden KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 77 wichtige Ereignisse nicht in Pueblo Nuevo oder Temascalcingo, sondern in Contepec statt. Bis in die siebziger Jahre bestatteten einige Bewohner Pueblo Nuevos noch ihre Toten in Contepec, heirateten in Contepec und tauften ihre Kinder in Contepec. Doch ist eine neue Generation herangewachsen, die Pueblo Nuevo als ihre Basis begreift und die Erweiterung dieser Basis in Mexiko-Stadt oder den USA sieht und findet. Contepec ist für diese jüngere Generation nur noch Geschichte, die sie erzählt bekommt. Diese Generation steht vor anderen Problemen als die Gründergeneration des ejidos, für die ihr Stück Land, welches sie sich erkämpft hatte, Lebensmittelpunkt war. Die jüngere Generation migriert heute in die USA und trinkt Coca Cola, die Frauen nehmen heute die Pille, bekommen ihre Kinder in Krankenhäusern und träumen von Schauspielern, die sie in telenovelas, mexikanischen Seifenopern, gesehen haben. 4.2.2 Pueblo Nuevo am Ende des 20. Jahrhunderts 4.2.2.1 Lebensbedingungen und Infrastruktur Die Modernisierung der Gemeinde, in Form von Elektrizität, fließendem Wasser, Schulbildung, Arbeitsmigration, Gesundheitsversorgung und auch fertilem Wandel, beginnt gegen Mitte/Ende der siebziger Jahre. Bis in die siebziger Jahre durchlebte Mexiko eine Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs, es wurde sogar vom milagro mexicano, dem mexikanischen Wunder, gesprochen. 20 Diese Entwicklung hatte auch positive Konsequenzen für bis dahin vernachlässigten Regionen wie das Tal von Solís. Beispielsweise begannen in den siebziger Jahren Gesundheits- und Familienplanungsprogramme, die sich vor allem an die ländliche Bevölkerung richteten (Alba und Potter 1986: 64). Ebenso wurde ab den siebziger Jahren verstärkt in das Bildungssystem dieser Regionen investiert (LeVine 1993: 62). Zunächst werden in diesem Abschnitt die Entwicklungen in den Bereichen Elektrizität, Wasserversorgung und Kommunikationsstruktur dargestellt. Im Anschluß daran werden die sich verändernden Besitzstrukturen und die Entwicklung des Schulsektors, mit der eine Verbesserung des Bildungsniveaus einherging, beschrieben. Beendet wird dieser Abschnitt mit der Darstellung der Entwicklung in der Gesundheitsversorgung. 20 Ein Überblick sowohl zur Phase des Wachstums als auch zu der Ende der siebziger Jahre beginnenden wirtschaftlichen Krise findet sich bei Krause (1996: 97-124) und bei Alba und Potter (1986). 78 DAS GEPLANTE KIND Seit 1975 gibt es in Pueblo Nuevo Elektrizität in allen Haushalten. Seit dem ist die Zahl an Haushalten, die einen Fernseher haben, stetig gestiegen. 1997 besaßen fast 80% aller Haushalte einen Fernseher. Der Fernseher spielt im Leben der meisten Familien eine große Rolle. Schon früh morgens sehen sich die Frauen die täglichen Fernsehserien, telenovelas, an. Seit einigen Jahren greifen die telenovelas auch aktuelle Themen auf. Die telenovela ‚Al Norte del Corazon‘ (‚Im Norden des Herzens‘), die 1997 in TV Azteca lief und das Schicksal illegaler Migranten in den USA darstellte, war im Dorf ein großer Erfolg und wurde täglich diskutiert. Es war auffällig, daß viele der Frauen die telenovela, die keine authentischen Ereignisse dokumentierte, als eine Art der Nachrichtensendung wahrnahmen, die ihnen Auskunft darüber gab, wie es ihren Männern in den USA ging. Allerdings ist diese telenovela eine Ausnahme. Die überwiegende Mehrzahl der telenovelas stellen sehr schematisierte Liebesgeschichten dar, in denen es fast immer darum geht, wie ein armes Mädchen einen reichen Mann findet und heiratet. Auch diese erfreuen sich großer Beliebtheit. Außerdem betreibt die mexikanische Regierung seit den siebziger Jahren Familienplanungspropaganda im Fernsehen. Auf meine Frage, warum sich die Frauen eine bestimmte Anzahl an Kindern wünschten, antworteten viele Frauen ‚La familia pequeña vive mejor‘ – die kleine Familie lebt besser – ein Spruch, der noch heute in den Propagandasendungen im Fernsehen und Radio zu hören ist und auch auf Postern diverser Familienplanungsorganisationen in Kliniken und öffentlichen Gebäuden steht. Immerhin 11% der Frauen gaben an, daß sie sich entweder ausschließlich oder partiell, neben einer anderen Informationsquelle, wie einem Arzt oder der Schule, über Verhütung in Sendungen des staatlichen Fernsehens informiert haben. Moderne Kommunikationsmedien, wie Presse, Fernsehen, Internet, Telefon und Radio, werden und können nur partiell im Dorf genutzt werden. Fernsehen und Radio sind weit verbreitet und die wichtigste, häufig einzige Informationsquelle. Nur ein Mann der Gemeinde las hingegen von Zeit zu Zeit eine Tageszeitung. Dieses Informationsmedium wird von dem Gros der Bevölkerung nicht rezipiert, teils aus finanziellen Gründen, teils, da ein großer Teil der Bevölkerung nur eine sehr begrenzte schulische Bildung hat. KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 79 Es gibt ein Telefon im Dorf, das in der CONASUPO (Compañía nacional de subsistencias populares) tienda (ein kleineres Geschäft) des Dorfes installiert ist. 21 Vor allen an den Samstagen ist in der tienda Hochbetrieb, da viele der Frauen Anrufe ihrer Ehemänner oder Söhne, die in den USA leben, entgegennehmen. Die weiteren sechs tiendas der Gemeinde, die von ihrer Ausstattung ähnlich sind, haben kein Telefon. Im wesentlichen werden in den tiendas Grundnahrungsmittel, wie Zucker, Öl, Brot und Reis, außerdem Süßigkeiten und Limonaden, Bier, Aspirin, Waschmittel und Windeln, verkauft. Einige Dorfbewohner ziehen es vor, das Telefon in Solís, ebenfalls in einer tienda installiert, zu benutzen, da sie dort ungestörter sind und ihre Gespräche nicht Gegenstand des kommenden Klatsches werden. Einen Internetanschluß hat meines Wissens niemand im gesamten municipio. Allerdings gibt es in Temascalcingo zwei Videotheken, die sowohl ein öffentliches Telefon als auch ein Faxgerät haben. Im wesentlichen ernähren sich die Dorfbewohner von ihren eigenen Produkten, hauptsächlich Mais, aus dem Maisfladen, tortillas, hergestellt werden und Bohnen. Die meisten der Familien züchten Truthähne und Hühner, die bei Festen und für Sonntagsessen im Familienkreis geschlachtet werden. Einige Familien besitzen darüber hinaus Kühe, deren Milch sie teilweise selber nutzen, teilweise verkaufen, sowie Ziegen und Schweine. Kakteen spielen ebenfalls eine Rolle. Die Blätter der nopales können als Gemüse zubereitet werden, die Früchte einer Kakteensorte, tunas, die sehr reich an Vitamin C sind und überall an den Wegrändern gepflückt werden können, werden vor allem von Kindern konsumiert. Einige Frauen haben kleine Gärten, in denen Kräuter und Chili wachsen. Aufgestockt wird diese Grundnahrung, je nach Einkommen, durch die Produkte der lokalen tiendas, vor allem Öl, Nudeln, Salz, Zucker und Süßigkeiten/Limonade für die Kinder. Generell läßt sich sagen, daß die Ernährung der meisten Dorfbewohner auf nur sehr wenige Produkte 21 CONASUPO ist eine seit den sechziger Jahren operierende staatliche Organisation. Eine ihrer wichtigsten Aufgaben besteht darin, die Ernten der Bauern zu garantierten Preisen abzukaufen (Alba und Potter 1986: 59, Biermann 1993: 94). In Temascalcingo gibt es eine große Niederlassung von CONASUPO, die nach Angabe der Bauern Pueblo Nuevos den Mais auch zu den besten Preisen im Tal abnimmt, besser als die Niederlassung in Pueblo Nuevo oder die diversen Zwischenhändler, die ins Tal kommen. Neben dieser Funktion unterhält CONASUPO auch kleine Geschäfte in ländlichen Gemeinden, die Grundnahrungsmittel zu günstigeren Preisen verkaufen sollen. Ein solches Geschäft ist auch die CONASUPO tienda in Pueblo Nuevo, die u.a. den Mais der Bauern aufkauft. Um diese tienda gibt es viele Konflikte, da nach Meinung mehrerer Bewohner die Produkte nicht billiger als in anderen tiendas des Dorfes sind. 80 DAS GEPLANTE KIND beschränkt ist. 22 Aus dem Kern des magueys, einer weiteren Kakteensorte, wird lokal ein alkoholisches Getränk, der pulque, gebraut, den vor allem Frauen von den Fenstern ihrer Häuser aus verkaufen. Pulque wird von Männern wie Frauen getrunken, wobei Männer eher in der Öffentlichkeit trinken. Generell gibt es Probleme mit dem Mißbrauch von Alkohol. Allein während meines Feldforschungsjahres starben zwei Dorfbewohner an Leberzirrhose. Bier wird relativ selten getrunken, da es erheblich teurer als pulque ist. Billiger Schnaps wird von Männern und Frauen fast nur auf Festen, wie einer Taufe oder einer Kommunion, getrunken. In der Regel wird der Schnaps mit Cola gemischt. Kleidung und Schuhe, aber auch Obst und Gemüse, werden in der Regel auf dem Wochenmarkt in Temascalcingo erworben, es sei denn, Verwandte bringen Kleidung und Schuhe aus Mexiko-Stadt oder Toluca mit, wo diese erheblich preisgünstiger zu erhalten sind. Um zum Wochenmarkt nach Temascalcingo zu kommen, kann man entweder mit einem Sammeltaxi fahren oder einen der dreimal täglich zwischen Pueblo Nuevo und Temascalcingo verkehrenden Busse benutzen. Das Taxi kostet 10 Pesos hin und zurück, der Bus nur 8 Pesos. 23 Die Straßen, die Pueblo Nuevo mit Solís, El Rodeo und San Vicente verbinden, sind nicht geteert. Gerade während der Regenzeit, die ungefähr von Mai bis Anfang September anhält, ist dies ein großes Problem und es gibt Tage, an denen Pueblo Nuevo weitgehend von der Außenwelt abgeschnitten ist. Von Pueblo Nuevo bis Solís sind es ungefähr 2 Km, von Solís dann nach Temascalcingo über eine geteerte Straße noch mal 9 weitere Kilometer. Ganz Mexiko ist durch ein gut funktionierendes Bussystem verbunden. Auch das Tal von Solís ist hierin integriert. Alle Gemeinden des Tals, nicht nur Pueblo Nuevo, haben mindestens dreimal täglich eine Busverbindung nach Temascalcingo. Von Temascalcingo aus fahren dann regelmäßig Busse nach Mexiko-Stadt (ungefähr 170 Km nordöstlich gelegen, 3 ½ Stunden Fahrzeit), Querétaro, der Hauptstadt des angrenzenden gleichnamigen Bundesstaates, (2 Stunden Fahrzeit) und Atlacomulco (1 Stunde Fahrzeit). Atlacomulco ist aus verschiedenen Gründen für die Bewohner des Tals wichtig und reizvoll. Obwohl die Stadt Atlacomulco mit 15.840 Einwohnern (INEGI 1996: 739) nicht bedeutend größer als Temascalcingo ist, hat 22 Dies wird auch von der Ernährungswissenschaftlerin Liliana Valencia bestätigt. Parallel zu meiner Feldforschung untersuchte sie die Ernährungssituation eines anderen Dorfes des Tals und fand heraus, daß sich die meisten Familien von nur 16 Produkten, Zucker, Chili und Salz eingeschlossen, ernähren (Liliana Valencia, persönliche Kommunikation, März 1997). 23 4,2 Nuevo Pesos Mexicanos entsprachen im Juli 1997 1 DM; 7,8 Nuevo Pesos Mexicanos 1 US$. KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 81 sie, anders als Temascalcingo, Supermärkte, Warenhäuser, US-amerikanische Restaurants und ein Kino. Die Produkte in den Supermärkten sind erheblich billiger als in den tiendas der Gemeinden oder den Geschäften in Temascalcingo. Außerdem hat Atlacomulco mehrere Krankenhäuser, an die Bewohner der Gemeinden, und bei schwierigen Fällen auch Bewohner aus Temascalcingo, verwiesen werden. Auch die Busverbindung nach Mexiko-Stadt wird ausgiebig genutzt, da viele Familien dort Verwandte haben oder auch dort arbeiten. 24 Neben dem regionalen Bussystem verkehren auch viele Sammeltaxis im Tal. Hauptsächlich verbinden sie die Gemeinden des Tals mit der Kleinstadt Temascalcingo. Vor allem an den Wochenenden sind sie sehr beschäftigt, da viele Einwohner der Gemeinden zum Wochenmarkt nach Temascalcingo fahren. Da die Gemeinden des Tals fast nur Mais und Bohnen anbauen, besteht eine Nachfrage nach Obst und Gemüse. Zwar kommen während der Woche fahrende Händler in die Gemeinden und auch nach Pueblo Nuevo, um Obst und Gemüse anzubieten, doch deren Preise sind häufig hoch. Außerdem stellt der Besuch des Wochenmarkts eine erwünschte Abwechslung zur täglichen Arbeit auf den Feldern bzw. im Haushalt dar. Meist fährt die gesamte Familie, wenn sie das nötige Geld hat, gemeinsam, erledigt die Einkäufe und flaniert dann über den Zocalo, den wichtigsten Platz Temascalcingos. Durch das Tal fließt der Río Lerma, der zu den am stärksten verschmutzten Flüssen Mexikos gehört. Den Gemeinden, vor allem Solís, die ihr Wasser zur Bewässerung der Felder direkt aus dem Río Lerma verwenden müssen, ist es verboten, etwas anderes als Mais anzubauen, da sonst die gesundheitliche Belastung zu groß wäre. Wie oben schon ausgeführt wurde, werden auch von den Bauern Pueblo Nuevos fast nur Mais und Bohnen, manchmal auch Hafer oder Weizen, aber kein Obst und Gemüse angebaut, obwohl sie ihre Felder nicht mit dem Wasser des Río Lermas, sondern mit dem Wasser des Sees von Juanacatlán bewässern. Eine andere wichtige Modernisierung der Gemeinde, neben dem Ausbau des Straßennetzes und der Elektrizitätsversorgung, war 1983 die Einführung von fließendem Wasser in allen Haushalten. Schon Correa hatte in den dreißiger Jahren Brunnen zur Wasserversorgung der Bevölkerung bauen lassen. Doch erst 1983 wurde das Brunnensystem mit Hilfe staatlicher Gelder so weit ausgebaut, daß alle Haushalte heute über fließendes Wasser verfügen und nicht mehr zum Brunnen gehen müssen. Ein Abwassersystem hat die Gemeinde nicht. Die Installierung eines 24 Die Eisenbahnverbindung, die die Ex-Hazienda Solís mit Mexiko-Stadt verband, existiert nicht mehr. 82 DAS GEPLANTE KIND solchen Systems wird im allgemeinen als Grundbedingung dafür angesehen, daß die Haushalte Steuern bezahlen. Bis heute zahlt niemand in Pueblo Nuevo Steuern. Da es kein Abwassersystem gibt, ist es auch nicht erstaunlich, daß nur relativ wenige Haushalte eine Toilette haben. 34% der Haushalte verfügen über eine Toilette, die durch Sickerschächte entsorgt wird. Der Besitz einer Toilette ist, neben anderen Konsumgütern, ein guter Indikator für den Wohlstand eines Haushalts, was im folgenden diskutiert wird. Besitzverhältnisse und Hausbau Familien, die eine Toilette besitzen, gehören meistens zur wirtschaftlichen Elite des Dorfes, wie es auch andere Daten zeigen. Es wurden detaillierte Informationen zu den Materialien, aus denen das Haus eines Haushalts besteht, erhoben. Es zeigt sich, daß sich die Häuser in drei Klassen unterteilen lassen. Einerseits gibt es Häuser, die nach der traditionellen Bauweise gebaut worden sind. Sie verwenden für die Wände adobe, Lehmziegel, die jeder selber herstellen kann, und für die Decke teja, Dachziegel, die im Dorf hergestellt werden. Dieses sind die billigsten Baumaterialien. Im Gegensatz zu den traditionellen Häusern, die es seit Gründung der Gemeinde gibt, werden seit den achtziger Jahren Häuser gebaut, die Materialien verwenden, die es nur außerhalb des Dorfes zu kaufen gibt und die verhältnismäßig teuer sind. Die modernen Häuser verwenden für die Wände verschiedene Arten von Ytong Steinen (blok, tabike oder tabikon, die drei Sorten unterscheiden sich im wesentlichen in ihrer Größe, wobei blok der größte und teuerste Stein ist). Die Decke wird entweder mit Zement gegossen oder es wird Asbest- und Wellblechpappe verwendet (lámina). Nur das Material des Bodens ist für fast alle Häuser gleich. In der Regel wird der Boden mit Zement ausgegossen (96,9% der Fälle). Die verbleibenden Fälle hatten entweder nur einen Erdboden (2,5%) oder einen PVC Boden (0,6%). 46% der Häuser lassen sich als traditionelle Häuser klassifizieren, deren Decken aus teja und deren Wände aus adobe bestehen. 27% der Häuser sind durchweg mit modernen, teuren Materialien gebaut worden. Die verbleibenden 27% der Hausbesitzer verwenden Mischformen zwischen traditioneller und moderner Bauweise. Beispielsweise waren die Wände des Hauses meiner Assistentin Angela aus adobe, die Decke aber aus lámina. Diese Häuser gehören meist Familien, die gerade erst begonnen haben, sich neue Einkommensquellen, vor allem durch Migration, zu erschließen. Noch können sie es sich nicht leisten, ihr gesamtes Haus aus relativ teuren Materialien zu bauen. KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 83 Die 27% moderner Häuser gehören fast ausschließlich der ‚modernen‘ wirtschaftlichen Elite der Gemeinde, die häufig aufgrund von Arbeitsmigration in die mexikanischen Metropolen und in die USA zu wirtschaftlichem Wohlstand gekommen ist. Dieser Trend einer wirtschaftlichen Stratifizierung zeigt sich auch, wenn weitere Konsumgüter in die Analyse einbezogen werden. Für jeden Haushalt ist einerseits bestimmt worden, aus welchen Materialien das Haus besteht. Andererseits ist anhand einer Liste festgehalten worden, welche Konsumgüter der Haushalt besitzt. 25 Diese Liste ist vor der Erhebung auf ihre kulturelle Angemessenheit hin getestet worden. Beispielsweise wäre es relativ sinnlos, nach dem Besitz eines Radios zu fragen, da so gut wie alle Haushalte ein Radio besitzen. Erfragt wurden fünf Besitzgüter – Fernseher, Auto, Gasherd, Kühlschrank und Toilette. Gasherd und Fernseher unterscheiden nicht zwischen wirtschaftlichen Klassen, sondern sind allgemein verbreitet (82% aller Haushalte haben einen Herd, 78% einen Fernseher). Im Gegensatz dazu sind Kühlschrank, Auto und Toilette seltenere Güter, die vor allem Familien mit modernen Häusern besitzen. Diese Familien haben im Vergleich mehr als doppelt so oft eine Toilette. 57% der Haushalte, die ein modernes Haus haben, haben auch eine Toilette, im Gegensatz zu nur 19% der Haushalte mit traditionellem Haus und 39% der Haushalte, die ein Haus der Mischbauweise besitzen (vgl. Tabelle 4.3). Noch deutlicher zeigt sich dieser Trend hinsichtlich des Besitzes eines Kühlschranks. 55% der Haushalte mit modernem Haus haben einen Kühlschrank im Gegensatz zu nur 12% der traditionellen Häuser und 23% der Häuser der Mischform. Der Trend bleibt auch hinsichtlich des Besitzes eines Autos erhalten, ist aber nicht mehr ganz so deutlich. 39% der Haushalte mit modernem Haus haben auch ein Auto, 15% der Haushalte mit traditioneller und 11% mit gemischter Bauweise besitzen ein Fahrzeug. Daß sich der Trend beim Auto nicht ganz so deutlich zeigt, könnte daran liegen, daß es neben der sich formierenden modernen wirtschaftlichen Elite auch noch eine traditionelle wirtschaftliche Elite gibt. Diese traditionelle Elite kennzeichnet sich vor allem durch ihren Landbesitz 25 Es war sehr schwierig, genaue Angaben zu Löhnen und Ausgaben eines Haushalts zu erheben. Hinzu kommt, daß die wirtschaftliche Stellung eines Haushalts, die für diese Arbeit wichtige Variable, besser durch den Besitz an Konsumgütern und der Art des Hauses, beides Ausdruck langfristiger Investitionen, zu messen ist, als etwa durch Einkommensklassen. Das Einkommen eines Haushalts ist in Pueblo Nuevo, ebenso wie sein Viehbesitz (vgl. 4.2.2.4), sehr schwankend, da alle Haushalte in komplexe Austauschnetzwerke eingebunden sind. Ähnlich verfährt auch Lomnitz (1977: 63-91) in ihrer Studie. Sie bezieht zwar auch Einkommensklassen in ihre Analyse mit ein, die wirtschaftliche Stellung eines Haushalts wird aber vor allem durch Hausbesitz, Besitz an Konsumgütern und Beruf der Haushaltsmitglieder gemessen. DAS GEPLANTE KIND 84 und besitzt häufig ein Auto, mit dem sie ihre Produkte besser verkaufen kann. 26 Sie verbraucht ihr Geld nicht für ein modernes Haus, sondern investiert in Düngemittel, bessere Maschinen und eben auch ein Auto. Tabelle 4.3 zeigt die prozentuale Verteilung dieser ausgewählten Konsumgüter für die drei Haustypen. Besitz (in %) eines: Fernseher Gasherd Toilette Kühlschrank Auto Wohnzimmer Separate Küche ∅ Personen pro Haushalt ∅ Anzahl Schlafzimmer ∅ Anzahl Zimmer (gesamt) 29 ∅ Anzahl Schlafzimmer pro Person ∅ Anzahl Zimmer (gesamt) pro Person Tradit. Haus N=75 Mischform N=44 Mod. Haus N=44 Gesamt N=163 27 76,0 77,3 18,7 12,0 14,7 5,3 89,3 77,3 75,0 38,6 22,7 11,4 13,6 93,2 81,8 95,5 56,8 54,5 38,6 50,0 95,5 77,9 81,6 34,4 26,4 20,2 19,6 92,0 5,32 (2,7) 28 6,09 (2,82) 5,23 (2,54) 5,51 (2,72) 1,63 (0,7) 2,14 (1,05) 2,02 (0,82) 1,87 (0,88) 2,57 (0,92) 3,20 (1,29) 3,48 (1,17) 2,99 (1,16) 0,31 0,35 0,39 0,34 0,48 0,52 0,67 0,57 Tabelle 4.3: Hausart und Konsumgüter Familien, die in einem Haus moderner Bauweise leben, besitzen deutlich mehr Konsumgüter als die anderen Familien. Familien, die in einem Haus leben, das aus modernen und traditionellen Materialien besteht, besitzen ebenfalls mehr Konsumgüter als Familien mit traditionellem Haus. Das wird vor allem bei den exklusiveren Besitzgütern, wie einer Toilette und einem Kühlschrank, deutlich. Nur hinsichtlich des Besitzes eines Autos stehen Familien mit traditionellem Haus besser da als 26 Ein Landwirt, der ein Auto besitzt, kann seine Produkte zu besseren Preisen an die CONASUPO tienda in Temascalcingo verkaufen und ist nicht auf die Zwischenhändler, die nach Pueblo Nuevo kommen und den Mais zu schlechteren Preisen abnehmen, angewiesen (vgl. Fußnote 21). Vieh- und Landbesitz werden weiter unten diskutiert. 27 Es gibt einige fehlende Werte, da die Angaben zum Hausbesitz und dem Besitz von Konsumgütern im zweiten Fragebogen erhoben worden sind (vgl. 3.2) 28 In Klammern steht die Standardabweichung. Wenn nicht anders erwähnt, sind alle Berechnungen in dieser Arbeit mit dem Statistikprogramm SPSS für Windows 7.5. durchgeführt worden. 29 Summe aller Schlafzimmer, Küche und Wohnzimmer. Badezimmer/Toiletten wurden nicht mitgezählt. KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 85 Familien mit Häusern der Mischform, was daran liegen kann, daß es eine traditionelle, wirtschaftliche Elite gibt, die bewußt in ein Auto investiert. Tendenziell sind Familien, die in modernen Häusern leben, kleiner und haben mehr Zimmer zur Verfügung, was vor allem daran liegt, daß die Hälfte aller modernen Häuser ein Wohnzimmer hat. 30 Wohnzimmer sind hingegen bei traditionellen Häusern äußerst selten (nur 5% besitzen ein Wohnzimmer) und bei Häusern der Mischform seltener (14%) als bei modernen Häusern (50%). Eine mögliche Erklärung für diesen deutlichen Unterschied könnte darin bestehen, daß der Besitz eines Wohnzimmers innerhalb des Dorfes auch eine stärkere Autonomie vor sozialer Kontrolle bedeutet, die bewußt von den Besitzern angestrebt wird. Bewohner von traditionellen Häusern halten sich während des Tages fast ausschließlich vor ihrem Haus im Freien auf. Jeder kann sehen, was der andere gerade macht und mit wem er redet. Besitzer von Wohnzimmern können sich sozial besser abgrenzen und stehen somit nicht so sehr unter sozialer Kontrolle. Die Idee und der Wert, sich der sozialen Kontrolle zu entziehen, dürfte verhältnismäßig neu sein und ist auch ein Produkt der zunehmenden Fokussierung auf die eigene Kernfamilie und nicht mehr auf die erweiterte Familie und das gesamte Dorf. 31 Während der Erhebung der Daten wurde dies auch deutlich: Frauen, die in traditionellen Häusern lebten, luden mich nicht in ihr Haus ein, sondern wir führten die Interviews vor dem Haus durch. Von Zeit zu Zeit kam eine Schwägerin, die Schwiegermutter oder eine Nachbarin vorbei, um zu sehen, was wir machten. Im Gegensatz dazu waren Frauen, die in modernen Häusern lebten, in der Regel den ganzen Tag in ihrem Haus mit ihren Kindern alleine, wodurch die Interviews natürlich auch ungestörter waren. Diese Frauen waren weniger in Klatsch eingebunden und beschäftigten sich mehr mit sich selber, der Verschönerung ihres Hauses und auch mit ihren Kindern, die z.B. sehr sorgfältig gekleidet und gewaschen in die Schule gingen. Mehrere Familien des Dorfes haben damit begonnen, hohe Mauern um ihr gesamtes Grundstück zu errichten, die es unmöglich machen, das Geschehen hinter den Mauern zu beobachten. Obwohl dazu keine Daten erhoben wurden, besteht aufgrund von Beobachtungen die berechtigte Vermutung, daß es sich bei den 30 Die durchschnittliche Anzahl an Personen pro Haushalt korrespondiert auch mit den Angaben, die INEGI macht. Nach INEGI lebten In Pueblo Nuevo im Jahr 1995 5,7 Personen in einem Haushalt (INEGI 1996: 881). 31 Die Möglichkeit, ein von sozialer Kontrolle unabhängigeres Leben zu führen, was sich u.a. im Hausbau ausdrückt, hängt auch von der Position im Lebenszyklus ab. Dies wird im folgenden Kapitel ausführlich diskutiert. 86 DAS GEPLANTE KIND ‚Mauerbauern‘ vor allem um Familien mit modernen Häusern handelt, sicherlich aber nicht um Familien mit traditionellen Häusern. Auch hier zeigt sich, daß die Hausbauweise nicht nur eine Frage der wirtschaftlichen Möglichkeiten ist. Sie ist ebenfalls Ausdruck veränderter Vorstellungen von sozialer Integration und Autonomie. Schulbildung Hinsichtlich der Schulbildung hat sich in Pueblo Nuevo innerhalb der letzten zwanzig Jahre viel geändert. Zwar gründete schon Juan Correa in den vierziger Jahren eine Grundschule, die jedoch nur eine Klasse umfaßte. Erst in den siebziger Jahren wurde die heutige primaria, eine Art Grundschule, die 6 Schuljahre umfaßt, erbaut und in den achtziger Jahren folgte eine weiterführende Schule, eine telesecundaria, die drei Schuljahre umfaßt. Ebenfalls in den achtziger Jahren wurde ein Kindergarten gebaut, in den die Kinder der Gemeinde gehen, die mindestens 4 Jahre alt sind. Tele-secundarias sind im Tal von Solís relativ weit verbreitet. Um die Personalkosten zu senken, überwachen nur zwei Lehrer den Unterricht. Der Unterrichtsstoff wird den Schülern durch Fernsehprogramme vermittelt. Eine Alternative zur telesecundaria in Pueblo Nuevo ist die reguläre secundaria in Solís. Der Besuch dieser Schule bedeutet aber entscheidende Mehrkosten für die Eltern, denn es muß die tägliche Busfahrt und eine Schuluniform bezahlt werden. Im Anschluß an die secundaria oder tele-secundaria kann ein Kind bei entsprechenden finanziellen Mitteln und intellektuellen Fähigkeiten die dreijährige preparatoria besuchen. Im Gebäude der ehemaligen Hazienda von Solís findet sich heute eine solche preparatoria mit technischem Schwerpunkt. Neben dieser Schule in Solís gibt es mehrere preparatorias in Temascalcingo. Mit dem qualifizierten Abschluß einer preparatoria kann ein Schüler eine Universität besuchen. Doch nur eine junge Frau der gesamten Gemeinde besucht zur Zeit in Toluca die staatliche Universität, an der sie administración studiert. 32 Vor ihr gab es nur einige Dorfbewohner, die an pädagogischen Hochschulen als Lehrer ausgebildet wurden. Nicht alle Eltern haben die finanziellen Möglichkeiten oder sind der Überzeugung, daß eine Schulbildung auch über einige Jahre primaria hinweg notwendig ist. Für das Schuljahr 1996/97 ist erhoben worden, wie viele Kinder tatsächlich zur Schule gegangen sind, und wie 32 Der Studiengang Administración umfaßt juristische, wirtschaftswissenschaftliche und verwaltungstechnische Themen. KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 87 viele Kinder aufgrund ihres Alters hätten zur Schule gehen können, dies aber nicht getan haben. Kindergarten (4-5 Jh.) Primaria (6-11 Jh.) Secundaria oder mehr (12-20 Jh.) Gesamt Anzahl Kinder Schulbesuch 96/97 Anzahl Kinder kein Schulbesuch 96/97 36 24 130 24 50 112 216 160 Gesamt 60 154 162 376 Tabelle 4.4: Anzahl tatsächlicher und potentieller Schüler für das Schuljahr 1996/97 Der Kindergarten wird von den Eltern nicht als sonderlich wichtig wahrgenommen, obwohl die finanzielle Belastung relativ gering ist, da die Eltern keine Uniform bezahlen müssen. Viele Eltern halten den Kindergartenbesuch deswegen für unwichtig, da noch nicht Lesen und Schreiben gelehrt wird, was als wichtigster Bestandteil der Schulbildung gilt. Aus diesem Grund erstaunt es nicht, daß die primaria von sehr vielen der Kinder, die im Schulalter sind, besucht wird (84% der Fälle). Nur einige wenige Familien können sich den Besuch der primaria nicht leisten. Beispielsweise war es für Alicia, einer 34 Jahre alten Mutter von acht Kindern, unmöglich, auch nur eines ihrer vier Kinder, die potentiell in die primaria hätten gehen müssen, im Schuljahr 1996/97 tatsächlich zur Schule zu schicken. Gleich zu Beginn meines Feldforschungsjahres wurde Alicia erneut schwanger und bekam im April 1997 ihr achtes und letztes Kind. Da sie sich sterilisieren ließ und mehrere Tage im Krankenhaus war, mußten sich die älteren Kinder um ihre jüngeren Geschwister kümmern. Alicia und ihr Mann hatten beschlossen, daß sie im Schuljahr 1996/97 keines ihrer Kinder zur Schule schicken konnten, aber sie wollten im folgenden Schuljahr zwei der Kinder wieder in die Schule gehen lassen. Die überwiegende Mehrheit der Familien kann ihre Kinder aber zumindest die primaria besuchen lassen. Die eigentliche Stratifizierung zeigt sich erst bei dem Besuch der weiterführenden Schulen. Nur 31% der Jugendlichen, die aufgrund ihres Alters eine secundaria oder preparatoria besuchen könnten, gehen tatsächlich noch zur Schule, davon 40% zur tele-secundaria nach Pueblo Nuevo, 42% zur secundaria nach Solís und 18% entweder zur preparatoria nach Solís oder nach Temascalcingo. Vor dem Hintergrund der verbreiteten Vorstellung, daß ein Junge mehr Schulbildung als ein Mädchen haben sollte (siehe unten), ist es ein erstaunliches Ergebnis, daß von den 50 Jugendlichen, die eine weiterführende Schule besuchen, 60% Mädchen sind. Es ist fraglich, ob es sich hierbei um einen generellen Trend handelt, denn es gab eine Familie mit 9 Kindern, die großen Wert auf Bil- DAS GEPLANTE KIND 88 dung legte, und alle ihre vier Mädchen entweder zur secundaria, zur preparatoria und eine sogar zur Universität schickte. Bedenkt man die kleinen Fallzahlen, so können solche ungewöhnlichen Fälle das Bild verzerren. Daß eine Investition in höhere Schulbildung keineswegs selbstverständlich und verbreitet ist, zeigen auch die Aussagen der befragten Schüler sowohl der primaria als auch der tele-secundaria. Befragt, wovor sie im Leben Angst haben, gaben sehr viele Schüler an, daß sie fürchten, ihre Eltern würden ihnen keine weitere Schulbildung finanzieren. Einer der Gründe, warum Eltern in die Bildung ihrer Kinder investieren, kann darin bestehen, daß diese Eltern selber schon ein höheres Bildungsniveau als der Durchschnitt der Bevölkerung haben. Die Entwicklung des Bildungsniveaus von der Zeit Juan Correas, in der Schulbildung noch sehr selten war, bis heute findet sich in Tabelle 4.5. Es gibt mehr weibliche (198) als männliche Fälle (138), da einerseits die Frauen zu ihren Männern befragt wurden und sieben Frauen keine Angaben zur Schulbildung ihres Mannes machen konnten, und andererseits mehrere Frauen unverheiratet waren. 33 Frauen (%) Geburtskohorte N Anal. 1908-27 1928-37 1938-47 1948-57 1958-67 1968-77 1978-82 7 11 16 28 38 67 31 71,4 72,7 25,0 21,4 28,6 27,3 75,0 71,4 47,4 34,3 16,1 3,6 34,2 28,4 32,3 Gesamt 198 11,6 41,9 21,7 Männer (%) N Anal. Pri. Inc. 3,6 18,4 37,3 51,6 5 9 12 21 43 45 3 60,0 66,7 25,0 14,3 40,0 33,3 50,0 66,7 34,9 35,6 33,3 24,8 138 10,9 41,3 Pri. Inc. Pri. Co. Sec. + Pri. Co. 25,0 4,7 39,5 26,7 23,9 Sec. + 14,3 27,9 37,7 66,7 23,9 Legende: Anal. = Analphabet/in; Pri. Inc. = primaria incompleta (primaria nicht beendet); Pri. Co. = primaria completa (primaria beendet); Sec. + = secundaria oder mehr Tabelle 4.5: Kohorten Frauen/Männer und Schulbildung Auch hier zeigt sich, daß der Wandel des Bildungsniveaus in den siebziger Jahren anzusiedeln ist. Frauen, die Ende der fünfziger und in den sechziger Jahren geboren wurden, haben alle zumindest die primaria für einige Jahre besucht. Seit dieser Kohorte gibt es keinen Mann und keine Frau mehr, der Analphabet, bzw. die Anal33 Insgesamt gibt es 145 Frauen, von denen Informationen zu ihren Ehemännern erhoben wurden. Die Ehemänner von verwitweten Frauen werden hier ausgeklammert. Die erste Kohorte muß mehr als 10 Jahre umfassen, da bei einer Einteilung in Zehnjahres-Kohorten die Fallzahlen zu klein wären. Die älteste noch lebende Frau wurde 1908 geboren, der älteste noch lebende Mann 1911. KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 89 phabetin ist. Das Bildungsniveau der Männer ist generell höher als das der Frauen, wobei allerdings die Entwicklung des Bildungsniveaus, von einer großen Mehrheit an Analphabeten hin zu einem generellen Besuch der primaria, eine für beide Geschlechter zu beobachtende Tendenz ist. Die letzte Kohorte verzerrt die Ergebnisse und überschätzt das Bildungsniveau der Frauen. Für diese Kohorte gibt es nur zu drei Männern Angaben. Das hohe Bildungsniveau der Frauen dieser Kohorte läßt sich damit erklären, daß es sich hierbei hauptsächlich um unverheiratete und noch im Dorf lebende Frauen handelt. Wie im vorangegangenen Kapitel beschrieben worden ist, konnten nur gut 50% der unverheirateten Frauen befragt werden. Die anderen Frauen konnten nicht befragt werden, da sie in Mexiko-Stadt arbeiteten. Die unverheirateten Frauen, die befragt worden sind, sind im Gegensatz zu den in Mexiko-Stadt arbeitenden Frauen zum großen Teil noch zur Schule gegangen. Durch dieses Erhebungsproblem finden sich in dieser Kohorte überproportional viele Frauen mit hohem Bildungsniveau. Ebenfalls seit den siebziger Jahren gibt es eine Gruppe von Männern und Frauen, die bis heute stetig anwächst, mit einem für Dorfverhältnisse relativ hohen Bildungsniveau. Diese Frauen und Männer haben die secundaria oder sogar die preparatoria abgeschlossen. Es wurden sowohl kognitive Daten zu den Vorstellungen, wieviel Bildung für einen Sohn respektive eine Tochter notwendig ist, als auch zum tatsächlichen Verhalten erhoben. Zunächst sollen die kognitiven Daten betrachtet und die Frage vertieft werden, inwiefern Frauen mit höherem Bildungsniveau auch ein höheres Bildungsniveau für ihre Kinder anstreben. Als höheres Bildungsniveau wird mindestens der Abschluß der secundaria festgelegt. DAS GEPLANTE KIND 90 Gewünschte Schulbildung für: Mädchen (%) Jungen (%) N Pri * Sec Prep Pri Sec Prep 198 28 17,7 7,1 41,4 28,6 40,9 64,3 12,6 7,1 38,4 14,3 49,0 78,6 Frauen mindestens secundaria Ehemann mindestens secundaria Mann + Frau mindestens secundaria 49 34 17 2,0 11,8 5,9 20,4 29,4 17,6 77,6 58,8 76,5 5,9 16,3 29,4 23,5 83,7 64,7 76,5 Frauen primaria oder weniger Ehemann primaria oder weniger Mann + Frau primaria oder weniger 149 108 100 22,8 23,1 25,0 48,3 49,1 50,0 28,9 27,8 25,0 16,8 16,7 18,0 45,6 49,1 51,0 62,4 34,2 31,0 Alle Frauen Unverheiratete Frauen Legende: Pri = primaria completa (primaria beendet); Sec = secundaria; Prep = preparatoria oder mehr Bildung Tabelle 4.6: Bildungsstand und gewünschte Schulbildung für Mädchen und Jungen Alle Frauen wünschten sich zumindest den Abschluß der primaria für ihre Kinder. Wie auch schon bei der tatsächlichen Schulbildung der Männer und Frauen Pueblo Nuevos (vgl. Tabelle 4.5), zeigt sich auch bei der gewünschten Schulbildung für ihre Kinder, daß generell ein höheres Bildungsniveau für Jungen angestrebt wird. Allerdings ist eindeutig zu erkennen, daß der Unterschied zwischen Mädchen und Jungen bei gebildeteren Frauen kleiner ist als bei Frauen, die die primaria abgeschlossen haben oder noch weniger Bildung haben. Unverheiratete Frauen erhoffen sich generell mehr Bildung für ihre Kinder als die Mehrheit der Frauen, was allerdings auch daran liegen kann, daß überproportional viele gut ausgebildete Frauen in dieser Gruppe sind. Besonders auffällig ist, daß eine höhere Bildung des Ehemannes nicht so starke Effekte auf das gewünschte Bildungsniveau der Frau hat wie eine höhere Bildung der Ehefrau selber oder beider Ehepartner. Zwar wollen immer noch mehr als die Hälfte der Frauen mit einem gebildeteren Ehemann, daß ihre Kinder die preparatoria oder mehr besuchen, im Gegensatz zu nur knapp 30% der ungebildeteren Frauen, doch diese Zahl liegt weit unter dem, was sich die Frauen mit hohem Bildungsniveau und Frauen aus Ehen, in denen beide Partner ein hohes Bildungsniveau haben, wünschen. Mehr als 75% der befragten Frauen dieser beiden Gruppen wünschten sich den Besuch der preparatoria oder sogar der Universität. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß gebildetere Frauen sich ein noch über ihrem eigenen Bildungsniveau liegendes Niveau für ihre Kinder wünschen. Auch Frauen und Paare mit niedrigerem Bildungsniveau sowie Frauen, deren Ehemänner ein niedriges Bildungsniveau haben, streben eine bessere Schulbildung für ihre KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 91 Kinder an. Diese Frauen wünschen aber in der überwiegenden Mehrheit nicht den Besuch einer preparatoria, sondern einer secundaria. Im Gegensatz zu den gebildeteren Frauen, für die nur eine abgeschlossene primaria nicht in Frage kommt, sind etwa 20% dieser Frauen der Meinung, daß dieses Niveau ausreichend ist. Nicht alle hier betrachteten Frauen hatten 1996/97 tatsächlich Kinder im schulpflichtigen Alter. Aus diesem Grund werden im folgenden nur noch Frauen betrachtet, die tatsächlich Kinder im Schulalter hatten, denn nur für diese Fälle ist ein Vergleich zwischen Wunsch und Realität möglich. Insgesamt handelt es sich um 92 Frauen. Gewünschte Schulbildung für: Mädchen (%) Frauen mit Kindern im Schulalter N Frauen mindestens secundaria Ehemann mindestens secundaria Mann und Frau mindestens secundaria Frauen primaria oder weniger Ehemann primaria oder weniger Mann und Frau primaria oder weniger Jungen (%) Pri * Sec Prep Pri Sec Prep 12 12 4 25,0 33,3 16,7 25,0 66,7 58,3 75,0 16,7 25,0 16,7 25,0 75,0 66,6 75,0 80 68 63 18,8 16,2 17,5 46,2 48,5 50,8 35,0 35,3 31,7 11,3 8,8 9,5 46,3 48,5 50,8 42,4 42,7 39,7 Legende: Pri = primaria completa (primaria beendet); Sec = secundaria; Prep = preparatoria oder mehr Bildung Tabelle 4.7: Bildungsstand und gewünschte Schulbildung für Mädchen und Jungen, Frauen mit Kindern im Schulalter Die Ergebnisse sind denen von Tabelle 4.6 ähnlich. Frauen mit niedrigerer Schulbildung, Frauen, wo beide Partner eine niedrigere Schulbildung haben sowie Frauen, deren Ehemänner eine niedrigere Schulbildung haben, wünschen sich erheblich weniger Schulbildung als gebildetere Frauen und Paare. Auch hier wird für Jungen mehr Bildung gewünscht als für Mädchen. Nur Frauen, die selber und deren Ehepartner ein höheres Bildungsniveau haben, stellen eine Ausnahme dar. Dies könnte aber an der sehr kleinen Fallzahl liegen. Wiederum ist der Effekt, den die Bildung des Ehemannes auf den Wunsch der Frau nach Schulbildung für die Kinder hat, geringer, als wenn die Frau selber oder beide Ehepartner eine bessere Schulbildung haben. 25% dieser Frauen sind sogar der Meinung, daß die primaria für Mädchen ausreichend ist, 16%, daß die primaria für Jungen ausreichend ist. Beide Werte liegen sogar noch über dem, was sich ungebildetere Frauen und Paare und Frauen mit ungebildeteren Ehemännern wünschen. DAS GEPLANTE KIND 92 Um nun zu vergleichen, inwieweit Frauen und Paare mit besserer Schulbildung, bzw. Frauen, deren Ehemänner eine bessere Schulbildung haben, auch tatsächlich ihren Wunsch in Form von konkreten Investitionen in die Schulbildung ihrer Kinder umsetzen, wird im folgenden betrachtet, wie vielen ihrer Kinder sie welche Form der Schulbildung ermöglichen. ∅ Alter/Kinder % Kinder in der Schule Frauen mit Kindern im Schulalter N % gesamt Pri. Davon: Sec. Prep. ∅ Alter ∅ Kinder Frauen mindestens secundaria Ehemann mindestens secundaria Mann + Frau mindest. secundaria 12 12 4 92,8 74,4 100 61,5 82,1 63,6 23,1 15,3 27,3 15,4 2,6 9,1 30,5 (5,9) 30,8 (6,4) 29,8 (4,9) 3,4 (1,9) 4,4 (2,9) 3,5 (1,3) Frauen primaria oder weniger Ehemann primaria oder weniger Mann + Frau primaria o. weniger 80 68 63 52,9 54,8 52,5 74,1 72,8 75,8 22,7 22,1 21,0 3,2 5,1 3,2 40,5 (10,6) 40,6 (10,3) 40,8 (10,2) 7,4 (3,6) 7,3 (3,5) 7,5 (3,4) Legende: Pri. = primaria; Sec. = secundaria; Prep. = preparatoria oder mehr Bildung Tabelle 4.8: Tatsächliche Investition in die Bildung der Kinder Frauen und Paare mit besserer Bildung investieren tatsächlich mehr in die Bildung ihrer Kinder, vor allem in eine höhere Bildung, die über das Niveau der primaria hinausgeht. Frauen, deren Ehemänner die secundaria oder mehr besucht haben, schicken immer noch mehr Kinder zur Schule als Frauen/Paare mit niedrigerem Bildungsniveau und Frauen, deren Männer ein niedrigeres Bildungsniveau haben, aber es wird, wie auch bei diesen drei Gruppen, weniger in eine höhere Schulbildung investiert. Besonders hervorzuheben ist allerdings der Einfluß, den die Schulbildung der Frau sowohl auf den Wunsch nach Schulbildung für ihre Kinder als auch auf die konkrete Umsetzung des Wunsches hat. Im Vergleich zu allen anderen Frauen besuchen mehr als dreimal so viele Kinder (15%) von Frauen mit höherem Bildungsniveau tatsächlich eine preparatoria. 34 Wunsch und Realität stehen folglich in einem Zusammenhang. Frauen, die ein höheres Bildungsniveau haben, wünschen sich mehr Schulbildung als Frauen mit niedrigerem Bildungsniveau und sie investieren auch mehr in die Schulbildung. 35 Allerdings muß bedacht werden, daß diese Angaben auch von der Position, die eine Frau in ihrem jeweiligen Lebenszyklus hat, beeinflußt werden. Frauen mit höherem 34 Die Angaben zu den Paaren, wo beide Ehepartner ein höheres Bildungsniveau haben, sind problematisch, da es sich nur um vier Fälle handelt. 35 Das kann unter Umständen auch daran liegen, daß diesen Frauen mehr finanzielle Mittel zur Verfügung stehen. KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 93 Bildungsniveau sind im Schnitt zehn Jahre jünger und haben nur die Hälfte an Kindern als Frauen mit niedrigem Bildungsniveau (vgl. Tabelle 4.8). Es ist nicht erstaunlich, daß die Frauen mit besserer Schulbildung, also einem secundaria Abschluß oder mehr, im Schnitt dreißig Jahre alt sind, denn das entspricht den Ergebnissen in Tabelle 4.5. Erst seit den siebziger Jahren besuchen Frauen überhaupt die secundaria und vor allem die Frauen der Kohorte 1968-1977 haben einerseits stark von diesen neuen Möglichkeiten Gebrauch gemacht und geben sie nun andererseits an ihre Kinder weiter. Wie auch schon bei der Analyse der Besitzverhältnisse, scheint sich auch hinsichtlich der Schulbildung eine neue Gruppe von Frauen und Männern zu bilden, die sich in entscheidenden Punkten von der älteren Generation unterscheidet. Es fragt sich, ob Frauen und Männer mit besserer Bildung auch eher in moderneren Häusern und Frauen und Männer mit niedrigerer Schulbildung eher in traditionellen Häusern leben. Mod. Haus N=44 Frauen % Analphabet Primaria incompleta Primaria completa Secundaria Preparatoria oder mehr 2,3 38,6 25,0 29,5 4,5 Männer % Mischform N=44 Frauen % 7,9 36,8 21,1 26,3 7,9 25,0 54,5 6,8 11,4 2,3 Männer % 18,4 44,7 18,4 13,2 5,2 Tradit. Haus N=75 Frauen % 14,7 49,3 28,0 6,7 1,3 Männer % 9,2 41,5 29,2 15,4 4,6 Tabelle 4.9: Besitzverhältnisse und Schulbildung Generell bestätigt sich, daß Frauen und Männer mit besserer Bildung auch eher in modernen Häusern leben. Über 50% der Männer und Frauen mit abgeschlossener primaria leben auch in modernen Häusern. Die Mehrheit der Dorfbewohner, die in traditionellen Häusern und Häusern der Mischform leben, haben hingegen die primaria nicht beendet oder eine noch geringere Bildung. Allerdings ist dieser Zusammenhang nicht besonders ausgeprägt, was sicherlich an intervenierenden Variablen, wie Migration und Beruf, liegt. Da die von Männer ausgeübten Berufe in einem engen Zusammenhang zur Landsituation und zunehmenden Migration stehen, werden sie hier noch nicht beschrieben (vgl. 4.2.2.2). Hinsichtlich der Berufstätigkeit von Frauen hat sich, trotz einer verbesserten Schulbildung, nur wenig verändert, wie in Tabelle 4.10 zu sehen ist: DAS GEPLANTE KIND 94 Berufe (%) Kohorte N HausVerSchülerin frau käuferin 1908-27 1928-37 1938-47 1948-57 1958-67 1968-77 1978-82 7 11 16 28 38 67 31 71,4 81,8 93,8 78,6 78,9 74,6 29,0 28,6 11,2 6,2 21,4 13,3 6,0 Gesamt 198 70,7 10,1 Hausmädchen Hilft Mutter Klinik 36 Putzfrau 1,5 32,3 2,6 4,4 6,5 2,6 9,0 25,8 2,6 3,0 3,2 3,2 5,6 3,0 7,6 2,0 0,5 Lehrerin 1,5 0,5 Tabelle 4.10: Beschäftigungen von Frauen 1997 in Pueblo Nuevo Die Tätigkeiten der Frauen erweitern sich mit der Kohorte der zwischen 1958 und 1967 geborenen Frauen. Diese Frauen waren 1997 zwischen 30 und 40 Jahre alt. Das Bildungsniveau dieser Frauen ist deutlich höher als das der Frauen der vorangegangenen Kohorten – keine dieser Frauen ist Analphabetin, mehr als ein Drittel der Frauen hat die primaria abgeschlossen und über 18% sind sogar zur secundaria und/oder preparatoria gegangen. Trotzdem ist die Erweiterung der von diesen Frauen, ebenso wie von den darauffolgenden Kohorten, ausgeübten Tätigkeiten begrenzt. Nur wenige dieser Frauen haben über die Möglichkeiten hinaus, die schon vorangegangen Generationen zur Verfügung standen, sich neue wirtschaftliche Einkommensquellen erschlossen, bzw. erschließen können. Eine Ausnahme ist die Arbeit von Frauen in den verschiedenen tiendas, kleineren Geschäften, des Dorfes (Spalte ‚Verkäuferin‘). 10% aller Frauen gehen einer solchen Tätigkeit nach. Die Arbeit in einer der tiendas kann ohne Probleme mit der Kinderbetreuung kombiniert werden. Insofern erstaunt es nicht, daß Frauen fast aller Kohorten dieser Tätigkeit nachgehen. Besitzer der tiendas können sowohl die Ehemänner, die Ehefrauen als auch das Paar sein. Neben der Arbeit in einer tienda sind in den vergangenen Jahren noch drei Tätigkeitsbereiche hinzu gekommen – die Arbeit für oder in der Gesundheitsklinik in Solís, die Arbeit als Lehrerin und die Arbeit als Putzfrau. Aber nur 3% aller Frauen, die 15 Jahre oder älter sind, üben einen dieser Berufe aus. Die Tätigkeit als Hausmädchen in Mexiko-Stadt wurde auch von Frauen älterer Kohorten vor dem Erhebungszeitpunkt ausgeübt, was aber durch Tabelle 4.10 nicht erfaßt wird, da die Daten nur zu einem Zeitpunkt erhoben wurden. 36 Sowohl Krankenschwestern (1 Fall) als auch promotoras der Gesundheitsklinik in Solís. KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 95 Weiterhin üben folglich nur sehr wenige Frauen Tätigkeiten außerhalb ihre Hauses aus. Mehr als zwei Drittel aller Frauen, mit Ausnahme der letzten Kohorte, in der allerdings ein großer Teil der Frauen unverheiratet ist, sind Hausfrauen. Allerdings gibt es neben den in Tabelle 4.10 abgebildeten Tätigkeiten für Frauen in Pueblo Nuevo auch noch die Möglichkeit, ihre Arbeit als Hausfrau mit einem Verkauf von vor allem alkoholischen Getränken (besonders Bier und pulque) von ihrem Haus aus zu kombinieren. Von 140 Hausfrauen gaben 28 Frauen (20%) an, daß sie neben ihrer Tätigkeit als Hausfrau auch noch Bier oder ähnliches von ihrem Haus aus verkaufen. Klammert man nun die Frauen der letzten Kohorte (19781982) aus, da diese das Bild verzerren, ergibt sich, daß 66% der Frauen ausschließlich im Haushalt tätig sind, 18% Haushalt und Verkauf vom Haus aus kombinieren und 16% einer Tätigkeit außerhalb des Hauses nachgehen. Die verbesserte Schulbildung von Frauen hat also keinen starken Effekt auf ihre Berufstätigkeit gehabt. Dies hängt allerdings vor allem auch damit zusammen, daß sich die Berufsmöglichkeiten für Frauen wie auch Männer in Pueblo Nuevo in den letzten Jahrzehnten nur wenig verbessert haben. Gesundheitsversorgung Seit 1973 gibt es ein regionales Gesundheitszentrum in Solís. Diese staatliche Einrichtung bietet eine medizinische Grundversorgung zu sehr niedrigen Preisen. Eine Routinebehandlung, etwa bei einer Magenverstimmung, kostet nur 4 Pesos, also knapp eine DM. Hauptsächlich werden in der Klinik Entbindungen vorgenommen, durchschnittlich sechs pro Monat, 37 und leichtere Erkrankungen, wie Durchfall und Atemwegserkrankungen, behandelt. Bis auf die zweimonatliche hormonelle Spritze sind alle anderen Verhütungsmittel in der Klinik kostenlos. Es muß nur die Spritze als solche bezahlt werden, die 2 Pesos kostet. Ausgegeben werden hormonelle Präparate, wie Pille und Spritzen, und mechanische Verhütungsmittel, wie die Spirale und Kondome. Sterilisationen können weder in Solís noch in der Gesundheitsklinik in Temascalcingo durchgeführt werden. Für diesen Eingriff und ebenso für schwierigere Geburten, schwere Erkrankungen und sonstige Operationen, müssen die Frauen und Männer in die Kliniken nach Atlacomulco überwiesen werden. Die Gesundheitsversorgung ist in Temascalcingo ein wenig besser als in Solís, da es neben der staatlichen Gesundheitsklinik auch mehrere private Ärzte gibt, die zum Teil auch in Pueblo Nuevo einen guten Ruf haben und die vor allem schwieri37 Information von Dr. Linares, Interview vom 1.6.1997. 96 DAS GEPLANTE KIND gere Geburten, z.B. Kaiserschnitte, durchführen können. Auch in Solís gibt es eine private Ärztin, deren medizinischen Kapazitäten allerdings limitierter sind als die der Gesundheitsklinik. Gerade bei Fragen der Verhütung wird sie aber trotzdem von Dorfbewohnerinnen aufgrund ihres Geschlechts bevorzugt. Das Problem bei allen Arztbesuchen besteht für die Bewohner Pueblo Nuevos darin, daß zwar die Behandlung, zumindest bei den staatlichen Stellen, sehr kostengünstig ist, die Medikamente, bis auf Verhütungsmittel, aber überall sehr teuer sind. In diesem Punkt gibt es so gut wie keinen Unterschied zwischen staatlichen und privaten Einrichtungen. In der Gesundheitsklinik in Solís gibt es auch eine Zahnärztin, deren Behandlung ebenfalls sehr kostengünstig ist. Doch sobald etwas behandelt werden muß, was über eine Diagnose und Reinigung der Zähne hinausgeht, wird es für die Dorfbewohner verhältnismäßig teuer. Aus diesem Grund zögern viele Dorfbewohner den Arztbesuch hinaus. Die Entstehung einer Gesundheitsklinik Anfang der siebziger Jahre hat die Gesundheitsversorgung für die Region und damit auch für Pueblo Nuevo entschieden verbessert. Vor der Etablierung der Kliniken in Solís und in Temascalcingo, ebenfalls in den siebziger Jahren, gab es für die Region keine unmittelbare medizinische Versorgung. Auch die privaten Ärzte kamen erst nach der Entstehung der beiden Gesundheitskliniken ins Tal. Die Dorfbewohner waren auf das Wissen von lokalen Heilern angewiesen und konsultierten bei Geburten lokale Hebammen. Im Gegensatz dazu begeben sich heute ungefähr 50% der Dorfbewohner Pueblo Nuevos bei Krankheiten in die Klinik in Solís. Bei dieser Prozentzahl gibt es keine Unterschiede zwischen den Kohorten. Frauen der jüngeren Kohorten (1958-67, 1968-77 und 1978-82) konsultieren neben der Klinik in Solís allerdings auch einen privaten Arzt in Temascalcingo oder in Solís, was u.U. damit zusammenhängt, daß Frauen dieser Kohorten mehr finanzielle Mittel zur Verfügung haben als Frauen der älteren Kohorten. Frauen der älteren Kohorten (vor 1928, 1928-37, 1938-47 und 1948-57) konsultieren neben der Klinik in Solís auch die Gesundheitsklinik in Temascalcingo. Beide Kliniken haben das gleiche niedrige Preisniveau, das weit unter dem privater Ärzte liegt. Befragt nach dem Vertrauen, welches die Frauen der Klinik in Solís entgegenbringen, finden sich ebenfalls keine Unterschiede zwischen den Kohorten. Generell geben zwischen 75 und 80% der Frauen einer jeden Kohorte an, daß sie Vertrauen in die medizinische Versorgung in Solís haben. Frauen, die angeben, daß sie kein Vertrauen in die Klinik haben, begründen ihr Mißtrauen in fast allen Fällen damit, KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 97 daß entweder sie selber oder eine ihnen nahe stehende Verwandte eine Fehl- oder Totgeburt in Solís gehabt hat. Auch hinsichtlich des Ortes einer Geburt und den damit verbundenen Risiken hat sich seit der Entstehung der Gesundheitskliniken viel für die Frauen Pueblo Nuevos geändert. Frauen der jüngeren Kohorten entbinden im Vergleich zu den Frauen der älteren Kohorten viel seltener zu Hause (vgl. Tabelle 4.11). Ort der Geburt (%) Kohorte N 1908-27 1928-37 1938-47 1948-57 1958-67 1968-77 1978-82 7 11 16 28 38 67 31 Hausgeburt 71,4 72,7 31,3 25,0 5,6 1,5 Hausgeburt Klinik Klinik Klinik Privater 38 Solís Temascalcingo Atlacomulco Arzt +andere 28,6 27,3 56,1 53,6 50,0 19,9 3,2 7,1 5,6 23,0 35,4 1,5 6,5 6,3 3,6 2,8 9,2 6,5 7,1 22,2 26,2 41,9 Anderer Ort 6,3 3,6 13,8 18,7 6,5 Tabelle 4.11: Kohorten und Ort der Geburt Einerseits hat der Prozentsatz an Frauen, die ausschließlich Hausgeburten oder Hausgeburten und Geburten in der Klinik in Solís respektive in der Klinik in Temascalcingo hatten, stark abgenommen. Andererseits ist der Prozentsatz an Frauen, die ausschließlich die Klinik in Solís oder private Ärzte konsultieren, stark angestiegen. Die Zunahme (bis auf die letzte Kohorte) der Geburten an einem Ort außerhalb des Tals (letzte Spalte) könnte in Zusammenhang mit der seit den siebziger Jahren beständig anwachsenden Migration stehen. Ein geringer Prozentsatz an Frauen hat ihre Kinder in der staatlichen Klinik in Atlacomulco geboren. Hierbei handelt es sich um zwei Gruppen von Frauen. Es gibt mehrere Ehefrauen von Lehrern, die aufgrund des Berufes ihres Mannes krankenversichert sind und Anspruch auf eine Behandlung in der medizinisch fortschrittlichsten Klinik in Atlacomulco haben. Neben diesen privilegierteren Frauen werden bei äußerst schwierigen Geburten auch andere Frauen an die Klinik in Atlacomulco überwiesen. Der Prozentsatz an Hausgeburten ist zwar in den letzten Jahrzehnten eindeutig zurückgegangen, trotzdem gibt es sie aber immer noch im Dorf. Dies liegt daran, daß eine der Krankenschwestern der Klinik in Solís, Anita, aus Pueblo Nuevo kommt und dort auch wohnt. Anita führt auch Hausgeburten in Pueblo Nuevo durch, was von der 38 Entbindungen zu Hause und in den Kliniken in Solís und/oder Temascalcingo. DAS GEPLANTE KIND 98 Klinikleitung in Solís aber nicht gerne gesehen wird, da es als medizinisch riskant gilt. 4.2.2.2 Demographische Charakteristika Das starke Bevölkerungswachstum Pueblo Nuevos wurde schon unter 4.1 beschrieben. In diesem Abschnitt sollen nun Daten zur Sexualproportion, zur Mortalität und zur Migration analysiert werden. Das reproduktive Verhalten wird in den Kapiteln 6 und 7 ausführlich behandelt. Sexualproportion bei Geburt und für die gesamte Bevölkerung Nach Newell (1988: 31) bestimmt sich die Sexualproportion einer Population aus drei Komponenten: der Sexualproportion bei Geburt, den Geschlechtsunterschieden hinsichtlich der Mortalität und den Geschlechtsunterschieden hinsichtlich des Migrationsverhaltens. Zunächst zur Sexualproportion bei Geburt: Von den insgesamt 1057 dokumentierten Geburten in Pueblo Nuevo waren 538 Geburten männliche Lebendgeburten, 509 weibliche Lebendgeburten und für 10 Lebendgeburten konnte sich die Mutter nicht mehr an das Geschlecht des Kindes erinnern. Die Sexualproportion bei Geburt entspricht der Anzahl männlicher Geburten pro 100 weiblicher Geburten (Newell 1988:27): Sexualproportion bei Geburt: Anzahl männlicher Geburten Anzahl weiblicher Geburten X 100 Nach Newell beträgt dieser Wert normalerweise um 105. Es werden folglich mehr Jungen als Mädchen geboren. Klammert man nun die Geburten ohne spezifische Geschlechtsangabe aus, kommt man für Pueblo Nuevo auf einen Wert von 105,7. 39 Dieser Wert kommt dem allgemeinen Standard sehr nahe. Neben der Sexualproportion bei Geburt kann auch eine Sexualproportion für die gesamte Bevölkerung (die de facto Population, vgl. Abbildung 4.4) berechnet wer39 Der Anteil an männlichen Geburten beträgt demnach 51,4%, an weiblichen Geburten 48,6%. Geht man davon aus, daß es sich bei der Sexualproportion bei Geburt um eine biologische Konstante handelt, dann ist es vertretbar, den Zufallsfehler der relativen Häufigkeit (vgl. Pfanzagl 1972: 145-8) zu berechnen. Der Zufallsfehler ist mit einer Wahrscheinlichkeit von 95% kleiner als 3,03%, der Anteil an männlichen, bzw. weiblichen Geburten liegt fast sicher (95%) zwischen 48,4% und 54,4% (für männliche Geburten) und 45,6% und 51,6% (für weibliche Geburten). KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 99 den (Newell 1988: 27). In Pueblo Nuevo lebten im Juni 1997 859 Personen in 165 Haushalten. Davon waren 437 Männer und 422 Frauen. Dies entspricht einem Wert von 103,6. Allerdings differenziert sich dieser Wert, wenn man einzelne Altersklassen betrachtet. Auch schon die Alterspyramide (vgl. Abbildung 4.4) hat gezeigt, daß in bestimmten Altersklassen ein Geschlecht stärker als das andere vertreten ist. Altersklassen 0-9 Jahre 10-19 Jahre 20-29 Jahre 30-39 Jahre 40-49 Jahre 50-59 Jahre 60 Jahre und älter Gesamt Anzahl Männer 147 112 63 45 34 18 18 437 % Männer 54,0 48,7 47.4 52,9 53,1 50,0 46,2 50,9 Anzahl Frauen 125 118 70 40 30 18 21 422 % Frauen 46,0 51,3 52,6 47,1 46,9 50,0 53,8 49,1 Sexualproportion 117,6 94,9 90,0 112,5 113,3 100,0 85,7 103,6 Tabelle 4.12: Sexualproportion Pueblo Nuevo Juni 1997 Vor allem die niedrigen Fallzahlen scheinen die Ergebnisse zu beeinflussen. 40 Es fällt auf, daß bei Kindern unter 10 Jahren der Anteil an Jungen höher als der Anteil an Mädchen ist. Ob der höhere Anteil an Jungen Ausdruck unterschiedlicher Ernährung und Gesundheitsvorsorge ist, kann nicht bestätigt werden. Eine bevorzugte Behandlung von Jungen gegenüber Mädchen hinsichtlich dieser beiden Faktoren ist während der Forschung nicht beobachtet worden. Daß die Sexualproportion bei den Altersklassen zwischen 10 bis 29 Jahren mehr Frauen als Männer aufweist, mag an der verstärkten Migration der Männer diesen Alters liegen. Hingegen weisen die folgenden Altersklassen mehr Männer als Frauen auf. Nach Newell (1988: 30) werden zwar, wie gesagt, generell mehr Jungen geboren, doch da Männer in vielen Teilen der Welt eine niedrigere Lebenserwartung als Frauen haben, gleicht sich die Sexualproportion an und der Anteil an Frauen kann in höheren Altersklassen überwiegen. Diese Entwicklung ist für Pueblo Nuevo in Ansätzen erkennbar, kann aber aufgrund der niedrigen Fallzahlen nur unter Vorbehalt gemacht werden. Allerdings stimmt der größerer Anteil an Frauen in der höchsten Altersklasse mit ethnographischen Beobachtungen und Gesprächen überein. Immer wieder ist von Informanten betont worden, daß die Männer im Dorf früher als die Frauen sterben, da sie so vie40 Da es sich nicht um eine zufällig ausgewählte Stichprobe sondern um eine Gesamterhebung handelt, kann der durch die niedrigen Fallzahlen verursachte Zufallsfehler mit den gängigen statistischen Verfahren nicht bestimmt werden. 100 DAS GEPLANTE KIND le Unfälle hätten. Dies wurde mit verschiedenen Geschichten dokumentiert, wie z.B. dem Tod eines Mannes, der während der Feldarbeit vom Blitz erschlagen wurde, oder mehreren Geschichten zu Reit- und Maschinenunfällen. 41 Im Gegensatz zu Schulzes (1996) Analyse der Mortalität der Wampar, für die Fischer über einen Zeitraum von 17 Jahren Mortalitätsdaten gesammelt hat, liegen solchen Daten für Pueblo Nuevo nicht vor. Insofern ist es auch nicht möglich, eine Sterbetafel zu entwickeln (Schulze 1996: 108). 42 Es kann also in dieser Arbeit nichts über die quantitativ faßbare Mortalität der Gesamtpopulation ausgesagt werden. Doch da von allen potentiellen Müttern Pueblo Nuevos ihre vollständigen Geburtengeschichten einschließlich Fehl- und Totgeburten sowie Daten zu allen ihren verstorbenen Kinder erhoben worden sind, können im folgenden zumindest einige Aussagen zur Kindersterblichkeit gemacht werden. Kindersterblichkeit Für 255 Frauen konnten vollständige Geburtengeschichten erhoben werden. Alle Frauen können in die folgenden Analysen miteinbezogen werden. Fokus dieses Abschnitts wird nur die Kindersterblichkeit unter fünf Jahren und unter einem Jahr sein. Sowohl die Anzahl an Kindern, die vor der Vollendung ihres ersten Lebensjahres als auch die Anzahl an Kindern, die vor der Vollendung ihres fünften Lebensjahres sterben, geben Auskunft über den Entwicklungsstand eines Landes (Cubitt 1995: 9). Zunächst wird betrachtet, in welchem Alter die Kinder, die vor Vollendung ihres fünften Lebensjahres starben, gestorben sind. 41 Der Tod durch Blitzschlag stellt eine ernsthafte Gefahr im Tal dar, da auf den Feldern keine Bäume wachsen. Während der Regenzeit von Mai bis August gibt es täglich schwere Gewitter. Alleine während des Feldforschungsjahres wurden drei Bauern aus Nachbardörfern und ein Kind vom Blitz erschlagen. Durch Unfälle und Mord sterben in ganz Mexiko generell mehr Männer als Frauen (vgl. Krause 1996: 145-6). 42 Es wurde allerdings für alle in Pueblo Nuevo lebenden Personen festgehalten, ob Vater und Mutter noch leben. H. Lang hat darauf hingewiesen, daß mit diesen Daten ebenfalls Aussagen zur Mortalität gemacht werden können (H. Lang, persönliche Kommunikation, Juli 1997). KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS Alter bei Tod Absolute Häufigkeiten Unter einem Jahr 1 Jahr 2 Jahre 3 Jahre 4 Jahre Gesamt 101 % 82 16 11 3 6 69,5 13,6 9,3 2,5 5,1 118 100 Tabelle 4.13: Alter bei Tod der verstorbenen Kinder unter fünf Jahren Von den 1057 dokumentierten Geburten sind 118 Kinder vor der Vollendung ihres fünften Lebensjahres verstorben. Dies entspricht einem prozentualen Anteil von 11%. Es ist eindeutig zu erkennen, daß die meisten Kinder (fast 70%) vor der Vollendung ihres ersten Lebensjahres gestorben sind. Dieser hohe Anteil an verstorbenen Kindern unter einem Jahr zeigt sich auch auf dem Friedhof Pueblo Nuevos. Kinder, die vor ihrem Tod nicht getauft wurden, werden auf dem Friedhof gesondert bestattet. Der Anteil an diesen Kindern, angelitos, ‚Engelchen‘, was ausdrückt, daß diese Kinder noch im Stadium der Unschuld und ohne Sünde, oder, wie eine Informantin es beschreibt, „Ohne von etwas zu wissen“ 43, gestorben sind, ist auf dem Friedhof ungefähr genauso groß wie der Anteil aller anderen Verstorbenen. Die Gräber der angelitos sind leicht zu erkennen, da sie einerseits einen eigenen Platz auf dem Friedhof haben und andererseits ihre Gräber nur mit weißen Blumen, als Ausdruck ihrer Unschuld, geschmückt sind. Fast alle Kinder, die vor ihrem ersten Geburtstag verstarben, waren noch nicht getauft. Die meisten dieser Kinder verstarben wohl auch weit vor ihrem ersten Geburtstag, höchstwahrscheinlich in den ersten Wochen nach ihrer Geburt, wie die Berichte der Mütter von verstorbenen Säuglingen andeuten. Hauptursachen dieser hohen Kindersterblichkeit unter einem Jahr sind vor allem Fehl- und Unterernährung (besonders bedingt durch Armut) sowie eine unzureichende Gesundheitsversorgung (Cubitt 1996: 93-96, Krause 1996: 138-141). In Pueblo Nuevo ist es üblich, den ersten und den dritten Geburtstag eines Kindes zu feiern. Für diese beiden Ereignisse wird eine Messe gelesen, es werden compadres ausgesucht (vgl. 4.2.2.6) und es gibt ein Festessen. Daß gerade diese beiden Geburtstage öffentlich gefeiert werden, wird durch Tabelle 4.13 verständlich, denn fast 70% der verstorbenen Kinder sind vor der Vollendung ihres ersten Lebensjahres und 92% der verstorbenen Kinder sind vor der Vollendung ihres dritten Lebensjahres gestorben. Der Tod von Kindern, die fünf Jahre oder älter waren, wird in 43 Angela M., Feldnotiz Nr. 72, 15/4/1997. 102 DAS GEPLANTE KIND Tabelle 4.13 nicht gezeigt, doch sind die absoluten Zahlen sehr niedrig. Es verstarben nur 2 Kinder in Alter zwischen sechs und zehn Jahren und sechs Kinder im Alter zwischen elf und zwanzig Jahren. Am meisten gefährdet sind also eindeutig Säuglinge unter einem Jahr. Diese Zahlen sagen jedoch noch nichts darüber aus, ob und inwiefern sich die Situation über die Zeit hinweg entwickelt hat. Es ist anzunehmen, daß sie sich verbessert hat, wenn man bedenkt, daß es seit ungefähr Mitte der siebziger Jahre eine verbesserte Gesundheitsversorgung im Tal gibt. Der Anteil an Müttern, die ihre Kinder in Krankenhäusern und unter Aufsicht eines Arztes gebären, ist stark angestiegen. Eine Geburt im Krankenhaus oder unter Aufsicht eines Arztes ist ohne Zweifel weniger riskant für die Gesundheit der Mutter und die des Kindes als eine Hausgeburt. Insofern ist anzunehmen, daß in der Zeit vor den siebziger und achtziger Jahren mehr Kinder unter einem Jahr verstarben als in den Jahren danach und daß vor allem die älteren Frauen des Dorfes Kinder unter fünf Jahren und einem Jahr verloren haben. Begonnen wird mit einer Analyse des Verhältnisses von verstorbenen Kindern unter einem Jahr zu der Anzahl aller lebend geborenen Kinder hinsichtlich bestimmter Zeitpunkte. Ein gängiges Maß dieses Verhältnisses ist die Säuglingssterbeziffer (SSZ). Diese wird folgendermaßen berechnet (vgl. Newell 1988: 63): Säuglingssterbeziffer (SSZ): Anzahl toter Kinder < 1 eines Jahres Anzahl Lebendgeburten eines Jahres X 1000 Für die hier verwendeten Daten muß die Berechnung modifiziert werden, um den kleinen Fallzahlen gerecht zu werden. Die SSZ wird nicht für ein Jahr berechnet, da hierfür zu wenige Fälle vorliegen, sondern für fünf Zeitperioden von zehn Jahren, wobei die erste Zeitperiode 1947 beginnt, die letzte Zeitperiode 1996 endet. Weiterhin wird nicht mit 1000, sondern nur mit 100 multipliziert, also berechnet, wie viele Kinder unter einem Jahr pro 100 lebend geborene Kinder (und nicht pro 1000 lebend geborene Kinder) verstarben. Neben der SSZ wird hier auch die Kindersterbeziffer (KSZ) berechnet (vgl. Cubitt 1995: 9), die das Verhältnis von verstorbenen Kindern unter fünf Jahren zu der Anzahl aller bis mindestens zum fünften Lebensjahr überlebender Kinder angibt (die Berechnung entspricht der SSZ). Die hierfür verwendeten Daten finden sich in Tabelle 4.14, die visuelle Darstellung der Entwicklung in Abbildung 4.5. Es werden nur 1023 Lebendgeburten einbezogen, da 34 Kinder (von 1057 Geburten insgesamt) vor 1947 geboren wurden, die erste hier betrachtete Zeitperiode aber erst 1947 beginnt. Durch diese zeitliche Zä- KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 103 sur reduziert sich auch die Anzahl an verstorbenen Kindern (von 118 auf 102 verstorbene Kinder unter fünf Jahren). In welcher Dekade starben die Kinder? Lebendgeburten Anzahl Verstorben unter 1 Jahr Verstorben unter 5 Jahren Anzahl SSZ Anzahl KSZ 11,0 9,9 9,8 9,2 4,1 18 17 23 30 14 24,7 12,9 11,9 10,9 4,5 1947-56 1957-66 1967-76 1977-86 1987-96 73 131 193 273 314 8 13 19 25 13 Gesamt 1023 80 102 Tabelle 4.14: Säuglings- und Kindersterbeziffern 1947-1996 30 < 1Jahr 25 < 5Jahre Sterbeziffern 20 15 10 5 0 1947-56 1957-66 1967-76 1977-86 1987-96 Zeit Abbildung 4.5: Säuglings- und Kindersterblichkeit 1947-1996 Noch stärker als die Säuglingssterblichkeit ist die Kindersterblichkeit zurückgegangen, von 25 verstorbenen Kindern pro 100 lebende Kinder in der Periode von 1947-1956 auf 5 verstorbene Kinder pro 100 lebende Kinder in der Periode von 1987 bis 1996. Die Kindersterblichkeit begann auch zeitlich eher zurückzugehen als die Säuglingssterblichkeit. Diese war bis Ende der sechziger Jahre auf gleich- 104 DAS GEPLANTE KIND bleibend hohem Niveau und begann erst in den siebziger Jahren leicht und seit Mitte der achtziger Jahre stark zu sinken. Innerhalb einer Dekade, von 1986 bis 1996, reduzierte sich sowohl die Sterblichkeit unter einem Jahr als auch unter fünf Jahren um mehr als die Hälfte, von neun verstorbenen Kinder unter einem Jahr pro 100 lebende Kinder auf 4 Kinder unter einem Jahr und von 11 verstorbenen Kindern unter fünf Jahren pro 100 lebende Kinder auf 5 verstorbene Kinder. Die verbesserte Gesundheitssituation (vgl. 4.2.2.1) hat sich also verstärkt erst seit Mitte der achtziger Jahre und nicht bereits seit Mitte der siebziger Jahre bemerkbar gemacht. Die Analyse des Ortes der Geburt (vgl. Tabelle 4.11) hat gezeigt, daß zwar der Anteil an Hausgeburten stark zurückgegangen ist, es aber immer noch viele Frauen gibt, die in den siebziger und achtziger Jahren im reproduktiven Alter gewesen sind und weiterhin Hausgeburten gehabt haben. 50% der Frauen der Kohorte 1958-67 gaben an, daß sie mindestens eine Hausgeburt neben Geburten in der Klinik in Solís und der Klinik in Temascalcingo gehabt haben. Für die davor liegenden Kohorten ist der Anteil noch höher. Insofern ist zu vermuten, daß eine Kohortenbetrachtung die bisherigen Aussagen differenzieren wird. Es gab sehr wohl schon (jüngere) Frauen, die auch gegen Ende der siebziger Jahre und Anfang der achtziger Jahre von der verbesserten Gesundheitssituation profitierten, doch viele der zu dem Zeitpunkt älteren Frauen, deren Anteil an reproduktiven Frauen zu diesem Zeitpunkt noch groß war, nutzen nur begrenzt die neuen Möglichkeiten. Betrachtet man die Geburtengeschichten der älteren Frauen so zeigt sich, daß diese während ihrer gesamten Geburtengeschichte, also auch gegen Ende ihrer reproduktiven Phase, als es schon eine bessere Gesundheitsversorgung gab, Kinder unter einem und unter fünf Jahren verloren haben und nicht nur gegen Anfang ihrer Geburtengeschichte, als die medizinische Versorgung noch sehr schlecht war. Bezieht man auch die Ergebnisse hinsichtlich der Lebensbedingungen mit ein, die gezeigt haben, daß die älteren Kohorten sowohl weniger materiellen Besitz als auch weniger Schulbildung haben, ist davon auszugehen, daß viele der Frauen der älteren Kohorten einerseits weder die finanziellen Möglichkeiten hatten, die neuen medizinischen Möglichkeiten zu nutzen, noch das Wissen, wie bei bestimmten Kinderkrankheiten am besten und sichersten vorzugehen ist. Insofern ist zu vermuten, daß vor allem Frauen der älteren Kohorten Kinder unter fünf Jahren verloren haben. KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS Anzahl Frauen mit mindestens einem verstorbenen Kind <5 105 Anzahl verstor- % aller verstorAnzahl Fehlbener Kinder < bener Kinder < und Totgeburten 5 5 Kohorte N 1908-27 1928-37 1938-47 1948-57 1958-67 1968-77 1978-82 9 12 20 33 49 79 53 7 10 11 11 9 4 1 77,8% 83,3% 55,0% 33,3% 18,4% 5,1% 1,9% 23 35 20 20 15 4 1 19,5 29,7 16,9 16,9 12,7 3,4 0,9 6 6 13 15 7 3 Gesamt 255 53 20,8% 118 100 50 Tabelle 4.15: Kohorten, verstorbene Kinder < 5 Jahren und Tod/Fehlgeburten Ungefähr 80% der Frauen der beiden älteren Kohorten haben mindestens ein Kind unter fünf Jahren verloren (vgl. Tabelle 4.15). In diesen Kohorten haben nicht nur fast alle Frauen den Verlust eines ihrer Kinder unter fünf Jahren ertragen müssen, sondern sie haben im Schnitt pro Frau 3 Kinder unter fünf Jahren verloren. Auch ist der Anteil an Tod- und Fehlgeburten in dieser Kohorte sehr hoch. In der darauffolgenden Kohorte verloren ‚nur‘ noch gut 50% der Frauen ein oder mehrere ihrer Kinder unter fünf Jahren und in der sich daran anschließenden Kohorte sind es noch 33% der Frauen, die mindestens eines ihrer Kinder unter fünf Jahren verloren haben. Eindeutig ist zu erkennen, daß die Anzahl an verstorbenen Kindern unter fünf Jahren stetig zurückgeht. Der sehr niedrige Wert für die beiden letzten Kohorten ist allerdings problematisch, da viele der Frauen Kinder haben, die noch nicht fünf Jahre alt sind. Doch selbst wenn man diese beiden, sogar die letzten drei Kohorten, ausklammert, ändert das nichts am Ergebnis – je früher die Frau geboren ist, desto mehr ihrer Kinder sind vor der Vollendung des fünften Lebensjahres verstorben. Es zeigt sich folglich, daß der Wandel, der ohne Zweifel in Pueblo Nuevo seit ungefähr 20 Jahren zu beobachten ist, nicht alle Familien respektive Frauen miteinschließt. Zwar ist generell zu erkennen, daß die Frauen und Männer der jüngeren Kohorten mehr Besitz und Schulbildung haben und die neuen medizinischen Möglichkeiten besser nutzen, doch auch in den jüngeren Kohorten gibt es Männer und Frauen, die keine gute Schulbildung und wenig Besitz haben und die auch von der verbesserten Gesundheitsversorgung weniger profitieren. Es fragt sich, inwiefern die Entwicklung des Migrationsverhaltens diesen Trend widerspiegelt, der sich im wesentlichen darauf reduzieren läßt, daß es einerseits eine generelle Verbesserung der Lebensbedingungen im Lauf der Zeit gegeben hat, 106 DAS GEPLANTE KIND daß aber andererseits eben aufgrund dieser Entwicklung auch eine Stratifizierung der Gemeinschaft zu beobachten ist. Wie Doña Chucha, eine ältere Informantin, treffend sagte: „Früher waren wir eben alle arm, aber wir waren auch alle gleich.“ (Feldnotiz Nr. 36, 28/1/1997). Heute gibt es ‚Gewinner‘ und ‚Verlierer‘, wie es insbesondere die Entwicklung des ejido Systems und damit verbunden der Migration zeigt. Migration Mexiko durchlebte mehrere Dekaden eines anhaltenden wirtschaftlichen Wachstums (vgl. 4.2.2). Diese Phase des wirtschaftlichen Wachstums, die ungefähr 1940 begann (Krause 1996: 97), kam in den siebziger Jahren zu ihrem Ende. Doch die Entwicklung der ejidos war schon während der Phase des wirtschaftlichen Wachstums problematisch. Mexiko entwickelte sich nach dem zweiten Weltkrieg zu einem Industrieland und durchlebte eine Zeit umfassender Modernisierung. 44 Allerdings wurde de facto nur ein Teil des Agrarsektors modernisiert. Dieser Agrarsektor wurde und wird teilweise von einheimischen, teilweise von ausländischen Großunternehmen kontrolliert und konnte unter Einsatz moderner Technologie und ländlicher Lohnarbeiter marktorientiert mit Gewinn produzieren. Im Gegensatz dazu war die Konzeption und Produktion des kleinbäuerlichen Sektors, zu dem die ejidos zählen, nicht marktorientiert und wurde auch nicht dementsprechend modifiziert. Wie Octavio Paz schreibt: „(...) das ejido verkörpert eine Rationalität, die sich von der modernen wirtschaftlichen Rationalität, die auf Rentabilität und Produktivität beruht, unterscheidet. Vom ökonomischen Gesichtspunkt aus betrachtet, ist das ejido kein optimales Modell: es ist ein mögliches Modell der harmonischen Gesellschaft.“ (Paz 1981: 112, zitiert nach Krause 1996: 105-6). Neben der Tatsache, daß die ejidos so gut wie keine moderne Technologie einsetzten, da es keine Kapitalakkumulation gab, sondern hauptsächlich mit Humankapital arbeiteten, bestand ein anderes großes Problem darin, daß die wichtigste den ejidos zur Verfügung stehende Ressource, das Land, begrenzt war. Trotz dieser Limitierung wuchs die Bevölkerung hingegen beständig. Unter 4.1 wurde gezeigt, 44 Krause (1996) und Alba und Potter (1986) beschreiben detailliert diese Entwicklung. Von der ‚Grünen Revolution‘ innerhalb des Agrarsektors, die zeitlich früher als in anderen Entwicklungsländern begann, profitierten fast ausschließlich die großen Agrarbetriebe, acht von zehn Kleinbauern blieben von den Modernisierungsbestrebungen der ‚Grünen Revolution‘ so gut wie unberührt (Krause 1996: 105). Hauptfokus der Bemühungen und staatlichen Investitionen war die Entwicklung und Ertragssteigerung kommerzieller, privater Groß- und Mittelbetriebe, die fast ausschließlich im Norden des Landes angesiedelt sind. KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 107 daß die Bevölkerung Pueblo Nuevos von 1944 bis 1997 mit einer Wachstumsrate von 3,2% pro Jahre zugenommen hat, was einer Verdoppelungszeit von nur 22 Jahren entspricht. Generell wurde nach 1940 zwar noch Land an ejidos vergeben, doch in erheblich geringerem Ausmaß, als dies unter Cárdenas in den dreißiger Jahren der Fall war. Das ejido Pueblo Nuevo erhielt ebenfalls mehrfach Land – das erste Mal von Juan Correa, der in den dreißiger Jahren das ejido gründete und das Land verteilte, danach noch einmal in den sechziger und in den siebziger Jahren und zum aller letzten Mal 1987. Bei der letzten Landvergabe wurde das noch nicht verteilte Land an den Hängen des Monte Altamirano sowohl an Bauern des ejidos Pueblo Nuevo als auch an Bauern des ejidos Solís verteilt. Allerdings ist dieses Land von minderer Qualität, da der Boden steinig und nicht sonderlich fruchtbar ist. Außerdem kann dieses Land nicht bewässert werden (vgl. 4.2.2.4). Seine Bearbeitung hängt demnach von günstigen klimatischen Bedingungen, d.h. von ausreichend Regen, ab. Nach der Landverteilung von 1987 war alles Land verteilt. Doch auch von den beiden vorhergehenden Landverteilungen profitierten nicht mehr alle Bauern. In den Kohorten von 1908 bis 1947 erhielten alle Männer Land. In der darauffolgenden Kohorte (1948-1957) erbten die Bauern entweder Land ihres Vaters oder profitierten von einer erneuten Landverteilung. Noch hatten alle Bauern ein Stück Land, das sie bewirtschaften konnten. In der Kohorte von 1958-1967 änderte sich die Situation dann allerdings grundlegend. Von den 46 Männern dieser Kohorte erhielten nur noch 32 Land, entweder als Erbe vom Vater oder aufgrund der erneuten Landverteilung. Die verbleibenden Männer haben bis heute kein eigenes Land. Doch auch nicht alle der Landbesitzer dieser Kohorte konnten weiterhin ausschließlich von ihrem Land leben, sondern mußten versuchen, sich andere Einkommensquellen zu erschließen, beispielsweise eine kurzfristige Tätigkeit als Bauarbeiter aufnehmen. Diese Kohorte ist auch die erste Kohorte, in der einerseits zum ersten Mal weitere Berufe, neben dem Beruf des Landwirts, auftreten, und in der andererseits die Anzahl an landlosen Lohnarbeitern, den peones, stark angestiegen ist (Tabelle 4.16). DAS GEPLANTE KIND 108 Berufe (in %) Kohorte N Landwirt des ejidos (Ejidatario) Landloser Lohnarbeiter (Peón) 1908-27 1928-37 1938-47 1948-57 1958-67 1968-77 1978-82 5 10 12 24 46 45 3 60,0 90,0 91,7 91,7 54,3 35,6 33,3 8,3 4,2 28,3 33,3 33,3 4,3 4,3 6,7 2,2 15,6 33,3 Gesamt 145 60,0 21,4 1,4 3,4 6,2 Lehrer Bauarbeiter Taxifahrer Rentner Sonstige 20,0 10,0 20,0 4,2 6,5 8,9 1,4 6,2 Tabelle 4.16: Kohorten Männer und Berufe 45 Das ejido Land konnte die wachsende Bevölkerung nicht mehr ernähren und die Subsistenzwirtschaft der ejidatarios, der Bauern eines ejidos, mußte zwangsläufig zusammenbrechen. Dies zeigt vor allem der starke Anstieg an peones, die selber kein Land besitzen und als Lohnarbeiter die Felder anderer Landwirte zu extrem niedrigen Löhnen bearbeiten (vgl. Tabelle 4.16). Nur noch gut die Hälfte der Männer, die nach 1957 geboren wurden, konnte davon ausgehen, ein Stück Land des ejidos zu bewirtschaften. Daß auch dieses Stück Land zum Überleben nicht ausreichte, zeigt die Migration nach Mexiko-Stadt. In den sechziger Jahren mußten 46,6% der ejidatarios in ganz Mexiko ihre ausschließliche Subsistenzproduktion aufgeben (Krause 1996: 106), um zu überleben. 46 Der Zeitpunkt, an dem das ejido System nicht mehr die lokale Bevölkerung Pueblo Nuevos ernähren konnte, läßt sich also ungefähr gegen Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre datieren. Diese Entwicklung hatte weitreichende Konsequenzen. Parallel zu der (für die ejidatarios negativen) Entwicklung des ejido Systems entwickelte sich hingegen der Industriesektor in den Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs vor allem in den drei großen Metropolen des Landes MexikoStadt, Monterrey und Guadalajara sehr schnell. In den siebziger Jahren waren 60% der Industriebetriebe in Mexiko-Stadt angesiedelt (Krause 1996: 99). Diese starke 45 Im Gegensatz zur Schulbildung ihres Ehemannes, an die sich sieben Frauen nicht erinnern konnten (N=138), sind alle Angaben zur Migration, zum Landbesitz und zu den Berufen der Ehemänner der befragten Frauen vollständig. Insgesamt handelt es sich um 145 Paare. Bei der Kategorie ‚Rentner‘ handelt es sich nur um drei Fälle. Diese Männer haben entweder beim Militär oder bei der Eisenbahn gearbeitet und beziehen eine staatliche Rente. Die Kategorie ‚Sonstige‘ beinhaltet Berufe wie Elektriker und Lastwagenfahrer, die alle nur einmal vorkommen. 46 Wimmer (1995) beschreibt eine ähnliche Entwicklung für indigene Gemeinden Mexikos. KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 109 Konzentration an Arbeitsmöglichkeiten in dem nur vier Busstunden von Pueblo Nuevo entfernt gelegenen Mexiko-Stadt war für die Bewohner eine starke Motivation zu migrieren. Folglich waren sowohl pull Faktoren, Faktoren, wie zum Beispiel zu erwartende höhere Löhne und Arbeit generell am Zielort der Migration, als auch push Faktoren, Faktoren, wie beispielsweise Landknappheit am Ausgangsort der Migration (Massey et al. 1996), ausschlaggebend für eine Migration zunächst nach Mexiko-Stadt (Lomnitz 1977) und dann auch in die USA und nach Kanada (Alba und Potter 1986). Familien und Individuen entwickelten neue Strategien, um zu überleben. Alba und Potter (1986: 57) beschreiben, daß Migration, sei es innerhalb Mexikos oder in die USA/Kanada, eine wesentliche Überlebensstrategie vieler ländlicher Familien, die vorher ausschließlich von ihrem ejido Land gelebt hatten, wurde: „(...) The extended rural family was the base from which individuals were sent out in search of temporary or permanent employment. This made strategic sense in that migration constituted an expensive and risky proposition for the individual, but was a means of managing risk through portfolio diversification for the family. In the conditions of rural Mexico throughout most of this period, economic mobility was better achieved with larger families.“ (Alba und Potter 1986: 57). In Pueblo Nuevo begann die lokale Bevölkerung aufgrund der veränderten wirtschaftlichen Situation ungefähr Anfang der sechziger Jahre mit der Migration nach Mexiko-Stadt und Mitte der siebziger Jahre mit der Migration in die USA und nach Kanada. Über die Grenze migrierten und migrieren fast ausschließlich Männer, nach Mexiko-Stadt migrierten und migrieren allerdings sowohl Männer als auch Frauen. Frauen Migration (in %) Kohorte N 1908-27 1928-37 1938-47 1948-57 1958-67 1968-77 1978-82 7 11 16 28 38 67 31 Gesamt 198 USA 47 10,7 7,9 3,0 Männer Migration (in %) Mexiko-Stadt N USA Mexiko-Stadt 14,3 45,5 43,8 42,9 44,7 55,2 48,4 5 10 12 24 46 45 3 20,0 33,3 25,0 39,1 46,7 33,3 100,0 80,0 66,7 83,3 84,8 73,3 100,0 47,5 145 35,2 80,0 Tabelle 4.17: Nationale und internationale Migration, Kohorten Männer und Frauen 47 Es handelt sich nur um sechs Fälle. Alle Frauen migrierten gemeinsam mit ihrem Ehemann. 110 DAS GEPLANTE KIND Es ist auffallend, daß ein hoher Anteil an Männern und Frauen aller Kohorten nach Mexiko-Stadt migriert ist. Nur für die erste Migration in die USA oder nach Kanada ist das Jahr der Migration erhoben worden. Allerdings kann anhand der biographischen Interviews und informeller Gespräche bestimmt werden, daß die Migranten der älteren Generation ebenfalls erst ab den sechziger Jahren nach MexikoStadt migriert sind. Auch für Pueblo Nuevo trifft Alba und Potters oben zitierte Aussage zu. Eine der wichtigsten Überlebensstrategien dieser Jahre bestand darin, daß ein oder mehrere Haushaltsmitglieder migrierten und die anderen Haushaltsmitglieder weiterhin Landwirtschaft betrieben. Die Migranten konnten Söhne oder Töchter, aber auch Ehefrauen und Haushaltsvorstände, meist jedoch die Ehemänner, sein. Es war unabdingbar, daß ein Teil des Haushalts sich weiter um das ejido Land kümmerte und nicht der gesamte Haushalt migrierte, da bei einer länger als zwei Jahre andauernden Brachliegung der Felder das ejido Land dem ejidatario vom ejido Rat (vgl. 4.2.2.4) entzogen werden konnte. Die Migration nach Mexiko-Stadt war erst der Anfang einer bis heute andauernden Migration. Auch heute noch ist die wirtschaftliche Attraktivität von MexikoStadt für die Dorfbewohner groß, was sicherlich auch daran liegt, daß MexikoStadt nur vier Busstunden von Pueblo Nuevo entfernt gelegen ist. Vor allem junge, unverheiratete Mädchen migrieren heute nach Mexiko-Stadt, um dort als Hausmädchen zu arbeiten (47% im Juni 1997). Im Gegensatz dazu sind nur 5% aller Männer im März/April 1997 permanent in Mexiko-Stadt beschäftigt gewesen. Ähnlich der Migration der Männer in die USA, die sich häufig über einen Zeitraum von mehreren Jahren erstreckt, da sich sonst die hohen Investitionskosten nicht rentieren, ist die Migration der jungen Mädchen auch auf mehrere Monate oder sogar mehrere Jahre hin angelegt. Viele der Männer hingegen arbeiten heute nur sporadisch in Mexiko-Stadt. Über 64% der Männer haben immer dann in Mexiko-Stadt gearbeitet, wenn sich eine Gelegenheit für eine kurz- u.U. sogar eine längerfristige Arbeit geboten hat. Dies zeigt auch die Art der Arbeit, die von den Männern ausgeübt wird. Arbeiten über 70% der Frauen als Hausmädchen, so ist das Pendant für die Männer hierzu die kurzfristige Arbeit als Bauarbeitergehilfe (62%). Andere Tätigkeiten sind die Begleitung eines Lastwagenfahrers, Fabrikarbeit und die Arbeit als Chauffeur bei Restaurantketten. Hier spielen auch Netzwerke und soziales Kapital eine große Rolle. Je mehr Personen ein Mann oder eine Frau in Mexiko-Stadt kennt, desto wahrscheinlicher ist es, daß sie oder er zumindest von einer Arbeit hört und sie vielleicht sogar bekommt (Taylor 1987). Doch auch die wirtschaftlichen Kapazitäten Mexiko-Stadts und Mexikos generell waren und sind begrenzt. Anfang der achtziger KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 111 Jahre stürzte Mexiko mit dem Fallen der Erdölpreise in eine schwere wirtschaftliche Krise, die sich schon in den siebziger Jahren abgezeichnet hatte, Ende der siebziger Jahre aber vorläufig durch neue Erdölfunde eingedämmt werden konnte. Allein 1983 wurden offiziell 1,2 Millionen Menschen erwerbslos, wobei die inoffiziellen Schätzungen weitaus höher liegen (Krause 1996: 119). Parallel zur nationalen Entwicklung verstärkte sich auch die internationale Migration in Pueblo Nuevo, denn die Arbeitsmöglichkeiten in Mexiko-Stadt waren dramatisch zurückgegangen (Tabelle 4.18). Beginn der Migration in die USA / nach Kanada Absolute Häufigkeiten % der bisherigen Migration 1973-1977 1978-1982 1983-1987 1988-1992 1993-1997 1 5 8 7 30 2,0 9,8 15,7 13,7 58,8 Gesamt 51 100 nur 1995 nur 1996 nur 1997 (bis 6/97) 5 17 7 9,8 33,3 13,7 Tabelle 4.18: Entwicklung der internationalen Migration seit den siebziger Jahren Der eigentliche Höhepunkt der internationalen Migration ist erst seit Mitte der neunziger Jahre zu beobachten. Mehr als die Hälfte (59%) aller bisher in die USA oder nach Kanada migrierten Männer migrierte erst Mitte der neunziger Jahre zum ersten Mal. Ursache für diesen starken Anstieg ist einerseits die weiterhin, trotz einiger Verbesserungen, schlechte wirtschaftlich Situation Mexikos, vor allem im Vergleich zu den USA. Andererseits sind sowohl die offizielle Auflösung des ejido Systems als auch eine verschärfte Migrationspolitik der USA seit Mitte der neunziger Jahre wichtige Auslöser für die verstärkte Migration. Anfang der neunziger Jahre wurde im Rahmen der seit den achtziger Jahren durchgeführten neoliberalen Wirtschaftspolitik auf Initiative des damaligen Präsidenten Carlos Salinas de Gotari (1988-1994) das ejido System privatisiert. Damit wurde es offiziell möglich, vorher unverkäufliches ejido Land zu kaufen und zu 112 DAS GEPLANTE KIND verkaufen. 48 Diese neue Möglichkeit hatte weitreichende Konsequenzen für das ejido Pueblo Nuevo, denn durch diese Maßnahme wurde die schon vorher bestehende wirtschaftliche Stratifizierung der dörflichen Gemeinschaft um ein Vielfaches verstärkt. Hierbei spielte die nationale und internationale Migration eine wichtige Rolle, denn sie bot und bietet eine Möglichkeit, Kapital zu akkumulieren und in Land und verbesserte Technologie zu investieren. Schon während des ejido Systems gab es ejidatarios, die aufgrund illegalen Tausches Land akkumulieren konnten. Doch wegen der Überwachung durch den ejido Rat geschah dies nur in geringem Ausmaß, und es kann nicht von einer Landkonzentration in den Händen einiger weniger ejidatarios gesprochen werden. Ganz anders sieht die Situation heute aus. In Pueblo Nuevo ist sehr deutlich zu erkennen, wie nach Jahren der Kontrolle, die es keinem ejidatario ermöglichte, Land- und Besitz in großem Ausmaß zu akkumulieren, aber auch keinen ejidatario durch das wirtschaftliche und soziale Netz des ejidos ‚fallen‘ ließ, diese Strukturen heute aufgebrochen sind. Es entstehen neue wirtschaftliche und auch soziale Strukturen, die vor allem eine fortschreitende wirtschaftliche Stratifizierung der dörflichen Gemeinschaft mit sich bringen. Diese Entwicklung ist auch für andere ejidos beschrieben worden (als Überblick vgl. Massey et al. 1994: 733-737). Anhand mehrerer Fallbeispiele soll demonstriert werden, in welcher Form die ehemaligen ejidatarios mit der neuen Situation und ihren Möglichkeiten umgehen. Die Brüder Augustino und Pedro E. migrierten 1995 erstmalig in die USA. Das Geld für den coyote, den Mann, der die beiden illegal über die Grenze brachte, liehen sie sich von ihrem Bruder Juan, der selber schon in die USA migriert war. Dieser kümmerte sich auch um die Felder der beiden anderen Brüder. Die drei hatten untereinander ausgemacht, daß von dem in den USA erwirtschafteten Geld einerseits Land gekauft werden sollte, andererseits ein Traktor. Nachdem Augustino und Pedro aus den USA nach einjähriger Arbeit zurückgekehrt waren, kauften sich die drei Brüder Land und einen Traktor, den sie heute an die anderen Landwirte Pueblo Nuevos lukrativ vermieten. Ähnlich verhielten sich auch Alberto M. und Raimundo M., wiederum Brüder. Raimundo migrierte 1996 in die USA, Alberto kümmerte sich um dessen Felder, und als Raimundo zurückkehrte, kauften beide Land. Heute haben beide Brüder mehr als das zehnfache dessen an Land, was ein durchschnittlicher Landwirt in 48 Hinsichtlich des genauen Datums variieren die Quellen. Krause (1996: 121) datiert die Privatisierung auf den November 1991, Soberon-Ferrer und Whittington (1993: 1249) geben das Jahr 1992, Durand et al. (1996: 252) das Jahr 1994 an. Ejidatarios aus Pueblo Nuevo sagten, daß sie ab 1992 Land offiziell an- bzw. verkauft haben. KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 113 Pueblo Nuevo besitzt. Allerdings beruht ihr Landbesitz nicht nur auf ihrer wirtschaftlich geschickten Migrationsstrategie. Beide Brüder hatten schon vor der ejido Auflösung mehr Land als alle anderen Landwirte, da sie illegale Tauschgeschäfte betrieben hatten. Auch Noe G. konnte das neue System für sich nutzen. Er migrierte 1994 in die USA und verkaufte einen Teil seines Landes, so daß seine Frau sich nur noch um wenig Land kümmern mußte. Von seinem in den USA erwirtschafteten Geld erwarb er ein Taxi und eine Taxilizenz. Von dem Geld, welches Noe auf seinen Fahrten heute von Pueblo Nuevo nach Temascalcingo verdient, kann die Familie gut leben. In Tabelle 4.16 gibt es in der Kohorte der 1968-1977 geborenen Männer 16%, die als Taxifahrer arbeiteten. Diese Männer haben eine ähnliche Strategie wie Noe angewendet. Alle sind heute Taxibesitzer und haben sich das Geld für den Taxikauf in den USA erarbeitet. Ganz anders sieht hingegen die Situation von Juan R. und Julio G. aus. Beide haben ebenfalls ihr Land verkauft, aber das erhaltene Geld im wesentlichen in Alkohol ‚investiert‘. Heute sind sie landlos und müssen als peones für sehr wenig Geld auf den Feldern anderer Landwirte arbeiten. Ihre Familien können sie von diesem Geld kaum ernähren. Beide Männer sind allerdings auch in einer sehr schlechten Ausgangsposition, um durch internationale Migration ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern. Denn alle aus Pueblo Nuevo in die USA migrierenden Männer gingen nicht als ‚Einzelkämpfer‘, sondern nutzten soziale Netzwerke. Juan und Julio hingegen haben nur sehr wenige soziale Beziehungen im Dorf. Die Bedeutung sozialer Netzwerke sowohl für nationale als auch internationale Migration ist in der Literatur gut dokumentiert (Lomnitz 1977, Taylor 1987, Massey et al. 1994: 728-733 als Überblick). Schon für die Vermittlung und Bezahlung eines coyote, der die Männer über die Grenze bringt, bedarf es guter Beziehungen, ebenso für die Vermittlung einer Unterkunft in den USA, Hilfeleistungen im Alltag und für die Vermittlung einer Arbeitsstelle. Üblicherweise leihen enge männliche Verwandte das Geld für den coyote und die Ausgaben in den ersten Monaten. Bestehen diese sozialen Beziehungen, so hat sich der Anreiz, in die USA zu migrieren, seit Auflösung des ejido Systems um ein Vielfaches erhöht. Wie die Geschichten von Alberto und Raimundo, Augustino, Pedro und Noe gezeigt haben, ist die Migration in die USA häufig die wichtigste Quelle, Kapital zu erwirtschaften, welches in Pueblo Nuevo seit Anfang der neunziger Jahre auch in Land reinvestiert werden kann. 114 DAS GEPLANTE KIND Es wurde bereits erwähnt, daß die andere Ursache für die verstärkte Migration seit Mitte der neunziger Jahre in den verschärften Migrationsgesetzen der USA besteht. Diese Aussage wirkt auf den ersten Blick widersprüchlich, wenn man bedenkt, daß eine Verschärfung der Migrationsgesetze eigentlich einen gegenteiligen Effekt haben sollte. De facto stellt sie aber einen noch stärkeren Anreiz dar, wie im folgenden zu sehen sein wird. 1996 wurde ein neues Gesetzt zur illegalen Migration in den USA beschlossen (La Jornada vom 7.4.1997). Einerseits wurde im Zuge dieses neuen Migrationsgesetzes die Legalisierung aller illegalen Migranten, die nachweislich länger als zehn Jahre in den USA gelebt hatte, beschlossen. Ähnlich wurde auch schon 1986 verfahren (Massey et al. 1996: 705). Andererseits wurde aber auch beschlossen, daß die Grenzkontrollen verschärft werden und daß illegale Migranten nicht mehr nur von der Migrationsbehörde, la migra, aufgegriffen werden können, sondern von jedem Polizisten. Über das neue Gesetz wurde während meiner Feldforschung viel diskutiert. Durch die tägliche Ausstrahlung der telenovela ‚Al norte del corazon‘ (Im Norden des Herzens, vgl. 4.2.2.1), die die Konsequenzen dieses Gesetzes aus den Augen eines illegalen, mexikanischen Migrantenpaares schilderte, wurde die Diskussion noch verstärkt. Aber entgegen der Erwartung, daß durch die verschärften Bedingungen die Bewohner Pueblo Nuevos davon abgeschreckt wurden, zu migrieren, beschlossen viele Männer, gerade jetzt zu migrieren „(...) bevor die noch die Grenze völlig dicht machen und vom Militär bewachen lassen.“ (Lupe G., Feldnotiz Nr. 9, 20/9/1996). Die meisten Familien sehen die internationale Migration als ihre einzige Chance, sich wirtschaftlich zu verbessern. Da es aber nicht sicher ist, wie lange dieser Zustand noch andauern wird, versuchen viele Männer, jetzt zu migrieren. Das Geld, welches die Männer in den USA erwirtschaften, wird aber nicht nur in Land, Taxis und Maschinen investiert. Mit den Migradollars (Durand 1988) können es sich die Familien auch leisten, modernere Häuser nach US-amerikanischem Vorbild zu bauen und Konsumgüter zu erwerben. Der Zusammenhang zwischen internationaler Migration und Besitz, bzw. internationaler Migration und Qualität und Art des Hauses ist auch statistisch signifikant. Allerdings besteht ein stärkerer Zusammenhang zwischen internationaler Migration und Besitz von Konsumgütern als zwischen internationaler Migration und der Art des Hauses. 49 Dies liegt daran, daß einige der Familien, deren männlicher Haushaltsvorstand in die USA migriert ist, noch im Haus der Eltern des Mannes leben. Diese Familien planen den Auszug und investieren nicht in das Haus ihrer Eltern. Allerdings kaufen sich diese Familien 49 Internationale Migration und Art des Hauses: Spearmans rs=+0,186**; internationale Migration und Besitz an Konsumgütern: Spearmans rs=+0,227***. KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 115 sehr wohl schon Konsumgüter, wie einen Fernseher, einen Herd und einen Kühlschrank, für ihr zukünftiges Haus. Neben der Investition in Besitz, Land oder Maschinen könnte eine andere Strategie der Migranten darin bestehen, in die Bildung und Zukunft ihrer Kinder zu investieren. Dies ist auch tatsächlich der Fall. Von den 51 in die USA migrierten Männern hatten 29 im Schuljahr 1996/97 Kinder im Schulalter. Von diesen Kindern schickten sie 70% zur Schule, 30% gingen zur secundaria oder zur preparatoria. Beide Prozentwerte sind recht hoch, wenn man sie mit den Ergebnissen aus dem Abschnitt zur Schulbildung vergleicht. Auch im Vergleich mit den nicht migrierten Männern zeigt sich, daß in die USA migrierende Männer mehr in die Schulbildung ihrer Kinder investieren. Von den 62 nicht migrierten Männern, die im Schuljahr 1996/97 Kinder im Schulalter hatten, schickte nur gut die Hälfte (52%) ihre Kinder tatsächlich zur Schule. Zur secundaria oder preparatoria wurden nur 26% dieser Kinder geschickt. Es zeigt sich also, daß mit Hilfe der Migradollars unterschiedliche wirtschaftliche Strategien verfolgt werden. Hier schließt sich die Frage an, welche Männer migrieren. Fast die Hälfte der Männer ohne Landbesitz (48%) sind schon in die USA migriert, im Gegensatz zu nur 33% der Männer mit Landbesitz. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Massey (1987) für vier andere mexikanische Gemeinden. In Tabelle 4.17 wurde gezeigt, daß vor allem die Männer der Kohorte 1968-1977 in die USA migrieren. Von dieser Kohorte sind fast die Hälfte (47%) der Männer schon in den USA gewesen. Dieser hohe Anteil entspricht auch dem durchschnittlichen Alter derjenigen Männer, die im März/April 1997 sich tatsächlich in den USA befanden. Im Schnitt waren die Männer 30 Jahre alt (∅ 30,9; std. 8,27; Median 30,0), wobei der jüngste Mann 19 Jahre und der älteste Mann 48 Jahre alt war. In Erweiterung der Aussage von Alba und Potter (1986), daß Migration einiger Familienmitglieder für eine kinderreiche, erweiterte Familie die beste Überlebensund Risikominimierungsstrategie in den sechziger und siebziger Jahren darstellte, gibt es heute eine Gruppe jüngerer Männer vor allem der Kohorte 1968-1977, die nicht mehr für die erweiterte Familie Geld in den USA erwirtschaften, sondern für ihre eigene Nuklearfamilie, die sie entweder schon gegründet haben oder zu gründen planen. Das in den USA erwirtschaftete Geld senden diese Männern auch nicht an ihre Eltern oder Brüder, sondern an ihre Ehefrauen, was zu starken Konflikten zwischen der Ehefrau und der Familie des Mannes führen kann. Dieser neue Typus von Familie, der nicht mehr an die erweiterte Familie gebunden ist und sich ihr auch nur sehr begrenzt verpflichtet fühlt, investiert besonders stark in ein Haus 116 DAS GEPLANTE KIND nach amerikanischem Vorbild und in Konsumgüter. Diese Entwicklung ist auch optisch im Dorf zu beobachten. Beispielsweise hat sich Julius-Caesar M. ein zweistöckiges Haus mit großer Einfahrt und Balkon neben das kleine, nur aus zwei Zimmern bestehende Haus seines Vaters gebaut. Ein solches Haus hat es in Pueblo Nuevo bisher nicht gegeben. Meine Frage, ob denn der Vater und seine Frau auch in das große, neue Haus umziehen, wurde vehement verneint. Das ginge auf keinen Fall, da sich die Frauen – Schwiegermutter und Schwiegertochter – nicht verständen. Andererseits gibt es aber auch immer noch Familien, die nach dem von Alba und Potter (1986) beschriebenen Muster verfahren. Bisher wurde immer nur davon gesprochen, daß die Bewohner Pueblo Nuevos nach Mexiko-Stadt oder in die USA migrieren. Dies gilt auch für die überwiegende Mehrheit der Fälle. Innerhalb Mexikos wird in seltenen Fällen (insgesamt zwei Fälle) auch in die Hauptstadt des Bundesstaates, Toluca, migriert, aber Mexiko-Stadt ist aufgrund des größeren Arbeitsangebotes attraktiver. Auch in Kanada haben nur sehr wenig Männer (drei Fälle) gearbeitet. Die meisten Männer gehen nach Kalifornien, North Carolina, Chicago und Texas, einige nach South Carolina und Florida. Die Popularität Kaliforniens besteht darin, daß es dort viele Obstplantagen gibt, die illegale Migranten einstellen. Fast 40% der Männer haben auf diesen Plantagen gearbeitet. Andere Tätigkeiten sind Bauarbeit, Fabrikarbeit und Arbeit in Restaurants. Mehr als die Hälfte der Männer waren erst einmal in den USA (57%), was nicht erstaunlich ist, wenn man bedenkt, daß die verstärkte Migration in die USA erst seit Mitte der neunziger Jahre in Pueblo Nuevo zu beobachten ist. Doña Chuchas Feststellung, daß früher zwar alle arm, aber immerhin auch alle gleich gewesen wären, dies heute aber ganz anders aussehe, kann anhand der Beschreibung des Niedergangs des ejido Systems und der immer stärker werdenden Migration zugestimmt werden. Schon jetzt zeichnet sich ab, wer zu den ‚Gewinnern‘ und wer zu den ‚Verlieren‘ der Entwicklungen zählen wird. Einige Familien, die auch hinsichtlich anderer Merkmale wie Schulbildung und Gesundheitsversorgung am untersten Ende stehen, werden weiter verarmen und immer mehr gezwungen sein, bei denjenigen Familien des Dorfes, die es aufgrund strategisch geschickter Investition geschafft haben, Land und Besitz zu akkumulieren, für wenig Geld als Lohnarbeiter zu arbeiten. Migration ist hierbei eine Schlüsselvariable, denn durch eine erfolgreiche Migration, sei es in die USA oder auch innerhalb Mexikos, kann eine Familie das nötige Kapital akkumulieren, um als privater Kleinbauer wirtschaftlich zu überleben und vielleicht sogar zu einem gewissen Wohlstand zu kommen. Neben diesen beiden Typen an Familien, die weiterhin, allerdings in unterschiedlicher Form, mal als Besitzer, mal als Lohnarbeiter, an die Landwirtschaft KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 117 innerhalb des Dorfes und des Tals gebunden sind, entsteht eine weitere, stetig wachsende Gruppe von Familien. Hier sind etwa die Taxibesitzer zu nennen. Diese Gruppe von Familien erschließt sich neue Einkommensquellen außerhalb Landwirtschaft. 50 4.2.2.3 Sprache, Ethnizität und Religion Alle Bewohner des Dorfes sprechen ausschließlich Spanisch. Sie bezeichnen sich selber als Mestizen und grenzen sich bewußt von der noch heute im Tal lebenden indigenen Bevölkerung ab (vgl. 4.2.1.1). Alle befragten Frauen des Dorfes gaben an, daß sie und ihre Familien römisch katholisch sind. Die daraus resultierenden religiösen Verpflichtungen werden jedoch sehr unterschiedlich eingehalten. Einmal im Monat findet in der Kirche Pueblo Nuevos, die von den Dorfbewohnern an der Stelle errichtet wurde, an der zuvor das Haus Juan Correas stand, sonntags ein Gottesdienst statt, der fast ausschließlich von älteren Frauen besucht wird. In den Lebensgeschichten gaben zwar alle Frauen an, daß ihnen ihre Religion wichtig ist, daß dies aber nicht daran zu messen wäre, wie häufig jemand zur Kirche geht. Die meisten der Frauen gehen nur zu Festen, wie einer Taufe oder einer Hochzeit, in die Kirche. 51 Die Frauen sagten weiter, daß ihre Männer noch seltener in die Kirche gingen, was sich auch mit meinen Beobachtungen deckt. Auf die Frage, warum die Religion denn dann für sie wichtig sei, antworteten wiederum alle Frauen, daß sie wichtig sei, da ja alle im Dorf katholisch seien. Aufgrund der gemeinsamen Religion gehört man nach den Informantinnen eben auch zum Dorf. Inwieweit religiöse Dogmen für die Frauen generell handlungsmotivierend waren, kann nur schwer abgeschätzt werden. Doch auch hinsichtlich der Bedeutung der Religion ist ein Wandel zu erkennen. Die Frauen wurden gefragt, inwieweit die religiöse Verpflichtung, alle von Gott gesendeten Kinder auch zu bekommen, für sie bei ihren fertilen Entscheidungen ausschlaggebend gewesen ist oder – bei den jüngeren Frauen – ausschlaggebend sein könnte. Ungefähr zwei Drittel (65%) gaben an, daß religiöse Verpflichtungen keine Rolle gespielt haben oder spielen werden, ein Drittel (35%) gab an, daß religiöse Verpflichtungen eine Rolle gespielt 50 Cancians (1989, 1992) Analyse der Stratifizierung einer bäuerlichen Gemeinde im Süden Mexikos weist mehrere Parallelen zu der hier beschriebenen Entwicklung auf. Allerdings beschäftigt sich Cancian nur am Rande mit dem Zusammenhang von Bevölkerungswachstum und Ressourcen. 51 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen auch Hill, Stycos und Back (1959: 53) für Puerto Rico. 118 DAS GEPLANTE KIND haben oder spielen werden. Allerdings gaben ältere Frauen erheblich häufiger an, daß die Religion für sie eine Motivation hinsichtlich ihres fertilen Verhaltens war, als jüngere Frauen. 52 Zwischen 75% und 85% der Frauen der letzten drei Kohorten (zwischen 1958 und 1982 geboren) negierten einen Einfluß der Religion auf ihre fertilen Entscheidungen, im Gegensatz zu nur maximal 20% der drei ältesten Kohorten (1908-1947) und 44% der Kohorte 1948-1957. In vielen Gesprächen über den Konflikt zwischen religiösen Verpflichtungen einerseits und wirtschaftlichen Zwängen andererseits erklärten die Frauen immer wieder, daß sie nicht verstehen, warum sie viele Kinder bekommen sollten, wenn doch offensichtlich ist, daß diese Kinder dann leiden. Einige Frauen gaben in den Gruppeninterviews sogar an, daß der Priester bei den Beratungsgesprächen vor der Hochzeit den Paaren raten würde, nur so viele Kinder zu bekommen, wie sie sich leisten könnten. Dieser Rat wurde von den Frauen als positiv beurteilt. Allerdings widersprachen andere Frauen, die den Priester generell kritischer beurteilten, dieser Aussage. Ihrer Meinung nach ist der Priester strikt gegen die Benutzung von Verhütungsmitteln. Diese unterschiedliche Beurteilung der Aussagen des Priesters steht auch in einem Zusammenhang zu einer im Dorf vorhandenen Skepsis und Kritik gegenüber dem Priester. Dieser lebt in einem Teil der ehemaligen Hazienda in Solís und betreut alle 19 Gemeinden des Tals. Viele Dorfbewohner sind der Meinung, daß sich der Priester nur für die schöne, alte Kirche in Solís, die zu Zeiten der Hazienda erbaut wurde, interessiert. Deshalb hat er nach Meinung der Dorfbewohner auch kein Interesse daran, daß Geld in die Kirche in Pueblo Nuevo investiert wird. Außerdem ist es traditionell üblich, dem Priester einen Teil der Maisernte zu geben und einmal im Monat tortillas an ihn zu verschenken. Viele der Familien folgen aber diesen Verpflichtungen nicht mehr. Andere Familien sind dem Priester hingegen eng verbunden und pflegen intensive soziale Beziehungen mit ihm, z.B. durch compadrazgo Verbindungen (vgl. 4.2.2.6). Diese Familien haben allerdings wiederum soziale Verbindungen nach Solís, beispielsweise aufgrund der Herkunft der Frau oder des Mannes, und es ist möglich, daß die engen Beziehungen zum Priester mit anderen familiären Verpflichtungen in Solís in Beziehungen stehen. Insofern ist es nicht erstaunlich, daß der Priester und seine Aussagen unterschiedlich dargestellt und bewertet werden. 52 Pearson Korrelation zwischen dem Alter der Frau und der Relevanz von Religion bei fertilen Entscheidungen: r=0,478***, N=198. KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 119 Ein weiterer Bestandteil des religiösen Überzeugungssystems sind Vorstellungen über Hexerei. Während meiner Feldforschung kam es zu einem schwerwiegenden Konflikt, bei dem auch Hexerei genannt wurde. Petra E. waren drei Kühe von der Weide gestohlen worden. Sie beschuldigte Elvira C. und deren Mann, diese gestohlen zu haben. Wie sich herausstellte, bestand schon vor dem Kuhdiebstahl ein Konflikt zwischen den beiden Familien, denn Elvira C. wohnte neben Pedro E., dem Sohn von Petra E., und war mit ihm aufgrund nicht geklärter Grenzen zwischen den beiden Häusern zerstritten. Nach einigen Tagen bekam Elvira C. ‚einen schiefen Mund‘, ihre linke Mundhälfte lag deutlich tiefer als ihre rechte, und sie beschuldigte Petra E., sie mit Hilfe eines Hexers verhext zu haben. Nach mehreren Monaten normalisierte sich Elvira Cs. Zustand, allerdings wurde der Konflikt bis gegen Ende meiner Forschung nicht geklärt. Gegenseitige Beschuldigungen der Hexerei scheinen in den meisten mir bekannten Fällen in Pueblo Nuevo ein Ausdruck von schon vor der Beschuldigung vorhandener sozialer Konflikte zu sein, die durch eine Beschuldigung u.U. verstärkt werden, wodurch es potentiell aber auch zu einer Klärung kommen kann. Befragt, ob es nicht ein Widerspruch sei, an Hexerei zu glauben und katholisch zu sein, gaben fast alle Frauen an, daß dem nicht so wäre, denn ‚man könnte ja nie wissen‘. Die Möglichkeit, daß durch Hexerei einem Leid zugefügt werden könnte, wurde von allen befragten Frauen als so groß angesehen, daß sie sich z.B. mit Hilfe von Palmsonntag gesegneten Palmblättern an ihren Haustüren schützten. Generell läßt sich festhalten, daß religiöse Dogmen der katholischen Kirche in Pueblo Nuevo nicht unbedingt streng befolgt werden, sondern daß ihre Handhabung im Alltag vor allem von einem strategischen Pragmatismus geprägt ist. Die katholische Kirche und ihre Dogmen, beispielsweise hinsichtlich ihrer Haltung zu Fragen der Verhütung, wurde selten offen von den Dorfbewohnern kritisiert. Vielmehr wurde angegeben, daß es eben auch andere, nicht nur religiöse, Zwänge gibt, die bei Entscheidungen ausschlaggebender sind. Hierbei geht es im wesentlichen um wirtschaftliche Zwänge: „Früher sagte der Priester, die Kinder, die Gott Dir gibt, mußt Du empfangen. Also, sagte ich mir, was kann man schon machen? Nichts, weil wir ja auch von nichts wußten. Im Gegensatz dazu, also, sage ich, daß es heute viel, viel mehr eine Sünde ist, Kinder zu haben, und ihnen nichts zu essen zu geben, nichts zum Anziehen. Ich glaube, daß es eine größere Sünde ist, Kinder so zur Welt zur bringen. Dann werden sie zu Ratten.“ (Interview mit Doña Chucha, 25.5.1997, S. 13). Auf den Einfluß älterer Frauen, wie Doña Cucha, auf die fertilen Entscheidungen jüngerer Frauen wird noch ausführlich im folgenden Kapitel eingegangen werden. DAS GEPLANTE KIND 120 In dem hier diskutierten Zusammenhang ist Chuchas Aussage, daß es bei vorhandenem (Verhütungs-) Wissen eine Sünde ist, entgegen dem Nutzen der Kinder zu handeln, von besonderer Bedeutung. Nicht mehr die Religion ist der ausschlaggebende Faktor, sondern das Wohl des Kindes. 53 Diese neuen Wertvorstellungen können auch der Grund dafür sein, daß in den jüngeren Kohorten die Frauen angaben, daß für ihre reproduktiven Entscheidungen religiöse Verpflichtungen keine Rolle mehr spielen. Auch hier zeigt sich der in den vorangegangenen Abschnitten schon beschriebene kulturelle Wandel des Dorfes. Der Einfluß der größeren sozialen Einheiten, wie der Kirche, des ejido oder der erweiterten Familie schwindet. An Bedeutung hingegen gewinnt die Kernfamilie und besonders das Wohl des, bzw. der Kinder. 4.2.2.4 Wirtschaftliche Organisation Bevor der Erntezyklus, die Landbesitzverhältnisse und die wirtschaftliche Organisation der Gemeinde beschrieben werden, soll vorab kurz geschildert werden, welche Arten an Vieh die Haushalte besitzen. Die Erhebung von Daten zum Viehbesitz war weitaus problematischer als die Erhebung des Landbesitzes. Vieh ist in Pueblo Nuevo eine kurzfristige Kapitalanlage und wird laufend an- und verkauft. Viele der Haushalte, die bei Beginn der Erhebung noch eine bestimmte Anzahl an Schweinen, Schafen oder Truthähnen hatten, hatten gegen Ende der Erhebung entweder schon wieder mehrere der Tiere verkauft oder neue Tiere gekauft. Wird beispielsweise ein Familienmitglied krank und braucht teure Medikamente, verkauft die Familie ein Schaf, eine Kuh oder mehrere Truthähne. Trotzdem läßt sich ungefähr sagen, welche Vieharten verbreiteter sind und welche seltener vorkommen. Die überwiegende Mehrheit der Haushalte besitzt einen Esel oder ein Pferd, denn beide Tiere sind für die Bestellung der Felder notwendig. Auch Schafe und Schweine sind recht weit verbreitet, Kühe hingegen sind eher selten. So gut wie alle Familien besitzen einige Truthähne, Hühner oder einige Kaninchen, um die sich die Frauen eines Haushalts kümmern. Trotz der Privatisierung des ejido Systems kann relativ genau angegeben werden, wieviel Land die Männer im Juni 1997 besaßen, denn noch wird nicht viel 53 Eine sehr ähnliche Argumentation vertritt auch eine andere Frau, Lucia, allerdings nicht in Bezug auf religiöse Dogmen, sondern hinsichtlich des Machismos. Dieser Fall wird im folgenden Kapitel ausführlich dargestellt. Indem sie das (wirtschaftliche) Wohl des Kindes an die erste Stelle setzte, konnte sie ihren Mann davon überzeugen, daß sie verhütet. KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 121 Land an- und verkauft. Von 145 Männern besitzen 102 Land. Die verbleibenden 43 Männer gehen entweder anderen Berufen nach oder arbeiten als peones, Lohnarbeiter. Im Schnitt besitzt ein Landwirt 1,5 Hektar Land (std. 1,9). 54 75% der Landwirte besitzen 2 Hektar oder weniger. Diejenigen Landwirte, die für die dörflichen Verhältnisse viel Land besitzen, also mehr als 2 Hektar, haben dieses entweder durch, vor Ende des ejidos, illegale Tauschgeschäfte erworben oder Anfang der neunziger Jahre legal gekauft. Alberto M. hat mit 15 Hektar mit Abstand am meisten Land im Dorf. Ihm folgt sein Bruder Raimundo mit ‚nur‘ 6,5 Hektar. Beide Brüder haben sowohl durch illegale Tauschgeschäfte zu Zeiten des ejidos als auch durch strategisch geschickte Migration und Kauf nach der Privatisierung des ejidos so viel Land akkumulieren können. Die überwiegende Mehrheit der Landbesitzer sind Männer. Sie haben das Land entweder vom Vater geerbt, gekauft oder durch eine der Landverteilungen erhalten. Acht der dreizehn Witwen besitzen allerdings auch Land, welches sie von ihren Männern geerbt haben und gemeinsam mit ihren Söhnen verwalten und bestellen. Der Anbau von Mais dominiert den Ernte- und Jahreszyklus der Bewohner Pueblo Nuevos. Mehr als die Hälfte (58%) der Landwirte bauen ausschließlich Mais an, weitere 40% bauen neben Mais entweder noch Hafer oder Weizen an oder nutzen einen Teil ihres Landes als Weide für Kühe und Pferde. Nur 3% der Landwirte bauen keinen Mais, sondern ausschließlich Weizen an. Der Grund für die große Popularität des Mais besteht darin, daß er, im Gegensatz zum Weizen, auch ohne Verwendung teurer Maschinen durch die Familie und angeheuerte peones angebaut und geerntet werden kann. Hinzu kommt, daß tortillas das wichtigste Grundnahrungsmittel der Gemeinde darstellen. Nach Lupe G. (Feldnotiz Nr. 74, 28/4/1997) kann man mit einem Hektar Fläche ungefähr zwei bis drei Tonnen Mais erwirtschaften. Er und seine Familie (2 Erwachsene, 2 Kinder) verbrauchen im Jahr gut eine Tonne Mais zum Eigenkonsum. Geht man davon aus, daß ein durchschnittlicher Bauer 1,5 Hektar Land zur Verfügung hat, dann erwirtschaftet er ungefähr drei bis vier Tonnen Mais. Je nach Familiengröße wird er mindestens die Hälfte selber verbrauchen und den Rest verkaufen. Wichtigster Abnehmer des Mais ist CONASUPO in Temascalcingo oder, wenn ein Landwirt keine Transportmöglichkeit für seinen Mais bis Temascalcingo hat, ein Zwischenhändler im Dorf. 55 54 Diese relativ geringe Parzellengröße ist auch für andere ejidos nicht ungewöhnlich. Whiteford und Montgomery (1985: 161) geben an, daß in den siebziger und achtziger Jahren mehr als 84% der Parzellen unter zehn Hektar lagen. 55 Vgl. Fußnoten 21 und 26 zur Bedeutung von CONASUPO und der Preisstruktur. 122 DAS GEPLANTE KIND Ein typischer Erntezyklus gliedert sich folgendermaßen: Spätestens bis zum Dezember eines Jahres sind die Maiskolben geerntet. Ein neuer Zyklus beginnt. Im Januar werden die Maisstengel mit der Machete abgetrennt und als Viehfutter verwendet. Daran schließt sich eine Phase der Säuberung und Bewässerung der Felder an. Ende Januar bis Ende Februar muß der canalero (vgl. Tabelle 4.19) die Männer des ejidos organisieren und koordinieren, damit die Bewässerungskanäle gesäubert und instandgesetzt werden. Ende Februar, mitten in der Trockenzeit, werden dann die Parzellen mit dem Wasser des Sees Juanacatláns bewässert. Das Wasser wird durch das erweiterte Kanalsystem der ehemaligen Hazienda von Solís geleitet. Im März werden die Felder gepflügt, zunächst mit einem Traktor, den sich die meisten Männer leihen müssen, und dann mit dem Pferdepflug. Um den 20. März wird gesät. Im April wird dann damit begonnen, Unkraut zu beseitigen. Je nachdem, wieviel finanzielle Mittel dem Landwirt zur Verfügung stehen, verwendet er chemische Unkrautvernichtungsmittel. Stehen keine finanziellen Mittel zur Verfügung, dann wird das Unkraut mit der Hand entfernt. Im Mai beginnt die Regenzeit, die ungefähr bis September andauert. Bis zur Ernte der Maiskolben, die frühestens Ende September, Anfang Oktober beginnt, wird weiter Unkraut vernichtet. Die meisten Bauern ernten allerdings erst im November und Dezember den dann schon trockenen Mais. Die Kooperation der Landwirte sowohl untereinander als auch mit den Landwirten anderer Gemeinden, die ebenfalls das Wassers des Sees von Juanacatlán nutzen, ist vor allem während der Phase der Bewässerung unabdingbar. Zwar existiert das ursprüngliche ejido System seit Anfang der neunziger Jahre nicht mehr in Pueblo Nuevo, trotzdem gibt es aber immer noch einen ejido Rat, viele der Männer bezeichnen sich noch als ejidatarios und verwalten ihr Land gemeinsam. Daß die gemeinsame Landverwaltung auch so schnell nicht aufgegeben werden kann, liegt vor allem daran, daß nur gemeinsam mit anderen Landwirten die Bewässerung der Felder zu bewerkstelligen ist. In den ersten beiden Spalten von Tabelle 4.19 sind die Ämter, die die Aufgaben des ejidos und der Bewässerung der Felder koordinieren, aufgeführt. KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 123 Beteiligte Gemeinden Pueblo Nuevo und El Rodeo Pueblo Nuevo, San Vicente, El Rodeo, Solís, Juanacatlán, San Miguel, Temascalcingo Pueblo Nuevo, Juanacatlán, El Rodeo Pueblo Nuevo Ämter Ämter zur Verwaltung des ejidos (Land) Ämter zur Verwaltung des Wassers des Sees (Land) Ämter zur Verwaltung des Wassers des Brunnens (Haushalte) Ämter zur Regelung von kleineren Konflikten Comisario (Presidente) Presidente Presidente 1. Delegado 3 Jahre; Bezahlung bei Ausstellung von Papieren z.B. bei Landtausch und Landschenkung 3 Jahre, verantwortlich für den Ablauf der Bewässerung der Felder, keine Bezahlung Bis zu 5 Jahren, verantwortlich für den Ablauf der Wasserversorgung, keine Bezahlung 3 Jahre, Bezahlung bei Ausstellung von Papieren, z.B. über Hausbesitz Vigilante Canalero Bombero 2. Delegado 3 Jahre, überwacht die ‚richtige‘ Nutzung der Felder des ejidos; keine Bezahlung 3 Jahre, verantwortlich für die Instandsetzung und Instandhaltung der Kanäle; 200 Pesos pro Woche Bis zu 4 Jahren, Verwaltung der Kanäle des Brunnensystems; je nach Leistung 200 Pesos pro Woche (Stellvertreter), 3 Jahre, Bezahlung bei Ausstellung von Papieren Tesorero Tesorero Tesorero 3. Delegado / ‚Vocal‘ 3 Jahre, Schatzmeister, Gleiche Person wie der das Geld des ejidos unter ejido Verwaltung verwaltet (hauptsächlich Geld für das Wasser- und Kanalsystem); keine Bezahlung bis zu 5 Jahren; Schatzmeister, an den die Haushalte das Geld für das Wasser bezahlen; pro Gemeinde 1 Tesorero; keine Bezahlung (Stellvertreter), 3 Jahre, Bezahlung bei Ausstellung von Papieren; Einberufung von Versammlungen Secretario Secretario Secretario 3 Jahre, Koordination der 3 Jahre, Koordination Versammlungen; keine der Versammlungen; Bezahlung keine Bezahlung bis zu 5 Jahren, Koordination der Versammlungen, keine Bezahlung 2 Vocales 3 Jahre, Einberufung von Versammlungen, keine Bezahlung + mehrere Komitees mit speziellen Aufgaben (etwa dem Bau der Toiletten des Kindergartens) Tabelle 4.19: Politische und wirtschaftliche Ämter des ejidos und der Gemeinde 124 DAS GEPLANTE KIND Pueblo Nuevo und El Rodeo, ein Nachbardorf, das ebenfalls durch die Initiative Juan Correas entstand (vgl. 4.2.1.2), bilden gemeinsam ein ejido. Alle drei Jahre wird eine neue mesa, ein ejido Rat gewählt, der aus einem comisario, einem vigilante, einem tesorero, einem secretario und zwei vocales besteht. Die Aufgaben der einzelnen Ämter finden sich in Tabelle 4.19. 56 Der comisario übt eine wichtige Funktion im Dorf aus, denn nur er kann Urkunden, z.B. über Erbschaften oder Landverkäufe, ausstellen. Wegen dieser wichtigen Aufgaben ist er auch der einzige des ejido Rates, der eine Form der Bezahlung erhält. Der vigilante war vor der Privatisierung des ejido Systems noch wichtiger, denn er kontrollierte, daß kein Feld länger als zwei Jahre brach lag. Wurde ein Feld über diesen Zeitraum hinaus nicht bearbeitet, konnte der ejido Rat dem ejidatario sein Land entziehen. Heute übernimmt der vigilante ähnliche Funktionen wie der comisario. Ist der comisario beispielsweise über einen längeren Zeitraum hinweg nicht im Dorf anwesend, kann der vigilante ebenfalls Papiere ausstellen. Die Verwaltung des Wassers zur Bewässerung der Parzellen wird gemeinsam mit sechs weiteren Gemeinden koordiniert. Auch diese Ämter werden alle drei Jahre in einer junta (Versammlung) in einem der Dörfer neu gewählt. Der canalero, der sich um die Instandhaltung und Säuberung des Bewässerungssystems kümmert, ist der einzige dieser mesa, der eine Bezahlung erhält, ebenso wie der bombero, der für die Instandhaltung der Trinkwasserkanäle verantwortlich ist. Canalero und bombero können vor Ende ihrer Amtszeit bei Nichterfüllung ihrer Pflichten entlassen werden. Der tesorero ist dafür verantwortlich, daß die Landwirte auch für die Bewässerung ihrer Felder bezahlen. Pro Hektar muß ein Landwirt fünf Pesos, etwas mehr als eine Mark, pro Jahr bezahlen. Von diesem Geld wird auch der canalero entlohnt. Im Gegensatz zum bombero erhält dieser aber nur während der Zeit der Bewässerung im Februar ein Gehalt. Versammlungen werden einerseits bei Neuwahlen einberufen, andererseits, wenn es Konflikte und Probleme mit der Koordination der Aufgaben gibt, beispielsweise wenn ein canalero oder ein bombero nicht seine Pflichten erfüllt. Neben der ejido Verwaltung und der Verwaltung der Bewässerung der Felder ist ein anderer wichtiger Aufgabenbereich die Koordination der Wasserversorgung. Seit 1983 gibt es in jedem Haushalt Trinkwasser, das aus einem Brunnensystem gewonnen wird. Da Pueblo Nuevo an einem Hang des Monte Altamirano liegt, be56 Der Aufbau des ejido Rates ist keine Besonderheit des ejidos Pueblo Nuevo, sondern findet sich in ähnlicher Form in anderen ejidos (Wilson und Thompson 1992: 301). Das hier von den Bewohnern Pueblo Nuevos als comisario bezeichnete Amt wird in anderen ejidos auch leicht modifiziert als comisariado bezeichnet (Wilson und Thompson 1992: 301). KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 125 findet sich oberhalb des Dorfes ein großer Wassertank, der alle drei Tage aufgefüllt wird. Hierfür wird das aus dem Brunnen gewonnene Wasser den Berg hochgepumpt. Um die Haushalte jeden dritten Tag mit Trinkwasser zu versorgen, wird der Tank vom bombero geöffnet. Pueblo Nuevo hat nur jeden dritten Tag fließendes Wasser, da es sich das Wasser des Brunnens mit den beiden Gemeinden Juanacatlán und El Rodeo teilt. Aus diesem Grund haben alle Haushalte vor ihrem Haus ein eigenes, kleines Wasserbassin, das alle drei Tage aufgefüllt wird. Auch für die Verwaltung und Bezahlung des Trinkwassers gibt es einen tesorero. Alle zwei Monate erhält jeder Haushalt seine Stromrechnung. Der Preis für den Strom richtet sich nach dem Verbrauch des Haushalts, die Kosten für den Wasserverbrauch werden allerdings auf alle Haushalte des Dorfes gleich umverteilt. Nur alleinstehende Witwen müssen nicht für ihren Wasserverbrauch zahlen. Wieviel ein Haushalt alle zwei Monate für den Wasserverbrauch zahlen muß, ist schwankend und hängt vom Verbrauch des gesamten Dorfes ab. Im September 1996 mußte jeder Haushalt 23 Pesos bezahlen. Dieses Geld wird an den tesorero gezahlt, die Kosten für den Stromverbrauch müssen die Haushalte in der Verwaltung des municipio in Temascalcingo begleichen. Verwendung und Bezahlung des Trinkwassers ist auch häufig Anlaß für Konflikte. Beispielsweise beschweren sich immer wieder Bewohner, die am Fuße des Berges wohnen, daß die höher gelegenen Haushalte einfach den Wasserhahn laufen lassen und deshalb nur noch wenig Wasser die tiefer gelegenen Haushalte erreicht. Trotzdem müßten alle diese Verschwendung gleichermaßen finanzieren. Neben diesen drei Verwaltungen gibt es auch noch eine politische und juristische Organisation, die sich vor allem mit der Regelung sozialer Konflikte beschäftigt. Diese wird unter 4.2.2.5 behandelt. Alle bisher beschriebenen Ämter sind ausschließlich mit Männern besetzt. Auf den Versammlungen, beispielsweise zur Wahl einer neuen mesa, kommt es nur sehr selten vor, daß eine Frau anwesend ist. Ist dies der Fall, so handelt es sich um eine Witwe, deren Söhne zum Zeitpunkt der Versammlung nicht im Dorf anwesend sind. Allerdings gibt es mehrere Komitees, die von Frauen geleitet werden. Komitees entstehen aufgrund konkreter Bedürfnisse und Probleme, wie beispielsweise dem Bau von Toiletten für den Kindergarten, einem notwendigen Anstrich für die Klassenräume der Grundschule oder der Ausbesserung der Kirche. Da sich vor allem die Mütter um die Instandhaltung der Schulen und des Kindergartens kümmern, sind auch sie es, die fast ausschließlich in diesen Komitees aktiv sind. Wird ein Problem, wie ein neuer Anstrich der Klassenräume, erkannt, wird eine Versammlung einberufen. Der Ablauf der Versammlung und die Wahl einer mesa, die sich um das konkrete Problem kümmert, entspricht den Versammlungen und der DAS GEPLANTE KIND 126 Wahl auch der anderen Ämter, wie z.B. des mesa des ejidos. Die folgende Beschreibung bezieht sich also auf den Ablauf aller Versammlungen des Dorfes. Alle Versammlungen des Dorfes finden auf dem Fußballfeld vor der Grundschule statt. Es bilden sich zwei oder auch mehrere Gruppen, die eine mesa stellen wollen und ihre Umsetzung des Problems den Anwesenden präsentieren. Dann wird per Handzeichen abgestimmt. Eine einfache Mehrheit genügt zur Wahl. Neben diesen Aufgaben, die eine große Rolle im Dorfleben spielen, ist die Verwaltung der Kirche des Dorfes nur von relativ marginalem Interesse. Die Verwaltung der Kirche wird im wesentlichen von einem Mann, der sehr religiös ist, koordiniert. Dieser beruft auch von Zeit zu Zeit Versammlungen zur Instandhaltung der Kirche ein. Die Einnahmen der Kollekte gehen direkt an den Priester in Solís, was von den meisten Bewohnern Pueblo Nuevos mit Mißmut gesehen wird (vgl. 4.2.2.3). Neben der Organisation der Wasserversorgung und der Landverwaltung besteht der dritte Verwaltungsbereich Pueblo Nuevos in der politischen Organisation des Dorfes. 4.2.2.5 Politische Organisation Am 20. Januar 1997 wurde in Pueblo Nuevo ein neuer erster delegado sowie dessen Stellvertreter gewählt. Ein delegado ist der offizielle Repräsentant einer Gemeinde. Männer und Frauen, die älter als 18 Jahre waren, wählten in einer Direktwahl, bei der die einfache Mehrheit zum Wahlsieg nötig war, einen neuen delegado. Die Wahlbeteiligung war nicht besonders hoch – von 397 potentiellen Wählern, die 18 Jahre oder älter waren, wählten nur 156 (39%). Einerseits befand sich ein Teil der Männer zu dem Zeitpunkt der Wahl in den USA, andererseits wählte eine Reihe von Frauen nicht. 57 Der Vorgänger des neuen delegado war nach drei Jahren Amtszeit ausgeschieden. Gegen Ende seiner Amtszeit hatte es mehrere Konflikte gegeben und zwischenzeitlich (im September 1996) wurde sogar überlegt, den delegado seines Amtes zu entheben. Auf einer Dorfversammlung wurde aber beschlossen, daß man das absehbare Ende seiner Amtszeit abwarten sollte. Ursache der Konflikte bestand in einer der wichtigsten Aufgaben des delegado, die dieser nach Meinung vieler Dorfbewohner nicht erfüllte. In den Händen des delegado befindet sich ein Stempel, der für alle offiziellen Papiere, z.B. beim Verkauf eines Hauses, notwendig ist. 57 Mehrere Frauen gaben an, daß es ihnen ihre Ehemänner verboten hätten zu wählen (Feldnotiz Nr. 54, 19/2/97). KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 127 Der erste delegado migrierte Mitte 1996 in die USA und hinterließ diesen Stempel nicht dem zweiten delegado, wie es eigentlich vorgeschrieben ist, sondern seiner Frau. Diese argumentierte, daß ja auch der zweite delegado in die USA gehen würde, was er tatsächlich einen Monat später tat, und deshalb könnte der Stempel auch gleich bei ihr bleiben. Doch in dieser Situation hätte der Stempel eigentlich an den dritten delegado gehen müssen. Der Konflikt beruhigte sich, als der erste delegado schon nach vier Monaten aus den USA wieder zurückkehrte. Allerdings verlor seine Gruppe (siehe unten), die bei der Wahl am 20.1.1997 noch einmal antrat, die Wahl. Von den 156 abgegebenen Stimmen erhielt sie nur 54 Stimmen. Neben der Aufgabe, offizielle Dokumente auszustellen, besteht eine andere Aufgabe des delegado sowie seiner Stellvertreter in der Schlichtung kleinerer Konflikte. An erster Stelle stehen hier ohne Frage Konflikte zwischen Nachbarn, wie Verleumdung, üble Nachrede, aber auch Diebstahl. Ist der erste delegado oder einer seiner Stellvertreter nicht in der Lage, den Konflikt zu schlichten, oder ist die Tat zu schwerwiegend, z.B. ein versuchter Mord, dann geht der Fall weiter an das municipio und die Polizei in Temascalcingo. Kann man sich auch dort nicht einigen, geht es bis zur Distrikt Verwaltung nach El Oro (vgl. 4.1). Dies geschieht aber äußerst selten, denn die dabei entstehenden Kosten sind sehr hoch. Die Verbindung des delegado zur Verwaltung des municipio in Temascalcingo besteht auch noch in anderer Hinsicht. Da der delegado der Repräsentant eines Dorfes ist, muß er staatliche und bundesstaatliche Kreditvergaben und Zuschüsse, beispielsweise zur Ausbesserung der Straßen, mit der Verwaltung in Temascalcingo aushandeln. Auch in Temascalcingo fanden während meiner Forschung Neuwahlen des presidente del municipio, ungefähr einem Bürgermeister entsprechend, statt. Dieser wurde ebenfalls nach drei Jahren Amtszeit von allen Bürgen des municipio, die älter als 18 Jahre waren, am 10.11.1996 gewählt. Alle Gemeinden des municipio müssen nach der Wahl des presidente del municipio einen neuen delegado wählen. Die neu gewählten delegados und ihre Stellvertreter mußten sich am 5. Februar in der municipio Verwaltung in Temascalcingo melden und registrieren lassen. Im Gegensatz zu den Wahlen in Pueblo Nuevo spielen Parteien bei der Wahl des presidente del municipio eine große Rolle. In Temascalcingo dominiert seit Jahrzehnten, ähnlich wie in ganz Mexiko, die PRI (Partido Revolucionario Institucional, Partei der institutionalisierten Revolution). Auch bei der Wahl am 10.11.1996 gewann die PRI. Ruben Bello wurde wiedergewählt. Allerdings gab es nach der Wahl vor allem von Seiten der PRD (Partido de la Revolución Democrática, Partei 128 DAS GEPLANTE KIND der demokratischen Revolution), einer Partei, die sich in den achtziger Jahren von der PRI abgespalten hat, starke Proteste vor der municipio Verwaltung in Temascalcingo. Der PRI wurde von der PRD Wahlbetrug vorgeworfen. Trotz der Proteste blieb Ruben Bello im Amt und es kam zu keiner Neuwahl. 58 Anders als bei der Wahl des presidente in Temascalcingo wird in Pueblo Nuevo bei der Wahl eines neuen delegado nicht nach Parteizugehörigkeit gewählt. Parteien spielen auf Gemeindeebene keine Rolle und die Gruppen, die sich zur Wahl aufstellen lassen, bestehen häufig aus Mitgliedern unterschiedlicher Parteien. Bei der Wahl am 20.1.1997 traten nur zwei Gruppen gegeneinander an, deren Mitglieder, wenn überhaupt, dann unterschiedlichen Parteien angehörten. Gewählt wird in Pueblo Nuevo nicht nach Parteibuch, sondern aufgrund sozialer Beziehungen, wie compadrazgo Beziehungen oder Verwandtschaftsbeziehungen. Bei der letzten Wahl des delegado konkurrierten zwei Familien miteinander – einerseits die Familie Raimundo und Alberto M., andererseits die Familie Francisco, Pedro und José M., ebenfalls Brüder. Daß die Familie um Francisco gewann, lag nicht zuletzt daran, daß Francisco sehr gute Beziehungen zum comisario des ejidos hatte, der auch sein compadre war und ihn aktiv im Wahlkampf unterstützte. Um diese Arten an Beziehungen, Verwandtschaftsbeziehungen und compadrazgo Beziehungen, wird es u.a. im folgenden, letzten Abschnitt der ethnographischen Beschreibung Pueblo Nuevos, gehen. 4.2.2.6 Soziale Organisation und Verwandtschaftssystem Verwandtschaftsbeziehungen und die daraus resultierenden Verpflichtungen sind in ganz Mexiko von großer Bedeutung (Behar 1993, LeVine 1993, Lewis 1956, 1961, Lomnitz 1977, Nutini 1976, Robichaux 1997, Rothstein 1999, Selby 1976). Den großen Anteil an Verwandten, mit denen die Dorfbewohner alltäglich interagieren, zeigen auch ihre persönlichen Netzwerke, die im folgenden diskutiert werden. Hinzu kommt, daß aufgrund der historischen Entwicklung Pueblo Nuevos so gut wie alle Personen des Dorfes miteinander verwandt sind. Die Kinder der ersten Grün58 Generell sind in Mexiko allerdings seit einigen Jahren, vor allem seit der Präsidentschaft Ernesto Zedillos (1994-), politische Veränderungen zu beobachten. Die seit fast 70 Jahren die politische Landschaft dominierende PRI, die noch in den achtziger Jahren nicht vor massivem Wahlbetrug zurückgeschreckt hat, ist nicht mehr die einzige Partei mit politischer Macht und politisch wichtigen Ämtern. Ein Meilenstein war hierbei sicherlich die Wahl Cuauhtémoc Cárdenas am 6.7.1997 zum ersten frei gewählten Bürgermeister Mexiko-Stadts. Cárdenas ist Mitglied der PRD (La Jornada vom 7.6.1997). KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 129 derfamilien aus Contepec haben vorwiegend untereinander geheiratet, und bis heute heiraten ungefähr die Hälfte der Bewohner Pueblo Nuevos innerhalb der dörflichen Grenzen, wie weiter unten zu sehen sein wird. Nur eine Familie, die aufgrund eines Mordfalles aus dem benachbarten Bundesstaat Hidalgo vor vier Jahren nach Pueblo Nuevo geflohen ist, ist nicht mit den anderen Dorfbewohnern verwandtschaftlich verbunden. Wie für Mexiko typisch, handelt es sich auch in Pueblo Nuevo um ein bilaterales Verwandtschaftssystem (Nutini 1976: 5), bei dem eine Person sowohl der Verwandtschaftsgruppe ihres Vaters als auch der Verwandtschaftsgruppe ihrer Mutter angehört. Dies drückt sich auch in der Namengebung aus – neben einem Vornamen trägt jede Person den Familiennamen des Vaters (apellido paterno) und den Familiennamen der Mutter (apellido materno). Nutini (1976:5-7) weist auf die spanischen Wurzeln dieses Verwandtschaftssystems hin. Land und Besitz, beispielsweise eines Hauses, kann sowohl an die männlichen oder die weiblichen Nachkommen als auch an die Ehefrau vererbt werden. Acht Witwen haben nach dem Tod ihres Mannes dessen Besitz und Land geerbt. Es ist selten, daß eine Tochter Land erbt. Dies geschieht nur in Familien, in denen es keine männlichen Nachkommen gibt. In der Regel wird das Land an einen oder mehrere der Söhne vererbt. Häufig erbt der jüngste Sohn das Haus (vgl. Robichaux 1997). Andererseits gibt es auch Familien, die in die Ausbildung der jüngeren Söhne investiert haben. In diesen Fällen übt der Sohn oder die Söhne einen Beruf außerhalb der Landwirtschaft aus (beispielsweise den für Dorfverhältnisse gut bezahlten und angesehenen Beruf des Lehrers), und die älteren Söhne werden Landwirte. In Pueblo Nuevo gibt es keine vorgeschriebenen Heiratsregeln. Doch wie Tabelle 4.20 zeigt, läßt sich die Tendenz erkennen, innerhalb des Dorfes oder der näher Umgebung zu heiraten. DAS GEPLANTE KIND 130 Geburtsort von Männern und Frauen, die in Pueblo Nuevo verheiratet sind Frauen Geburtsort Pueblo Nuevo El Rodeo San Vincente Juanacatlán Solís Contepec San Nicolas San Miguel Cerritos Ixtapa San Antonío Calderas San Fransisco Temascalcingo Ort außerhalb des Tals Gesamt Männer Geburtsort der Ehepartner der in Pueblo Nuevo geborenen Frauen und Männer Frauen Männer N % N % N % N % 68 7 1 4 15 12 4 3 1 1 1 46,9 4,8 0,7 2,8 10,3 8,3 2,8 2,1 0,7 0,7 0,7 95 1 1 65,5 0,7 0,7 40 1 1 58,8 1,5 1,5 5 15 2 1 3,4 10,3 1,4 0,7 3 3 2 1 4,4 4,4 2.9 1,5 0,7 0,7 17,9 0,7 1,4 0,7 1 2 1 1,5 2,9 1,5 42,1 7,4 1,1 4,2 12,6 2,1 3,2 2,1 1,1 1,1 1,1 1 1 26 1 2 1 40 7 1 4 12 2 3 2 1 1 1 21 14,5 13 19,1 1 20 1,1 21,1 145 100 145 100 68 100 95 100 Tabelle 4.20: Herkunftsort der Ehepartner 59 Mehr als die Hälfte der in Pueblo Nuevo geborenen Männer und Frauen (54%) 60 sind auch in Pueblo Nuevo verheiratet, wobei der Anteil an in der Gemeinde geborener und verheirateter Männer weitaus höher liegt (66%). Dies liegt sicherlich daran, daß Männer viel eher als Frauen das Land ihres Vaters erben und somit in der Gemeinde bleiben. Weitere 10% der in Pueblo Nuevo verheirateten Personen stammen aus einer der drei benachbarten Gemeinden San Vicente, El Rodeo und Solís. 9% kommen aus Contepec. Bei diesen Fällen handelt es sich durchweg um ältere Paare, die zu den Gründerfamilien des Dorfes zählen. Neben den 64%, die entweder aus Pueblo Nuevo oder aus der unmittelbaren Umgebung, also den Nachbardörfern, stammen, wurden weitere 11% der im Dorf verheirateten Personen in einem der Dörfer des Tals oder in Temascalcingo geboren. Insgesamt stammen also gut 75% der im Dorf verheirateten Personen aus Pueblo Nuevo und der näheren 59 Wie auch in vorangegangenen Tabellen werden wiederum nur 145 Fälle betrachtet und Witwen und geschiedene Frauen ausgeklammert, da ihre Angaben zu ihren ehemaligen Männern nicht immer zuverlässig und teilweise unvollständig waren. 60 Die Berechnungen der prozentualen Anteile von Männern und Frauen gemeinsam sind in Tabelle 4.20 nicht abgebildet, lassen sich aber durch eine Addition der beiden Spalten erschließen. KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 131 oder unmittelbaren Umgebung. Dieser Anteil würde sich sogar noch erhöhen, wenn man die in Contepec geborenen Personen ausklammert. Betrachtet man nun den Herkunftsort der Ehepartner der in Pueblo Nuevo geborenen Männer und Frauen (die beiden letzten Spalten der Tabelle) so zeigt sich, daß Frauen eher dazu tendieren, auch mit Männern des Dorfes verheiratet zu sein. Männer hingegen wählen häufiger eine Frau, die aus einem anderen Dorf stammt, was sicherlich wiederum daran liegt, daß es für Männer aufgrund der Vererbungssituation schwieriger ist, für eine Heirat ihr Dorf zu verlassen. Hier stehen allerdings wiederum die Dörfer der unmittelbaren Umgebung, wie Solís und El Rodeo, an oberster Stelle. Doch ist auch der Anteil an Ehen, die ein/e im Dorf geborene/r Frau oder Mann mit einem Partner außerhalb des Tals von Solís eingegangen ist, beachtlich (für Männer und Frauen um die 20%). Hier zeigen sich die Auswirkungen der schon beschriebenen Migration nach Mexiko-Stadt. Mehrere Männer, aber auch Frauen, haben ihre Ehepartner während der Arbeitsmigration in Mexiko-Stadt kennengelernt und sind dann mit diesen nach Pueblo Nuevo zurückgekehrt. Die Tendenz, einen Mann oder eine Frau aus Pueblo Nuevo oder der näheren Umgebung zu heiraten, läßt sich vor allem damit erklären, daß die Gelegenheiten, einen Ehepartner kennenzulernen, trotz der Arbeitsmigration weiterhin limitiert sind. Wie die Lebensgeschichten mehrerer Frauen zeigen, lernt man in Pueblo Nuevo seinen zukünftigen Ehepartner in der Regel entweder auf einer der fiestas, der Dorffeste, die zu unterschiedlichen Anlässen in allen Dörfern des Tals entweder vom gesamten Dorf oder von Privatpersonen veranstaltet werden, kennen oder man kennt ihn schon seit der Kindheit. 61 Sind sich beide Partner einig und sympathisch, dann werden sie zu novios, eine Vorstufe der Heirat. Bei vielen Paaren ist diese Phase nur sehr kurz, manchmal sogar nur einige Tage, denn sobald es zu einer sexuellen Beziehung kommt, gilt eine Frau nicht mehr als novia. Entgegen dem Ideal der Jungfräulichkeit und der ‚Heirat in Weiß‘, die in Pueblo Nuevo einer Jungfrau vorbehalten ist, denn alle anderen Frauen müssen in Beige kirchlich heiraten, haben viele Frauen schon vor einer kirchlichen oder staatlichen Ehe sexuelle Beziehungen mit ihrem zukünftigen Mann gehabt. 62 Wird dieses Verhalten bekannt, führt dies in fast allen Fällen zum Umzug der Frau in das Haus ihrer Schwiegereltern und dann auch zur Heirat. Allerdings gibt es mehrere Fälle, bei denen das Paar über Jahre hinweg in einer unión libre - ‚einer Ehe ohne Trauschein‘ - lebte, bevor kirchlich 61 Ähnlich beschreibt auch LeVine (1993: 56) die limitierten Möglichkeiten, Ehepartner im ländlichen Mexiko kennenzulernen. 62 Eine ‚Heirat in Weiß‘ geht auch damit einher, daß die Eltern des Bräutigams um die Hand der Frau bei deren Eltern anhalten. 132 DAS GEPLANTE KIND und staatlich geheiratet wurde. Trotz seiner weiten Verbreitung gilt der voreheliche Geschlechtsverkehr generell als ein Ehrverlust für die Frau und ihre Eltern. Besonders die Eltern der Frau drängen deshalb auf einen schnellen Umzug ihrer Tochter, um somit das kulturelle Fehlverhalten wieder in einen offiziellen und akzeptablen Handlungsrahmen zu überführen. Denn als noch schlimmer als der voreheliche Geschlechtsverkehr gilt ein verlassenes und gefallenes Mädchen. 63 Insgesamt haben über die Hälfte aller Frauen (53%, N=145) in einer unión libre gelebt oder leben noch in einer solchen Beziehungsform. Allerdings ist der Prozentsatz für Frauen jüngerer Kohorten weitaus höher, teilweise über 70%. Dies kann damit zusammenhängen, daß die unión libre von einigen jüngeren Frauen auch bewußt gewählt wird, da diese Frauen es vorziehen, sich noch nicht zu einer Heirat zu entschließen. Trotzdem sollte nicht übersehen werden, daß es auch eine Reihe an Frauen gibt, die sich dem kulturellen Ideal entsprechend, verhalten. Die Ehen sind sehr stabil, zumindest hinsichtlich ihrer zeitlichen Dauer, was der Anteil von nur vier geschiedenen oder getrennt lebenden Frauen im Dorf belegt. Zwar berichteten mehrere Frauen vom Ehebruch ihres Mannes, der in Mexiko berühmt, berüchtigten la otra, der anderen Frau, doch in nur einem mir bekannten Fall hat dies zu einer Trennung geführt. Dies hängt sicherlich auch mit den im Dorf bestehenden gender Konzepten zusammen. Die sozialen Rollen, u.a. auch die Geschlechterrollen, werden im folgenden Kapitel ausführlich behandelt. Wie zu vermuten, liegen das Heiratsalter und das Alter bei erster Geburt zeitlich nah beieinander, denn häufig kommt es schon vor einer staatlichen und/oder kirchlichen Heirat, bzw. dem Umzug der Frau ins Haus der Schwiegereltern oder in einen eigenen Haushalt, zum Geschlechtsverkehr und zu einer Schwangerschaft. Das Heiratsalter ist hier definiert entweder als die staatliche oder die kirchliche Heirat und für die Frauen, die in unión libre leben, als der Zeitpunkt, ab dem sie mit ihrem Mann zusammengelebt haben. Im Schnitt heiraten die Frauen mit 19 Jahren (N=145; ∅ 19,1; std. 4,11; Median 18,0) und bekommen mit 20 Jahren ihr erstes Kind (N=139, da einige der verheirateten Frauen (noch) kein Kind haben; ∅ 19,96; std. 3,73; Median 19,0). Das erste Geburtenintervall (Median 1,0), also die Zeit von der Heirat bis zur ersten Geburt, ist folglich sehr kurz. Wandel und Variationen dieses Verhaltens werden ausführlich in den folgenden Kapiteln 6 und 7 analysiert. Es wurde schon erwähnt, daß ein junges Paar häufig zunächst zu den Eltern des Mannes zieht. Nach einigen Jahren, wenn das junge Paar ausreichend Kapital akkumuliert hat, versucht es, sich eigenständig zu etablieren. Die patrilokale Residenz 63 Dies wird als fracaso, Scheitern, bezeichnet (LeVine 1993: 60). KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 133 (Murdock 1949: 16) ist die verbreitetste Form, allerdings gibt es auch Fälle matrilokaler und neolokaler Residenz (Murdock 1949: 16). 65% der Paare (N=145) lebten für einige Zeit im Haus der Schwiegereltern der Frau (patrilokale Residenz). Allerdings variiert die Länge, die ein Paar im Haus der Schwiegereltern verbrachte, stark (∅ 15,4 Jahre; std. 14,1; Median 10,5). 23% der Paare lebten von Beginn an in einem eigenen Haushalt (neolokale Residenz), 9% der Fälle lebten vorübergehend im Haushalt der Eltern der Frau (matrilokale Residenz) und 3% lebten bei weiteren Familienangehörigen. Vor allem Murphy (1976: 187-188) und Nutini (1976: 8) haben darauf hingewiesen, daß es zwar eine starke Tendenz zur patrilokalen Residenz in ländlichen Gemeinden Mesoamerikas gibt, dadurch aber oft übersehen wird, daß auch ein bestimmter Prozentsatz an Paaren zur Familie der Frau zieht. Wie auch von Nutini und Murphy beschreiben, wird die Entscheidung für den jeweiligen Wohnort nach der Heirat stark von ökonomischen Gesichtspunkten bestimmt. Ziehen in Pueblo Nuevo Paare zu den Eltern der Frau, hängt dies damit zusammen, daß die Familie der Frau in diesen Fällen mehr Ressourcen, z.B. in Form eines Zimmers, zu bieten hat. Allerdings ist nicht zu übersehen, daß die patrilokale Residenz die verbreitetste Residenzform nach der Heirat ist. Es gibt in Pueblo Nuevo aber auch noch die neolokale Residenz. Vor allem in den letzten Jahren ist eine Gruppe junger Paare entstanden, die schon vor ihrer Heirat und gemeinsamen Residenz ausreichend Kapital akkumuliert hat, so daß es diesen Paaren möglich ist, von Beginn ihrer Ehe an unabhängig von Eltern und Schwiegereltern zu leben und zu wirtschaften. Die Implikationen, die das Leben bei den Schwiegereltern für ein junges Paar und vor allem für die ins Haus kommende Ehefrau hat, werden ausführlich im folgenden Kapitel behandelt (vgl. 5.3.6). Bei einem Kohortenvergleich haben sich fast keine Veränderungen der Altersdifferenz zwischen den (Ehe)partnern ergeben. Generell kann für alle Paare gesagt werden, daß in 67% der Fälle (N=145) der Mann älter als die Frau ist. In 12% der Fälle sind beide Partner gleichaltrig und 21% der Frauen sind älter als ihre Männer. Häufig sind der Mann oder die Frau nur ein oder zwei Jahre älter als ihr Partner, allerdings ist die Streuung für die Männer sehr stark. 64 Neben der sozialen Organisation auf der Grundlage verwandtschaftlicher Beziehungen ist der andere wichtige Eckpfeiler des sozialen Lebens das compadrazgo System. Compadrazgo findet sich in unterschiedlicher Form in ganz Mexiko (Ber- 64 Minimum: 1 Jahr, Maximum: 19 Jahre. 134 DAS GEPLANTE KIND ruecos 1976). 65 Das entscheidende Charakteristikum des mexikanischen compadrazgo Systems, das auch als rituelle Verwandtschaft klassifiziert wird (Nutini 1984), besteht darin, daß, anders als z.B. im europäischen Patenschaftssystem, die wichtige Beziehung nicht die zwischen Pate (padrino/madrina) und Patenkind (ahijado/a) ist. Vielmehr besteht die wichtigste Dyade zwischen den compadres, also den Eltern des Kindes, über welches die Beziehung etabliert wird, und den Paten. Anders als z.B. in Tlaxcala, wo compadrazgo Beziehungen auch über zu vermittelnde Objekte, wie einem Auto, etabliert werden können (Nutini 1984, White, Schnegg, Nutini und Brudner 1999), ist es in Pueblo Nuevo nur möglich, eine compadrazgo Beziehung über die eigenen Kinder zu etablieren. Dadurch ist das compadrazgo System in Pueblo Nuevo sehr viel weniger komplex als beispielsweise in Tlaxcala, denn es gibt erheblich weniger Gelegenheiten, compadrazgos zu knüpfen. Trotzdem bieten sich den Bewohnern Pueblo Nuevos immer noch eine Reihe von Anlässen, compadrazgo Beziehungen einzugehen. Einerseits werden compadrazgo Beziehungen bei kirchlichen Übergangszeremonien, wie der Taufe, der Erstkommunion, der Firmung und der Heirat etabliert. Vor allem compadrazgo Beziehungen, die über die Taufe gestiftet werden, gelten als besonders wichtige Beziehungen und werden als die respektvollsten beschrieben. Andererseits können auch bei säkularen Ereignissen, wie Schulabschlüssen, der Feier zur Vollendung des fünfzehnten Lebensjahres einer Tochter, der quinceñera, oder bei der Feier des ersten und dritten Geburtstages eines Kindes compadrazgo Beziehungen eingegangen werden. Normalerweise werden compadrazgo Beziehungen zwischen Paaren etabliert, aber es gibt auch Fälle, in denen ein Paar eine ledige Person darum bittet, compadre bzw. comadre zu werden. Bei allen religiösen Anlässen und bei einigen der säkularen Anlässe, wie der Feier zum quince años (fünfzehntes Lebensjahr einer Tochter) und der Feier des ersten und dritten Lebensjahres eines Kindes, aber nicht bei Schulabschlüssen, findet eine Messe statt. Bei allen compadrazgos wird eine Feier veranstaltet. Manchmal handelt es sich bei der Feier nur um ein Essen im Familienkreis, in anderen Fällen hingegen wird ein großes Fest mit einer Musikkapelle, zu dem alle Dorfbewohner eingeladen sind, veranstaltet. Die Art des Festes hängt vor allem von den wirtschaftlichen Möglichkeiten des Paares und auch der compadres ab, denn auch diese sind stark an den Kosten beteiligt. In Pueblo Nuevo ist es, anders als z.B. in Tlaxcala (White, Schnegg, Nutini und Brudner 1999), die Regel, Verwandte als compadres zu wählen. Häufig werden Eltern, Geschwister und Schwa65 Zu den Wurzeln und der Entwicklung des compadrazgo Systems vgl. Nutini 1984 und White, Schnegg, Nutini und Brudner 1999. KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 135 ger/Schwägerinnen gefragt. Begründet wird dieses Vorgehen damit, daß man diesen engen Verwandten mehr als anderen Personen vertrauen und davon ausgehen kann, daß diese auch die Verpflichtungen der compadrazgo Beziehung erfüllen. Hierbei handelt es sich beispielsweise um finanzielle Unterstützung, Hilfe bei der Kindererziehung oder auch den Austausch von Lebensmitteln. Die Bedeutung und Funktion der comadres und compadres werden im folgenden Kapitel noch ausführlich behandelt (vgl. 5.3.1). Vorab wird die soziale Struktur eines Teil des Dorfes, so wie sie sich aus den erhobenen 53 persönlichen Netzwerken rekonstruieren läßt, dargestellt. Merkmale der sozialen Struktur des Dorfes Insgesamt sind die persönlichen Netzwerke von 34 Frauen und 19 Männern erhoben worden. Persönliche Netzwerke erfassen das soziale Umfeld eines Akteurs (Schweizer 1996: 242). 66 Ausgewählt wurden Informanten, mit denen ich besonders intensiv gearbeitet habe und zu denen deshalb weiterer Daten vorhanden sind, die es ermöglichen, die sozialen Beziehungen sowohl quantitativ als auch qualitativ weitergehend zu erfassen. Die Auswahl der Männer gestaltete sich schwieriger als die Auswahl der Frauen. Anders als bei der Erhebung des Männerfragebogens, die von einem männlichen Assistenten durchgeführt wurde, wollte ich die Netzwerkinterviews selber erheben, da sie erheblich länger dauerten (im Extremfall bis zu 1 ½ Stunden) und eine kompliziertere Struktur als der Männerfragebogen besitzen. Als Ethnographin mit Frauen zu arbeiten hat sich im ländlichen, mexikanischen Kontext nie als Problem dargestellt. Als Ethnographin Interviews mit Männern alleine durchzuführen aber sehr wohl. Dies ist schon im vorangegangenen Kapitel thematisiert worden (vgl. 3.3). Aus diesem Grund war die kulturell akzeptabelste Erhebungsstrategie, Ehemänner von mir sehr vertrauten Frauen zu befragen. Ich führte immer erst das Interview mit der Frau durch, wodurch sie über meine Fragen informiert war und ihren Mann zur Teilnahme bewegen konnte. Meine Erklärung, daß mich sowohl die Sicht des Ehemannes als auch die Sicht der Ehefrau interessiert, wurde durchgehend akzeptiert. Außer 17 verheirateten Männern wurden noch 66 Eine vollständige Befragung konnte aus zeitökonomischen Gründen nicht durchgeführt werden. Wenn alle Bewohner des Dorfes, die 15 Jahre oder älter waren, befragt worden wären, hätten 467 Interviews durchgeführt werden müssen. Bei einer vollständigen Erfassung hätte es sich um ein Gesamtnetzwerk gehandelt (als Überblick zu Gesamtnetzwerken und zu persönlichen Netzwerken vgl. Schweizer 1996). Allerdings können die persönlichen Netzwerke mehrerer Akteure des Dorfes auch zu einem partiellen Gesamtnetzwerk des Dorfes zusammengefügt werden (siehe unten). 136 DAS GEPLANTE KIND zwei weitere - unverheiratete Männer - befragt. Beides waren Söhne von mir wiederum sehr vertrauten Frauen, wodurch die Erhebung ebenfalls problemlos verlief. Die eigentliche Erhebung der persönlichen Netzwerke gliedert sich folgendermaßen. Zunächst mußte festgestellt werden, mit wem (in der Netzwerkterminologie mit welchen Alteri) Ego, die befragte Person, welche Arten an Beziehungen unterhält. Normalerweise wird eine Anzahl von standardisierten Fragen, auch Namensgenerator genannt, verwendet. Dieser Namensgenerator erfaßt die verschiedenen Dimensionen sozialer Unterstützung und Hilfeleistung, die zwischen Ego und seinen Alteri bestehen können (Bernard et al. 1990, Schweizer 1996: 245-6, McCallister und Fischer 1983). Im Anschluß daran werden Hintergrundinformationen zu Ego, zu den Alteri und zu der sie verbindenden Beziehung erfragt. Gängige Fragen zu den Egos und den Alteri sind Fragen zum Alter, zur Schulbildung oder zum wirtschaftlichen Status. Hinsichtlich der Art der Beziehung ist es üblich, nach deren Länge und Intensität zu fragen (Schweizer, Schnegg und Berzborn 1998). Zum Schluß des Interviews wurde außerdem noch nach den Beziehungen, die die Alteri untereinander unterhalten, gefragt. 67 Als Namensgenerator wurde eine leicht modifizierte und erweiterte Version des von Schweizer, Schnegg und Berzborn (1998) in ihrer Costa Mesa Studie verwendeten Fragebogens benutzt. 68 Dieser Namensgenerator bietet den Vorteil, daß er 67 Diese Frage, die die Dichte von Egos persönlichem Netzwerk erfassen sollte, wurde zwar bei allen Interviews durchgeführt, aber es fragt sich, ob die Art und Weise eine sinnvolle Form war. Alle von Ego genannten Alteri wurden paarweise danach abgefragt, ob sie sich miteinander verstehen. Nur danach zu fragen, ob sie sich kennen, wäre aufgrund der Situation im Dorf, wo fast jeder mit jedem verwandt ist, relativ banal gewesen. Aber auch die gewählte Frage erwies sich als problematisch, allerdings nicht so sehr aufgrund ihres semantischen Gehaltes, der durchweg gut verstanden wurde, als vielmehr aufgrund der Zeit, die für sie verwendet werden mußte. Die Interviews wurden durch diese letzte Frage mindestens doppelt so lang und die meisten Informanten waren ab einem gewissen Punkt frustriert und gaben zum Teil nur noch die gleichen Antworten. Dies war insofern sehr verständlich, wenn man bedenkt, daß insgesamt 719 Alteri von 53 Informanten genannt wurden, was einer durchschnittlichen Anzahl von 14 Alteri pro Ego entspricht, dann wurden im Schnitt nur für die letzte Frage allein 91, bei einer Informantin sogar 325, weitere ‚Subfragen’ gestellt (Paarbildungskoeffizient: n x (n-1)/2; also bei 14 Alteri 91 Fragen, bei 26 Alteri, dem Maximum an Nennungen, 325 Fragen!). Und das strapazierte die Geduld der meisten Informanten gewaltig. Mit drei der Informanten - die nach der ersten Erhebung noch Geduld hatten - wurde alternativ ein pile sort Verfahren (Weller und Romney 1988: 20ff., Pauli 1994) versucht. Dieses Verfahren führte für diese drei Informanten zu sehr ähnlichen Ergebnissen und war vor allem für die Informanten erheblich einfacher und schneller zu bewältigen. Für weitere Untersuchungen wäre zumindest zu überlegen, ob ein Pile Sort Verfahren nicht einem paarweisen Vergleich vorzuziehen ist. Die Matrizen der Dichte Erhebung werden in der folgenden Beschreibung der persönlichen Netzwerke nicht berücksichtigt. 68 Für die Erstellung des Fragebogens waren Thomas Schweizer, Christine Avenarius und Julia Pauli verantwortlich. Der Fragebogen (deutsch und spanisch) findet sich im Anhang (9.1.4). KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 137 sich einerseits schon als praktikabel erwiesen hat (Schweizer, Schnegg und Berzborn 1998) und andererseits dadurch die erhobenen Daten mit anderen Daten verglichen werden können. Dies war insofern von besonderer Bedeutung, da die hier vorgestellten Netzwerkdaten im Rahmen des Leibniz-Projekts von Thomas Schweizer mit identisch erhobenen Daten aus anderen Regionen der Welt, wie Griechenland, USA, Lettland, Peru und Singapur, verglichen werden sollten. Der verwendete Namensgenerator generiert - bis auf eine Ausnahme - das Kernnetzwerk der Akteure, also diejenigen Beziehungen, die nach Granovetter (1982) als starke Beziehungen bezeichnet werden. Hierdurch ermittelt man Personen, die Ego intensiv kennt und mit denen er viel interagiert. Durch die Beschränkung auf Egos Kernnetzwerk wird der Umfang und die Dauer der Befragung auch nicht zu lang (Schweizer 1996: 247). Die Informanten konnten auf jede Frage so viele Alteri nennen, wie sie wollten. Insgesamt wurden 14 ‚namensgenerierende’ Fragen gestellt, die, bis auf die letzte Frage, alle nach Personen fragen, die Ego in unterschiedlicher Art und Weise unterstützen. Zwei Fragen kamen noch zu den zwölf von Schweizer, Schnegg und Berzborn (1998) verwendeten hinzu. Die zwölf übernommenen Fragen wurden, mit nur einer leichten Modifikation, direkt ins Spanische übersetzt. 69 Frage 12 fragte nach der Aktivierung sozialen Kapitals bei der Arbeitsuche. 70 Diese Frage ging über Egos Kernnetzwerk hinaus, wie auch die Antworten zeigten. Viele der genannten Alteri wurden erstmals und nur hinsichtlich dieser Frage genannt. Diese Frage ist aber die einzige Frage des Namensgenerators, die auch schwache Beziehungen erfaßt. Im Gegensatz zu allen anderen Fragen fragte die letzte Frage nach Personen, die Ego lieber vermeiden möchte. 71 Grund für diese Frage waren erste Ergebnisse meiner ethnographischen Arbeit, die mir gezeigt hatten, daß für Ego wichtige Personen insofern, als Ego im alltäglichen Kontext viel mit ihnen interagiert (oder interagieren muß), nicht unbedingt Personen sind, die Ego als unterstützend wahrnimmt. Vor allem die Schwiegermutter ist eine Person, die sicherlich eine wichtige soziale Rolle im Leben vieler Frauen einnimmt, die aber von einigen Frauen auch gerne vermieden wird. Ähnliches trifft auf bestimmte Nachbarn zu. Bei der folgenden Darstellung und Analyse der Ergebnisse werden die Nennungen auf diese Frage zunächst ausgeklammert. Allerdings 69 Bei Frage drei wurde nicht wie ursprünglich nach Hilfe bei einer Steuererklärung gefragt, was im Dorfkontext absurd gewesen wäre, sondern nach Hilfe bei dem Ausfüllen von Papieren, um zum Beispiel Land zu kaufen oder zu verkaufen. 70 ‚Nehmen wir an, Sie sind auf Arbeitsuche. Welche Leute kennen Sie, die mehr Kontakte als Sie selber haben und Sie empfehlen könnten?‘ 71 ‚Gibt es Personen, mit denen Sie zu tun haben müssen, die Sie aber lieber vermeiden würden?‘ 138 DAS GEPLANTE KIND gibt es drei Fälle, wo ein Alter sowohl eine unterstützende Funktion hat, als auch lieber vermieden werden will. Diese drei Fälle werden im folgenden berücksichtigt. Generell läßt sich sagen, daß sich Ego und seine Alteri hinsichtlich der erfragten Charakteristika ähnlich sind. Die befragten Frauen sind im Schnitt 35 Jahre alt (∅ 34,9; std. 15,3) und ihre Alteri 37 Jahre (∅ 36,8; std. 17,4). Die befragten Männer sind im Schnitt ein wenig älter (∅ 39,4; std. 15,2), was daran liegt, daß so gut wie ausschließlich Ehemänner interviewt wurden und diese häufig älter als ihre Frauen sind (vgl. 4.2.2.6). Auch die Alteri der Männer sind im Schnitt älter als die der Frauen (∅ 38,6; std. 17,2). Die Mehrheit der befragten Informanten ist in Pueblo Nuevo geboren worden (88% der Männer und 56% der Frauen, die anderen Frauen haben einen Mann aus Pueblo Nuevo geheiratet und leben seit mehreren Jahren im Dorf). Auch die genannten Alteri stammen zum großen Teil aus dem Dorf (68%) oder aus dem Tal von Solís (weitere 15%). 11% sind allerdings in Mexiko-Stadt geboren worden. Hinsichtlich des Geburtsortes der Alteri gibt es fast keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Nur in einem Punkt unterscheiden sich die beiden Geschlechter – Männer kennen mehr Personen, die in Mexiko-Stadt geboren worden sind. Dies ist sicherlich auch eine Konsequenz der Migration. Zwar migrieren auch Frauen nach Mexiko-Stadt, doch im Gegensatz zu den männlichen Migranten sind sie erheblich mehr an das Haus, in dem sie arbeiten, gebunden und wechseln nicht häufig die Arbeitsstelle. Auch hinsichtlich der Berufe läßt sich eine Ähnlichkeit zwischen Ego und seinen Alteri erkennen. 94% der befragten Frauen sind Hausfrauen und sie nennen 47% Hausfrauen sowie weitere 20% Landwirte als Alteri. Bei den Männern sind 89% Landwirte, die zum Teil auch anderen Nebentätigkeiten nachgehen. Die Männer geben 33% Landwirte und 27% Hausfrauen als ihre Alteri an. Wie auch schon hinsichtlich des Geburtsortes der Alteri festgestellt worden ist, kennen Männer mehr Personen in Mexiko-Stadt. Darüber hinaus kennen sie auch mehr Personen mit unterschiedlichen Berufen als die weiblichen Informanten, was sicherlich daran liegt, daß sie aufgrund der Geschlechtertrennung und der Aufgaben, die für Mann und Frau damit verbunden sind, auch stärker gezwungen sind, soziales Kapital zu akkumulieren, mit Hilfe dessen sie möglicherweise Arbeit bekommen. 72 Dies zeigt auch die Größe der Netzwerke. Insgesamt sind 719 Alteri genannt worden, was einer durchschnittlichen Netzwerkgröße von 14 Beziehungen (13,6) 72 Auf die Rolle des Ehemanns als Versorger der Familie wird unter 5.3.5 eingegangen. KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 139 entspricht. Allerdings ist das durchschnittliche Netzwerk der Männer mit 15 Beziehungen (14,6) um 2 Alteri größer als das der Frauen mit 13 Beziehungen (12,9). Männer haben also mehr Alteri in ihrem persönlichen Netzwerk, die unterschiedlichere Berufe ausüben und unterschiedlicherer Herkunft sind. Die männlichen Informanten nennen auch erheblich mehr Männer als Frauen (64% Männer zu 36% Frauen). Ebenso interagieren die weiblichen Informanten mehr mit Frauen (62%) als mit Männern (38%). 73 Daß sich die befragten Männer und Frauen und ihre Alteri in vieler Hinsicht doch sehr ähnlich sind, liegt daran, daß sie sich zum großen Teil täglich sehen. Hinsichtlich der Intensität der Beziehung gibt es keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen. Beide Geschlechter geben an, daß sie mit der Hälfte ihrer Alteri (50%) jeden Tag, mit 24% zwei bis drei Mal die Woche und mit 15% ein bis zwei Mal im Monat interagieren. Nur sehr wenige der Alteri sieht Ego über eine längere Zeit hinweg nicht. 74 Insofern ist es nicht erstaunlich, daß 70% der Alteri den Informanten schon seit ihrer Kindheit bekannt sind, allerdings liegt der Prozentsatz für die weiblichen Informanten höher (73%) als für die männlichen (64%), was wiederum mit den heterogeneren Netzwerken der Männer zu erklären ist. Die Ähnlichkeit zwischen den Egos und ihren Alteri läßt sich auch damit begründen, daß die überwiegende Mehrheit der Alteri Egos Verwandte sind. Noch stärker als die von Schweizer, Schnegg und Berzborn (1998: 9) in Kalifornien untersuchten lateinamerikanischen Migranten, die 73% Verwandte als Alteri angaben, interagieren die Bewohner Pueblo Nuevos mit ihren Verwandten. 80% aller genannten Beziehungen sind Verwandtschaftsbeziehungen. Insgesamt wurden 47 verschiedene Beziehungsarten genannt. Die Informanten differenzierten alle Beziehungsarten nach Geschlecht (z.B. Freund/Freundin oder Schwager/Schwägerin). Es wurden 30 verschiedene und nach Geschlecht differenzierte Verwandtschaftsrollen erwähnt. Neben den verwandtschaftlichen Rollen wurden außerdem noch 17 weitere Beziehungsarten angegeben - einerseits Freunde, Bekannte, Nachbarn und compadres, andererseits ‚offizielle Beziehungen’ wie den comisario des Dorfes, den delegado (vgl. Tabelle 4.19) und verschiedene Lehrer. In sehr wenigen Fällen (1%) wurden mehr als eine Kategorie zur Beschreibung der Art der Beziehung angegeben. Hierbei handelt es sich fast immer um die Kombination aus compadre oder comadre und einer verwandtschaftlichen Rolle, wie 73 Zu einem sehr ähnlichen Ergebnis kommen auch Schweizer, Schnegg und Berzborn (1998: 9). Mit 11% der Alteri interagieren die Informanten alle 2 Monate bis 1 Mal im Jahr und mit nur 0,7% alle zwei Jahre bis hin zu alle zehn Jahre. 74 140 DAS GEPLANTE KIND Bruder oder Schwägerin. Da es sich um sehr wenige Fälle handelt, wurde bei der Verkodung der Beziehungsarten immer nur die erste Nennung berücksichtigt. Zwischen Männern und Frauen besteht hinsichtlich der Beziehungsarten ein bedeutsamer Unterschied. Männer erwähnen erheblich häufiger männliche Freunde als Frauen Freundinnen. Männliche Freunde sind die von Männern am häufigsten genannte Beziehungsart (17% aller Alteri), gefolgt von Brüdern (14%) und Söhnen (8%). Im Gegensatz dazu werden von Frauen an erster Stelle ihre Töchter genannt (19%), gefolgt von den Schwestern (9%) und dann den Freundinnen (7%). Allerdings ist bei diesen Ergebnissen zu bedenken, daß sie stark von Lebenszykluseffekten beeinflußt werden. Freundinnen spielen besonders für junge, unverheiratete Mädchen eine wichtige soziale Rolle, alle anderen Frauen erwähnen sie hingegen kaum (vgl. 5.3.1). Hingegen spielen männliche Freunde für die Männer in all ihren Phasen des Lebenszyklus eine wichtige soziale Rolle, wodurch die Netzwerke der Männer auch heterogener als die der Frauen sind. Viel häufiger als Frauen kooperieren Männer auch mit nicht Verwandten, sei es bei einer gemeinsamen Arbeit und Arbeitsuche, bei der Ernte oder bei politischen Aktivitäten. Durch ihre sich von den Frauen in wichtigen Punkten unterscheidende soziale Einbettung, die sich aufgrund der Geschlechtersegregation und den damit verbundenen Geschlechterrollen ergibt, haben Männer auch mit anderen Personen mehr Konflikte als Frauen. Noch stärker als hinsichtlich der Hilfeleistungen, wo sich zeigte, daß Frauen mehr mit Frauen und Männer mehr mit Männern interagieren, bleiben die Geschlechter bei ihren Konflikten unter sich. Insgesamt erwähnten die Frauen 45 Personen, die sie lieber vermeiden möchten. Von diesen 45 Personen waren 39 Frauen. Die Männer erwähnten 14 Personen, die sie gerne vermeiden möchten. 11 davon waren Männer. Der Anteil an Verwandten ist allerdings für beide Geschlechter ähnlich. Verwandte werden selten als eine Person, die man gerne vermeiden möchte, genannt (36% für die Männer, 33% für die Frauen). Bei den Frauen handelt es sich hauptsächlich um Nachbarinnen, mit denen sie Konflikte haben. Dies bestätigen auch ethnographische Beobachtungen und die Tatsache, daß der Trend, sein Haus mit einer hohen Mauer der Öffentlichkeit unzugänglich zu machen, häufig von Frauen initiiert wird, die ihre Nachbarinnen nicht mehr sehen möchten. Hauptursache der Konflikte unter den Frauen sind Neid und Mißgunst, die stark durch die zunehmende wirtschaftliche Stratifizierung der Gemeinde geschürt werden. Gerade die Frauen mit besseren und moderneren Häusern werden beneidet und sind häufig Gegenstand übler Nachrede. Entgegen der Annahme, daß die Schwiegermutter eine Person ist, die viele Frauen vermeiden wollen, aber nicht können, wird sie fast nicht erwähnt. Nur die drei Frauen, die sowohl eine Person als unterstützend nann- KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 141 ten als auch die gleiche Person lieber vermeiden wollten, nannten ihre Schwiegermutter. Die Rolle der Schwiegermutter ist folglich von starker Ambivalenz geprägt und läßt sich, anders als die der Nachbarin, nicht nur auf eine negative Beziehung reduzieren (vgl. 5.3.6). Männer nennen hauptsächlich Bekannte aus Pueblo Nuevo, mit denen sie Konflikte haben. Bei Nachfragen stellte sich heraus, daß es sich fast ausschließlich um politische Konflikte handelt. Zum Zeitpunkt der Erhebung war der delegado schon gewählt worden (vgl. 4.2.2.5), und die Wahl hatte vor allem die Männer in zwei Lager gespalten. Das drückt sich auch bei den Personen, die die Männer lieber vermeiden möchten, aus. Die Frauen wurden von diesen Konflikten nicht tangiert und sagten auf meine Nachfrage hin, daß das Probleme unter Männern wären. Im folgenden soll nun der Zusammenhang zwischen den Arten an sozialer Unterstützung, dem Geschlecht der Alteri und der Art der Beziehung betrachtet werden. Hier werden wiederum nur die positiven Beziehungen in der Analyse berücksichtigt. In Tabelle 4.21 finden sich die entsprechenden Korrelationen. Geschlecht Frauen / Männer (N=719) Verwandtschaft Verwandte/NichtVerwandte (N=719) 0,05 -0,16** -0,24** 0,16** 0,01 0,29** -0,62 0,13** 0,19** 0,11** 0,10** -0,53 0,01 0,02 0,13** -0,01 0,16** 0,15** 0,21** 0,06 0,02 0,07 0,06 0,13** -0,16** -0,03 Arten an Hilfeleistungen Ausleihen von Gegenständen Hilfe im Haus Bürokratische Hilfe Persönliches Gespräch Wichtiger Rat Hilfe bei Krankheit Geld leihen Probleme mit Partner Hilfe bei Depression Freizeitaktivitäten Einmal im Monat Treffen Hilfe bei der Arbeitsuche Weitere wichtige Personen Verwandtschaft Freundschaft Freunde / u. Geschlecht andere Weib. Verw. / (N=719) Männl. Verw. (N=719) 0,07 -0,19** -0,24** 0,14** -0,03 0,29** -0,12** 0,11* 0,17** 0,08 0,09* -0,03 -0,01 -0,06 -0,11** -0,01 -0,16** -0,13** -0,15** -0,08** 0,01 -0,04 -0,03 -0,11** 0,10** 0,04 * signifikant α=0,05; ** signifikant α=0,01; Pearson Produkt Moment Korrelationen Tabelle 4.21: Korrelationen zwischen Art der Hilfeleistung, Geschlecht und Rollen Die Trennung der Geschlechter findet sich auch hier wieder, und Wellman und Wortleys (1990: 582) Feststellung „men fix things; women fix relationships“ bestätigt sich in Pueblo Nuevo wie in Costa Mesa, Kalifornien (Schweizer, Schnegg und 142 DAS GEPLANTE KIND Berzborn 1998: 9). Wie auch bei Schweizer, Schnegg und Berzborn (1998: 9) sind die Korrelationen nicht besonders stark, aber statistisch signifikant und es läßt sich ein eindeutiges Muster erkennen. Durch eine Differenzierung in männliche und weibliche Verwandte (Spalte 3) können noch präzisere Aussagen gemacht werden als wenn nur das Geschlecht der Alteri als erklärende Variable verwendet wird. Weibliche Verwandte besprechen mit Ego persönliche Probleme, helfen bei Krankheiten, bei Ehekrisen und bei Depressionen. Wichtige Ratschläge werden allerdings von männlichen und weiblichen Verwandten gleichermaßen erteilt, nicht aber von Freunden oder anderen nicht verwandten Personen. Männliche Verwandte werden vor allem bei Hilfe im Haus, bei finanziellen und bei bürokratischen Problemen konsultiert. Freizeitaktivitäten und Treffen einmal im Monat, beispielsweise um gemeinsam zu essen, werden hauptsächlich mit Frauen unternommen, allerdings müssen diese nicht unbedingt Verwandte sein. Hier spielen comadres eine Rolle. Freunde (letzte Spalte, Tabelle 4.21) werden nur in einer Hinsicht erwähnt und gebraucht. Sie sind das soziale Kapital, welches Ego bei seiner Arbeitsuche braucht. Diese Hilfe wird nicht von Verwandten, gleich welchen Geschlechts, geleistet. Die Bedeutung von Verwandten im Leben der Bewohner Pueblo Nuevos zeigt sich also nicht nur in ihrer starken Präsenz, 80% der Beziehungen sind Verwandtschaftsbeziehungen, sondern auch darin, daß sie bis auf die Informationen bei der Arbeitsuche und die Freizeitaktivitäten, alle anderen wichtigen Hilfeleistungen erfüllen. Die persönlichen Netzwerke der 53 befragten Dorfbewohner können auch zu einem Gesamtnetzwerk zusammengefaßt werden, denn die Informationen, ob einer der 53 Informanten einen – oder mehrere - der anderen 52 Informanten als seinen Alter angab, können aus den persönlichen Netzwerken generiert werden. Abbildung 4.6 zeigt die soziale Struktur, die sich hieraus ergibt. Akteure, also sowohl Egos als auch Alteri, sind durch Punkte dargestellt, die sie verbindenden Beziehungen durch Linien. Es handelt es um einen gerichteten Graphen, denn durch die Pfeile kann festgestellt werden, ob es sich um eine reziproke Beziehung oder eine einseitige Beziehung, bei der nur einer der beiden Akteure den anderen nannte, handelt. Akteure mit einer Identifikationsnummer sind einer der 53 befragten Informanten. KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS Abbildung 4.6: Die sozialen Beziehungen der 53 Informanten 75 75 Die Abbildung wurde mit dem Programm Pajek (Batagelj und Mrvar 1997) erstellt. 143 DAS GEPLANTE KIND 144 Die sich ergebende Struktur ist eindeutig von erweiterten Familien geprägt. Bei den Akteuren, die nicht oder nur sehr wenig in die Gesamtstruktur integriert sind, handelt es sich durchweg um Frauen, die ich als einzige aus ihrer Familie befragt habe (Nr. 503, 274, 969, 801, 737, 714 und 529). Wären mehrere Personen auch ihrer Familien befragt worden, hätte sich mit hoher Wahrscheinlichkeit die Anzahl an erweiterten Familien erhöht. Diese erweiterten Familien lassen sich vor allem dadurch charakterisieren, daß sie erheblich mehr Beziehungen untereinander als mit Personen außerhalb ihre Familienverbandes unterhalten. Sieben solcher Familien sind in Abbildung 4.6 zu erkennen. 76 Den Kern dieser erweiterten Familien bilden Ehepaare, was sicherlich auch an der Art der Erhebung liegt. Neben den Ehepaaren umfassen diese erweiterten Familien die Kinder, Eltern, zum Teil auch die Geschwister und Schwager/Schwägerinnen des Ehepaares. Daß diese Struktur nicht nur ein Artefakt der Erhebung ist, wird sich im folgenden Kapitel zeigen. Noch dominiert die erweiterte Familie den Alltag der Dorfbewohner. Sie ist die wichtigste Quelle für den Austausch von Ressourcen und Hilfeleistungen. Doch auch hier zeigen sich wie gesagt erste Anzeichen eines sozialen Wandels. Diese Anzeichen sind bei weitem weniger stark ausgeprägt, als dies für den Wandel der wirtschaftlichen Organisation beschrieben wurde. Sie stehen allerdings in einem Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Veränderungen. Immer mehr Familien beginnen damit, sich von ihren erweiterten Familien zu lösen und sogar zu isolieren. Diese Familien haben größere finanzielle Ressourcen und konzentrieren sich in ihren Handlungen und Entscheidungen mehr auf ihre eigenen Kernfamilien, ihre Kinder und Ehepartner. Der Mauerbau ist nur das offensichtlichste Indiz für diesen Wandel. 4.3 Zusammenfassung der Ergebnisse Die detaillierte ethnographische Beschreibung der Gemeinde hat gezeigt, daß Pueblo Nuevo in vielen Aspekten, etwa in seiner historischen, seiner wirtschaftlichen oder seiner demographischen Entwicklung, exemplarisch für das ländliche Mexiko ist. Die grundlegenden Veränderungen, die seit ungefähr Anfang der siebziger Jahre im ganzen Land zu beobachten sind, haben sich auf fast alle Bereiche des alltäglichen Lebens der Dorfbewohner ausgewirkt. Generell haben sich die Le76 Rechts oben in der Abbildung die Familie um Nr. 811, links davon um 590, darunter um 423, links daneben um 684, links unten die Familie um 231, rechts daneben um 83 und darüber um 414. KAPITEL 4. ETHNOGRAPHIE PUEBLO NUEVOS 145 bensbedingungen für alle Dorfbewohner verbessert. Doch gibt es ebenfalls klare Indizien für eine zunehmende Stratifizierung der dörflichen Gemeinschaft, die schon heute die Bewohner des Dorfes in ‚Verlierer‘ und ‚Gewinner‘ aufteilt. Wesentliche Ursache dieser fortschreitenden Stratifizierung ist der Zusammenbruch des ejido Systems, der die ehemaligen ejidatarios in eine Eigenständigkeit entläßt, mit der einige Familien wirtschaftlich erfolgreich, andere Familien wirtschaftlich eher erfolglos umgehen. Inwieweit diejenigen Familien, die wirtschaftlich erfolgreich sind, auch diejenigen Familien sind, die ihre reproduktiven Handlungen grundlegend geändert haben, wird eine der zentralen Fragen der folgenden Kapitel sein. Denn wie zu sehen sein wird, hat sich in Pueblo Nuevo, wie auch in ganz Mexiko, das fertile Verhalten großer Teile der Bevölkerung grundlegend geändert. Die Analyse des Zusammenhangs von fertilem und kulturellem Wandel ist das wichtigste Ziel der folgenden Kapitel. Begonnen wird mit der Analyse des sozialen Umfeldes von Frauen in unterschiedlichen Phasen ihres Lebenszyklus. Dieses Vorgehen ist notwendig, da die zeitliche Veränderung sozialer Beziehungen und ihr Einfluß auf die Akteure noch ungeklärt ist. Denn nicht nur der generelle kulturelle Wandel des dörflichen Lebens, sondern auch die unterschiedlichen Möglichkeiten, die Individuen in verschiedenen Phasen ihres Lebenszyklus haben, an diesem zu partizipieren, ist für die Analyse fertilen Verhaltens notwendig. Kapitel 5 Soziale Netzwerke und reproduktives Verhalten 5.1 Bisherige Ansätze Trotz der frühen Forderung Ryders „(...) we shouldn`t forget Granny in the back bedroom“ (1973: 504) wird in der Demographie und der Ethnodemographie erst seit gut zehn Jahren intensiver darüber diskutiert, ob es zur Erklärung fertilen Verhaltens ausreichend ist, nur Frauen im reproduktiven Alter zu betrachten (Balk 1994, 1997, Bongaarts und Watkins 1996, Browner 1986b, Dyson und Moore 1983, Epstein 1982, Hammel 1990: 469-471, Pollak und Watkins 1993, Watkins 1987, 1990, 1993). Insbesondere Watkins hebt in ihren jüngeren Arbeiten immer wieder hervor, wie wichtig die Analyse des sozialen Umfeldes der untersuchten Frauen ist: „If women’s interest in more or fewer children can be overruled by their husbands, by others in the family, or by their friends and neighbors, we need to know more about characteristics of those others.“ (1993: 566). Auch von ethnodemographischer Seite sind ähnliche Ansätze formuliert worden. Browner, die in einer mexikanischen Gemeinde die unterschiedlichen reproduktiven Interessen verschiedener Gruppen untersuchte, kommt zu dem Schluß: „Although women in all societies bear children in private, or only with a select few present, human reproduction is never entirely a personal affair. Kin, neighbors, and other members of the larger collectivities of which women are a part seek to influence reproductive behavior in their groups.“ (1986b: 710). In der Demographie und der Ethnodemographie ist es trotzdem immer noch relativ selten, daß die Akteure sozial eingebettet und Konsequenzen dieser Einbettung untersucht werden. 1 Die vorhandenen Untersuchungen lassen sich in drei Forschungsrichtungen unterteilen: 1 Wie Browner richtig feststellt: „It is surprising that conflicts between reproductive desires of a society’s fecund women and the demographic interests of other individuals, groups, and political entities are rarely explored.“ (1986b: 711). Vgl. auch eine ähnliche Schlußfolgerung bei Pollack Petchesky 1984. 147 148 DAS GEPLANTE KIND 1. Vertreter der ersten Richtung beschäftigten sich mit der Frage der Diffusion und Anwendung von Verhütungsmitteln und Familienplanung. Die soziale Struktur wird von dieser Richtung als ein Mittel wahrgenommen, durch welches sich Informationen verbreiten können (DIFFUSIONSANSATZ); 2. Die zweite Richtung beschäftigt sich mit dem Einfluß dyadischer Beziehungen auf die reproduktiven Entscheidungen einer Frau. 2 Vor allem jene Forschungen, die den Einfluß der Schwiegermutter und des Ehemanns untersuchen, sind hier zu nennen (DYADISCHER ANSATZ); 3. Die dritte Richtung betrachtet konkurrierende reproduktive Interessen von Institutionen oder Gruppen einer Gesellschaft (INSTITUTIONELLER ANSATZ). Zunächst wird die erste Forschungsrichtung (DIFFUSIONSANSATZ) genauer dargestellt: Die wohl bekanntesten Untersuchungen, die die soziale Einbettung der Akteure berücksichtigen, beschäftigen sich mit der Diffusion von Wissen über Verhütungsmittel durch soziale Netzwerke und dessen Einfluß auf den fertilen Wandel (Rogers und Kincaid 1981, Retherford und Palmore 1983 als Überblick). Durch ihren starken Fokus auf Familienplanung und Familienplanungsprogramme erfassen diese Studien allerdings selten den alltäglichen sozialen Kontext, in den die Akteure eingebettet sind. Das Problem dieser Forschungen besteht darin, daß die erfragten Inhalte sozialer Beziehungen sehr speziell sind. Reproduktive Entscheidungen lassen sich nicht nur auf eine Entscheidung für oder gegen Familienplanung reduzieren. Andere, ebenso wichtige Entscheidungen, wie die Art und Weise des Stillverhaltens (Watkins 1990: 253) oder die Entscheidung, wen und wann zu heiraten (Watkins 1990: 245ff., Dyson und Moore 1983), die ebenfalls signifikante Effekte auf das fertile Verhalten haben und auch sozial eingebettet sind, können durch den Fokus auf eine Art der Beziehung nicht erfaßt werden. Innerhalb der zweiten Richtung (DYADISCHER ANSATZ), die sich mit dyadischen Beziehungen befaßt, werden diese Entscheidungen allerdings berücksichtigt. Sowohl Watkins (1990, 1993) als auch Balk (1994) kommen zu dem Schluß, daß dem Einfluß von Verwandtschaft und Haushaltsstruktur auf fertiles Verhalten bisher zu wenig Beachtung geschenkt wurde. 3 Balk weist in ihrer Studie über Bangladesch nach, daß: „(...) the in-laws play an important role in perserving the status quo.“ (1994: 28). Außer diesem Hinweis werden die affinalen Verwandten, bis auf eine Ausnahme, aber nicht weiter von ihr untersucht. Die Erkenntnis des sozialen Einflusses der affinalen Verwandten reduziert sich auf die dyadische Beziehung zwischen Schwiegertochter und Schwiegermutter. Die Schwiegermutter ist nach 2 3 Eine dyadische Beziehung ist eine Beziehung zwischen zwei Personen. Ähnlich argumentieren auch Fricke 1997 und Fricke und Teachman 1993. KAPITEL 5. SOZIALE NETZWERKE UND REPRODUKTIVES VERHALTEN 149 Balk in Bangladesch die wichtigste und einflußreichste Person der Gruppe der angeheirateten Verwandtschaft. Gerade die Schwiegermutter scheint einen Wandel des fertilen Verhaltens entgegen dem existierenden Status Quo am stärksten zu behindern. Einen ähnlichen Hinweis gibt auch Watkins (1993: 560f.) in ihrer Kritik einer Studie, die die Länge des Stillverhaltens in Sri Lanka untersucht. Nach Watkins konnten die Autoren der Studie das Phänomen nur unzureichend erklären, da sie sich ausschließlich mit konventionellen Variablen (1993: 561) beschäftigten, wie z.B. dem Alter der Mutter, ihrer Schulbildung oder der Schulbildung ihres Mannes, aber den sozialen Einfluß vor allem der älteren, nicht mehr reproduktiven Frauen ignorierten. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Epstein (1982), die betont, daß Familienplanungsprogramme stärker daran arbeiten sollten, ältere, nicht mehr reproduktive Frauen vom Nutzen von Verhütung zu überzeugen, da diese älteren Frauen direkten Einfluß auf die reproduktiven Entscheidungen jüngerer Frauen, wie ihre Töchter oder Schwiegertöchter, nehmen können. Auch für Mexiko liegen ähnliche Ergebnisse vor. In ihrer Studie über eine wie Pueblo Nuevo im Bundesstaat México gelegene Gemeinde stellen Shedlin und Hollerbach (1981) fest, daß ein Grund für die Ablehnung des Mannes, Verhütungsmittel zu benutzen, der Widerstand gegen diese Innovation von Seiten der Schwiegermutter war. Wie Dyson und Moore (1983) und Epstein (1982) zeigen, spielt auch der Wohnort nach der Heirat sowie die Position, die eine Frau im Lebenszyklus einnimmt, eine wichtige Rolle. Eine noch kinderlose Frau, die in das Haus ihrer Schwiegereltern einzieht, hat eine ganz andere soziale Position als eine Witwe mit vielen Kindern. Doch auch diese Ansätze betrachten nur dyadische Beziehungen und gehen nicht so weit, das weitere soziale Umfeld der Frau zu erfassen. Gleiches gilt für Studien, deren Fokus die Beziehung zwischen Mann und Frau ist (als Überblick siehe Beckman 1983). Untersuchungen, die sich mit der Beziehung von Mann und Frau denn es müssen nicht immer Ehepaare sein - beschäftigen, erfassen sicherlich eine wichtige soziale Dimension reproduktiver Entscheidungen. Doch wie auch bei einem Fokus nur auf die Beziehung zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter, werden bei einer ausschließlichen Analyse nur der Beziehung zwischen Mann und Frau zu wenige Beziehungen erfaßt, um von einer sozialen Einbettung der Akteure zu sprechen. Das gilt für die Arbeit von Axinn et al. (1994), die sich mit dem Einfluß der Eltern und Schwiegereltern sowie deren fertilen Verhaltens auf das fertile Verhalten ihrer Kinder beschäftigt. Häufig wird die betrachtete dyadische Beziehung auch nur unzureichend erfaßt. Fragen nach der Form der Unterstützung, ob es sich z.B. um emotionale oder materielle Hilfe handelt, müssen hier noch intensiver untersucht werden. Hier gibt es einen großen Forschungsbedarf, wie Cain 150 DAS GEPLANTE KIND (1993) in seiner Analyse bezüglich des Einflusses der wirtschaftlichen Unabhängigkeit der Frau auf ihr reproduktives Verhalten anmerkt: „High priority should be given to intensive field-based work that can provide comment simultaneously on the economic relationships between parents and children and between men and women, on family and kinship dynamics, and on the locus and criteria of reproductive decisions.“ (1993: 60). Neben diesen Forschungen, die wichtige, aber nicht alle dyadischen Beziehungen und deren Einfluß auf reproduktive Entscheidungen untersuchen, beschäftigen sich die Vertreter der dritten Forschungsrichtung (INSTITUTIONELLER ANSATZ) mit der Untersuchung konkurrierender reproduktiver Interessen verschiedener Gruppen innerhalb einer Gesellschaft. Browner (1986a, 1986b), Browner und Perdue (1988) und McNicoll (1988) gehen nicht vom individuellen Akteur und seiner sozialen Einbettung aus, sondern betrachten die soziale Struktur, die sich aufgrund der Konflikte und konkurrierenden reproduktiven Interessen verschiedener Gruppen und Institutionen, wie z.B. staatlichen Familienplanungsprogrammen, Organisationen auf Dorfebene und der Kirche, ergibt. Das Problem dieses Ansatzes besteht darin, daß informelle Beziehungen, die keinen institutionellen Charakter haben, nicht erfaßt werden. Gerade diese Beziehungen können aber sehr wichtig sein: „There often exists a distinct female-specific communication network that is inaccessible to adult males. Women exercise social influence largely through ‚gossip‘ and similar strategies.“ (Dyson und Moore 1983: 46). 4 Alle drei Forschungsrichtungen erfassen wichtige Dimensionen der sozialen Einbettung reproduktiver Entscheidungen. Dennoch sind sie zu limitiert in ihrem Ansatz, denn entweder werden zu wenige soziale Beziehungen erfaßt (institutioneller Ansatz und dyadischer Ansatz) oder der Inhalt der erfragten Beziehungen ist zu speziell (Diffusionsansatz, teilweise dyadischer Ansatz). Im Gegensatz dazu können durch die Erhebung persönlicher Netzwerke sowohl unterschiedliche Beziehungsinhalte als auch alle für ein Individuum zum Zeitpunkt der Erhebung wichtigen Personen erfragt werden. Durch die Erhebung von persönlichen Netzwerken ist es möglich, das soziale Umfeld eines Individuums zu erfassen (Kadushin 1982: 149, Schweizer 1988: 12, Schweizer 1996: 241ff., Wasserman und Faust 1994: 42). Diese Methode eignet sich insbesondere, wenn „(...) die soziale Einbettung und die Prägung der Meinungen und des Handelns von Akteuren durch ihre soziale Umgebung“ (Schweizer 1996: 242) Schwerpunkt der Untersuchung ist. Eben dies ist von 4 Ähnlich auch Pollak und Watkins 1993: 487-89. KAPITEL 5. SOZIALE NETZWERKE UND REPRODUKTIVES VERHALTEN 151 besonderem Interesse bei der Untersuchung von fertilen Entscheidungen (Watkins 1993: 566, Cain 1993: 60). Obwohl die Erhebung persönlicher Netzwerke in der Ethnologie, beginnend mit den klassischen Arbeiten von Epstein (1969) und Bott (1971), wie auch in der Soziologie (z.B. Wellman, Carrington und Hall 1988) eine gängige Methode für eben jene Fragestellungen ist, so ist der Transfer dieser Methode hin zu (ethno) demographischen Ansätzen, wenn überhaupt, dann nur in Ansätzen zu erkennen. Wie oben dargestellt, gibt es mittlerweile auch in der Demographie Ansätze, die die soziale Einbettung der untersuchten Akteure fordern, wobei allerdings Forderung und Umsetzung nicht in gleichem Maße vorhanden sind. Auch Watkins (1993) geht nicht soweit darzustellen, wie Daten zur sozialen Einbettung der Akteure erhoben werden sollen. In ihrer Studie zu Netzwerken und Fertilität bei italienischen und jüdischen Frauen in den USA kommt sie zu dem Ergebnis, daß die jüdischen Frauen eher als die italienischen Frauen weniger Kinder bekamen, da sie in effektivere ‚Klatsch’-Netzwerke eingebettet waren, die vor allem einen Austausch über Sexualität und Verhütungsmittel ermöglichten (Pollak und Watkins 1993: 487-89). Allerdings wird nicht deutlich, wie die Daten erhoben wurden, ob sie auf offenen Interviews basieren oder systematische Methoden der Erhebung persönlicher Netzwerke verwendet wurden. Der Hinweis auf die Arbeiten von Bott und Granovetter (Pollak und Watkins 1993: 487) legt diese Vermutung zumindest nahe, die aber nicht bestätigt werden kann. Vor allem aber überzeugt Watkins ethnographische Einbettung der Akteure, die ihre sozialstrukturellen Ergebnisse erst verständlich macht. Eine ähnliche Form der Analyse soll auch hier gewählt werden, denn sie erscheint als die mit Abstand fruchtbarste. Nur durch die Kombination eines systematischen Erhebungsinstrumentes, in dem Sinne, daß es den wissenschaftlichen Kriterien von Validität und Reliabilität entspricht, wie dies die Methode der Erhebung persönlicher Netzwerke gewährleistet, und einer qualitativen Einbettung der so generierten Daten, die zum Beispiel Auskunft über den semantischen Gehalt bestimmter Rollen gibt (Schulze 1997), ist es möglich, dem Anspruch einer inhaltlich und wissenschaftlich sinnvollen Grundlage zur Erklärung von (fertilem) Handeln und (‚fertiler’) Kognition gerecht zu werden. Um den ethnographischen Kontext zu erschließen stehen für Pueblo Nuevo drei Datenquellen zur Verfügung: • Feldnotizen, die das Ergebnis teilnehmender Beobachtung sind und vor allem Auskunft über ‚soziale Netzwerke in Aktion’, also im alltäglichen Geschehen, geben; • Lebensgeschichten ausgewählter Frauen, die Auskunft über persönliche Erfahrungen geben und deshalb aufzeigen, welche Konflikte Rollenmuster als Teil 152 DAS GEPLANTE KIND einer normativ vorgeschriebenen Sozialstruktur produzieren und wie die einzelnen Akteure damit umgehen; • Gruppendiskussionen und free lists (freie Aufzählungen, Bernard 1994: 239242; Weller und Romney 1988: 9-19), die vor allem der Art der Beziehungen und bestimmten Rollen eine semantische Bedeutung geben. Im folgenden werden zunächst die persönlichen Netzwerke der Frauen detaillierter betrachtet, um die kulturell wichtigsten und prototypischen Beziehungen, die eine Frau im Laufe ihres Lebenszyklus unterhält, zu ermitteln. Diese Beziehungen sowie bestimmte Rollen, die damit einhergehen, erhalten mit Hilfe der ethnographischen Kontextinformationen eine tiefere semantische Bedeutung. Auch kann so der zeitliche Aspekt berücksichtigt werden. Persönliche Netzwerke sind alles andere als statisch. Epstein (1982) und Scrimshaw (1978) haben gezeigt, wie sich die sozialen Rollen, die eine Frau in unterschiedlichen Phasen ihres Lebenszyklus einnimmt, verändern. Da bei der Auswahl der Informanten eine für das Untersuchungsdorf exemplarische Altersverteilung berücksichtigt wurde, ist es möglich, die persönlichen Netzwerke von Frauen, die sich in unterschiedlichen Phasen des Lebenszyklus befinden, miteinander zu vergleichen. Mit Hilfe der Lebensgeschichten kann dann auf die soziale Struktur vor- bzw. zurückgeschlossen werden. Dies wiegt natürlich nicht die Vorzüge eines wirklich diachronen Vorgehens auf, ist aber eine sinnvolle Lösung bei einer zeitlich begrenzten, einmaligen Feldforschung. Fertiles Handeln und Entscheidungen, Normen und Werte zu Fertilität, Wissen über Sexualität und Verhütung sind somit auch im Rahmen eines sozialen Spannungsfeldes analysierbar. KAPITEL 5. SOZIALE NETZWERKE UND REPRODUKTIVES VERHALTEN 5.2 5.2.1 153 Das soziale Umfeld der Frau anhand ihres persönlichen Netzwerkes Unterteilung des Lebenszyklus der Frau Die wichtigsten Auswahlkriterien bestanden im Alter und der Dauer der Ehe der Informantinnen. 5 Ziel dieser Informatinnenauswahl war es, die Veränderungen des sozialen Umfeldes zu verschiedenen Zeitpunkten des Lebenszyklus zu erfassen. Der weibliche Lebenszyklus wurde grob in 4 Phasen unterteilt. 6 Eine sehr wichtige soziale Veränderung im Leben einer Frau ist ihre Heirat, in der Regel markiert durch den Wechsel der Ehefrau vom Haus ihrer Eltern ins Haus der Schwiegereltern oder in einen eigenen Haushalt. 7 Insofern ist es sinnvoll gewesen, sowohl unverheiratete als auch erst kurz verheiratete Frauen zu befragen. Insgesamt wurden für die erste Phase des Lebenszyklus sechs unverheiratete Frauen befragt. Diese Frauen waren im Schnitt 17 Jahre alt (∅ 16,83; std. 1,33). Die zweite Phase wurde durch acht Frauen, die zwischen einem halben Jahr und fünf Jahren verheiratet waren, repräsentiert. Diese Frauen waren im Schnitt 26 Jahre alt (∅ 26,3; std. 8,0; Median: 24,0). Im Schnitt hatten diese Frauen zwei Kinder (∅ und Median 2,0; std. 1,1). Wie für Pueblo Nuevo typisch, lebten die meisten dieser Frauen entweder mit ihrer Schwiegermutter zusammen oder in unmittelbarer Nähe der Schwiegermutter. Nach der Geburt des ersten oder des zweiten Kindes wird die Bestrebung, das schwiegerelterliche Haus zu verlassen und einen eigenen Haushalt zu gründen, immer größer und nach ungefähr fünf Jahren haben sich die meisten jungen Familien eigenständig etabliert. Damit verändert sich wiederum das soziale Umfeld der Frau, denn sie untersteht nun weniger der sozialen Kontrolle ihrer Schwiegermutter. Aus diesem Grund wurde die dritte Phase des Lebenszyklus markiert als die 5 Die Erhebung persönlicher Netzwerkdaten ist im vorangegangenen Kapitel (4.2.2.6) beschrieben worden. 6 Die Unterteilung in vier Phasen orientiert sich an den Arbeiten von Epstein (1982) und Scrimshaw (1978), wurde allerdings auf den hier diskutierten Fall angepaßt. Epstein differenziert fünf Lebenszyklusphasen, da sie die Zeit, in der die Frau in das Haus der Schwiegereltern einzieht, aber noch kein Kind hat, als eigene Phase betrachtet. Aufgrund der geringen Fallzahlen konnte diese Differenzierung hier nicht durchgeführt werden, stellt aber sicherlich eine sinnvolle Erweiterung dar. Scrimshaw unterteilt in sechs Phasen, von denen allerdings drei Phasen (‚infancy, girlhood, puberty‘ Scrimshaw 1978: 43) zu einer Phase (unverheiratete Frauen, siehe unten) aufgrund der geringen Fallzahlen zusammengefaßt wurden. 7 Nur wenige Frauen wohnen nach der Heirat weiter bei ihren Eltern. Deshalb werden diese Fälle hier ausgeklammert. 154 DAS GEPLANTE KIND Zeit zwischen dem sechsten und dem zwanzigsten Ehejahr. Für die dritte Phase konnten zehn Frauen befragt werden, die im Schnitt 33 Jahre alt waren (∅ 33,3; std. 3,09; Median 35,0) und vier Kinder hatten (∅ 4,3; std. 2,6; Median: 4,0). Nach zwanzig Ehejahren sind die meisten Kinder der Frau wiederum selber eigenständig, was eine nochmalige Veränderung des sozialen Umfeldes bedeutet. Für die Frauen beginnt eine Phase in ihrem Leben, in welcher sie die ‚Früchte der vorherigen Jahre ernten können’ und Kinder zu einer wichtigen Quelle sozialer Hilfeleistung werden. Insgesamt wurden zehn Frauen, die länger als zwanzig Jahre verheiratet waren, befragt. Zwei dieser Frauen waren allerdings schon verwitwet. Für die Betrachtung des sich verändernden sozialen Umfeldes der Frauen im Lebenszyklus werden diese beiden Frauen ausgeklammert. Zwar ist die Witwenschaft eine weitere Phase des Lebenszyklus, die auch soziale Veränderungen mit sich bringt, doch da nur zwei Fälle vorliegen, wären die Aussagen sehr problematisch. Die verbleibenden acht Frauen waren im Schnitt 54 Jahre alt (∅ 53,8; std. 8,92; Median 52,5) und fast alle schon Großmütter, was darauf hinweist, daß ein Teil ihrer Kinder schon einen eigenen Haushalt etabliert hat. Diese Frauen hatten im Schnitt neun Kinder (∅ 9,0; std. 2,8; Median: 8,5). Insgesamt werden also die persönlichen Netzwerke von 32 Frauen betrachtet. 5.2.2 Operationalisierung des Konzepts der sozialen Rolle Der Begriff der sozialen Rolle wird je nach theoretischer Richtung unterschiedlich definiert (Schweizer 1996: 31-36). Hier sind vor allem die folgenden Charakteristika ausschlaggebend: Soziale Rollen geben Muster für soziale Handlungen vor und sind nicht an ein Individuum gebunden (Nadel 1951: 92-93). Außerdem stellen sie eine wichtige Grundlage zur Identifizierung und Positionierung eines Individuums innerhalb einer Gesellschaft dar (Epstein 1982: 155, Nadel 1951: 94-98). Darüber hinaus geht es bei dem Begriff der sozialen Rolle in der Netzwerkanalyse um die Arten an Beziehungen, die Akteure zu anderen Akteuren unterhalten (Wasserman und Faust 1994: 462-463). Zum Beispiel können Fragen nach der Hierarchie innerhalb eines sozialen Systems hier von Bedeutung sein. Die Rolle, die ein Patron innerhalb eines Patronage-Systems einnimmt, ist im wesentlichen von seiner dominierenden Beziehung zu seinen Klienten geprägt. Seine Rolle läßt sich aufgrund der Art der Beziehung, die er zu seinen Klienten hat, beschreiben. Der Begriff der Rolle ist nicht nur ein theoretisches Konstrukt, sondern findet sich auch in der Alltagssprache. Wie Wasserman und Faust (1994: 349) feststellen, erkennen und benennen KAPITEL 5. SOZIALE NETZWERKE UND REPRODUKTIVES VERHALTEN 155 Menschen Rollen. Während der Erhebung der persönlichen Netzwerke wurde nicht die Frage gestellt, welche Rollen die Alteri zu Ego, dem Informanten oder der Informantin, einnahmen, sondern es wurde nach der Art der Beziehung (tipo de la relación social) gefragt. 8 Die Antworten waren aber soziale Rollen, wie Tante, Freund, compadre, was zeigt, wie gut das theoretische Konzept der sozialen Rolle im Alltagsverständnis der Informanten eingebettet ist. Um nun zu messen, wann eine soziale Rolle innerhalb eines persönlichen Netzwerke von Bedeutung ist, sollen zwei einfache Verfahren zur Auswertung persönlicher Netzwerke angewendet werden. Eine von Wellman und Wortleys (1990) Antworten auf die Frage, „What are ‚strong ties’?“ (1990: 564) besteht in der Multiplexität der Beziehung: „People with multiple-role relationships should have stronger ties because they have detailed knowledge of each other’s needs and multiple claims on each other’s attentions.“ (1994: 564). 9 Insgesamt wurden in Pueblo Nuevo für 13 verschiedene Beziehungsinhalte, über kleinere Hilfeleistungen im Haushalt bis hin zu Rat bei wichtigen Lebensentscheidungen, nach den Alteri, die Ego bei diesen Problemen konsultieren würde, gefragt. Soziale Rollen mit denen Ego, also die befragte Informantin, mehrere (=multiplexe) Arten an Beziehungen unterhält, wie z.B. emotionale Unterstützung in schwierigen Lebenssituationen, finanzielle Hilfe und gemeinsame Freizeitaktivitäten, sind nach Wellman und Wortley (1990) folglich für Ego wichtigere, stärkere Beziehungen als soziale Rollen, mit denen Ego nur durch eine Art an Beziehung (=uniplex), wie z.B. allein kleinere Hilfeleistungen im Haushalt, verknüpft ist. Die Multiplexität der sozialen Rolle gibt also Auskunft über ihre Relevanz. Neben der Multiplexität soll außerdem berücksichtigt werden, wie häufig eine bestimmte soziale Rolle innerhalb einer der vier Gruppen, also den unverheirateten Frauen, den ein halbes bis fünf Jahre verheiraten Frauen usw., vorkommt. Dadurch wird vermieden, daß Beziehungen, die zwar sehr multiplex sind, aber nur ein oder zweimal erwähnt werden, in die Analyse miteingehen. Der Grund für dieses Vorgehen besteht darin, daß es einige Fälle gibt, bei denen aufgrund der persönlichen Biographien der Informantinnen sehr multiplexe Beziehung, z.B. zu einem Cousin 8 Der Fragebogen findet sich im Anhang (vgl. 9.1.4). Es kam auch zu Doppelnennungen, wie z.B. compadre und Bruder. Da es sich hierbei aber nur um 1% aller Fälle handelt, wird für diese Fälle nur die erste Nennung berücksichtigt (vgl. 4.2.2.6). 9 Da Wellmans East York Studie im städtischen Kontext stattfand, lassen sich die anderen Charakteristika nicht übertragen. Wie sich unten zeigen wird, sind in Pueblo Nuevo viele wichtige Beziehungen verwandtschaftlicher Art. Deshalb gibt es keinen Sinn, diese z.B. nach ihrer Länge zu unterscheiden, was bei Freundschaftsbeziehungen im städtischen Kontext sehr wohl sinnvoll ist. 156 DAS GEPLANTE KIND oder einem Neffen, genannt wurden, die aber nur für die jeweiligen Informantinnen von Bedeutung waren. Die für die jeweilige Gruppe wichtigsten sozialen Rollen waren jene, die mindestens von der Hälfte der Informantinnen der betreffenden Gruppe genannt wurden und die multiplex waren. Denn ebenso wie es soziale Rollen gab, die multiplex waren, aber nur von einer Informantin erwähnt wurden, so gab es auch soziale Rollen, die zwar viele Informantinnen erwähnten, die aber uniplex waren. Dies war vor allem hinsichtlich der Frage nach Hilfe beim Ausfüllen von Dokumenten der Fall, auf die viele der Informantinnen den delegado, den offiziellen Vertreter des Dorfes, erwähnten. Diese Beziehung kommt zwar häufig vor, ist aber sicherlich keine wichtige Beziehung, denn außer in seltenen Ausnahmesituationen interagieren die Frauen sonst nicht mit dem delegado. 5.2.3 Von der Herkunftsfamilie zur Prokreationsfamilie – Die wichtigsten Merkmale der mexikanischen Familienstruktur Die ethnographische Literatur zu Mexiko (z.B. LeVine 1993, Lewis 1963, Behar 1993) hat gezeigt, daß die family of orientation, die Herkunftsfamilie, in die ein Mensch hineingeboren wird und in welcher er aufwächst, über die ersten Lebensphasen hinweg die wichtigste soziale Einflußgröße darstellt. 10 Vor allem die Beziehung zur und die Bedeutung der Mutter, die in der ethnographischen Literatur häufig dargestellt wurde (Browner 1986a, Browner und Lewin 1982, Browner und Perdue 1988, Behar 1993, LeVine 1993, Martin 1990), wird so lange andauern, wie die Mutter lebt, denn sie gilt als die wichtigste unterstützende Beziehung. Auch andere Mitglieder der Herkunftsfamilie, vor allem Schwestern, teilweise auch Brüder, werden als über einen langen Zeitraum hinweg unterstützend charakterisiert (Behar 1993, Lewis 1963, LeVine 1993). Der Vater spielt in den ethnographischen Beschreibungen vor allem hinsichtlich der unverheirateten Frauen eine wichtige Rolle. Er wird häufig als die Person charakterisiert, die mit Strenge und auch Verboten die Einhaltung kultureller Normen überwacht (LeVine 1993, Scrimshaw 1978). Insofern ist zu erwarten, daß der Vater vor allem von den unverheirateten Frauen erwähnt wird. Aufgrund ethnographischer Beschreibungen ist ebenfalls zu erwarten, daß für unverheiratete Frauen Freundinnen eine Rolle spielen und wichtige soziale Unterstützung leisten (LeVine 1993). Im Gegensatz dazu spielen Freun10 Zur Herkunftsfamilie (family of orientation) und Prokreationsfamilie (family of procreation) vgl. Murdock (1949: 13) und Wiswede (1985: 338-340). KAPITEL 5. SOZIALE NETZWERKE UND REPRODUKTIVES VERHALTEN 157 dinnen für gerade verheiratete Frauen, die im Haus der Schwiegermutter leben, nur noch eine geringe Rolle. Freundinnen werden in dieser Lebensphase durch verschiedene Typen von Schwägerinnen ersetzt. Die sehr verbreitete patrilokale Residenz kann zur Folge haben, daß Frauen, die im schwiegerelterlichen Haus leben, also vor allem Frauen der zweiten Lebenszyklusphase, sozial erheblich isolierter sind als Frauen anderer Lebenszyklusphasen. Ihr soziales Umfeld wird erheblich stärker als bei allen anderen Frauen von der schwiegerelterlichen Familie, vor allem einer ambivalenten Beziehung zur Schwiegermutter und u.U. unterstützenden Beziehungen zu Schwägerinnen, geprägt sein. Anders als im deutschen Verwandtschaftssystem, das sowohl die Schwester des Ehemannes als auch die Frau des Bruders des Ehemannes als Schwägerin bezeichnet, werden diese beiden verwandtschaftlichen Rollen im mexikanischen System unterschieden. Die Schwester des Ehemannes 11 wird als cuñada (oder bei einem Mann als cuñado) bezeichnet, die Frau des Bruders des Mannes als concuña (oder bei einem Mann concuño). Frauen, die concuñas sind, stehen in einem anderen Verhältnis zueinander als cuñadas. Die concuñas kommen aus anderen Familien ins Haus ihrer Schwiegereltern und eine naheliegende Hypothese ist, daß sich gerade concuñas gegen die soziale Kontrolle der Schwiegermutter verbünden. Insofern müßte die Beziehung zur concuña für die jung verheirateten Frauen, also Frauen, die sich nach der obigen Klassifikation in der zweiten Phase ihres Lebenszyklus befinden und die folglich im schwiegerelterlichen Haushalt leben, von besonderer Bedeutung sein. Aber auch die cuñada könnte eine große Rolle spielen, denn wenn cuñadas im Haus der Schwiegereltern leben, also Töchter der Schwiegermutter, so wird die Frau fast zwangsläufig eine Beziehung zu diesen haben. Erst in der letzten Lebensphase kann die Frau dann die Hilfeleistung ihrer Kinder nutzen, womit der Übergang von der Herkunftsfamilie hin zur Prokreationsfamilie beendet ist. Vor allem die Kinder der Frau werden die wichtigsten Interaktionspartner sein (LeVine 1993, Scrimshaw 1978). Dieser Übergang wird sich aber sehr wahrscheinlich schon vorher abzeichnen. Einerseits wird ab der zweiten Phase der Ehemann von Bedeutung sein, andererseits werden gerade die Töchter, früher als die Söhne, schon in der dritten, u.U. sogar schon in der zweiten Phase eine unterstützende Funktion haben. Die dritte Phase läßt sich folglich als eine Übergangsphase charakterisieren, in der die Frau sukzessive eine größere soziale Unabhän11 Oder der Bruder des Ehemannes, die Schwester oder der Bruder der Ehefrau - das Geschlecht spielt für diese wie auch die vorangegangenen Klassifikationen keine Rolle und wird nur durch eine unterschiedliche Endung - a für Frauen, o für Männer - unterschieden. 158 DAS GEPLANTE KIND gigkeit, insbesondere von der Kontrolle ihres Ehemanns und ihrer Schwiegermutter, erlangt (Scrimshaw 1978: 45). Die unterstützende Beziehung zwischen Müttern und Töchtern, weiter oben bereits erwähnt, beginnt im ländlichen Mexiko schon früh, wenn die Töchter noch sehr jung sind. Vor allem die Töchter helfen schon mit fünf, sechs Jahren im Haushalt, leisten aber auch wichtige emotionale Hilfe. Neben den Schwägerinnen sind sie häufig die einzigen Personen, denen eine Frau vertrauen kann und möchte. Weiterhin legt die ethnographische Literatur nahe, daß unverheiratete Frauen sowie länger als 20 Jahre verheiratete Frauen mehr Möglichkeiten haben, auch nicht verwandtschaftliche Beziehungen zu unterhalten (Behar 1993, LeVine 1993, Scrimshaw 1978). Diese beiden Gruppen, vor allem aber die älteren Frauen, unterstehen weniger oder gar nicht der sozialen Kontrolle, die durch den Ehemann und die Schwiegereltern ausgeübt wird (Scrimshaw 1978). Der Übergang von der Herkunftsfamilie hin zur Prokreationsfamilie bringt für Frauen im ländlichen Mexiko noch einen weiteren sozialen Vorteil mit sich. Aufgrund des mexikanischen Patenschaftssystems, des compadrazgos, können verheiratete Frauen mit Kindern nicht nur mit der Hilfe ihrer Kinder rechnen, sondern auch mit der Hilfe ihrer comadres. Die Beziehung zwischen zwei comadres, ‚Mitmüttern’ 12, wird etabliert, wenn eine der Frauen ein Kind hat und ihre zukünftige comadre bittet, für ein Ereignis, wie z.B. der Taufe des Kindes, die Patenschaft zu übernehmen. Wie im vorangegangenen Kapitel beschrieben wurde (vgl. 4.2.2.6), ist die wichtigste Dyade nicht die zwischen Patin und Patenkind sondern zwischen den beiden comadres, bzw. zwischen den beiden Ehepaaren, den compadres. Insofern produziert die Prokreationsfamilie neben den direkten unterstützenden Beziehungen, dem Ehemann und den Kindern, auch noch weitere unterstützende Beziehungen, die compadres, welche ohne die Prokreationsfamilie nicht existieren würden. 12 Das Gleiche gilt für den compadre, den ‚Mitvater’. KAPITEL 5. SOZIALE NETZWERKE UND REPRODUKTIVES VERHALTEN 5.2.4 159 Die Sozialstruktur der Frau in vier verschiedenen Phasen des Lebenszyklus Wie oben dargestellt worden ist, sollen jene sozialen Rollen als wichtig gelten, die sowohl multiplex als auch häufig sind. Da bis auf drei soziale Rollen alle anderen wichtigen Rollen verwandtschaftlicher Natur sind, bietet es sich an, für die Darstellung der wichtigsten Rollen in unterschiedlichen Phasen des Lebenszyklus auf die in der Ethnologie gängigen Verwandtschaftsdiagramme (Fischer 1996, Keesing 1975: 15) zurückzugreifen. Multiplexe und häufige Rollen, die nicht in diesen Diagrammen abgebildet werden können, da sie nicht Teil des Verwandtschaftssystems sind, werden in separaten Zeilen unter den jeweiligen Verwandtschaftsdiagrammen abgebildet (vgl. Abbildung 5.1). Es handelt sich um die sozialen Rollen Freundin, comadre und compadre. Bestimmte Rollen, wie die der Mutter oder die des Vaters, können nur durch eine Person erfüllt werden, andere Rollen, wie die der Schwester, der Großmutter oder der Tante, implizieren oft eine Vielzahl von unterschiedlichen Personen. Deshalb werden die für die Frauen wichtigsten Rollen, soweit dies möglich ist, nur einmal dargestellt. 13 In der Abbildung werden aus diesem Grund nur eine Schwester, ein Bruder, eine Tochter usw. dargestellt. 13 Eine Ausnahme stellt z.B. die Großmutter dar. Da sowohl die väterliche als auch die mütterliche Linie dargestellt werden sollte, ist die Großmutter zweimal markiert worden. Strukturell stellt sie hier aber nur eine soziale Rolle dar, denn es liegen keine Informationen darüber vor, ob es sich um die Großmutter väterlicherseits oder mütterlicherseits handelt. DAS GEPLANTE KIND 160 1. Unverheiratete Frauen N=6 ∅ Alter = 17 Jahre; ∅ Anzahl an Kindern = 0,2 2. Ein halbes bis fünf Jahre verheiratet Frauen N=8 ∅ Alter = 26 Jahre; ∅ Anzahl an Kindern = 2,0 Weitere multiplexe & häufige Beziehungen: Keine weitere multiplexe & häufige Beziehung Freundin 3. Sechs bis zwanzig Jahre verheiratete Frauen N = 10 ∅ Alter = 33 Jahre; ∅ Anzahl an Kindern = 4,3 4. Mehr als zwanzig Jahre verheiratete Frauen N=8 ∅ Alter = 54 Jahre; ∅ Anzahl an Kindern = 9,0 Weitere multiplexe & häufige Beziehungen: Weitere multiplexe & häufige Beziehungen: Freundin Freundin Comadre Compadre SYMBOLE: = EGO = männliche Person = weibliche Person = multiplexe & häufige männliche Person = multiplexe & häufige weibliche Person Abbildung 5.1: Die Sozialstruktur der Frau in verschiedenen Phasen des Lebenszyklus KAPITEL 5. SOZIALE NETZWERKE UND REPRODUKTIVES VERHALTEN 161 Der Übergang von der Herkunftsfamilie hin zur Prokreationsfamilie ist eindeutig zu erkennen. 14 Für die unverheirateten Frauen sind die wichtigsten, d.h. die multiplexen und häufig vorkommenden sozialen Rollen in ihrer Herkunftsfamilie zu finden, also Vater, Mutter, Bruder und Schwester. Für die mehr als zwanzig Jahre verheirateten Frauen sind es alle Mitglieder ihrer Prokreationsfamilie, also der Ehemann und ihre Kinder. Die beiden Phasen dazwischen stellen den Übergang dar. Wie vermutet wurde, agieren Töchter früher als Söhne unterstützend (schon in der dritten Phase, Söhne erst in der letzten Phase). In der zweiten Phase spielen Töchter noch keine Rolle, was u.U. aber auch an den Fragen zur Generierung der Alteri liegt, die keine Hilfeleistungen im Haushalt, wie Spülen, Fegen, Kinderbetreuung usw. berücksichtigen. Die Rolle der cuñadas ist besonders in der zweiten Phase auffällig, spielt aber in der dritten Phase auch noch eine Rolle. Gerade die Frauen der zweiten Phase sind sozial erheblich eingeschränkter als die Frauen aller anderen Phasen. Diese Frauen interagieren allerdings trotzdem weiterhin mit ihrer Herkunftsfamilie. Neben ihrer Beziehung zu Eltern und Geschwistern interagieren die Frauen dieser Phase aber fast nur noch mit ihren Schwiegereltern, ihrem Ehemann, ihren Schwägerinnen (cuñadas und concuñas) und ihrem Schwager. Viele der Frauen leiden unter dieser sozialen Situation, die auch einen starken Einfluß auf ihre reproduktiven Entscheidungen hat. Alle Frauen der Gemeinde wurden danach befragt, worin für sie der Wert von Kindern besteht. Frauen der zweiten Lebenszyklusphase (N=43) gaben als die beiden wichtigsten Gründe an, daß Kinder für sie einerseits Freude (alegría) bedeuten würden, und daß sie durch Kinder andererseits nicht mehr so alleine sind (para no estar tan sola). Im Gegensatz dazu war für die Frauen der beiden letzten Lebensphasen der mit Abstand wichtigste Wert von Kindern, daß sie finanziell und im Haushalt helfen. 15 Insofern ist die soziale Isolierung der Frau in der zweiten Lebensphase sicherlich auch eine große Motivation, Kinder zu bekommen, ähnlich wie es Dyson und Moore feststellen: „Her relative social isolation may encourage her to create her own affective social group by producing children.“ (1983: 48). Hinsichtlich des Lebens ihrer Mütter und Schwiegermütter können diese Frauen dann auch beobachten, wie sich Kinder ‚rentieren‘. Wie oben schon angemerkt wurde und weiter unten sich noch deutlicher zeigen wird, sind ihre Kinder für die älteren Frauen eine sehr wichtige Quelle von Hilfeleistungen. 14 Grundlage der Auswertung sind die Fragen eins bis dreizehn, die sich im Anhang (9.1.4) finden. Die ‚negative Frage’, die erfragt, wen die Frauen vermeiden wollen, wird hier und auch bei den folgenden Korrespondenzanalysen ausgeklammert. 15 Diese Aussagen werden in einem der folgenden Abschnitte (5.3.8) vertieft. 162 DAS GEPLANTE KIND Es ist auffällig, daß es nur eine soziale Rolle gibt, die über alle vier Lebensphasen hinweg Bestand hat - die der Schwester. Doch auch die anderen Mitglieder der Herkunftsfamilie finden sich in den ersten drei Phasen, aber nicht in der letzten, was sicherlich auch demographische Gründe hat, denn die Eltern der Frauen der letzten Phase sind zum großen Teil verstorben. Da Männer im Dorf früher als Frauen sterben, wird vermutet, daß auch der oder die Brüder der Frau, die in den ersten drei Phasen eine wichtige soziale Rolle darstellen, vor allem aufgrund demographischer Gründe in der vierten Phase nicht mehr erwähnt werden. Die Freundin ist, neben den Mitgliedern der Herkunftsfamilie, die einzige soziale Rolle, die in drei Phasen wichtig ist. Es ist aber zu vermuten, daß gerade die Funktion und Bedeutung der Freundin sich während des Lebenszyklus ändert. Für die unverheirateten Frauen leistet die Freundin vor allem emotionale Unterstützung, für die älteren Frauen wird die Freundin vor allem bei Informationen über Arbeitsmöglichkeiten eine Rolle spielen, nicht so sehr aber als Vertrauensperson, denn diese Rolle nimmt bei den älteren Frauen die Tochter oder die comadre ein. Nur in der zweiten Phase spielt die Freundin keine Rolle. Bestimmte soziale Rollen haben nur während einer der vier Lebensphasen eine unterstützende Funktion. Diese - temporär begrenzten - unterstützenden Beziehungen, sowie ihr Fehlen während der anderen Lebensphasen, sagen viel über die kulturellen Implikationen der einzelnen Lebensphasen aus, denn sie zeigen, was den Frauen sozial über den Kern an sozialen Beziehungen hinaus, der oben dargestellt wurde, noch an sozialer Interaktion möglich ist. Insgesamt gibt es über alle vier Lebensphasen hinweg 23 wichtige Beziehungen. Von diesen 23 wichtigen Beziehungen kommen 13 Beziehungen nur in einer der vier Lebensphasen vor. Für die unverheirateten Frauen sind dies die Cousine, der Onkel und die Großmutter. Die Cousine nimmt bei den unverheirateten Frauen eine ähnliche Stellung ein wie die Freundin. Oft werden Cousine auch als Freundinnen empfunden, mit denen man Probleme besprechen kann. Die beiden anderen sozialen Rollen, die des Onkels und der Großmutter, sind besser zu verstehen, wenn bekannt ist, welche Art der Hilfe sie leisten. Aus diesem Grund wird eine Korrespondenzanalyse (Weller und Romney 1990) durchgeführt, mit Hilfe derer es möglich ist, die komplexe Beziehung zwischen Variablen, in diesem Fall sozialen Rollen und Hilfeleistungen, in einem zweidimensionalen Raum darzustellen (vgl. Abbildung 5.2). KAPITEL 5. SOZIALE NETZWERKE UND REPRODUKTIVES VERHALTEN 163 1,0 ABU DIN PRES DOCO MAS ,5 TIO MA CONS PA GRIP TIA ESPO 0,0 PRI TRIS TRABA IMP REUN AMI -,5 HO DISF CASA -1,0 -1,5 -2,0 HA Rollen -2,5 Hilfeleistungen -1,0 -,5 0,0 ,5 1,0 1,5 2,0 2,5 Legende 16 Soziale Rollen MA PA HA HO PRI ABU AMI TIA TIO Madre (Mutter) Padre (Vater) Hermana (Schwester) Hermano (Bruder) Prima (Cousine) Abuela (Großmutter) Amiga (Freundin) Tía (Tante) Tío (Onkel) Hilfeleistungen PRES CASA DOCO IMP CONS GRIP DIN ESPO TRIS DISF REUN TRABA MAS Ausleihen von Gegenständen Hilfe im Haus Bürokratische Hilfe Persönliches Gespräch Wichtiger Rat Hilfe bei Krankheit Geld leihen Probleme mit Partner Hilfe bei Depression Freizeitaktivitäten Einmal im Monat treffen Hilfe bei Arbeitsuche Weitere wichtige Person Fr. 1 Fr. 2 Fr. 3 Fr. 4 Fr. 5 Fr. 6 Fr. 7 Fr. 8 Fr. 9 Fr. 10 Fr. 11 Fr. 12 Fr. 13 Abbildung 5.2: Soziale Rollen und Hilfeleistungen: Unverheiratete Frauen Geographische Nähe von zwei Items in der zweidimensionalen Abbildung kann als ein Maß der Ähnlichkeit zwischen diesen interpretiert werden. Hilfeleistungen, die 16 Die ausführlichen Fragen finden sich im Anhang (9.1.4). In den Legenden der folgenden Abbildungen (Abbildung 5.3, Abbildung 5.4, Abbildung 5.5) werden aus Platzgründen nur die Labels dargestellt. 164 DAS GEPLANTE KIND sich um eine soziale Rolle gruppieren, können als besonders typisch für diese Rolle angesehen werden (Schweizer, Schnegg und Berzborn 1998: 13). 17 Die erste Dimension auf der horizontalen Achse der Abbildung erklärt 27% der Varianz. Sie ist charakterisiert durch die Trennung in ein Cluster aus weiblichen, der Frau nahestehende Rollen (links oben in der Abbildung) auf der einen Seite und männlichen Rollen (rechts oben in der Abbildung) sowie der Schwester der Frau (rechts unten) auf der anderen Seite. Der Vater und der Onkel sind für finanzielle und bürokratische Hilfeleistungen (DIN und DOCO) zuständig, leisten aber keine emotionale Hilfe. Diese Art der Hilfeleistung wird von Frauen übernommen, vor allem der Freundin und der Cousine. Hier zeigt sich auch, wie ähnlich die Bedeutung von Cousine und Freundin ist. Mit beiden wird über den Freund 18 und über persönliche Probleme geredet (IMP und TRIS). Außerdem verbringen die unverheirateten Frauen ihre Freizeit mit ihren Freundinnen und Cousinen, aber auch mit ihrem Bruder (REUN und DISF). Daß der Bruder bei Freizeitaktivitäten auch eine Rolle spielt, liegt daran, daß es in der Regel als notwendig angesehen wird, unverheiratete Frauen nicht alleine auf Feste und Veranstaltungen gehen zu lassen, sondern in Begleitung eines männlichen Verwandten, vor allem des Bruders. Großmutter, Mutter und Tante leihen kleinere Haushaltsgegenstände aus (PRES), helfen bei Krankheiten (GRIP) und geben Rat bei wichtigen Veränderungen im Leben (CONS). Die zweite Dimension auf der vertikalen Achse scheint hauptsächlich durch den Kontrast der Rolle der Schwester zum Rest der Hilfeleistungen gekennzeichnet zu sein und erklärt 17% der Varianz. Die Position der Schwester ist erstaunlich, denn außer für kleinere Hilfeleistungen im Haus (CASA) scheint sie keine weitere Rolle zu spielen. Dies mag daran liegen, daß die Schwester in dieser Lebensphase noch nicht als Vertrauensperson gebraucht wird, da diese Rolle von Freundinnen und Cousinen besser erfüllt wird. Die Rollen der Schwester, der Freundin und der Cousine werden weiter unten noch ausführlicher analysiert (vgl. 5.3). Ein verändertes Bild ergibt sich, wenn man die nur seit kurzer Zeit verheirateten Frauen betrachtet (Abbildung 5.3). 17 Die Berechnungen wurden mit dem Programm UCINET (Borgatti, Everett und Freeman 1992) durchgeführt, die Abbildungen mit dem Programm SPSS Version für Windows 7.5. erstellt. 18 Da diese Frauen nicht verheiratet sind, bezog sich Frage 8 (ESPO) auf den Freund und nicht auf den Ehemann. KAPITEL 5. SOZIALE NETZWERKE UND REPRODUKTIVES VERHALTEN 165 1,0 ,8 CA CASA ,6 GRIP ES DISF ,4 TRIS PRES HO ,2 SA IMPTRABA CO ,0 HA ESPO -,2 TIA MA MAS DIN REUN DOCO -,4 CONS -,6 SO PA -,8 Rollen Hilfeleistungen -1,0 -1,5 -1,0 -,5 0,0 ,5 1,0 Legende MA PA HA HO ES SA SO Madre (Mutter) Padre (Vater) Hermana (Schwester) Hermano (Bruder) Esposo (Ehemann) Suegra (Schwiegerm.) Suegro (Schwiegerv.) TIA Tía (Tante) CA Cuñada (Schwägerin) CO Cuñado (Schwager) PRES CASA DOCO IMP CONS GRIP DIN Fr. 1 Fr. 2 Fr. 3 Fr. 4 Fr. 5 Fr. 6 Fr. 7 ESPO TRIS DISF REUN TRABA MAS Fr. 8 Fr. 9 Fr. 10 Fr. 11 Fr. 12 Fr. 13 Abbildung 5.3: Soziale Rollen und Hilfeleistungen: Ein halbes bis fünf Jahre verheiratete Frauen Die erste Dimension erklärt 20% der Varianz und ist gekennzeichnet durch die Trennung von männlichen Rollen, auf der linken Seite, und weiblichen, auf der rechten Seite der Abbildung. Die Funktion der männlichen Rollen beschränkt sich auf bürokratische Hilfe (DOCO) und Hilfeleistungen im Haus, wie kleinere Reparaturen (CASA). Mit dem Ehemann verbringt die Frau ihre Freizeit (DISF), aber ansonsten spielt er, vor allem hinsichtlich emotionaler Hilfeleistungen, keine große Rolle. Diese Form der Hilfe wird weiterhin von Frauen geleistet. Wiederum ist die Mutter eine zentrale Figur, die Rat gibt bei Ehekrisen (ESPO) und Lebensveränderungen (CONS). Aber auch die Schwester, deren Rolle sich geändert hat, und die Tante helfen in dieser Form. Die Schwiegermutter nimmt ebenfalls eine wichtige 166 DAS GEPLANTE KIND und auch positivere Rolle ein, als erwartet wurde. Sie verleiht kleinere Haushaltswaren (PRES) und hilft bei Krankheiten (GRIP). Diese beiden Hilfeleistungen sind nicht erstaunlich wenn man bedenkt, daß Schwiegermutter und Schwiegertochter meist in einem Haus wohnen. Allerdings ist sie auch Ansprechpartner bei persönlichen Problemen (TRIS), was ihre Funktion um nur die praktischen Alltagsinteraktionen hinaus erweitert. Doch Schwester, Tante und vor allem die Mutter sind diejenigen, die um Rat bei großen persönlichen Krisen und Entscheidungen gefragt werden (ESPO, IMP, CONS). 19 Die beiden sozialen Rollen, die nur in dieser Lebensphase von den Frauen genutzt werden (vgl. Abbildung 5.1), sind der Schwiegervater und der Schwager. Beide sind hauptsächlich für bürokratische Hilfe zuständig. Der Kreis der wichtigen emotionalen Hilfe ist in dieser Phase sehr klein und läßt sich auf wenige weibliche Verwandtschaftsrollen reduzieren - die Mutter, die Schwester, die Schwiegermutter und die Tante. Entgegen der Annahme, daß cuñadas und concuñas eine wichtige Rolle bei persönlichen Probleme spielen, sind sie in dieser zweiten Lebensphase hauptsächlich, zusammen mit dem Ehemann, dafür zuständig, Freizeitaktivitäten (DISF) gemeinsam zu verbringen. Dies verändert sich allerdings in der dritten Phase des Lebenszyklus (Abbildung 5.4). 19 Die zweite Dimension erklärt 17% der Varianz, ist aber nur schwer interpretierbar. KAPITEL 5. SOZIALE NETZWERKE UND REPRODUKTIVES VERHALTEN 167 1,2 SBO ,9 HIA GRIP ,6 ES CCA ,3 IMP DISF ESPO PA MA 0,0 CASA SBA TRIS HA SA REUN CONS PRES -,3 HO DIN DOCO -,6 CA MAS ,9 -1,2 AMI -1,5 Rollen TRABA Hilfeleistungen -1,8 -1,5 -1,0 -,5 0,0 ,5 1,0 1,5 2,0 Legende MA PA HA HO ES SA HIA Madre (Mutter) Padre (Vater) Hermana (Schwester) Hermano (Bruder) Esposo (Ehemann) Suegra (Schwiegerm.) Hija (Tochter) CA CCA SBA SBO AMI Cuñada (Schwägerin) Concuña (Schwägerin) Sobrina (Nichte) Sobrino (Neffe) Amiga (Freundin) PRES CASA DOCO IMP CONS GRIP DIN Fr. 1 Fr. 2 Fr. 3 Fr. 4 Fr. 5 Fr. 6 Fr. 7 ESPO TRIS DISF REUN TRABA MAS Fr. 8 Fr. 9 Fr. 10 Fr. 11 Fr. 12 Fr. 13 Abbildung 5.4: Soziale Rollen und Hilfeleistungen: Sechs bis zwanzig Jahre verheiratete Frauen Auf der ersten, horizontalen Dimension, die 21% der Varianz erklärt, werden im wesentlichen emotionale Hilfeleistungen von sonstiger Hilfe getrennt. Wichtige emotionale Hilfeleistungen, wie Ratschläge bei Entscheidungen (CONS) und Besprechung für Ego wichtiger Dinge (IMP) werden von einem kleinen Kern an Personen, der Mutter, der Schwiegermutter, dem Vater und der Schwester, geleistet. Es ist auffällig, daß der Vater in dieser Lebensphase eine so wichtige Rolle einnimmt und nicht mehr nur auf finanzielle und bürokratische Hilfe beschränkt ist. Auch die emotional wichtige Bedeutung der Schwester, die sich schon in der zweiten Lebensphase abzeichnete, wird hier bestätigt. Viele Familien, die nicht mehr im schwiegerelterlichen Haus leben, was für fast alle Frauen der dritten Phase der Fall 168 DAS GEPLANTE KIND ist, besuchen in der Regel die Schwiegermutter sonntags zum Essen, wie sich auch hier zeigt (REUN). Auffällig ist die Zuordnung von cuñada, der Schwester des Ehemanns, und concuña, der Ehefrau des Bruders des Ehemanns (vgl. 5.2.3). Wie vermutet wurde, ist die concuña, die wie die Frau auch in die Familie hineingeheiratet hat, eine emotionale Stütze, denn sie leistet Hilfe bei Eheproblemen (ESPO) und persönlichen Problemen (TRIS). Im Gegensatz dazu ist die cuñada, wie auch der Bruder, für bürokratische Hilfe zuständig, was keine besondere Vertrauensbasis voraussetzt. Die Freundin, die in dieser Phase wieder zu einer wichtigen Rolle geworden ist, nimmt nun eine ganz andere Position ein als dies bei den unverheirateten Frauen der Fall gewesen ist. Sie ist nicht mehr Vertrauensperson, sondern ‚soziales Kapital’, welches bei Informationen über Arbeitsmöglichkeiten aktiviert werden kann. Persönliche Probleme werden, wie auch schon in der Phase davor, nicht nach außen getragen, sondern innerhalb der nahen weiblichen Verwandtschaft, Mutter, Schwiegermutter, Schwester und concuña, diskutiert. Die Bedeutung von Nichten, Neffen und Töchtern beschränkt sich auf kleinere Hilfeleistungen im Haus (CASA) und Pflege bei Krankheit (GRIP), und der Ehemann ist weiterhin der wichtigste Partner bei Freizeitaktivitäten (DISF). Es ist zu erkennen, daß Frauen dieser Lebensphase nicht mehr so stark an die schwiegerelterliche Familie gebunden sind, sondern weitere verwandtschaftliche Beziehungen nutzen können. Auch Freundinnen spielen wieder eine Rolle, was ein Indikator dafür sein kann, daß die schwiegerelterliche Kontrolle sich gelockert hat und Frauen mehr soziale Kontakte, sogar außerhalb der, vor allem weiblichen Verwandtschaft, unterhalten können. 20 20 Die zweite Dimension erklärt 18% der Varianz, ist aber wiederum nur schwer interpretierbar. KAPITEL 5. SOZIALE NETZWERKE UND REPRODUKTIVES VERHALTEN 169 2,0 HA 1,5 CONS 1,0 TRIS ES DOCO ,5 CMA HIO DISF 0,0 ESPO REUN IMP DIN PRES CASA YE HIA NU CMO -,5 TRABA MAS GRIP Rollen AMI -1,0 Hilfeleistungen -1,0 -,5 0,0 ,5 1,0 1,5 Legende HA ES HIA HIO AMI CMA CMO Hermana (Schwester) NU Esposo (Ehemann) YE Hija (Tochter) Hijo (Sohn) Amiga (Freundin) Comadre Compadre Nuera (Schwiegertocht.) Yerno (Schwiegersohn) PRES CASA DOCO IMP CONS GRIP DIN Fr. 1 Fr. 2 Fr. 3 Fr. 4 Fr. 5 Fr. 6 Fr. 7 ESPO TRIS DISF REUN TRABA MAS Fr. 8 Fr. 9 Fr. 10 Fr. 11 Fr. 12 Fr. 13 Abbildung 5.5: Soziale Rollen und Hilfeleistungen: Über zwanzig Jahre verheiratete Frauen Die erste Dimension der Abbildung 5.5 erklärt 21% der Varianz und teilt die Abbildung in emotionale Hilfe/Freizeitgestaltung einerseits (linke Seite) und bürokratische, finanzielle Hilfe/soziales Kapital (rechte Seite) andererseits. 21 Neben den weiblichen Rollen, die die Frau emotional unterstützen, hat die Schwiegertochter ähnlich der Schwiegermutter für die Frauen der zweiten Lebensphase (vgl. Abbildung 5.3) - die Funktion, bei alltäglichen Dingen, wie dem Ausleihen von Haushaltswaren (PRES) und der Pflege bei Krankheit (GRIP), Hilfe zu leisten. Die Schwiegertochter in dieser Abbildung ist das Komplementär zur Schwiegermutter 21 Die zweite Dimension erklärt 18% der Varianz, ist aber nicht interpretierbar. 170 DAS GEPLANTE KIND in Abbildung 5.3. Bei allen Frauen dieser Phase lebt die Schwiegertochter entweder mit im Haus oder in unmittelbarer Nähe. Wie schon bezüglich Abbildung 5.1 festgestellt wurde, haben die Frauen der vierten Phase ihren sozialen Schwerpunkt von der Herkunftsfamilie hin zur Prokreationsfamilie verlagert, was sicherlich auch demographische Gründe haben mag. Nur die Schwester hat noch eine unterstützende Funktion, wenn auch erheblich weniger zentral als die der comadre und der Tochter. Diese beiden sozialen Rollen sind für die Frauen der letzten Phase die emotional wichtigsten Rollen, die Hilfe leisten bei persönlichen Problemen (TRIS), beraten bei wichtigen Dingen (IMP), aber auch die Freizeit mit der Frau verbringen (DISF). Freizeitaktivitäten werden weiterhin auch mit dem Schwiegersohn und dem Ehemann geteilt (REUN). Der Ehemann ist in dieser letzten Phase nicht mehr nur auf die gemeinsame Freizeit beschränkt, sondern bekommt auch hinsichtlich emotionaler Hilfe eine wichtigere Position - er hilft bei wichtigen Lebensentscheidungen (CONS), aber auch beim Ausfüllen von Dokumenten, was zeigt, daß in dieser älteren Generation die Männer häufiger lesen und schreiben können als die Frauen. Anders als die comadre, die einzige nicht verwandtschaftliche Rolle, die wichtige emotionale Hilfe leistet, ist die Freundin, wie auch schon in Abbildung 5.4 zu erkennen, im wesentlichen für Informationen über Arbeitsmöglichkeiten zuständig. Sie wird nicht wieder zu einer emotional wichtigen Person, wie sie es für die unverheirateten Frauen war. Diese Rolle wird nun von der Tochter und der comadre eingenommen, beides Rollen, die aufgrund der Initiative der Frau entstanden sind und weniger das Resultat begrenzter sozialer Möglichkeiten sind, wie es vor allem bei den Frauen der zweiten, aber auch Frauen der dritten Phase, der Fall ist. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß es im weiblichen Lebenszyklus mehrere einschneidende soziale Veränderungen gibt, die insbesondere die emotionalen und beratenden Beziehungen betreffen. Freundinnen nehmen im Laufe des Lebens der Frau eine immer funktionalere, im Sinne von konkret und sofort nutzbar, wie z.B. den Austausch von Informationen über Arbeitsmöglichkeiten, Rolle ein. Es gibt eine gewisse Parallele zwischen der Rolle der Freundin in der ersten Lebensphase und der Rolle der comadre in der letzten Lebensphase. Beide Rollen sind nicht das Resultat verwandtschaftlicher Restriktionen. Es sind Beziehungen, durch die die Frau wichtige emotionale Unterstützung, die ein großes Maß an Vertrauen voraussetzt, erhält. Aber sowohl die Freundin der unverheirateten Frauen als auch die comadre der mehr als zwanzig Jahre verheirateten Frauen sind nicht nur ‚seelisches Auffangbecken’ sondern auch Partner bei Freizeitaktivitäten. KAPITEL 5. SOZIALE NETZWERKE UND REPRODUKTIVES VERHALTEN 171 Cuñadas und concuñas sind nur so lange wichtig als emotional Hilfeleistende, wie die Frau aufgrund ihrer sozialen Situation an sie gebunden ist, also in der zweiten und dritten Lebensphase. In der letzten Lebensphase spielen sie keine Rolle mehr, sondern sind vollkommen durch Töchter, die in dieser Lebensphase mit großem Abstand häufigste und multiplexeste Beziehung, aber auch comadres, ersetzt worden. Die Schwiegermutter ist zumindest nach diesen Daten besser als ihr Ruf, leistet aber auch in den mittleren Lebensphasen nie eine so wichtige emotionale Unterstützung wie die Mutter. Schwiegermütter helfen im Alltag, den man gemeinsam teilt, und bei kleineren emotionalen Problemen. Andere weibliche Verwandtschaftsrollen, wie Tanten, Cousinen und Nichten, übernehmen temporär ebenfalls wichtige Hilfeleistungen, allerdings sind diese Rollen zeitlich begrenzt und weniger zentral hinsichtlich des Grads an Vertrauen, den die Hilfeleistung impliziert. Vor allem bei der Schwester zeigt sich, wie wichtig die Korrespondenzanalyse zum Verständnis der einzelnen Rollen ist. Die Rolle der Schwester ist die einzige Rolle, die über alle vier Lebensphasen hinweg vorkommt. Doch betrachtet man ihren unterstützenden Beitrag über alle vier Phasen hinweg, ist klar zu erkennen, daß sie nur in der zweiten und dritten Lebensphase, wie auch die cuñadas und concuñas, wichtige emotionale Hilfe leistet. In der ersten und letzten Phase spielt sie eine eher marginale Rolle und ist keine wichtige Vertrauensperson. Durchgängig im Kern wichtiger emotionaler Hilfe ist die Mutter, was die ethnographischen Beschreibungen (z.B. LeVine 1993, Behar 1993) schon nahegelegt haben. Sie ist das eigentliche emotionale Rückgrad der Frau und wird erst in der allerletzten Lebensphase durch eine neue Mutter-Tochter Beziehung ersetzt. Auch hinsichtlich der männlichen Rollen gibt es eine gewisse Konstanz. Männliche Verwandte, denn bis auf den compadre sind alle anderen männlichen Rollen verwandtschaftlicher Natur, spielen durchgehend bei Geldfragen und bürokratischen Problemen eine Rolle. Der Anteil an männlichen Alteri ist über die vier Lebensphasen hinweg verhältnismäßig gleichbleibend und schwankt zwischen genannten 34% 45% männliche Alteri zu genannten 66% - 55% weibliche Alteri, was sich mit den Ergebnissen anderer Studien deckt (Schweizer, Schnegg und Berzborn 1998: 9). 22 Es wurde bewußt darauf verzichtet, die bisher vorgestellten Ergebnisse durch Zitate zu belegen, denn dies soll nun in einem zweiten Schritt systematisch geschehen. Eines der Probleme bei der Auswahl von Zitaten besteht darin, daß nicht 22 Unverheiratete Frauen: 34% Männer zu 66% Frauen; 0,5 bis 5 Jahre verheiratet: 44% zu 56%; 6 bis 20 Jahre verheiratet: 35% zu 65%; über 20 Jahre verheiratet: 45% zu 55%; Gesamtpopulation: 39% zu 61%. DAS GEPLANTE KIND 172 nachprüfbar ist, nach welchen Kriterien ein bestimmtes Zitat, ein bestimmter Informant oder eine bestimmte Informantin ausgewählt wurde. Deshalb kann auch nicht beurteilt werden, wie typisch das Dargestellte wirklich ist (Flick 1994: 107). Um nun die, häufig komplexe, Bedeutung wichtiger sozialer Rollen, die durch die Analyse der persönlichen Netzwerke dargestellt worden sind, noch weiter zu differenzieren, werden im folgenden vor allem die Lebensgeschichten von zehn Informantinnen analysiert. Neben den Lebensgeschichten werden auch Informationen aus Gruppeninterviews miteinbezogen. 5.3 Soziale Rollen im Kontext Insgesamt sind die Lebensgeschichten von zwölf Frauen erhoben worden. 23 Keine dieser Frauen war unverheiratet. Da ich aber zu vielen unverheirateten jungen Mädchen einen intensiven Kontakt hatte, kann zumindest auf Feldnotizen zurückgegriffen werden. 24 Außerdem berichten die verheirateten Frauen ebenfalls von ihrer Zeit vor der Ehe. Zwei der interviewten Frauen waren verwitwet, was in diesem Zusammenhang ähnlich problematisch ist wie bei der Auswertung der persönlichen Netzwerke. Wenn Aussagen der beiden Witwen miteinbezogen werden, dann werden sie deshalb explizit als solche gekennzeichnet. Ansonsten werden diese beiden Interviews nicht in die Analyse miteinbezogen. Die Aussagen, die die Frauen im Verlauf der Interviews machten, waren stark von ihren jeweiligen Erfahrungen und der Lebenssituation, in welcher sie sich zum Zeitpunkt des Interviews befanden, geprägt. Zum Beispiel sprach Sara, eine erst seit kurzem bei den Schwiegereltern lebende Frau, sehr viel über ihren Schwiegervater, die Person, mit der sie zum Zeitpunkt des Interviews die meisten Konflikte hatte. Einerseits spielt folglich bei der Schilderung ihres Lebens ein persönliches Moment, Resultat individueller Lebenserfahrungen und konkreter Lebenssituationen, für die Frauen eine große Rolle, andererseits lassen sich aber trotz dieser persönlichen Prägungen auch kulturelle Muster erkennen. Um diese zu erfassen, wurden die transkribierten Interviews, die in ihrer Länge zwischen 20 und 40 Seiten schwankten, 25 verkodet (Miles und Huberman 1994: 55-76, Merten 1995). Jede Textstelle, in der eine Informantin über eine soziale Rolle sprach, wurde mit der 23 Der Leitfaden findet sich im Anhang (9.3.1). Die Namen der Frauen wurden anonymisiert. Vor allem bestand ein intensiver Kontakt aufgrund des Tanzunterrichts, den ich Mädchen im Alter von vier bis zwanzig Jahren gegeben habe (vgl. 3.3). 25 Das entspricht ungefähr einer Interviewlänge von anderthalb bis maximal zweieinhalb Stunden. 24 KAPITEL 5. SOZIALE NETZWERKE UND REPRODUKTIVES VERHALTEN 173 entsprechenden Rolle verkodet. Sprach die Informantin z.B. darüber, daß sie sich in der vergangenen Woche mit ihrer Tante gestritten habe, wurde die gesamte Textstelle mit dem Label ‚Tante’ verkodet. Dabei war es gleichgültig, ob es sich um eine ganze Textpassage oder nur um einen Nebensatz handelte. 26 Auch war vorher nicht festgelegt, wieviel Kodes vergeben werden sollen, denn u.a. war von Interesse, wieviel verschiedene soziale Rollen die Informantin nannte. Im Anschluß an die Verkodung wurden alle verkodeten Textstellen nach ihren Kodes sortiert. 27 Dadurch konnten alle Aussagen, die z.B. zur sozialen Rolle ‚Freundin’ gemacht worden waren, gemeinsam betrachtet und analysiert werden. Bevor auf die Ergebnisse eingegangen wird, werden die interviewten Frauen kurz beschrieben. Wie oben schon ausgeführt worden ist, spielen bei den Aussagen der Informantinnen auch persönliche Erfahrungen eine große Rolle. Um diese Erfahrungen zumindest im Ansatz zu erfassen und somit auch bestimmte Abweichungen von prototypischen Mustern erklären zu können, ist es notwendig, die Frauen kurz vorzustellen. Die Frauen werden chronologisch vorgestellt. 26 Die Kodierung wurde mit dem Programm TALLY (1990) durchgeführt. Es wurden die spanischen Originaltexte verkodet. 27 Dieser Vorgang wird von TALLY durchgeführt. TALLY erstellt auch Häufigkeitslisten der vergebenen Kodes. Da diese aber zum Teil aufgrund meiner Fragen vorstrukturiert sind, werden sie hier nicht einbezogen. 174 DAS GEPLANTE KIND Ein halbes bis fünf Jahre verheiratete Frauen Sara Sara wurde 1977 in Juanacatlán, einem Nachbardorf von Pueblo Nuevo, geboren. Sie hat zehn Geschwister, wovon allerdings die ersten sechs aus der ersten Ehe ihres Vaters stammen. Sara lebt mit ihrem Mann, der aus Pueblo Nuevo stammt, in einer unión libre. Sie haben einen Sohn und leben zusammen mit seinen Eltern seit drei Jahren im Dorf. Sara hat die tele-secundaria abgeschlossen und arbeitet von Zeit zu Zeit für das Zentrum in Solís, vor allem als Helferin während nationaler Impfkampagnen. Sie hat starke Konflikte mit ihrem Schwiegervater, ihrem Mann und ihrer Mutter. Die einzige von ihr als positiv empfundene Beziehung ist die zu ihrem zweijährigen Sohn. Sara verhütet mit der Spirale. Außer der Familie ihres Mannes hat Sara keine weiteren verwandtschaftlichen Beziehungen im Dorf. Angela Angela wurde 1969 als älteste Tochter von fünf Geschwistern in Pueblo Nuevo geboren. Ihr erster Mann, der auch aus Pueblo Nuevo stammte und von dem sie eine Tochter hat, starb noch vor der Geburt der Tochter an Krebs. Sie lebten in unión libre. Ihre Schwiegermutter aus erster ‚Ehe’ war Chucha. 28 Vor vier Jahren heiratete Angela einen Mann (standesamtlich und kirchlich) aus Solís und hat mit diesem einen Sohn. Angela hat eine sehr gute Beziehung zu ihrem zweiten Mann. Angela hat die secundaria besucht, aber nicht abgeschlossen und mehrere Jahre, auch noch gemeinsam mit ihrem zweiten Mann, in Mexiko-Stadt gearbeitet. Sie war meine Feldassistentin. Angela verhütet mit der Spirale. Sie ist die Tochter von Rosario. Sechs bis zwanzig Jahre verheiratete Frauen Benita Benita wurde 1962 in Pueblo Nuevo als das älteste Mädchen von 12 Geschwistern geboren. Als sie fünf Jahre alt war, verließ der Vater die Familie für mehrere Jahre, um mit einer anderen Frau zusammen zu leben. Seit dieser Zeit hat Benita eine sehr enge Beziehung zu ihrer Mutter. Seit 13 Jahren ist Benita mit einem Mann aus Pueblo Nuevo kirchlich und standesamtlich verheiratet. Sie haben sechs Kinder. Benita verhütet mit der Pille. Benita hat die primaria beendet und kurze Zeit vor ihrer Hochzeit in Temascalcingo bei einem Arzt als Aushilfe gearbeitet Sie ist die Schwägerin (cuñada) von Margaritha (Margaritha ist mit Benitas Bruder verheiratet). Giselda Giselda wurde 1961 in Solís geboren. Sie hat zwölf Geschwister. Vor 18 Jahren heiratete sie einen Mann (kirchlich und standesamtlich) aus Pueblo Nuevo und hat mit ihm neun Kinder. Giselda hat die secundaria abgeschlossen und ist zusammen mit ihrem Mann die Besitzerin einer tienda, eines kleinen Lebensmittelgeschäfts im Dorf. Ihre älteste Tochter besucht als erste Dorfbewohnerin die Universität in Toluca. Giselda hat verschiedene Male versucht, zu verhüten, allerdings immer für sehr kurze Zeit. Sie hat neun Kinder. Giselda ist die Schwägerin (concuña) von Guadalupe (Guadalupe ist mit dem Bruder ihres Mannes verheiratet). 28 Die hervorgehobenen Aussagen sind die verwandtschaftliche Beziehungen, durch die die interviewten Frauen untereinander verbunden sind. KAPITEL 5. SOZIALE NETZWERKE UND REPRODUKTIVES VERHALTEN 175 Margaritha Margaritha wurde 1965 in Pueblo Nuevo geboren. Sie ist die Tochter von Chucha und hat acht Geschwister. Ihr Vater ist starker Alkoholiker. Ihre Mutter hat sehr früh eine enge Beziehung zu ihr aufgebaut. Margaritha ist seit 17 Jahren mit einem Mann aus Pueblo Nuevo kirchlich und standesamtlich verheiratet. Schon mit ihrem 13. Lebensjahr kam sie in das schwiegerelterliche Haus und hatte große Probleme mit ihrer Schwiegermutter. Margaritha hat keine Kinder. Darunter leidet sie sehr und ihr Mann und sie haben schon viel versucht, ein Kind zu bekommen. Ihr Mann will aber auf gar keinen Fall ein Kind adoptieren. Die Beziehung zwischen beiden ist gut. Margaritha hat die primaria nicht beendet, ist aber wirtschaftlich aktiv, indem sie einen kleinen Schreibwarenladen in ihrem Haus unterhält. Margaritha ist die Schwägerin (cuñada) von Benita. (mit Benitas Bruder verheiratet) Magdalena Magdalena wurde 1968 in Pueblo Nuevo geboren. Sie lebt seit acht Jahren mit einem Mann aus Pueblo Nuevo zusammen in unión libre und hat vier Kinder. Die Beziehung zu ihrem Mann sowie zu ihrer Schwiegermutter, die im Nachbarhaus wohnt, ist äußerst konfliktreich. Magdalena hat die primaria abgeschlossen und vor ihrer Heirat einen Kurs als Näherin absolviert. Ihr Mann verbietet ihr aber, zu arbeiten, was sie gerne möchte. Seit mehr als einem Jahr arbeitet ihr Mann zum zweiten Mal in den USA, in Chicago. Gegen den Widerstand ihres Mannes und ohne sein Wissen hat sie sich hormonelle Spritzen geben lassen, die sie aber abgesetzt hat, sobald ihr Mann in den USA war. Guadalupe ist ihre Schwägerin (cuñada) (Magdalena ist mit Guadalupes Bruder verheiratet). Guadalupe Guadalupe wurde 1964 als zweite Tochter von 12 Geschwistern in Pueblo Nuevo geboren. Ihr Mann, mit dem sie seit elf Jahren standesamtlich verheiratet ist, stammt auch aus Pueblo Nuevo. Sie haben zwei Kinder. Guadalupe verhütet seit vielen Jahren mit der Pille. Sie hat die primaria abgeschlossen. Ihr Mann ist Lehrer. Guadalupe und ihr Mann haben eine sehr ausgeglichene, gute Beziehung. Guadalupe ist die Schwägerin (cuñada) von Magdalena (Magdalena ist mit ihrem Bruder verheiratet) und die Schwägerin (concuña) von Giselda (Giselda ist mit dem Bruder ihres Mannes verheiratet). Mehr als zwanzig Jahre verheiratete Frauen Rosario Rosario wurde 1948 in Michoacán, einem Nachbarstaat vom Bundesstaat México, in dem Pueblo Nuevo liegt, geboren. Sie hat drei Geschwister. Ihren Mann, der aus Pueblo Nuevo kommt, lernte sie in Mexiko-Stadt kennen. Mit ihm ging sie nach Pueblo Nuevo. Rosario hat sechs Kinder und ist seit 28 Jahren kirchlich und standesamtlich verheiratet. Da ihr Mann Alkoholprobleme hatte, gab es viele Spannungen in der Ehe. Zum Zeitpunkt der Feldforschung trank ihr Mann aber keinen Alkohol. Auch die Beziehung zur Schwiegermutter war schwierig, wurde aber besser, seitdem Rosario bei ihr ausgezogen ist und einen eigenen Haushalt hat. Rosario hat die erste Klasse der primaria besucht. Rosario ist die Mutter von Angela und die comadre von Chucha. 176 DAS GEPLANTE KIND Lucia Lucia wurde 1953 in Mexiko-Stadt geboren. Sie hatte nur eine Schwester und ihre Eltern hatten ein kleines Restaurant. Da sie der häuslichen Enge und Kontrolle entfliehen wollte, verließ sie das elterliche Haus ohne Erlaubnis und arbeitete als Hausmädchen. Durch eine Freundin lernte sie ihren Ehemann kennen, der aus Pueblo Nuevo kam und sie dorthin mitnahm. Erst nach der Geburt ihres zweiten Kindes sah sie ihre Eltern wieder. Mit der Schwiegermutter hatte sie in den ersten Jahren viele Konflikte, die sich auflösten, nachdem sie einen eigenen Haushalt hatte. Lucia ist seit 26 Jahren kirchlich und standesamtlich verheiratet und hat fünf Kinder. Lucia hat die primaria nicht beendet. Sie benutzt seit zwanzig Jahren die Spirale. Sie und ihre comadre Graciella, die sie zur gleichen Zeit wie ihren Mann in Mexiko-Stadt kennenlernte, waren die ersten Frauen des Dorfes, die verhüteten. Sie hat neben der Familie ihres Mannes keine weiteren Verwandten im Dorf. Chucha Chucha wurde 1940 in Contepec. Ihre Eltern gehörten zu den Gründerfamilien Pueblo Nuevos. Auch ihr Mann wurde in Contepec geboren und kam mit seinen Eltern als Kleinkind nach Pueblo Nuevo. Chucha ist seit 41 Jahren kirchlich und standesamtlich verheiratet und hat 9 Kinder. Chucha schildert ihre ersten Ehejahre als sehr schrecklich. Ihr Mann trank viel und schlug sie. Mit der Schwiegermutter hat sie sich nicht verstanden. Erst seit ihre Töchter, zu denen sie eine enge Bindung hat, insbesondere zu ihrer Tochter Margaritha, erwachsen sind, hat sie viel an Selbstbewußtsein gewonnen. Chucha und ihr Mann haben beide keine Schule besucht, aber Chucha hat vor fünf Jahren einen Kurs für ältere Frauen besucht, in dem sie ein bißchen Lesen und Schreiben gelernt hat. Im Alter von 45 Jahren hat Chucha begonnen, die Pille zu nehmen. Chucha ist die comadre von Rosario und die erste Schwiegermutter von Angela. Tabelle 5.1: Biographischer Hintergrund der interviewten Frauen Diese kurze biographische Einbettung läßt, vor allem vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Analyse der persönlichen Netzwerke, schon bestimmte Muster erkennen. Mehrere Frauen haben Probleme mit ihrem Ehemann und ihrer Schwiegermutter. Die Mutter hingegen ist eine bei Frauen aller Lebenszyklusphasen durchweg unterstützende Person. Die meisten Frauen, ebenso wie ihre Ehemänner, wurden in Pueblo Nuevo geboren, was der Situation innerhalb des Dorfes entspricht. Wurden sie nicht im Dorf geboren, kommen sie entweder aus den beiden Nachbardörfern Solís oder Juanacatlán oder sie lernten ihren Mann in Mexiko-Stadt kennen. Nur Chucha, exemplarisch für die ältere Generation des Dorfes, wurde in Contepec geboren und kam als Kleinkind ins Dorf. Auch die Verteilung des Bildungsniveaus entspricht der Verteilung im Dorf - die ältesten Frauen können kaum oder gar nicht lesen und schreiben, die Frauen der dritten Lebensphase haben die primaria abgeschlossen und die Frauen der zweiten Lebensphase haben zumindest die secundaria besucht oder sogar abgeschlossen. Ähnliches gilt für die Anzahl der Kinder sowie die Verwendung von Verhütungsmitteln. Auch hier stellen die interviewten Frauen KAPITEL 5. SOZIALE NETZWERKE UND REPRODUKTIVES VERHALTEN 177 typische Fälle dar. Daß diese Frauen in vielerlei Hinsicht für das Dorf exemplarisch sind, liegt daran, daß sie von mir bewußt nach eben diesen Kriterien ausgewählt wurden. Insofern ist es trotz der geringen Fallzahl gerechtfertigt, die folgenden Ergebnisse für das Dorf zu verallgemeinern. Weiterhin werden die Aussagen der interviewten Frauen mit free list Daten (Weller und Romney 1988: 9-19), die mit einer ganz anderen Gruppe von Frauen erhoben wurden, Feldnotizen und Aussagen aus Gruppeninterviews ergänzt. Im folgenden soll die Analyse der sozialen Rollen wiederum in die vier Phasen des Lebenszyklus unterteilt werden. Dadurch ist es möglich, die bisher ermittelten Erkenntnisse zu vertiefen und zu erweitern. Allerdings wird jetzt nicht jede Lebensphase einzeln betrachtet. Da viele der bisher beschriebenen sozialen Rollen sich im Laufe des Lebenszyklus wandeln und teilweise sogar wegfallen, ist es sinnvoll, eine Rolle über die Zeit hinweg darzustellen und aufzuzeigen, wie sie sich innerhalb der vier Phasen ändert. Bei einigen Rollen bietet es sich an, sie in Zusammenhang zu anderen Rollen zu setzen und gemeinsam zu diskutieren. Dies ist z.B. hinsichtlich der sozialen Rolle der Freundin der Fall. Nicht alle 23 Rollen, die bei der Analyse der persönlichen Netzwerke beschrieben worden sind, müssen und können im folgenden detailliert dargestellt werden. Bestimmte Rollen, wie der Onkel, die Tante oder der Schwager sind wenig komplex und können deshalb zusammengefaßt und gemeinsam diskutiert werden. Die verkodeten Textstellen wurden ein weiteres Mal verkodet. Diesmal wurden die Aussagen der Frauen zu den einzelnen Rollen danach unterschieden, ob es sich um eine Beschreibung der Rolle vor der Heirat der Frau handelte, somit der ersten Phase, oder um Beschreibungen nach der Heirat. Soweit es möglich war, wurden die beiden danach folgenden Phasen (dritte und vierte Lebenszyklusphase) ebenfalls differenziert. 29 Auch die folgende Analyse orientiert sich an der Entwicklung des sozialen Umfeldes innerhalb des Lebenszyklus, hauptsächlich an der Entwicklung von der Herkunftsfamilie hin zur Prokreationsfamilie. Allerdings wird nicht mit der Herkunftsfamilie begonnen, sondern mit der sozialen Rolle der Freundin, da diese trotz ihres Wandels über die Zeit hinweg eine der wichtigsten sozialen Rollen der Frau dar- 29 Durch dieses Vorgehen soll die Analyse der Texte systematisiert werden. Wie oben schon angemerkt wurde, besteht eines der großen Probleme beim Umgang mit Texten in der subjektiven Auswahl bestimmter Zitate. Vollkommen vermieden werden kann dieses Vorgehen hier nicht, denn aus zeitökonomischen Gründen war es nicht möglich, ein Kategoriensystem zu entwickeln (vgl. dazu z.B. Kortendick 1996). Durch die zweifache Verkodung wurde aber die Grundlage für die Erstellung eines solchen Kategoriensystems gelegt, und außerdem wurde dadurch die Bewältigung des Textmaterials, welches insgesamt mehr als 400 Seiten umfaßt, erst möglich. DAS GEPLANTE KIND 178 stellt und in gewisser Weise unter verschiedenen Bezeichnungen fast alle Phasen überdauert. 5.3.1 Von der Freundin zur comadre Nicht alle Frauen hatten eine oder mehrere Freundinnen, bevor sie heirateten. Die beiden ältesten Frauen, Rosario und Chucha sagten, daß ihre Eltern es ihnen nicht erlaubt hätten: „Früher war das anders. Früher war es so, daß sie uns Aufgaben gaben, die wir machen mußten und da gab es nichts, da konnte man sich nicht mit einer Freundin vergnügen, mit einer Freundin reden (...) sie erlaubten uns nicht, so wie heute die Mädchen, zu spielen. Zu der Zeit nicht, wir haben nicht gespielt.“ (Rosario, Zeile 129-135). 30 Wie Rosario schildert, war es nicht nur das Verbot der Eltern, sondern auch ihre Verpflichtungen im Haushalt, die ihr wenig Zeit und Gelegenheiten gaben, Freundschaften zu schließen. Allerdings erwähnen Rosario und Irma, eine der Witwen, daß sie manchmal eine Cousine um Rat bei persönlichen Problemen gefragt haben. Die jüngeren Frauen hingegen geben alle an, daß sie vor ihrer Ehe zumindest eine Freundin gehabt haben. Die Freundin erfüllte zwei wichtige Aufgaben. Einerseits war sie - neben der Mutter - die wichtigste Vertrauensperson, andererseits half die Freundin sowohl bei der Vermittlung von novios, potentiellen Ehemännern, als auch von Arbeitsmöglichkeiten. Mehrere Frauen schildern die ‚kupplerische‘ Tätigkeit, die eine Freundin ausübte. Der wichtigste Grund, warum diese jüngeren Frauen Freundinnen zu dieser Lebensphase hatten, liegt darin, daß sie alle zur Schule gegangen sind oder in Mexiko-Stadt als Hausmädchen gearbeitet haben, was ihnen erst die Gelegenheit gab, Freundschaften zu schließen: „Nur in der Schule, als wir zur Schule gegangen sind, (...) ja, da hatte ich Freundinnen.“ (Giselda 150-1). Im Gegensatz zur älteren Generation, zu der Rosario und Chucha gehören, die nicht oder nur für ein Jahr zur Schule gegangen ist und erheblich früher im Haushalt der Eltern arbeiten mußte, sind alle anderen Frauen zumindest sechs Jahre in der primaria gewesen und hatten während dieser Zeit Gelegenheit, Freundinnen zu finden. Ähnlich ist auch die Situation der heute unverheirateten Frauen, deren Netzwerke im vorangegangenen Abschnitt dargestellt wurden. Fast alle jun30 Die Zeilenangabe beziehen sich auf die Zeilennumerierung, die das Programm TALLY vornimmt. Alle Zitate wurden von der Verfasserin der besseren Lesbarkeit halber ins Deutsche übersetzt. KAPITEL 5. SOZIALE NETZWERKE UND REPRODUKTIVES VERHALTEN 179 gen Mädchen gehen heute in die Schule und viele von ihnen arbeiten nach der primaria oder der secundaria in Mexiko-Stadt als Hausmädchen. Die meisten von ihnen haben die Stellen durch Freundinnen vermittelt bekommen. Da die Tätigkeit des Hausmädchens im informellen Sektor angesiedelt ist, spielen soziale Netzwerke eine große Rolle (Lomnitz 1977). Nur durch soziale Netzwerke, und dort an aller erster Stelle durch Freundinnen, erfahren die Frauen von neuen Arbeitsmöglichkeiten und können beurteilen, ob ihre Arbeit angemessen bezahlt wird und sie gut behandelt werden. Daß viele dieser Freundinnen auch Vertrauenspersonen sind, liegt daran, daß die verwandtschaftlichen Rollen, die diese Aufgabe sonst erfüllen, wie Cousinen und Mütter, in der Regel nicht anwesend sind. Klatsch im positiven wie im negativen Sinn, spielt hier eine große Rolle. Wie die Mädchen, aber auch einige der interviewten Frauen beschreiben (hauptsächlich Angela und Sara), die von dieser Zeit berichten, erfahren sie durch den Austausch mit den Freundinnen mehr über Sexualität, Verhütung und die Ehe als sie jemals zu Hause erfahren haben. Es wird aber auch von Neid und Eifersucht berichtet, die sich vor allem auf die jeweiligen novios beziehen. Hieran zerbrechen auch Freundschaften, wie Sara schildert. Nach einer sehr schlechten Erfahrung in Mexiko-Stadt, wo ihr die Freundin sowohl eine gute Arbeitsstelle als auch einen potentiellen Freund streitig machte, kam Sara für sich zu der Erkenntnis, keine Freundin mehr haben zu wollen und in ihr Heimatdorf zurückzukehren, denn „zu guter letzt war meine Freundin meine Feindin“ (Sara, 819). Schule und Arbeitsmigration stellen also Randbedingungen dar, die es für die Frauen einerseits notwendig machen, Freundinnen zu haben und es andererseits überhaupt erst ermöglichen, eine Freundin zu haben. Ganz anders gestaltet sich die Situation, sobald die Frauen verheiratet sind. „Also, dann besuchten wir uns nicht mehr und wir redeten auch nicht mehr so, so wie früher. Nur noch ‚Guten Tag’, ‚Hallo, wie geht es’, also, es ist einfach nicht das gleiche, es ist nicht das gleiche, wenn alle verheiratet sind und Kinder haben.“ (Guadalupe 186-8) Meche, die Schwester von Margaritha, sagte, daß man als verheiratete Frau und noch mehr als Mutter, kein Bedürfnis hätte, seine alte Freundin zu sehen. Sobald man ein Kind habe, wäre nur noch das Kind wichtig, und das würde auch die meiste Zeit in Anspruch nehmen (Feldnotiz Nr. 65, 11/3/97). Doch sind es nicht nur zeitökonomische Gründe, warum Frauen der zweiten Lebensphase erheblich weniger und homogenere soziale Beziehungen unterhalten, als unverheiratete Frauen: „Er (der Ehemann) will nicht, daß ich ihm Klatsch ins Haus bringe.“ (Sara, 991). Die Angst, daß persönliche Probleme ‚nach außen’ getragen werden, ist allgegenwärtig und gerade junge Frauen, die vor ihrer Heirat Beziehungen auch außerhalb 180 DAS GEPLANTE KIND der Verwandtschaft unterhalten haben, stellen eine Gefahr dar. Die wichtigsten Personen, die Kontrolle über die Aktivitäten der jungen Frau haben, sind die Schwiegermutter und der Ehemann. In einigen Fällen geht die Kontrolle so weit, daß der Frau nicht nur alle Kontakte zu ehemaligen Freundinnen, sondern auch zu ihrer Mutter, Großmutter und ihren Schwester verboten werden: „Und dann fragt er, wieso meine Mutter und meine Großmutter kommen. Ob sie mir Klatsch erzählen. Und er sagt, daß es schlecht ist, daß sie kommen und mir Klatsch erzählen.“ (Magdalena, 720-3) Vor allem Gerüchte hinsichtlich sexuellen Fehlverhaltens der Frau spielen hier eine große Rolle. In den Gruppeninterviews diskutierten die Frauen, was ein guter Ehemann ist. Neben diversen Charakteristika spielt eine große Rolle, daß ein Mann in der Lage sein sollte, seine Frau ‚unter Kontrolle’ zu haben, so daß keine Gerüchte über sexuelles Fehlverhalten der Frau entstehen können. Gerade jung verheiratete Frauen sollten ihr Haus, bzw. das schwiegerelterliche Haus, am besten gar nicht verlassen und noch weniger mit ‚Fremden’, also Personen, die nicht zur (weiblichen) Verwandtschaft (vor allem des Mannes) gehören, reden. Dadurch würden sie einerseits nur auf dumme Gedanken kommen und andererseits ihren Ruf gefährden. Viele der erst kurz verheirateten Frauen, mit denen ich sprach, und die noch kein Kind hatten, wünschten sich nichts mehr, als endlich ein Kind zu bekommen. Durch das Kind schafft sich die Frau eine für sie sehr wichtige neue soziale Beziehung. Betrachtet man nun die Frauen der dritten und vor allem der vierten Lebensphase, so zeigt sich, daß die Freundin wieder Einzug in das soziale Umfeld der Frau nimmt, allerdings nicht mehr als Freundin, sondern als comadre. Die Ähnlichkeit der beiden Rollen wird auch von den Frauen wahrgenommen: „Die Mutter von Margaritha, meine comadre, wir sind wie Schwestern, wie Freundinnen und wir machen zusammen das Essen und trinken gemeinsam mal ein Bier, geben unseren Kindern zusammen was zu essen und noch am späten Nachmittag kommt sie zu mir nach Hause.“ (Rosario, 853-8) „Sie ist meine beste Freundin und meine comadre.“ (Rosario, 861) „Jetzt habe ich meine comadres, die meine Freundinnen sind.“ (Chucha, 860) Frauen dieser Lebensphase haben größere soziale Freiheiten, da sie einerseits durch ihre Kinder selber soviel an sozialer Macht und Einflußnahme gewonnen haben, daß sie es sich erlauben können, auch mal ‚unter comadres’ ein Bier zu trinken und andererseits ihre sozialen Aktivitäten auch den kulturellen Normen entsprechen. Daß comadres ein wichtiger Bestandteil dieser Lebensphase sind und daß comadres persönliche Beziehungen zueinander aufbauen, ist nicht nur erlaubt son- KAPITEL 5. SOZIALE NETZWERKE UND REPRODUKTIVES VERHALTEN 181 der auch erwünscht. Hinzu kommt, daß die Beziehung, die die Frau zu ihrer comadre hat, Bestandteil der Beziehung ist, die das Paar zu den compadres hat. Denn fast alle compadrazgo Beziehungen werden von Ehepaaren eingegangen und ebenso wie der Mann seine Beziehung zu seinem compadre pflegt, ist es der Frau erlaubt und wird es auch von ihr erwartet, daß sie ihre Beziehung zur comadre aufrechterhält. Neben der wichtigen emotionalen Unterstützung, die die comadre leistet, handelt es sich vor allem um unzählige kleinere Hilfeleistungen, die den Alltag für beide Frauen erleichtern. Die comadre hilft bei der Kindererziehung, bei Krankheiten oder agiert als Babysitter. Die Netzwerkanalyse hat ergeben, daß die soziale Rolle der Freundin in der dritten und vierten Lebensphase ebenfalls wieder an Bedeutung gewinnt. Doch wie die Korrespondenzanalyse gezeigt hat, handelt es sich bei den Hilfeleistungen, die die Freundin in diesen beiden Phasen übernimmt, hauptsächlich um Hilfe bei der Arbeitsuche und u.U. um finanzielle Hilfe. Vergegenwärtigt man sich die Lebenssituation der Frauen der dritten und vierten Phase, die alle nicht außerhalb des Hauses arbeiten, zeigt sich, daß der Grund, warum die Freundin als Rolle wieder genannt wird, im wesentlichen darin besteht, daß die Frauen alte Netzwerkbeziehungen erinnern und nennen. Die Frage, wen man um Hilfe bei der Jobsuche bittet, ist für die Frauen dieser Lebensphase keine Frage, die sie sich stellen. Um sie aber trotzdem zu beantworten, nennen sie ehemalige Freundinnen, mit denen sie häufig seit Jahren keinen Kontakt mehr haben. Es handelt sich folglich um relativ schwache Beziehungen, die in keiner Weise mit der emotionalen Bedeutung, die der Freundin in der ersten Phase und der comadre in der letzten Phase zukommt, zu vergleichen sind. Die hier beschriebene Entwicklung ist keine Rückbesinnung auf alte Freundinnen. Vielmehr gelingt es und ist es den Frauen möglich, die vor allem in der ersten Lebensphase kulturell akzeptable Freundinnenbeziehung im Laufe ihres Lebens durch die kulturell akzeptable comadre-Beziehung zu ersetzen. Nachdem nun die wichtigen Rollen der Freundin und der comadre dargestellt wurden, soll im folgenden die Rolle der Mutter, eine der sich am wenigsten verändernden Rollen, genauer untersucht werden. DAS GEPLANTE KIND 182 5.3.2 ‚An erster Stelle meine Mutter‘ In den Gruppeninterviews wurde gefragt, welche Person die Frauen als die wichtigste Person in ihrem Leben empfinden. Unabhängig vom Alter einer Frau wurden auf die Frage nur drei verschiedene Personen genannt - die Mutter, der Ehemann und die Kinder. Am häufigsten war eine Kombination von zwei der genannten sozialen Rollen, die mehrere Frauen mit dem Satz einleiteten „An erster Stelle meine Mutter (...)“. Eine ähnliche Beurteilung der Mutter findet sich auch in einigen Lebensgeschichten: „Sieh mal, meine Mutter ist die beste auf der ganzen Welt, glaube ich. Und alle Töchter sagen das gleiche über ihre Mütter.“ (Margaritha ,726). Und auch in der Analyse der Netzwerke hat sich gezeigt, wie überaus zentral die Mutter im Leben der Frau ist. Es fragt sich, wie diese starke Beziehung, die mehr als alle anderen Beziehungen eine emotionale Konstanz hat, entsteht. Mehrere Frauen schildern gewalttätige Übergriffe und psychische Grausamkeiten des Vaters gegen die Mutter. Die Schilderungen zeigen, wie hilflos sich die Frauen als Kinder hinsichtlich der Situation fühlten: „Er trank und schlug meine Mutter. Ich weinte und fragte ihn, warum, warum er meine Mutter schlägt, meine Mutter, was sie ihm getan habe.“ (Margaritha, 43) „Und er mißhandelte meine Mutter, er schlug sie viel, aber nein, er ging nicht mehr weg von uns. (...) Und wir, noch so klein, haben sie verteidigt. Und siehst du, deshalb hat meine Mutter eine Narbe auf dem Knie. Das war ein Tritt.“ (Benita, 85-92). Da Benitas Vater die Familie für fünf Jahre verließ, um mit einer anderen Frau zusammenzuleben, sagt Benita, daß sie trotz der Schläge, die der Vater der Mutter gab, froh gewesen sei, daß ihr Vater nicht mehr wegging. Denn ihre Mutter habe während der Zeit, wo sie mit den Kindern allein war, auch viel gelitten, vor allem da die finanzielle Situation immer äußerst schwierig war. Das Moment des Leidens spielt eine zentrale Rolle sowohl in der Schilderung des Lebens der Mutter als auch in der Schilderung des eigenen Lebens und wird wiederum an die Töchter weitergegeben. Das permanente Gespräch über das Leiden der Frau führt dazu, daß die Mutter eine starke Bindung zu ihren Kindern, vor allem zu den Töchtern, entwickelt und auch über ihr gesamtes Leben hinweg aufrechterhält. Denn die andere Seite des mütterlichen Leidens besteht im Schuldgefühl der Kinder. Die Mutter ist auch so zentral, weil sie soviel für ihre Kinder ertragen hat. Dieses kulturelle Muster, welches auch als Marianismo bezeichnet wird (Browner und Lewin 1982: 62), prägt die Norm, daß die Mutter zu ehren ist und KAPITEL 5. SOZIALE NETZWERKE UND REPRODUKTIVES VERHALTEN 183 zeigt den starken Einfluß christlicher Ideologie. Aus diesem Grund sind auch die Aussagen innerhalb der Gruppeninterviews mit einer gewissen Vorsicht zu rezipieren. Denn im Gegensatz zu den Lebensgeschichten, in denen die sozialen Rollen in Bezug auf konkrete Situationen geschildert werden, sprechen die Frauen in den Gruppeninterviews eher über ein kulturelles Ideal, welches darin besteht, daß die Mutter die wichtigste Figur im Leben der Frau sein muß. Um diesen Bruch zwischen Ideal und Realität noch zu verdeutlichen, werden im folgenden Situationen betrachtet, in denen es zu Konflikten mit der Mutter gekommen ist. Die ersten Konflikte zwischen Mutter und Tochter werden von den Frauen bezüglich ihrer ersten Menstruation geschildert. Bis auf eine Frau (Rosario) wurde keine der Frauen von der Mutter aufgeklärt und alle empfanden ihre erste Menstruation als ein unverständliches, bedrohliches Ereignis. Viele der Frauen verheimlichten ihre Menstruation über eine gewisse Zeit. Wurde dann mit der Mutter gesprochen, meist, weil die Mutter entdeckt hatte, daß ihre Tochter begonnen hatte, zu menstruieren, waren die Frauen vor allem darüber enttäuscht, daß die Mutter ihnen nicht mehr vertraut hatte und ihnen nicht vorher erklärt hatte, was geschehen würde. Ähnlich wird die Rolle der Mutter bezüglich der Heirat der Tochter empfunden. Mehrere Frauen schildern, daß ihre Mutter dafür verantwortlich war, über die Sittsamkeit der Tochter zu wachen. Übertrat die Tochter bestimmte Grenzen, blieb sie z.B. länger von zu Hause fort, als es als angemessen empfunden wurde, wurde sie von der Mutter mit der Begründung bestraft, daß nun die Mutter wiederum Schläge vom Vater zu erwarten habe. Bei einigen Frauen (Chucha, Margaritha, Angela, Magdalena und Fernanda, eine der Witwen) steigerte sich dieses Verhalten zu einer Angst vor der Mutter, die im ‚Weglaufen’ aus dem elterlichen Haus und dem ‚Mitgehen’ mit dem novio, durchaus im wörtlichen Sinne, kulminierte, was wiederum zu einer nur begrenzt freiwilligen Heirat führte. Wie Fernanda, eine der Witwen, schildert, wäre sie wohl nie mit ihrem novio mitgegangen, wenn ihre Mutter mehr Vertrauen gehabt hätte und sie nach Hause hätte zurückkehren können. Einerseits existiert also ein Ideal der immer helfenden, sich aufopfernden Mutter, andererseits kann die Mutter, aufgrund des sozialen Gefüges, in dem sie sich selber befindet, diesem Ideal nicht immer entsprechen, was zu Irritationen in der Mutter/Tochter Beziehung führt. Trotz dieser Irritationen ist die Mutter wiederum sehr darauf bedacht, die Beziehung zu ihren Kindern aufrecht zu erhalten, da diese für sie von existentieller Bedeutung ist. Durch das Schuldgefühl der Kinder gegenüber der Mutter, das immer wieder erneuert wird, entsteht somit eine lebenslange Schuld, die der Mutter Hilfe zusichert und die nicht zu begleichen ist. Neben dem Gefühl der Schuld, welches auf Söhne wie Töchter zutrifft, kommt bei den Töch- 184 DAS GEPLANTE KIND tern noch ein Moment der Solidarität hinzu. Die Warnung der Mutter vor dem Leben als Ehefrau und all dem Leiden, das die Tochter, wie es auch ihr geschehen ist, zu ertragen haben wird, hat sich bis heute gehalten. Gerade Töchter sind die wichtigste emotionale Stütze der Mutter, mit denen alle Sorgen geteilt werden: „Ich teilte alles mit meiner Mutter. Alle Schmerzen meiner Mutter.“ (Benita, 156) „Ich wurde verantwortlich und teilte alle ihre Probleme mit meiner Mutter.“ (Benita, 175) Da Mutter und Tochter gemeinsam durch schlimme Zeiten gegangen sind, und dies müssen nicht nur physische Grausamkeiten sein, die nur einige Frauen schildern, sondern können auch Zeiten der materiellen Not sein, in denen Mutter und Tochter gemeinsam zum Lebensunterhalt z.B. durch Wäschewaschen beigetragen haben, besitzen sie Erfahrung darin, Krisen gemeinsam zu meistern. Diese gemeinsamen Erfahrungen, noch verstärkt durch das Schuldgefühl der Tochter, führen tatsächlich dazu, daß die Mutter trotz schwerwiegender Konflikte die wichtigste Person im Leben der Frauen bleibt, wenn auch bei weitem weniger euphemistisch, als dies die Frauen in den Gruppeninterviews darstellen. 31 Selbst Frauen, wie Chucha, Margaritha und Fernanda, die sich während der Phase ihrer Heirat von ihren Müttern verraten und verlassen gefühlt haben, stehen weiterhin im engen Kontakt zu ihren Müttern. Die Hilfe, die die Mutter leistet, wurde schon hinreichend durch die Netzwerkdaten beschrieben. Allerdings zeigen die Netzwerke und auch die Gruppendiskussionen nicht, daß die Darstellung der Beziehung zur Mutter aufgrund kultureller Ideale häufig übermäßig glorifiziert wird. Auch die Mutter kann hemmend auf die Unabhängigkeit und die Entscheidungen der Tochter einwirken, wie ihre Rolle bei der Heirat zeigt. Sie hat nicht nur eine unterstützende Rolle. Die zusätzliche Analyse der Lebensgeschichten hat gezeigt, daß gerade die komplexe Rolle der Mutter nicht nur mit einer Methode zu fassen ist, sondern erst mit Hilfe von mehreren Datenquellen ein sich gegenseitig ergänzendes Bild gezeichnet werden kann. 31 Nur eine der interviewten Frauen - Sara - stellt ihre Beziehung zur Mutter nicht in dieser Form dar. Sara hat eine äußerst konfliktreiche Beziehung zu ihrer Mutter und führt dies u.a. darauf zurück, daß sie glaubt, ihre Mutter sei auf ihren - Saras - Lebensstil eifersüchtig. Im Gegensatz zur Mutter schildert sie ihren Vater aber sehr positiv, an manchen Stellen sogar ähnlich glorifizierend, wie die anderen Frauen dies für ihre Mütter tun. Ihr Vater ist nach ihren Aussagen derjenige, der sich für sie aufopfert, der sie unterstützt und in dessen Schuld sie steht. In gewisser Weise überträgt sie die Rolle, die eigentlich der Mutter vorbehalten ist, auf ihren Vater. KAPITEL 5. SOZIALE NETZWERKE UND REPRODUKTIVES VERHALTEN 5.3.3 185 Der strenge, aber auch helfende Vater In der Beschreibung der Frauen nimmt der Vater erheblich weniger Platz ein als die Mutter. 32 Die Beziehung zur Mutter, ihre Intensität und Ambivalenz, vergangene Konflikte, geteiltes Leid, werden ausführlich geschildert. Der Vater hingegen wird geschlossener und erheblich weniger komplex dargestellt. Die Rolle des Vaters in der Kindheit wird durchgängig als streng bezeichnet. Der Vater ist es, der den jungen Mädchen verbietet, auf Feste zu gehen, Freundinnen zu haben oder zu spielen. Einige Frauen (Benita, Magdalena, Margaritha, bedingt auch Angela) schildern auch einen gewalttätigen Vater, der sowohl die Frau als auch die Kinder schlägt. Diese Art der Gewalt wird als unerträglich empfunden. Wie Benita sagt: „Früher war er schlecht, er war ein so schlechter Mensch.“ (Benita, 95). Für diese Frauen stellt der Vater auch keine Unterstützung dar, sondern ganz im Gegenteil, es muß die Mutter gegen ihn verteidigt werden. Als Ursache der väterlichen Gewalt wird einerseits seine Untreue der Mutter gegenüber genannt (Benita, Magdalena und Margaritha), die bei ihm Schuldgefühle hervorruft, welche er durch Schläge zu verdrängen versucht, andererseits wird der unkontrollierte Alkoholkonsum erwähnt (Angela und Margaritha). Fernanda, eine der Witwen, und Guadalupe hingegen beschreiben ihren Vater nur als streng den Kindern nicht aber der Frau gegenüber. Dieses Verhalten bewerten sie durchaus als positiv. Ihrer Meinung nach gehören auch Schläge zur Erziehung, denn nur so würden Kinder lernen, zu gehorchen. Fast alle Frauen, außer Benita, beschreiben ebenfalls, daß ihr Vater ihnen während ihrer Kindheit auch mal etwas kaufte, vor allem Süßigkeiten, die sie sonst nie bekommen hätten. Der Vater ist weniger für alltägliche Konflikte und Situationen zuständig. Seine Rolle ist erheblich spezialisierter und weniger multiplex. Einerseits muß er in kritischen Situationen, wie z.B. einem Fest, wo das Mädchen potentiell seine Ehre verlieren kann, energisch durchgreifen, andererseits gewährt und kauft er der Tochter auch Dinge, die sie sonst nicht erhalten würde. Er ist in der Regel streng, kann aber auch bei besonderen Wünschen (wie dem Wunsch nach Süßigkeiten oder Spielzeug) nachgiebig sein. Nach der Heirat wird die Rolle des Vaters noch marginaler und spezialisierter. Er stellt nie eine Vertrauensperson bei emotionalen Konflikten dar, hilft aber z.B. bei Landstreitigkeiten. Dies hat sich auch schon bei der Analyse der Netzwerke gezeigt. Da der Vater häufig eine bessere schulische Ausbildung hat und deshalb des 32 Im Schnitt wurde pro Interview der Kode ‚Mutter‘ 11,2 Mal vergeben, hingegen der Kode ‚Vater‘ nur 6,8 Mal. 186 DAS GEPLANTE KIND Lesens und Schreibens mächtig ist, ist er ein wichtiger Ansprechpartner bei - im weitesten Sinne - bürokratischen Problemen. Außerdem ist die politische Organisation des Dorfes weitgehend in männlicher Hand und deshalb haben die männlichen Dorfbewohner auch größere Erfahrungen im Umgang mit solchen Problemen. Allerdings beschreiben mehrere der Frauen, die in ihrer Kindheit eine sehr schlechte Beziehung zu ihrem Vater hatten, daß sich die Beziehung im Laufe der Jahre verbessert hat. Vor allem Benita und Margaritha schildern den Wandel ihres Vaters. Aus ihren Aussagen läßt sich auch eine gewisse Trauer darüber erkennen, daß die Beziehung zum Vater sich erst so spät verbessert hat: „Und dann sagt er ‚Kommt, meine Töchter, ich mag euch doch sehr.’ ‚Ach, Papa, jetzt zeigst du uns das;’ sage ich ihm ‚Jetzt, wo wir alle gegangen sind und du bald unter der Erde liegst.’“ (Margaritha, 70). Hier zeigt sich eine gewisse Dynamik der Rolle des Vaters, wenn auch nicht vergleichbar mit der Komplexität der Rolle der Freundin oder der Mutter. 5.3.4 ‚Weil ich immer auf meine Geschwister aufpassen mußte‘ Die beiden Rollen Bruder und Schwester werden gemeinsam betrachtet. Zwar hatte die Schwester in der Netzwerkanalyse eine erheblich prominentere Rolle als der Bruder, doch in den Schilderungen der Frauen zeigen sich viele Parallelen zwischen diesen Rollen. Allen Frauen wurde zu Beginn des jeweiligen Interview die Frage gestellt, was ihre erste Erinnerung in ihrem Leben ist. Die Antwort von Giselda ist exemplarisch für die Antworten der anderen Frauen: „(...) Also, ich hatte fast keine Kindheit, weil ich immer auf meine Geschwister aufpassen mußte. Und ich half meiner Mutter. Wenn ich doch mal spielte, dann nahm ich immer meinen kleinen Bruder mit. Ich hatte keine Kindheit, denn wenn ich aus der Schule kam, half ich meiner Mutter oder paßte auf die Kleinen auf. Aber, daß ich mal was alleine gemacht hätte, nein, ich habe immer meiner Mutter geholfen.“ (Giselda, 12-17) Alle befragten Frauen schildern, daß sie einerseits ihrer Mutter im Haushalt helfen mußten und andererseits sich um ihre Geschwister kümmerten. 33 Detailliert beschreiben die Frauen ihre Aufgaben, etwa, wie sie ihre Geschwister gewaschen, angezogen und gefüttert haben. Geschwister empfinden untereinander während des gesamten Lebenszyklus ein starkes Gefühl der Verantwortung. Dies drückt sich vor 33 Die Geburtenreihenfolge ist hier ebenfalls von Bedeutung. Da sie aber nicht als Auswahlkriterium der Informantinnen berücksichtigt wurde und alle Informantinnen jüngere Geschwister haben, können keine Aussagen zur Situation der zuletzt geborenen Kinder gemacht werden. KAPITEL 5. SOZIALE NETZWERKE UND REPRODUKTIVES VERHALTEN 187 allem in regem, reziprokem Austausch von Kleidung, Geld, Nahrungsmitteln und Informationen aus. Zum Beispiel schickt die Schwester von Guadalupe, die in den USA lebt, ihr regelmäßig Kleidung. Die Brüder von Sara haben sie immer wieder mit Geld und Kleidung für ihren Sohn versorgt. Angela schenkte ihrer Schwester einen Mixer, nachdem sie in Mexiko-Stadt ihr erstes Geld verdient hatte, und die Schwester revanchierte sich später wiederum mit Lebensmitteln, die sie in der Fabrik, in der sie arbeitete, erhielt. Außerdem stellen die Geschwister oft die wichtigsten Spielgefährten in der Kindheit dar, vor allem, wenn die Frau aus einem sehr strengen Elternhaus kommt, das keine Kontakte zu Freundinnen erlaubt. Dieses ist eine Erweiterung der Ergebnisse der Netzwerkdaten, in denen die Rolle der Schwester in dieser Phase erheblich marginaler war. Der Bruder übernimmt oft die Rolle des beschützenden Mannes, der die Schwester verteidigt. Ältere Brüder unterstützen die Familie häufig ab ihrem 13. oder 14. Lebensjahr. Dadurch übernehmen sie zumindest zum Teil, manchmal sogar vollständig, wie in Benitas Fall, die Rolle des Versorgers der Familie und erhalten auch die Autorität und Verantwortung, die mit dieser Rolle einhergeht. Alle Frauen berichten davon, daß sie Feste in Begleitung ihres Bruders besucht haben. Der Bruder ist zwar keine Vertrauensperson, mit dem die Frauen über ihren novio sprechen, aber er hilft zumindest, daß die Frauen ihren novio von Zeit zu Zeit sehen können. Die Schwester hingegen wird auch in Geheimnisse eingeweiht, die sonst niemandem erzählt werden. Wie hinsichtlich der Mutter festgestellt wurde, hat nur eine der Frauen mit ihrer Mutter vor der ersten Menstruation über das Thema gesprochen. Im Gegensatz dazu berichten mehrere der Frauen, daß ihre ältere Schwester ihnen erklärt hat, was passiert ist. Generell haben alle Frauen zumindest eine Schwester, die sie um Rat bitten und der sie vertrauen. Da keine Frage nach den Gesprächspartnern bei der ersten Menstruation und beim ersten novio in der Netzwerkerhebung gestellt wurde, konnte diese soziale Dimension auch noch nicht erfaßt werden. Die Rolle der Geschwister ist also für die Frauen generell sehr unterstützend und hilfreich. Nur zwei Anlässe werden geschildert, die das ansonsten positive Bild ein wenig trüben. Einerseits wird von Eifersucht zwischen Schwestern berichtet, bei der es vor allem um die Frage geht, wer schöner sei. Benita erzählt, daß sie sich mit einer ihrer Schwestern gar nicht verstanden habe, da diese neidisch auf ihre schöne, weiße Haut war. Andererseits sind mehrere Frauen darüber verbittert, daß ihren jüngeren Geschwistern mehr als ihnen erlaubt wurde und daß sie soviel Zeit mit der Aufsicht über ihre Geschwister verbringen mußten. Diese Verbitterung bezieht sich aber nicht auf die Geschwister, die ja nichts für die Geburtenreihenfolge können, DAS GEPLANTE KIND 188 sondern auf die ungleiche Behandlung durch die Eltern. Die Erklärung „Weil ich auf meine Geschwister aufpassen mußte“ wandelt sich im Laufe des Lebens nicht in Verbitterung gegen die Geschwister, sondern ist die Grundlage für eine lebenslange Austauschbeziehung. Zusammenfassend läßt sich also feststellen, daß das positive, unterstützende Bild, das sich auch schon in den vorhergegangenen Analysen andeutete, auch hier bestätigt und sogar noch erweitert wird. Nachdem nun die Herkunftsfamilie in ihrer sozialen Komplexität dargestellt wurde, wird im folgenden die Prokreationsfamilie im Mittelpunkt der Analyse stehen. 5.3.5 Der Ehemann als Versorger Die Rolle des Ehemanns ist äußerst komplex. Die Darstellungen der Beziehungen, die die Frauen zu ihren Ehemännern unterhalten, sind stark von persönlichen Erfahrungen geprägt. Außerdem hat sich die Rolle des Mannes bei fast allen befragten Frauen im Laufe ihres Lebens verändert. Die Schilderungen der Frauen in den Lebensgeschichten sind sehr unterschiedlich und reichen von egalitären, partnerschaftlichen Beziehungen (Guadalupe, Angela und Margaritha) bis hin zu autoritären Beziehungen, in denen der Mann als brutaler Macho geschildert wird (Chucha und Magdalena). Doch lassen sich, auch mit Hilfe anderer Datenquellen, bestimmte Grundmuster erkennen. Um einen ersten Eindruck zu erhalten, werden free list Daten verwendet, die mit 14 Frauen erhoben wurden. Die Frauen wurden gefragt, ‚was ein Ehemann ist‘ (‚qué es un esposo?‘). Zehn der 14 Nennungen lassen sich eindeutig als Beschreibungen der Rolle des Ehemannes als Versorger erkennen. Diese wurden mit dem Label Versorger gekennzeichnet (vgl. Tabelle 5.2). Die anderen Nennungen gehen zum Teil in eine ähnliche Richtung, sind aber nicht so explizit. KAPITEL 5. SOZIALE NETZWERKE UND REPRODUKTIVES VERHALTEN 189 - Muß viel auf dem Feld arbeiten, damit es Essen und Geld im Haus gibt (Versorger) - Eine Person, die arbeitet, um den Haushalt zu versorgen (Versorger) - Partner der Frau - Wenn es keinen Mann im Haus gibt, dann gibt es viel Gerede - Er arbeitet (Versorger) - Er arbeitet, um der Frau Geld zu geben und man essen kann (Versorger) - Er bestimmt, was zu tun ist - Er gibt Geld, arbeitet auf den Feldern und bringt Mais ins Haus (Versorger) - Er macht die Arbeit, die die Frauen nicht machen können (Versorger) - Arbeitet zusammen mit der Frau - Er geht aus dem Haus, um zu arbeiten und den Haushalt zu versorgen (Versorger) - Er arbeitet, damit die Frau und die Kinder alles haben (Versorger) - Er arbeitet auf dem Feld, um Geld nach Hause zu bringen (Versorger) - Er baut Häuser und arbeitet, damit wir essen können (Versorger) Tabelle 5.2: Free list Daten zum Ehemann: Erste Nennung 34 Wie wichtige die Rolle des Ehemannes als Versorger ist, zeigt sich auch in den Gruppeninterviews. Frau 1: 35 „Für mich muß er seinen Verpflichtungen nachkommen (...) Solange er mich nicht mißhandelt und seine Verpflichtungen erfüllt, ist es gut.“ Julia Pauli: „Was ist seine Verpflichtung?“ Frau 1: „Geld nach Hause zu bringen, denn deshalb hat er das Haus verlassen, also, und mir dann mit den Kindern helfen.“ (Gruppeninterview 5, Frauen 19-25 Jahre, S. 1) Frau 1: „Für mich muß ein Ehemann vor allem verantwortungsbewußt sein. Vor allem verantwortungsbewußt.“ Julia Pauli: „Inwiefern?“ Frau 1: „Also, es gibt viele, denen gefällt es, zu trinken und dann ist es ihnen egal, ob sie das Haushaltsgeld uns geben oder nicht. Die geben alles aus, was sie bei sich haben (...). Aber der Mann, der seinen Verpflichtungen nachkommt, das ist ein verantwortungsbewußter Mann.“ (Gruppeninterview 4, Frauen 26-45 Jahre, S. 1) Wie die Zitate zeigen, sind die Arbeitsbereiche von Mann und Frau deutlich getrennt und die Frauen erwarten von ihren Männern, daß sie ihren Teil der Arbeit erfüllen. Dieser Teil besteht im wesentlichen darin, dafür zu sorgen, daß die Familie materiell einigermaßen gut versorgt ist. Im Pueblo Nuevo wird die Arbeitsteilung von Mann und Frau von vielen Frauen als gegeben wahrgenommen. Aller34 Neben der ersten Nennung wurden von einigen Frauen noch ein oder zwei weitere Nennungen gemacht, die aber den abgebildeten ähnlich sind. 35 Frau 1 im ersten Zitat und Frau 1 im zweiten Zitat sind unterschiedliche Personen. Mit (...) gekennzeichnete Passagen sind Passagen im Interview, die nicht verständlich und deshalb nicht transkribierbar waren. 190 DAS GEPLANTE KIND dings zeigt sich auch hier, daß sich die Gemeinde in einer Phase des Wandels befindet. Mehr als die Hälfte (58%) aller befragten verheirateten Frauen (N=145) berichten, daß ihre Männer auch manchmal im Haushalt helfen. Allerdings muß einschränkend hinzugefügt werden, daß die meisten Frauen, die berichten, daß ihre Männer ihnen helfen, auch anmerken, daß diese Hilfe nur im Falle einer Krankheit der Frau geleistet wird. Trotzdem ist diese Variable ein brauchbarer Indikator dafür, um was für eine Beziehung es sich handelt - ob es eine eher egalitäre Beziehung ist, die auch die Kommunikation zwischen den Partnern fördert, oder eine Beziehung, in der beide Ehepartner ihren eigenen Bereich haben und deshalb weniger miteinander interagieren. Die Rolle des Mannes als Versorger steht auch in einem direkten Zusammenhang zu reproduktiven Entscheidungen. Dieser Zusammenhang wird von den Frauen explizit benannt. Es gibt einige Frauen - sowohl in den Gruppeninterviews als auch in den Lebensgeschichten -, die ihren Mann als Macho darstellen, der viele Kinder möchte, diese aber nicht versorgen kann. Zum Beispiel ist Magdalenas größter Vorwurf an ihren Mann nicht so sehr, daß er sie schlägt, sondern, daß er nicht erkennt, daß sie sich ein fünftes Kind nicht leisten und versorgen können. Trotz ihrer sehr schwierigen Beziehung zur Schwiegermutter ist dies der einzige Punkt, in dem Schwiegermutter und Schwiegertochter übereinstimmen. Die Schwiegermutter hat ihr sogar geholfen, gegen den Willen und das Wissen des Ehemannes und ihres Sohnes zu verhüten, was allerdings zu einer schlimmen Auseinandersetzung führte, als der Ehemann dies herausfand. Einige Frauen haben es sogar geschafft, mit diesem Argument ihren Mann davon zu überzeugen, daß es besser ist, wenn sie verhüten: „Und als dann das vierte Kind, dort, in dem Haus, geboren wurde, da habe ich angefangen, nachzudenken. Mein Mann nicht. Er sagte gar nichts. Aber ich sagte mir, gut, jetzt sind es vier, und das ist viel Arbeit und wirtschaftlich schwierig und dann allen was zu essen zu geben und sie anzuziehen, daß wird für uns so schwierig. Also habe ich ihm gesagt, daß ich gerne was nehmen möchte. Und er sagte nein, denn wenn wir was nehmen, dann ist das doch nur dafür da, daß wir mit weiß Gott wem was anfangen. Also sagte er nein, nein, du nimmst nichts. Und ich sagte ihm, gut, wenn du nicht willst, daß ich was nehme, dann nehme ich auch nichts, aber eines sage ich dir, ich sage dir, ja ich bin deine Frau und wir haben in der Kirche und vor Gott gesagt, daß wir alle Kinder empfangen, die Gott uns gibt. (...). Aber sieh mal, du mußt mir den Unterhalt geben und ich muß dich darum bitten, und ich weiß, daß ich nicht viel von dir verlange, wenn du nichts hast. Aber für meine Kinder, denen soll ihr tägliches Glas Milch nicht fehlen und Fleisch mindestens einmal die Woche (...). Wenn nichts meinen Kindern fehlt, dann kann ich auch ein Dutzend Kinder bekommen, aber es darf ihnen an nichts fehlen. KAPITEL 5. SOZIALE NETZWERKE UND REPRODUKTIVES VERHALTEN 191 Du mußt mir alles geben, es darf ihnen nicht an Schuhen, an Kleidern, an Essen fehlen. Also sagte er zu mir, gut, dann nimm was.“ (Lucia 859-90). Lucia war so erfolgreich in ihrer Argumentation, daß sie seit nunmehr zwanzig Jahren die Spirale benutzt und kein weiteres Kind mehr bekommen hat. Außerdem wird hier aus emischer Perspektive auf die Relevanz wirtschaftlicher Faktoren für reproduktive Entscheidungen hingewiesen. Hier zeigt sich auch eine weitere Veränderung in der Rolle des Ehemanns. Lucia war die erste Frau des Dorfes, die Verhütungsmittel benutzte. Mittlerweile gibt es viele Frauen, die erfolgreich verhüten und die sehr häufig ähnlich wie Lucia argumentieren. Wie sich auch schon bei der Hilfe im Haushalt angedeutet hat, entstehen neue Formen partnerschaftlicher Beziehungen, die stärker egalitären Charakter haben und in denen beide Partner zumindest ein Mitspracherecht bei Entscheidungen haben. Anders als Magdalena beschreiben diese Frauen ihre Ehemänner als verantwortungsbewußt in dem Sinn, daß sie ihrer Rolle gerecht werden und erkennen, wo ihre (finanziellen) Grenzen sind. Es gibt sogar einige Frauen, die nicht wie Lucia mit dem Mann argumentieren, sondern alleine entscheiden, daß sie verhüten und dies damit begründen, daß der Mann seiner Rolle nicht gerecht wird. Sara hat nach der Geburt ihres Sohnes begonnen, die Spirale zu benutzen und obwohl ihr Mann möchte, daß sie nicht mehr verhütet, bleibt sie dabei und begründet dies folgendermaßen: „Jetzt sagt er, daß er ein Mädchen möchte. Und ich sage ihm, mit mir nicht, erst, wenn du dich verantwortungsbewußt zeigst.“ (Sara, 690-1) Hier zeigt sich auch, daß die Rolle des guten Versorgers einhergeht mit der Rolle des guten Vaters. Ein guter Vater ist verantwortungsbewußt insofern, als er erkennen muß, wie viele finanzielle Mittel ihm zur Verfügung stehen, noch ein weiteres Kind zu ernähren, anzuziehen und auszubilden. Viele der Konflikte zwischen Ehepartnern haben den Vorwurf, daß einer der Partner seine Aufgabe nicht erfüllt, zum Thema. Dies gilt nicht nur für die hier dargestellten Vorwürfe der Frauen. Wie die Beschreibungen der Streitigkeiten zeigen, werfen einige Ehemänner ihren Frauen ebenfalls vor, daß sie nicht ihrer Rolle als Ehefrau gerecht werden. Hierbei handelt es sich vor allem um den Vorwurf der Untreue, der sich schon an Kleinigkeiten festmacht. Beispielsweise schildert Magdalena, daß jedesmal, wenn sie alleine, ohne ihre Kinder, das Haus verläßt, dies fast immer Anlaß für Klatsch ist, der dem Ehemann mit hoher Wahrscheinlichkeit mitgeteilt wird. Die Schwiegermutter ist eine der Hauptüberbringerinnen solcher Botschaften. Magdalenas Schwiegermutter teilt solche ‚Verfehlungen’ dem Ehemann, der sich zum Zeitpunkt der Erhebung in den USA befand, sogar am Telefon mit. Wie fast alle Lebensgeschichten und auch die Gruppeninterviews zeigen, ist dies eine weitere Quelle von Konflikten zwi- 192 DAS GEPLANTE KIND schen Ehefrau und Ehemann, vor allem während der zweiten Phase, in der die Schwiegermutter den größten Einfluß ausübt. Daß die Schwiegermutter sie verrät oder ungerechterweise beschuldigt, verbittert zwar die Frau, überrascht sie aber nicht. Daß der Ehemann der Schwiegermutter aber mehr vertraut als ihr, ist für viele Frauen nicht begreifbar. Diese Situation ändert sich in der Regel erst, wenn das Ehepaar wirtschaftlich und sozial unabhängiger ist und einen eigenen Haushalt hat. In vielen Fällen entwickelt sich erst dann eine starke Beziehung zwischen den Ehepartnern, die auf gegenseitigem Vertrauen und gemeinsamen Entscheidungen basiert. Wenn der Mann die Familie gut versorgt, dann steht ihm in der Argumentation vieler Frauen, vor allem in den Gruppeninterviews, zu, endgültige Entscheidungen zu treffen. El manda - er gibt die Befehle - ist eine weitverbreitete Aussage, ebenso die Beschreibung des Ehepartners als mi señor - mein Herr. Doch auch diese Aussagen sind mit einer gewissen Vorsicht zu rezipieren. 89,7% der befragten verheirateten Männer (N=68) gaben an, daß beide Ehepartner die Entscheidungen gemeinsam treffen und immerhin 73,1% der befragten Frauen (N=145) gaben an, gemeinsam mit ihrem Mann zu entscheiden. 36 Das Stereotyp des Machos ist, wie auch das kulturelle Ideal der aufopfernden Mutter, in der Realität, so wie sie sich in den Daten zeigt, nur mit Abstrichen zu finden (vgl. auch Guttman 1996). Zwar schildern vor allem ältere Frauen wie Chucha brutale Ehemänner, die ihr Geld nur für Alkohol und andere Frauen ausgeben haben, und es gibt auch viele Frauen, die heute noch unter ähnlichen Bedingungen zu leiden haben, wie Magdalena. Doch beschreibt Chucha ihre heutige Ehesituation, und auch das ist typisch für Frauen der älteren Generation, die sich in ihrer letzten Lebenszyklusphase befinden, als sehr unterstützend und egalitär. Heute würde sie mit ihrem Mann reden, was sie früher nie getan habe. Es sollte deutlich geworden sein, daß die Rolle des Ehemanns äußerst vielschichtig ist. Die dominante Konzeption der Rolle ist sicherlich die des Versorgers, doch wie sich gezeigt hat, befindet sich gerade diese Rolle in einem Prozeß des Wandels. Es gibt mehr und mehr Frauen, die ihren Ehemann nicht mehr nur als Versorger, sondern auch als Partner wahrnehmen und erleben. Trotzdem kommunizieren nicht alle Frauen aller Lebenszyklusphasen gleichermaßen mit ihren Ehemännern, wie die Analyse der persönlichen Netzwerke gezeigt hat. Die Schwiegermutter, eine zentrale Figur der zweiten Lebenszyklusphase, kann einen sehr 36 26,2% der Frauen sagten, daß der Mann entscheidet und eine Frau (0,7%) gab an, daß sie entscheidet. Bei den Männern gaben 10,3% an, daß sie alleine entscheiden. KAPITEL 5. SOZIALE NETZWERKE UND REPRODUKTIVES VERHALTEN 193 hemmenden Einfluß auf die Kommunikation und Beziehung haben, wie z.B. der Fall von Magdalena zeigt. Die Ambivalenz dieser Rolle soll im folgenden thematisiert werden. Da fast alle Frauen des Dorfes sowohl Schwiegermütter hatten als auch Schwiegermütter sind oder werden, werden die Rollen der Schwiegertochter und der Schwiegermutter gemeinsam diskutiert. Wie schon die Netzwerkdaten gezeigt haben, sind diese Rollen komplementär. 5.3.6 Konkurrenz unter Frauen - Schwiegermutter und Schwiegertochter Generell ist festzustellen, daß so gut wie alle befragten Frauen, sei es in den Gruppeninterviews, den Lebensgeschichten oder in informellen Gesprächen, die Erfahrung gemacht haben, daß man sich am besten mit der Schwiegermutter versteht, wenn man nicht mit ihr zusammenlebt. Wie unterschiedlich Schwiegermütter sein können, zeigt sich darin, daß Benita z.B. sehr positiv über ihre Schwiegermutter spricht, allerdings klar hervorhebt, daß diese niemals die Stellung ihrer Mutter einnehmen kann, wohingegen Magdalena ihre Schwiegermutter als sehr negativ schildert, die sich einerseits zusammen mit ihrem Sohn gegen sie verbündet hat und sie andererseits im Auftrag des Sohnes, der in den USA ist, permanent überwacht. Wie bei den bisher besprochenen Rollen zeigt sich auch bei der Rolle der Schwiegermutter, daß sie nicht zu stereotyp dargestellt werden sollte. Persönliche Erfahrungen spielen eine große Rolle. Doch auch hier lassen sich wieder kulturelle Muster erkennen. Frauen, die von Beginn ihrer Ehe an einen von den Schwiegereltern unabhängigen und eigenen Haushalt haben, verstehen sich in der Regel gut mit ihrer Schwiegermutter. Eine der Hauptursachen, warum es zu Konflikten mit der Schwiegermutter kommt, besteht darin, daß Schwiegertochter und Schwiegermutter unter einem gemeinsamen Dach leben und in Konkurrenz zueinander stehen. Die Frage, wer die Rolle der Frau besser erfüllt und eine engere Beziehung zum Sohn/Ehemann hat, ist ein permanentes Thema, wie die Lebensgeschichten und Gruppeninterviews zeigen. Hier wird vor allem die Sympathie und Zuneigung des Sohnes/Ehemannes von beiden Frauen systematisch eingesetzt, um sich selber Vorteile zu verschaffen. Oft ist es allerdings so, daß die Schwiegertochter, so lange sie im Haushalt der Schwiegermutter lebt, fast keine Chance hat, eine engere Beziehung als die Schwiegermutter zu ihrem Ehemann aufzubauen. Einige Beispiele sollen dies verdeutlichen. 194 DAS GEPLANTE KIND Viele der Ehemänner arbeiten, während die Frau im Haus der Schwiegereltern lebt, in den USA. Oft gehen die Männer in die Fremde in der Absicht, Geld für ein eigenes Haus zu verdienen. Andererseits haben sie aber weiterhin Verpflichtungen, vor allem finanzieller Art, ihren Eltern gegenüber, denn schließlich lebt und ißt die Frau im Haus der Eltern des Mannes. Sobald dann die erste Geldsendung kommt, entstehen Konflikte zwischen den Frauen. Oft ist nicht geklärt, wem das Geld zusteht und der Bitte des Ehemannes, es doch aufzuteilen, wird selten nachgekommen. Meist versuchen die Schwiegertöchter durch Überzeugungsarbeit am Telefon zu erreichen, daß der Mann das Geld explizit an ihren Namen sendet. Bekommt die Schwiegermutter das mit, wie im Fall Magdalenas, kann dies auch dazu führen, daß die Schwiegermutter nun ihrerseits versucht, ihrem Sohn klar zu machen, was für eine schlechte Frau er geheiratet habe, die sich immer nur auf der Straße herumtreibe. Selbst wenn der Ehemann nicht in den USA arbeitet, sondern nur als Lohnarbeiter im Tal, gibt es Streit um das Geld. Bevor ein Sohn heiratet, ist es üblich, daß er zumindest die Hälfte seines Lohns den Eltern gibt. Nur weil der Sohn eine neue Frau ins Haus bringt, heißt das für die Mutter noch keineswegs, daß sie nun auf ihren Anteil verzichtet. Ein weiterer Streitpunkt besteht in der Kontrolle der Handlungen der Schwiegertochter. Besonders, wenn der Ehemann in den USA ist, aber auch, wenn er nur tagsüber woanders arbeitet, fühlt sich die Schwiegermutter verpflichtet, über die Schwiegertochter zu wachen. Hat die Schwiegertochter noch keine Kinder, wird sie als besonders gefährdet und unberechenbar wahrgenommen, denn sie könnte z.B. zur Gesundheitsklinik gehen, sich Verhütungsmittel besorgen und damit einen unmoralischen Lebenswandel einleiten. Als Angela z.B. nach Meinung ihrer ersten Schwiegermutter nicht schnell genug schwanger wurde, mußte sie sich den Vorwürfen der Schwiegermutter stellen, daß sie heimlich Verhütungsmittel benutze, um einen anderen Mann zu treffen. Der Einfluß der Schwiegermutter auf ihren Sohn wird häufig betont, denn sie gibt vor, was eine gute Frau zu sein hat. Dieser Einfluß wird auch in den Gruppeninterviews angesprochen: Frau 1: „Meine Schwiegermutter sagt ihnen (ihren Söhnen; Anm. d. Verf.): ‚Die Männer sollen sich nicht um die Kinder kümmern, die Männer sollen dies nicht tun, sollen jenes nicht tun, die Männer sollen der Frau nicht helfen.“ (Gruppeninterview 3, Frauen 19-25 Jahre, S. 30). Auch bezüglich ihrer hausfräulichen Fähigkeiten stehen Schwiegermutter und Schwiegertochter in Konkurrenz. Mehrere Frauen berichten, daß ihnen ihre Schwiegermütter mitgeteilt haben, daß sie weder tortillas richtig machen können noch anständig den Boden putzen und die Wäsche waschen würden. KAPITEL 5. SOZIALE NETZWERKE UND REPRODUKTIVES VERHALTEN 195 „Und da fingen die Probleme mit meiner Schwiegermutter an. Also, mit meiner Schwiegermutter gab es immer Probleme. Immer, weil sie sagte, ich wäre faul, ich wäre schmutzig, ich würde nichts machen. Sehr schwierig mit ihr.“ (Lucia, 439) Gerade die erste Zeit, während der die Frauen noch keine eigenen Kinder haben, müssen sie sich täglich damit auseinandersetzen, daß sie einerseits von der Schwiegermutter bewacht und andererseits ständig von der Schwiegermutter belehrt werden, wie sich eine gute Hausfrau und Mutter zu verhalten habe. Diese intensive Beziehung ist aber nicht nur negativ für die Frauen, denn wie die Netzwerkdaten gezeigt haben, unterstützt die Schwiegermutter die Frau auch in dieser Phase, indem sie zum Beispiel die Frau versorgt, wenn sie krank ist. Allerdings beschreiben alle Frauen, die mit ihrer Schwiegermutter zusammengelebt haben, diese Phase als eine Zeit, in der sie sich ‚wie eingesperrt’ (Lucia, Magdalena und Angela) gefühlt hätten. Erst mit der Geburt eines oder auch mehrerer Kinder ändert sich häufig die Situation. Vor der schwiegerelterlichen Familie haben sie bewiesen, daß sie als Frau, definiert als Mutter, bestehen können. Außerdem können sie nun Ansprüche an ihren Ehemann stellen. Nun sind sie in der Lage, auch auf den Mann Druck auszuüben und den Auszug aus dem schwiegerelterlichen Haus zu beschleunigen. Wie auch schon die vorherige Analyse gezeigt hat, spielt die Schwiegermutter nur so lange eine wichtige und unumgängliche Rolle, wie die Frau aufgrund der jeweiligen Situation mit ihr interagieren muß, also in der zweiten und dritten Lebensphase. Zu einer Vertrauensperson wird sie für keine der befragten Frauen, denn dazu ist die Konkurrenz zu groß. Die Schwiegermutter wird von allen Frauen nur während dieser Phase sehr detailliert beschrieben, in späteren Lebensphasen kommt sie so gut wie gar nicht mehr vor. Auch wird die Rolle der Schwiegertochter von den Frauen, die schon selbst eine haben, nur marginal beschrieben. Hauptsächlich werden in den Interviews Situationen geschildert, in denen sich Schwiegermutter und -tochter geholfen haben, wie beim Wäschewaschen, Hilfe bei Krankheiten usw.. Eine besonders enge Beziehung zur Schwiegertochter, vergleichbar z.B. mit der Beziehung zur Tochter, schildert keine der Frauen. Die Schwiegertochter wird als etwas dargestellt, das man zu ertragen hat, das vielleicht einen bestimmten Nutzen bringt und das nur von temporärer Bedeutung ist, da sie ja früher oder später ausziehen wird. 37 Daß die Schwiegermutter auch sehr starken Einfluß auf reproduktive Entscheidungen nehmen kann, hat sich teilweise schon in den vorangegangenen Ausführungen angedeutet. Sie kontrolliert, daß die Frau nicht vor der ersten Schwangerschaft 37 Ähnlich schildert auch Behar (1993) die Rolle der Schwiegertochter. DAS GEPLANTE KIND 196 verhütet, sie ist in der Regel bei den ersten Geburten der Frau dabei und bereitet sie darauf vor und, je nach eigener Lebensgeschichte, kann sie auch zu einer vehementen Propagandistin für Geburtenkontrolle nach der Geburt eines Kindes werden. Mehrere ältere Frauen, vor allem aber Chucha, schildern, daß sie ihre Schwiegertöchter davon überzeugt haben (man kann fast von Zwingen reden), die Spirale zu nehmen, obwohl diese das nicht gewollt hätten. Chuchas Argument war ähnlich dem, welches Lucia ihrem Mann mitgeteilt hat (vgl. 5.3.5). Ihr Sohn könne es sich im Augenblick nicht leisten, noch ein weiteres Kind zu bekommen, und deshalb solle die Schwiegertochter bitte warten, bis das Baby älter sei. Der Einfluß der Schwiegermutter kann folglich in beide Richtungen gehen und muß nicht unbedingt gegen Innovationen, die einen fertilen Wandel vorantreiben, gerichtet sein, wie Balk (1994), Shedlin und Hollerbach (1981) und Watkins (1993) meinen. 38 Allerdings sind Frauen und auch Paare, die mit der Schwiegermutter zusammenleben, sicherlich erheblich weniger autonom in ihren generellen Entscheidungen und auch in ihren reproduktiven Entscheidungen, als Paare, die nicht mit der Schwiegermutter zusammenleben. 5.3.7 ‚Meine cuñadas retteten mich‘ Wie die Schwiegermutter so sind auch die cuñada und die concuña zeitlich nur begrenzt wichtige Rollen. Doch obwohl zu vermuten wäre, daß es auch zwischen Schwägerinnen Konkurrenz gibt und diese Rollen nicht nur unterstützenden Charakter haben, ist es um so erstaunlicher, daß die Rollen der cuñada und concuña, neben der Rolle der Schwester und des Bruders, die mit Abstand am positivsten dargestellten Beziehungen sind. Die Rollen der cuñada und concuña werden von allen interviewten Frauen als so positiv geschildert, daß fast nur mit Hilfe der Feldnotizen auch kritische Momente in den Beziehungen zur concuña oder cuñada dargestellt werden können. Selbst Magdalena, die von allen interviewten Frauen die konfliktreichste Beziehung zur Familie ihres Mannes hat, sagt über ihre Schwägerinnen, ihre cuñadas, denn es handelt sich um die Schwestern ihres Mannes: „Nur sie wissen über mich Bescheid. Durch sie hatte ich Sicherheit. Meine cuñadas retteten mich.“ (Magdalena, 768-69). Um zu verstehen, warum gerade die Beziehung zur cuñada eine so wichtige und unterstützende Bedeutung hat, werden die verschiedenen Arten von Unterstützung 38 Epstein (1982) rät, Familienplanung stärker mit Hilfe älterer Frauen zu verbreiten. Das hier diskutierte Fallbeispiel zeigt, wie berechtigt ihr Ansatz ist. KAPITEL 5. SOZIALE NETZWERKE UND REPRODUKTIVES VERHALTEN 197 genauer betrachtet. Die Netzwerkdaten haben zwar gezeigt, daß die Schwägerin eine wichtige Rolle ist, aber bis auf die concuña in der dritten Phase, stand sie nicht im Zentrum emotionaler Hilfe, so wie Mutter oder Schwester. Dies liegt sicherlich auch an der Art der gestellten Fragen, die ganz offensichtlich bestimmte Formen sozialer Unterstützung nicht erfaßt haben. Um systematisch zu sehen, um welche Formen der Unterstützung es sich handelt, wurden alle Aussagen zur cuñada nochmals verkodet und nach bestimmten Kategorien zusammengefaßt. Im folgenden wird nur über cuñadas gesprochen und diese werden mit dem Begriff der ‚Schwägerin’ gleichgesetzt, was semantisch allerdings etwas ungenau ist, wie oben gezeigt wurde (vgl. 5.2.3). Doch da keine der interviewten Frauen über ihre concuñas sprach sondern nur über ihre cuñadas, ist dieses Vorgehen vertretbar. Concuñas werden weiter unten mit Hilfe der Feldnotizen besprochen und dann auch explizit gekennzeichnet. - Solidarität mit der Frau gegen Vorwürfe der Schwiegermutter (Lucia, Margaritha, Chucha) - Verteidigung der Frau gegen gewalttätige Übergriffe des Ehemannes (Magdalena) - Vermittlung von Fertigkeiten, etwa der Herstellung von tortillas (Margaritha, Lucia) - gemeinsame Freizeitaktivitäten (Benita, Margaritha, Fernanda) - Informationen über Verhütung, Sexualität und Schwangerschaft (Lucia, Benita) - Versorgung und Pflege während der Schwangerschaft (Angela) - finanzielle Hilfe für einen eigenen Haushalt des Paares (Lucia, Margaritha) - argumentative Unterstützung bei einem Auszug (Chucha, Margaritha) - Kleidung und Geld zur Geburt eines Kindes (Sara, Angela) - Kinderbetreuung und Kindererziehung (Giselda, Lucia) Tabelle 5.3: Hilfeleistungen der cuñada aufgrund der Lebensgeschichten Betrachtet man die Hilfeleistungen, so ist klar zu erkennen, daß die Schwägerin vor allem während der Lebenszyklusphase, in welcher Frauen bei ihren Schwiegermüttern leben, von größter Relevanz ist. Warum die Schwägerin in der zweiten Phase eine so wichtige, unterstützende Rolle für die Frau darstellt, erklärt sich aus dem sozialen Spannungsfeld, in dem viele Frauen in dieser Phase stehen. Schwiegermutter und Sohn und nicht Ehemann und Ehefrau bilden in dieser Phase die stärkste Dyade. Die Ehefrau hat nur sehr begrenzte Möglichkeiten, sich gegen die Entscheidungen dieser beiden Personen zu wehren. Im Gegensatz dazu kann die Schwägerin viel mehr Einfluß auf die Entscheidungen sowohl ihrer Mutter als auch ihres Bruders nehmen. Wie die Interviews zeigen, ist genau das auch der Fall. „Und dann öffnete Marcela ihm die Augen. Sie sagte ihm ‚Stell dir vor, nur weil du irgendwas denkst, kannst du nicht einfach zu ihr gehen und sie dann schlagen. Laß sie in Ruhe! Denk mal darüber nach.’“ (Magdalena, 666-69) 198 DAS GEPLANTE KIND „Und meine Schwiegermutter sagte zu mir ‚Wenn du das nicht kannst, dann machst du eben tortillas für die Hunde.’ (...) Und dann sagte Benita (die Schwägerin, Anm. d. Verf.) ‚Nein, Mama, sag ihr das nicht, sag ihr das doch nicht so.’ Benita sagte ‚Ich werde es dir zeigen. Komm mit.’ Sie war immer so gut zu mir.“ (Margaritha, 350-65) „Als sie (eine Tochter, Anm. d. Verf.) geboren wurde, da zog ich aus, weil meine Schwägerin sagte, nein, so geht es nicht weiter. Sie sagte ‚Es ist soviel Arbeit für dich. Du mußt Brot backen, Geschirr waschen, nein, so geht das nicht weiter. Jetzt hast du schon Yolanda, Lourdes und jetzt auch noch Margaritha. Nein, so nicht mehr.’“ (Chucha 527-32) Die Schwägerin kann ihrem Bruder sagen, daß er sich seiner Frau gegenüber nicht richtig verhält. Damit leistet sie eine Unterstützung, die in dieser Phase nur von ihr ausgehen kann. Da die Frau jetzt zur Familie des Mannes gehört, hat ihre Familie, z.B. ihre Schwester, ihr Vater oder ihre Mutter, nur wenig Möglichkeiten, sie zu verteidigen. Ihr Ehemann hilft ihr in der Regel nicht bei Konflikten mit der Schwiegermutter, ebensowenig wie die Schwiegermutter bei Konflikten mit dem Ehemann auf der Seite der Ehefrau stehen würde. Schwiegervater und Schwager kommen ebenfalls als emotionale und verteidigende Hilfe nicht in Frage, da Männer, wie auch die Netzwerkdaten gezeigt haben, eine solche Rolle kulturell gar nicht ausüben können und dürfen. Würde die Frau eine enge Beziehung z.B. zu ihrem Schwager aufbauen, müßte sie sich sehr schnell gegen den Vorwurf der Untreue rechtfertigen. Außerdem würde das für die Frau bedeuten, daß ihre Schwägerinnen, die nun in ihr eine potentielle Konkurrentin sehen könnten, ihr jegliche Hilfe entziehen könnten. Eine Frau braucht zumindest eine Schwägerin, die sie, wie Magdalena es formuliert, ‚rettet’. Doch warum hilft die Schwägerin der Frau gegen ihre eigene Familie? Giseldas Beschreibung des Beginns ihrer Beziehung zu Carmela, ihrer Schwägerin, zeigt, daß vor allem die gemeinsame Erfahrung der Ehe die wichtigste Rolle spielt: „Gut, ich kannte sie (Carmela, ihre Schwägerin, Anm. d. Verf.) vorher schon, aber nur flüchtig. (...) Daß wir Freundinnen gewesen wären, nein, das nicht, bis dann später, als wir beide heirateten. Seit wir verheiratet sind, verstehen wir uns gut, seit wir beide verheiratet sind, haben wir uns immer sehr gut verstanden.“ (Giselda, 133-56). Alle Beziehungen, die die Frauen zu ihren Schwägerinnen schildern, sind Beziehungen unter verheirateten Frauen. Häufig hilft die ältere und schon verheiratete Schwägerin der ins Haus gekommenen Ehefrau, weil sie die Situation selber kennt und weiß, daß nur sie helfen kann, so wie ihr auch geholfen worden ist. Die ältere Schwägerin hat häufig schon einen eigenen Haushalt etabliert und deshalb mehr KAPITEL 5. SOZIALE NETZWERKE UND REPRODUKTIVES VERHALTEN 199 soziale Freiheiten, als die jüngere, neu ins Haus kommende Frau. Die Situation Magdalenas verdeutlicht das. Nur mit zwei von insgesamt acht Schwägerinnen versteht sie sich gut. Diese beiden Schwägerinnen sind ebenfalls verheiratet und leben in einem eigenen Haushalt unabhängig von ihrer eigenen Schwiegermutter in Pueblo Nuevo. Die anderen Schwägerinnen sind entweder nicht mehr im Dorf oder unverheiratet. In den zahlreichen von Magdalena geschilderten Konflikten stehen die unverheirateten Schwägerinnen alle auf Seiten der Schwiegermutter oder des Ehemannes, die verheirateten, unabhängigen Schwägerinnen nehmen hingegen entweder eine unterstützende oder zumindest eine neutrale Rolle ein. Obwohl dieses Schema weit verbreitet ist, wie die Interviews zeigen, ist es nicht auf alle Fälle zu übertragen. Es liegen zwei Fälle vor, in denen dieses Schema variiert wird. Beidemal geht es um concuñas und nicht um cuñadas. In beiden Fällen spielt die Schwiegermutter als intervenierende und die Beziehung störende Person eine Rolle. Hilda lebt mit ihren zwei concuñas, also den Ehefrauen der Brüder ihres Mannes, im Haus der Schwiegermutter (Feldnotiz Nr. 31, 23/10/1996). Mit einer ihrer concuñas, Martha, versteht sie sich gut, mit der anderen, Socorro, hingegen gar nicht. Socorro überwacht die Handlungen Hildas, sieht zu, daß Hilda, die schon vier Kinder hat und kein weiteres Kind möchte, nicht heimlich und gegen den Willen von Schwiegermutter und Ehemann, zur Gesundheitsklinik geht. Martha aber hilft Hilda, redet mit ihr über ihre Probleme und ergreift in Diskussionen sogar ihre Partei. Warum verhalten sich die beiden concuñas so unterschiedlich? Die Schwiegermutter hat mit Socorro eine enge Beziehung und entlohnt diese auch für ihre Kontrolle der beiden anderen concuñas, indem sie Socorro mehr Geld gibt und sich um deren Kinder kümmert. Die Schwiegermutter ist daran interessiert, daß sich nicht alle concuñas und cuñadas untereinander gegen sie solidarisieren. Dieser Fall zeigt auch, daß die Darstellung der Frauen in den Lebensgeschichten u.U. verzerrt ist. Die Frauen berichten nur von den Schwägerinnen, die sie unterstützen. Es ist aber zu vermuten, daß fast jede Frau zumindest eine Schwägerin hat, die sie nicht unterstützt hat. Trotzdem wird andererseits deutlich, daß es jeder Frau, auch Hilda im oben besprochen Fall, gelungen ist, die wichtigste ihr in dieser Phase zur Verfügung stehende Option emotionaler und sozialer Hilfe zu nutzen. Wie sich oben gezeigt hat, spielt die cuñada auch hinsichtlich reproduktiver Entscheidungen eine wichtige Rolle. Einerseits tauschen cuñadas untereinander Informationen über Sexualität und Verhütung aus, andererseits kann die cuñada der Frau helfen, ihre Entscheidungen durchzusetzen. Bedauerlicherweise wurden aber keine Daten für alle Frauen zu diesem Thema erhoben, was vor allem daran lag, daß die Rollen der cuñada und der coñcuna in der Literatur, im Gegensatz z.B. zur 200 DAS GEPLANTE KIND Rolle des Ehemannes oder der Schwiegermutter (vgl. z.B. Shedlin und Hollerbach 1981), nicht diskutiert werden. Hier besteht sicherlich Forschungsbedarf. Es wurde schon erwähnt, daß die Schwägerin als ‚Schwägerin’ nur temporäre Bedeutung hat. Die meisten Beziehungen zu Schwägerinnen verlieren an Bedeutung, sobald die Frau nicht mehr im Haushalt der Schwiegermutter lebt. Dies zeigten auch schon die Ergebnisse der Netzwerkdaten. Allerdings gibt es einige Frauen, die auch über die ‚soziale Zwangslage’ hinaus, aus der die Beziehung zur Schwägerin entstanden ist, die Beziehung weiterhin aufrechterhalten. Giselda und Lucia haben immer noch eine sehr enge Beziehung zu einer ihrer Schwägerinnen, die aber auch ihre comadre geworden ist. Hier erklärt sich auch, warum gerade Kinderbetreuung und Kindererziehung (vgl. Tabelle 5.3), selbst über die Zeit des Wohnens bei der Schwiegermutter hinaus, von so großer Bedeutung sind. Beides sind wichtige Hilfeleistungen, die comadres untereinander austauschen. Daß in den Netzwerken die Rolle der Schwägerin in der letzten Phase aber keine Rolle mehr spielt, sondern die der comadre, liegt auch daran, daß diese Frauen, die es geschafft haben, die Rolle der Schwägerin mit der Rolle der comadre zu vereinen, die Beziehung nicht mehr als eine Beziehung unter Schwägerinnen wahrnehmen und benennen, sondern unter comadres. Die Frauen reden sich mit comadre an und klassifizieren die Rolle auch als solche. Insofern ist zu vermuten, daß zumindest einige der in der letzten Phase genannten comadre-Beziehungen als SchwägerinnenBeziehungen begannen. Nachdem nun auch die Rolle der Schwägerin analysiert worden ist, fehlt nur noch eine wichtige Rolle - die der Kinder der Frau. Diese wird im folgenden besprochen. 5.3.8 Von der Altersversorgung zur Aufwärtsmobilität - Der sich wandelnde Wert von Kindern Kinder spielen im Leben einer Frau in Pueblo Nuevo eine sehr wichtige Rolle. Dies haben auch schon die Netzwerkdaten gezeigt. Um die Komplexität und Dynamik dieser Rolle darzustellen, ist es wiederum hilfreich, die Bedeutung von Kindern innerhalb der verschiedenen Lebensphasen zu analysieren. Um einen ersten Eindruck zu erhalten, werden wiederum free list Daten verwendet. Die Frauen wurden gebeten, den Wert, den Kinder für sie haben, zu nennen. Es wurde allgemein nach dem Wert von Kindern gefragt und nicht nach dem Wert, den ein Kind in der speziellen Lebensphase, in der die Frau sich befand, hatte. Aber es ist eindeutig zu erkennen, daß die Aussagen der Frauen stark von ihrer sozialen Situation, in der sie sich zum Zeitpunkt des Interviews befanden, geprägt sind. KAPITEL 5. SOZIALE NETZWERKE UND REPRODUKTIVES VERHALTEN 201 Werte von Kindern (in %) Alegría de la Companía N casa (Freude) (Gesellschaft) Unverh. Frauen 0,5-5 Jahre verh. 6-20 Jahre verh. > als 20 Jh. verh. Gesamt Ausdruck der Liebe Hilfe bei Ehekonflikten Materielle Hilfe 27 43 65 37 29,6 39,5 30,8 18,9 14,8 27,9 23,1 16,2 29,6 4,7 4,6 5,4 9,3 9,2 2,7 7,4 7,0 27,7 37,8 172 30,2 21,5 8,7 6,4 21,5 Tabelle 5.4: Free list zum Wert von Kindern 39 Gerade an diesen Daten zeigt sich, wie wichtig der Einbezug des Lebenszyklus ist. Die Prozentzahlen für alle vier Phasen zusammen sagen zwar aus, daß z.B. materielle Hilfe wichtig ist, aber es ist nicht erkennbar, daß dieser Wert vor allem für die älteren Frauen von großer Bedeutung ist, für die jungen Frauen hingegen gegenüber mehr ‚ideellen‘ und ‚sozialen’ Werten in den Hintergrund tritt. Daß Kinder die Freude eines Hauses sind (la alegría de la casa), wird von fast allen Frauen als häufigster Wert genannt. Dieser Wert entspricht dem christlichen Ideal und wird vielleicht deshalb so häufig genannt. In vielen der katholischen Messen, an denen ich teilnahm, wie z.B. der Messe zur Erstkommunion, der Messe für die quinceñera, vor allem aber bei Hochzeitsmessen, wiederholte der Priester immer wieder diesen Satz und diesen Wert. Einige der interviewten Frauen sind sich dessen auch bewußt und sagten auf meine Frage nach dem Wert von Kindern, daß ich wohl jetzt erwarten würde, daß sie alegría de la casa sagen. Das würden sie aber nicht, denn das wäre doch alles nur Gerede und hätte mit der Realität von zehn, zwölf, fünfzehn Kindern nichts zu tun (Feldnotiz Nr. 73, 28/4/1997). Anders ist es mit den übrigen Werten, die deutlicher Ausdruck der sozialen Situation sind, in der sich eine Frau befindet. Die unverheirateten Frauen haben einerseits selber noch keine Eheerfahrungen gesammelt und sehen deshalb den Wert von Kindern mehr auf einer ideellen, der Liebe von Mann und Frau Ausdruck gebenden, Ebene. Andererseits sind viele dieser Frauen auch schon unabhängiger von traditionellen Partnerschaftsmodellen. Da 39 Alle anderen Nennungen liegen unter 5% und werden ausgeklammert. Es wurden nur Nennungen einbezogen, die in mindestens einer der Lebenszyklusphasen von mehr als 10% der Frauen genannt wurde. Da es sich um ein free list Verfahren handelte, gaben die Hälfte der Frauen (56%) noch einen weiteren Wert an, 24% nannten drei Werte und nur 2,5% nannten vier Werte. In der hier besprochenen Analyse wird allerdings nur der erste Wert behandelt. Die Einbeziehung der weiteren Nennung ändert das Ergebnis nicht. Einbezogen werden die Angaben aller verheirateten Frauen (N=145) sowie 27 der 28 unverheirateten Frauen. Eine unverheiratete Frau fehlt, da sie keine Angaben zu diesen Fragen machte. 202 DAS GEPLANTE KIND viele der Mädchen in Mexiko-Stadt arbeiten, lernen sie auch neue Formen des Zusammenlebens kennen, die einen mehr egalitären Charakter innerhalb der Ehe betonen. Kinder werden hier nicht mehr so sehr als eine (vor allem wirtschaftliche) Absicherung vom und gegen den Ehemann aufgefaßt, sondern auch als eine gemeinsame und geteilte Erfahrung. Es fragt sich, inwieweit sich die Vorstellungen dieser Mädchen ändern werden, sobald sie verheiratet sind. Ganz anders sind die Wertvorstellungen der jungverheirateten Frauen. Daß Kinder Ausdruck der Liebe zwischen Mann und Frau sind, wird in dieser Phase so gut wie gar nicht mehr als Wert wahrgenommen. Die zwei wichtigsten Gründe, die Frauen der zweiten Lebensphase neben der alegría de la casa angaben, waren erstens, daß Kinder ihnen Gesellschaft leisten, und zweitens, daß Kinder ihnen bei Konflikten mit dem Ehemann helfen können. Hinsichtlich der vorangegangenen Beschreibungen der Rollen des Ehemannes und der Schwiegermutter ist diese Aussage mehr als verständlich. Zwar sind die Kinder der Frauen dieser Phase noch sehr jung, doch wie die Frauen berichten, können auch kleine Kinder einen Streit zumindest beruhigen. In der Beschreibung der Rolle der Mutter hat sich ebenfalls gezeigt, wie die Frauen als Kinder die Partei der Mutter bei Konflikten übernommen haben. Außerdem berichteten mehrere Frauen in informellen Gesprächen, daß sie, wenn sie sich mit ihrem Mann gestritten haben oder wenn sie kein weiteres Kind möchten, der Mann aber gegen Verhütung ist und ein weiteres Kind will, die Kinder auch im Ehebett schlafen lassen. Daß Kinder vor allem für die Frauen dieser Phase einen ganz entscheidenden Wert als eine soziale Beziehung (companía) haben, erklärt sich ebenfalls aus den vorangegangenen Ausführungen, die gezeigt haben, daß viele der jungverheirateten Frauen sozial isoliert leben. Wie wichtig es für die Frauen ist, ‚Gesellschaft’ (companía) zu haben, zeigt auch Saras Aussage: „Bevor ich meinen Sohn hatte, da habe ich mich sehr einsam gefühlt. Aber jetzt, wo ich ihn habe, nicht mehr. Ich fühle, daß ich etwas habe.“ (Sara, 826-8). Wegen der Existenz ihrer Kinder können sich Frauen auch freier im Dorf bewegen, da es kulturell zwar als unschicklich angesehen wird, als Frau alleine auf der Straße zu sein oder in ein Geschäft zu gehen, es aber kein Problem ist, wenn die Frau zusammen mit ein oder zwei ihrer Kinder z.B. nach Temascalcingo auf den Markt fährt. Frauen der dritten und vierten Phase nehmen den Wert, den Kinder haben, wiederum anders wahr. Für sie steht die materielle und instrumentelle Hilfe im Vordergrund. Bedenkt man, daß diese Frauen selten ein eigenes Einkommen und eine Kranken- und Sozialversicherung haben, erklärt sich der hohe Stellenwert dieses KAPITEL 5. SOZIALE NETZWERKE UND REPRODUKTIVES VERHALTEN 203 Wertes. Andere Daten unterstützen dieses Ergebnis. 78% der Frauen der vierten Lebensphase gaben an, daß für sie eine wichtige Motivation in ihrer Entscheidung, Kinder zu bekommen, darin bestand, daß diese sie im Alter versorgen, im Gegensatz zu nur 41% der unverheirateten Frauen. Hier spielt auch eine große Rolle, wie viele unverheiratete Söhne die Frau in den USA und wie viele unverheiratete Kinder sie in Mexiko-Stadt hat. Je mehr unverheiratete Kinder arbeiten, um so besser geht es der Frau. Z.B. beschreibt die Informantin Elena ihre jetzige Lebensphase als eine glorreiche Zeit. Drei ihrer unverheirateten Söhne arbeiten in den USA und eine unverheiratete Tochter arbeitet in Mexiko-Stadt (Feldnotiz Nr. 73, 28/4/97). Mehr als die Hälfte aller Frauen der vierten Lebensphase (54%) haben mindestens ein Kind in den USA, das ihnen finanziell hilft, und 46% erhalten die Unterstützung mindestens eines Kindes, das in Mexiko-Stadt arbeitet. 22% der Frauen erhalten sowohl Hilfe von Kindern in den USA als auch von Kindern in Mexiko-Stadt. Besonders für Witwen ist die Arbeit eines unverheirateten Sohnes oder einer unverheirateten Tochter häufig die einzige Einkommensquelle. Fernanda, die während meiner Feldforschung über mehrere Monate hinweg überlegte, ob sie wieder heiraten solle, bezog ihre beiden ältesten Söhne sehr stark in die Entscheidung einer neuen Heirat mit ein. Beide Söhne unterstützten sie finanziell. Einer der Söhne sagte, daß er nicht wüßte, wie lange das noch ginge: „Er sagte, daß er nicht sein ganzes Leben mit mir zusammen sein kann. Er würde heiraten ‚Und dann, Mama, was ist wenn ich eine gute Ehefrau bekomme und was ist, wenn ich keine gute Ehefrau bekomme, und ich dir dann helfen will und sie dann sagt ‚Warum gibst du das deiner Mutter?’.“ (Fernanda, 232-40). Die Konkurrenz zwischen Schwiegertochter und Schwiegermutter vor allem um finanzielle Ressourcen, die schon ausführlich behandelt wurde, zeigt sich auch hier wieder. Ebenfalls wird deutlich, daß reproduktive Entscheidungen sowohl von der sozialen als auch von der wirtschaftlichen Situation der Frau beeinflußt werden. Häufig sind beide Faktoren miteinander verknüpft, wie auch die Situation der Witwe Fernanda zeigt, die mit 36 Jahren eine relativ junge Witwe ist. Sie möchte weder die Unsicherheit der finanziellen Abhängigkeit von ihren Söhnen länger ertragen, noch möchte sie weiter sozial isoliert sein. Da sie noch im reproduktiven Alter ist, wird sie von vielen Frauen als Gefahr und mögliche Konkurrentin wahrgenommen und deshalb von vielen Dorfbewohnern gemieden. Die Bedeutung der finanziellen Hilfe von Kindern beiderlei Geschlechts dürfte deutlich geworden sein. Aber es gibt auch Hilfeleistungen, die geschlechtsspezifischer sind. Gerade für Witwen spielen Söhne eine große Rolle bei der Bearbeitung 204 DAS GEPLANTE KIND der Felder, wie der Fall Irmas zeigt. Weiterhin leisten Söhne häufig Hilfe beim Ausfüllen von Formularen und Papieren. Töchter hingegen leisten mehr emotionale Hilfe und Hilfe im Haushalt, wie auch schon die Netzwerkdaten gezeigt haben. Hier zeigt sich auch eine starke Parallele zur Rolle der Mutter. In den Lebensgeschichten hat sich gezeigt, wie sehr die Mütter der Frauen betonen, wie sie für ihre Kinder gelitten haben, was dazu führt, daß die Töchter eine lebenslang zu begleichende Schuld den Müttern gegenüber haben. So gut wie alle Frauen erwähnen, daß sie trotz der Aufopferung ihrer Mütter als Kind gelitten haben. Es muß betont werden, daß die Darstellung von Leid eine nicht zu negierende reale Grundlage hat. Aber es sollte ebenfalls nicht verkannt werden, daß die Darstellung des eigenen Leidens auch strategischen Charakter hat. Besonders deutlich wird diese Strategie, wenn man die Aussagen von Müttern und Töchtern vergleicht. Rosario, Angelas Mutter, schildert, wie sie als Kind und als Frau ihr ganzes Leben gelitten hat, es aber dann durch viele Opfer geschafft hat, daß das Leben ihrer Töchter besser wurde: „Ja, die Kindheit meiner Töchter war sehr gut. Die sind zu den Festen gegangen. Früher hatten wir das alles nicht. Meine Töchter hatten viel mehr Freiheiten und Möglichkeiten.“ (Rosario, 208-10). Im Gegensatz zu der Darstellung ihrer Mutter beschreibt Angela ihre Kindheit als sehr traurig. Sie hätte nie zu den Festen gedurft, wäre sehr arm gewesen und hätte viel gelitten. All das solle sich jetzt für ihre Tochter ändern: „Wie gerne hätte ich eines der Kleider gehabt, die Arellie (ihre Tochter, Anm. der Verf.) hat. Und ich sage meiner Tochter ‚Ich hätte gerne all das gehabt, was du jetzt hast. Aber ich sage dir, meine Tochter, ich war die ganze Zeit sehr arm.’.“ (Angela, 926-29). Ähnliche Aussagen finden sich in allen Interviews. Immer wieder betonen die Frauen ihren Töchtern gegenüber die sacrificios, die Opfer, die sie für sie erbracht haben, so wie ihre Mütter dies ihnen gegenüber betont haben. Auch aus diesen Darstellung resultiert das unter den Frauen sehr verbreitete Bild der immer leidenden Frau. Daß die Wahrnehmung und Darstellung des eigenen Leidens auch eine Frage der Perspektive und der Strategie ist, zeigt sich in Angelas und Rosario scheinbar widersprüchlichen Aussagen. Durch diese Darstellung erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, daß die Frau als Mutter auch Hilfe von ihren Kindern erwarten und verlangen kann. Es fragt sich, wofür die Frauen leiden. Dies ist unterschiedlich und hier zeigt sich auch ein weiterer Aspekt des sozialen Wandels. Einerseits gibt es Frauen wie KAPITEL 5. SOZIALE NETZWERKE UND REPRODUKTIVES VERHALTEN 205 Magdalena, die betonen, daß sie sich für eine bessere materielle Versorgung ihrer Kinder aufopfern. Andererseits gibt es einige Frauen, wie Angela und Guadalupe, welche hervorheben, daß sie sich für die Schulbildung ihrer Kinder aufopfern. Eine bessere Schulbildung ihrer Kinder bedeutet für diese Frauen einerseits die Chance einer wirtschaftlichen Aufwärtsmobilität, kann aber auch mehr wirtschaftliche Unsicherheit und Unabhängigkeit des Kindes von der Familie bedeuten. Frauen, die eine gute Schulbildung als das wichtigste Ziel ihrer Erziehung auffassen, nehmen auch in Kauf, daß das Kind das Tal verläßt. Frauen, die Schulbildung als nicht so wichtig wahrnehmen, ist bewußt, daß sich die Chancen einer Aufwärtsmobilität, die aber für sie auch mit Risiken verbunden ist, erheblich verringern. Andererseits haben diese Frauen aber den Vorteil, daß sie wissen, in welcher Form ihnen ihr Kind helfen wird. Ihr Kind lebt weiter im Tal oder sogar im Dorf und ist deshalb auch bei Schwierigkeiten jeglicher Art schnell zur Stelle. Diesen Vorteil haben Frauen, die auf eine Aufwärtsmobilität durch die Bildung ihrer Kinder hoffen, nicht. Ihnen ist bewußt, daß ihr Kind mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer besseren Bildung nicht mehr im Dorf/Tal leben wird, da es dort nur wenig Arbeit außerhalb der Landwirtschaft gibt. Der Wert, den diese Frauen ihren Kindern beimessen, ist somit ein anderer und er ist von größeren Unsicherheiten geprägt. Diese Frauen sind sich dessen bewußt, daß sie durch eine gute Schulbildung ihrer Kinder auch an sozialem Prestige und finanzieller Stellung im Dorf gewinnen können. Die Entscheidung kann für die Frauen aber auch bedeuten, daß für ihre Kinder die traditionellen Normen und Werte des Dorfes, z.B. die Versorgung der Mutter, eine geringere Rolle spielen werden. Schon im vorangegangenen Kapitel hat sich gezeigt, daß Frauen, die in die Bildung ihrer Kinder investieren, selber eine bessere Bildung haben (vgl. 4.2.2.1). Entgegen den im Dorf verbreiteten Vorstellungen, daß es z.B. ausreicht, Lesen und Schreiben zu können, um bei Landstreitigkeiten nicht betrogen zu werden, haben diese Frauen eine andere Vorstellung vom Nutzen der Schulbildung. Sie ist nicht dazu da, innerhalb des Dorfes zu bestehen, sondern ganz im Gegenteil, sie hilft, das Dorf zu verlassen. Hinzu kommt, daß der ‚Wert’ eines einzelnen Kindes durch höhere Ausgaben steigt, da mehr Geld und auch Zeit der Mutter, z.B. durch Kontrolle der Hausaufgaben, in die Ausbildung der Kinder investiert wird. Diese Frauen sind nicht mehr davon abhängig, durch viele Kinder ihre Zukunft zu sichern, sondern erhoffen sich durch die Investition in wenige, dafür aber gut ausgebildete Kinder, die Chance zur Aufwärtsmobilität. 206 DAS GEPLANTE KIND Hier fragt sich auch, ob Frauen die Ausbildung von Söhnen und Töchtern anders einschätzen. Eher ‚traditionelle‘ Frauen, die abhängiger sind von dörflichen Normen, wie z.B. Magdalena, betonen, daß ihre Söhne eine bessere Bildung brauchen, da sie sich um das Land und potentielle Landstreitigkeiten kümmern werden. Die Töchter hingegen werden heiraten und im Haushalt bedarf es nach Meinung Magdalenas keiner besonderen schulischen Ausbildung. Eher ‚moderne‘ Frauen wie Guadalupe und Angela legen auch großen Wert auf die Ausbildung ihrer Tochter. Die wirtschaftliche Unabhängigkeit vom Mann wird als wichtiges Ziel der Bildung der Töchter genannt. Auch fragt sich, inwieweit die Frauen generell ein bestimmtes Geschlecht präferieren. In Pueblo Nuevo ist eine eindeutige Präferenz für ein Geschlecht nicht erkennbar. Vielmehr scheint es grob drei Gruppen zu geben: 1. Frauen der zweiten und dritten Lebenszyklusphase mit eher ‚traditionellen‘ Wertvorstellungen, wie Magdalena, geben SÖHNEN eindeutig den Vorzug. Dies wird damit begründet, daß Söhne weniger leiden müssen als Töchter, da sie wirtschaftlich unabhängiger sind und mehr soziale Freiheiten haben. Wegen ihrer größeren wirtschaftlichen Unabhängigkeit können sie die Mutter auch besser als eine Tochter unterstützen. 2. Frauen der vierten Lebenszyklusphase, wie Lucia, Rosario und Chucha hingegen geben eindeutig TÖCHTERN den Vorzug. Alle drei Frauen berichten aus eigenen Erfahrungen mit ihren Schwiegertöchtern, daß Söhne durch ihre Ehefrauen von der Mutter entfremdet werden und ihr deshalb wirtschaftlich nicht mehr helfen. Ihre Töchter aber helfen ihnen trotz ihrer Heirat weiter. 3. Frauen der zweiten und dritten Lebenszyklusphase, die eher ‚moderne‘ Wertvorstellungen haben, wie Angela und Guadalupe, geben KEINEM GESCHLECHT den Vorzug. Beide Frauen haben nur zwei Kinder, jeweils einen Jungen und ein Mädchen. Daß ihre Kinder ihnen im Alter materiell helfen, spielt für diese Frauen nur eine untergeordnete Rolle. Da beide Frauen nur noch begrenzt von der traditionellen Wirtschaftsweise des Dorfes abhängig sind, Guadalupes Mann ist Lehrer und Angelas Mann Taxifahrer, ergeben sich für diese Frauen Möglichkeiten, auch unabhängig von der (finanziellen) Unterstützung ihrer Kinder zu überleben. Nachdem nun alle wichtigen sozialen Rollen dargestellt und analysiert wurden, wird im folgenden kurz auf die Bedeutung weiterer sozialer Rollen eingegangen, die in den Netzwerkdaten nur temporär von Bedeutung waren, aber u.U. in einer der vier Lebenszyklusphasen eine wichtige Rolle spielen können. KAPITEL 5. SOZIALE NETZWERKE UND REPRODUKTIVES VERHALTEN 5.3.9 207 Die weibliche und männliche Verwandtschaft Bis auf den compadre sind alle noch fehlenden Rollen, die durch die Netzwerkanalyse ermittelt wurden, verwandtschaftlicher Art. Die fehlenden Rollen sind relativ marginal und alle nur in einer der vier Lebenszyklusphasen von Bedeutung. Vier der interviewten Frauen erwähnten keine dieser Rollen während des Interviews. Die übrigen Frauen erwähnten ebenfalls nicht alle noch fehlenden Rollen, sondern nur einige wenige. Hinsichtlich der männlichen Verwandtschaft sprachen die Frauen nur über den Onkel und den Schwiegersohn. Die Rollen des Schwagers, des Schwiegervaters, des Neffen und des compadres, die einzige verbleibende Rolle, die nicht verwandtschaftlicher Art ist, wird von keiner der Frauen erwähnt. Doch auch die Ausführungen zum Onkel und zum Schwiegersohn sind sehr knapp und bestätigen nur das Ergebnis der Netzwerkanalyse. Der Onkel hilft den unverheirateten Frauen bei bürokratischen Problemen und bei der Arbeitsuche, der Schwiegersohn hilft den Frauen der letzten Phase auf dem Feld und ebenfalls bei bürokratische Problemen. Auch schon die Korrespondenzanalysen (vgl. 5.2.4) hatten gezeigt, daß die männlichen Rollen sehr spezialisiert sind. Diese Rollen unterstützen die Frauen bei bestimmten Problemen, die aber für die Frauen nicht alltäglicher Natur sind, helfen sonst aber nicht weiter und schränken die Frauen in der Regel auch nicht sozial ein. Ausführlicher haben die Frauen die noch fehlenden weiblichen Rollen thematisiert. Vor allem die Großmutter wird in mehreren Interviews erwähnt. Nur während der Zeit, als die Frauen unverheiratet waren, spielte ihre Großmutter eine Rolle für sie. Die Großmutter schenkte den Frauen Süßigkeiten und Spielzeug, gab ihnen etwas zu essen und verteidigte sie auch schon mal gegen ihre Mutter. Eine Rolle, die bei der Netzwerkanalyse fehlte, aber in den Lebensgeschichten der ältesten Frauen häufiger erwähnt wird, ist die Rolle des Enkelkindes. Diese Rolle ist die Ergänzung der Rolle der Großmutter. Ihre Enkelkinder werden von Rosario, Chucha und Lucia sehr liebevoll beschrieben. Wie Lucia sagt, ist sie froh, Enkelkinder zu haben, denn diesen könnte man ohne Vorbehalte seine ganze Liebe schenken. Man muß sich nicht darum sorgen, ob die Kinder gut oder schlecht erzogen werden, denn das ist Sache der Tochter, sondern man kann die Kinder auch ein bißchen verwöhnen. Ähnlich wie die Rolle der Großmutter wird die der Tante beschrieben. Wie auch die Großmutter unterstützt die Tante die Frau bei Konflikten mit der Mutter. Einige der Frauen berichten, daß sie als junge, unverheiratete Frauen manchmal auch von einer Tante in Mexiko-Stadt unterstützt wurden. Eine Tante half schon mal einer jungen Frau, eine Stelle zu finden und in einigen Fällen konnte DAS GEPLANTE KIND 208 die Frau sogar vorübergehend bei einer Tante wohnen. Die Nichte wird nur kurz von zwei Frauen erwähnt. Wie auch die Netzwerkdaten gezeigt haben, hilft sie den Frauen im wesentlichen mit kleinen Gefälligkeiten im Haushalt. Die Cousine wurde schon im Abschnitt zur Rolle der Freundin erwähnt. Sie ist für die unverheiratete Frau häufig eine Spielgefährtin und hilft später mit Informationen über freie Stellen und Arbeitsmöglichkeiten. Es ist klar zu erkennen, daß diese Rollen erheblich marginaler sind als die vorher besprochenen Rollen. Auch verbringen die Frauen mit diesen Personen erheblich weniger Zeit als mit ihrer Mutter, Schwiegermutter oder ihrem Ehemann, was natürlich auch dazu führt, daß es erheblich weniger Konfliktmöglichkeiten gibt und die Beziehungen deshalb auch so positiv dargestellt werden. 5.4 Zusammenfassung der Ergebnisse Zu Beginn dieses Kapitels ist gezeigt worden, wie notwendig eine detaillierte Analyse des sozialen Umfeldes der Frauen für die Beschreibung und Erklärung fertilen Verhaltens ist. Reproduktive Entscheidungen einer Frau können stark von ihrem Ehemann, ihrer Familie, ihren Schwiegereltern oder ihren Freunde beeinflußt sein. Deshalb ist eine Analyse der Charakteristika und Interessen des sozialen Umfeldes der Frau erforderlich (Watkins 1993:566). Darüber hinaus sind aber nicht nur bestimmte Charakteristika und Interessen beschrieben worden, sondern es konnte auch die Dynamik des sozialen Umfeldes, in welches eine Frau eingebettet ist, aufgezeigt werden. Indem der Lebenszyklus der Frau in vier Phasen unterteilt worden ist, konnte nachgewiesen werden, welche sozialen Rollen in welcher Art und Weise und zu welchem Zeitpunkt Einfluß auf Entscheidungen haben können. Auf diese Weise wurde es möglich, den Wandel und die Ambivalenz bestimmter Rollen im Verlauf des Lebenszyklus nachzuzeichnen. Diese Analyse gelang nur, da es möglich war, unterschiedliche Daten zu nutzen. Die Analyse der Netzwerkdaten gab dem Vorgehen eine systematische Grundlage. Die wichtigsten sozialen Rollen in den vier verschiedenen Phasen wurden herausgearbeitet und in einem ersten Schritt, mit Hilfe mehrerer Korrespondenzanalysen, auch hinsichtlich ihrer sozialen und wirtschaftlichen Funktionen, beschrieben. In einem zweiten Schritt wurden dann vor allem qualitative Daten verwendet, hauptsächlich Lebensgeschichten, Feldnotizen, free lists und Gruppeninterviews, aber auch einige quantitative Daten aus den Fragebogenerhebungen. Diese Daten vertieften und ergänzten das noch zu einfache soziale Bild, das die Netzwerkanalyse KAPITEL 5. SOZIALE NETZWERKE UND REPRODUKTIVES VERHALTEN 209 erbracht hatte. Vor allem für die sozial wichtigsten Rollen, die den größten Einfluß auf reproduktive Entscheidungen haben, wie die Rolle der Mutter, des Ehemanns, der Schwiegermutter und der Kinder, wurde gezeigt, daß sie keineswegs nur unterstützende Funktion haben, sondern in ihrem Zusammenspiel eine Art ‚soziales Spannungsfeld’ darstellen, das unterstützend, bestärkend, hemmend oder auch motivierend auf die Entscheidungen wirken kann. Weiterhin wurde deutlich, daß bestimmte Rollen, vor allem die der cuñadas und concuñas, in der Literatur bisher nur unzureichend berücksichtigt worden sind. Ziel dieses Kapitels war es nicht, Wandel und Variationen fertilen Verhaltens bereits zu beschreiben und zu erklären. Dies wird Gegenstand der beiden folgenden Kapitel sein. Doch konnte durch die in diesem Kapitel vorgenommene Analyse ein ‚dynamisches soziales Spannungsfeld’ entwickelt werden, das eine der Rahmenbedingungen für die Erklärung des Wandels und der Variationen des fertilen Verhaltens darstellt. Kapitel 6 Der fertile Wandel 6.1 Ein kausales Modell zur Erfassung des fertilen Wandels Faktoren, die das fertile Verhalten beeinflussen, sind hierarchisch geordnet. Drei hierarchische Ebenen sind voneinander zu trennen – Komponenten, proximate Determinanten und alle weiteren erklärenden Variablen. Faktoren, wie z.B. die Verwendung von Verhütungsmitteln, beeinflussen die Fertilität nicht als solche, sondern wirken sich auf bestimmte Komponenten der Fertilität aus. Drei Komponenten sind voneinander zu unterscheiden (Lang 1993: 125f): 1 1. Das ALTER BEI ERSTER GEBURT: Die reproduktive Phase einer Frau unterliegt biologischen Grenzen - von der Menarche bis zur Menopause gilt eine Frau als prinzipiell fertil. 2 Eine Möglichkeit, die Fertilität zu reduzieren, besteht darin, den Eintritt in die reproduktive Phase zu verzögern und somit die reproduktive Phase insgesamt zu verkürzen. Die demographische Entwicklung in Teilen Ostasiens im zwanzigsten Jahrhundert zeigt zum Beispiel, wie vor allem aufgrund eines späteren Heiratsalters die Fertilität sank (Cho und Retherford 1974, Mauldin und Berelson 1978). 2. Das ALTER BEI LETZTER GEBURT: Das Gegenstück zur Verkürzung der reproduktiven Phase aufgrund eines späteren Anfangs besteht in der Verkürzung durch ein vorzeitiges Ende (limiting oder stopping). Die Verwendung von Verhütungsmitteln ist hier von besonderer Relevanz. In Brasilien spielte vor allem die Sterilisation als Verhütungsmittel eine große Rolle, wodurch die reproduktive Phase stark verkürzt wurde. Dies wurde als wichtiger Grund dafür angesehen, daß die Geburtenziffern sanken (Martine 1996). 3. Die GEBURTENINTERVALLE: Neben frühzeitigem Ende und verzögertem Beginn besteht die dritte Möglichkeit, Fertilität zu beeinflussen, in einer Verlängerung der Geburtenintervalle. Der Abstand zwischen zwei Geburten kann zum Beispiel durch die Verwendung von Verhütungsmitteln, einer Abtreibung 1 Neben den drei hier vorgestellten Komponenten bezieht Lang auch noch die sogenannte primäre Sterilität (Lang 1993: 126), die nicht mit einer Sterilisation zu verwechseln ist, mit ein. Diese soll hier ausgeklammert werden, da sie nicht vom Individuum beeinflußt werden kann. Primär steril ist eine Frau, die aus biologischen Gründen kein (lebendes) Kind bekommen kann. 2 Prinzipiell insofern, als es biologische Einschränkungen gibt, wie zum Beispiel die primäre und adoleszente Sterilität. 211 212 DAS GEPLANTE KIND oder Laktation verlängert werden. Eine Verlängerung der Geburtenintervalle (spacing) ist für eine Vielzahl von Ländern als ein Grund fertilen Wandels beschrieben worden (z.B. Rodríguez 1996, Martine 1996). Die drei Komponenten von Fertilität - das Alter bei erster Geburt, die Geburtenintervalle sowie das Alter bei letzter Geburt - können also beeinflußt werden und dadurch zu einer Veränderung der Fertilität führen. Nur eine begrenzte Anzahl an Faktoren können einen Einfluß auf diese drei Komponenten haben. In der demographischen Literatur werden diese Faktoren, die sich direkt auf das fertile Verhalten auswirken, als proximate Determinanten bezeichnet (Davis und Blake 1956, Bongaarts 1978, 1982, 1983). 3 Alle anderen Faktoren zur Erklärung fertilen Verhaltens wirken sich nicht direkt auf die Komponenten aus, sondern nur indirekt aufgrund ihrer Effekte auf die proximaten Determinanten. Wichtige proximate Determinanten sind z.B. das Stillverhalten und die Verwendung von Verhütungsmitteln. Verwendet eine Frau Verhütungsmittel, hat das u.U. einen Effekt auf die Länge ihrer Geburtenintervalle. Warum sie Verhütungsmittel verwendet, könnte daran liegen, daß sie aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation der Meinung ist, sich in den nächsten Jahren kein weiteres Kind leisten zu können. Die proximate Determinante Verhütung steht also zwischen einer der Komponenten von Fertilität (der Länge der Geburtenintervalle) und einer erklärenden Variable, wie der Wahrnehmung der wirtschaftlichen Situation. Dieser hierarchische Zusammenhang zwischen Fertilität, den Komponenten von Fertilität, den proximaten Determinanten und weiteren Faktoren ist in Abbildung 6.1 veranschaulicht. 3 Innerhalb der demographischen Literatur ist es üblich, die Faktoren, die in einem direkten Zusammenhang zur Fertilität stehen, als Determinanten zu bezeichnen. Dadurch wird ihr direkter Einfluß auf die Fertilität besonders hervorgehoben. Davis und Blake (1956) sprechen noch von intermediate variables, doch ist der Begriff der proximaten Determinanten (proximate determinants; Bongaarts 1978) mittlerweile verbreiteter und wird auch hier verwendet. KAPITEL 6. DER FERTILE WANDEL 213 Fertiles Verhalten Alter bei erster Geburt (AEG) Heiratsalter Alter bei letzter Geburt (ALG) Verhütung Abtreibung Geburtenintervalle (GI) Stillverhalten Komponenten (wichtigste) proximate Determinanten Faktoren, die nach Coales (1975) drei Grundbedingungen geordnet werden können: 1. Reproduktive Entscheidungen sind Kosten und Nutzen abwägend 2. Eine Kontrolle der Fertilität stellt einen wirt. und soz. Vorteil dar 3. Zugang zu und Wissen über Verhütungsmethoden müssen gegeben sein Abbildung 6.1: Kausales Modell zur Erfassung fertilen Wandels Nicht alle proximaten Determinanten sind gleich bedeutend für die Erklärung fertilen Verhaltens (Bongaarts 1978, 1982, 1983). 4 Hier werden, wie es auch in der demographischen und ethnodemographischen Literatur üblich ist (Moreno und Singh 1996, Hill 1997), nur die vier wichtigsten proximaten Determinanten berücksichtigt: der Anteil an Personen, die in einer festen Beziehung leben, und das Alter bei Beginn dieser Beziehung, 5 die Verwendung von Verhütungsmitteln, das Praktizieren von Abtreibungen sowie die nachgeburtliche, temporäre Unfruchtbarkeit aufgrund der sogenannten Laktationsamenorrhoe. 6 Bestimmte proximate Determinanten beeinflussen bestimmte Komponenten von Fertilität (vgl. Abbildung 6.1). So steht das Stillverhalten, der Grund für die Laktationsamenorrhoe, nur in einem Zusammenhang zur Länge der Geburtenintervalle, wohingegen die Verwendung von Verhütungsmitteln und die Abtreibung einen Ef4 Zu den anderen Determinanten vgl. Bongaarts (1978, 1982). Bongaarts zeigt mit Hilfe empirischer Beispiele, daß diese Determinanten einen geringen statistischen Effekt auf die Fertilität ausüben. Hinzu kommt, daß zu diesen Determinanten sehr selten empirische Daten vorliegen. 5 Die Beziehung muß nicht unbedingt eine kirchliche oder staatliche Heirat sein, sondern es kann sich auch um eine unión libre handel. Zur Vereinfachung wird allerdings im folgenden in allen drei Fällen vom Anteil an Verheirateten und Heiratsalter die Rede sein. 6 Zum Zusammenhang von Stillverhalten, Laktationsamenorrhoe und Fertilität vgl. Bongaarts (1982). 214 DAS GEPLANTE KIND fekt auf alle drei Komponenten der Fertilität ausüben können. Im folgenden muß also festgestellt werden, welche der drei Komponenten fertilen Verhaltens in Mexiko und Pueblo Nuevo verändert worden sind. Danach muß erfaßt werden, welche proximaten Determinanten hierbei von Relevanz gewesen sind. Die Frage, welche Faktoren zu einer Veränderung der als relevant ermittelten proximaten Determinanten beigetragen haben könnten, schließt sich daran an und wird auch noch im folgenden Kapitel, den Variationen fertilen Verhaltens, von Relevanz sein. In den theoretischen Grundlagen der Arbeit ist gezeigt worden, daß es eine große Anzahl an Faktoren gibt, die Veränderungen des fertilen Verhaltens erklären können (vgl. 2.1 bis 2.3). Die drei von Coale (1975) formulierten Grundbedingungen sind dazu geeignet, diese Faktoren zu ordnen (vgl. Abbildung 6.1 und Kapitel 2). Bevor aber der fertile Wandel beschrieben und analysiert wird, geht es zunächst um das fertile Verhalten vor den Jahren des Wandels. 6.2 ‚Regieren heißt Bevölkern‘ – Die Jahre anhaltenden Wachstums (≈1940-1970) Der fertile Wandel Mexikos ist gut dokumentiert (z.B. Alba 1977, Alba und Potter 1986, Alba und Cabrera 1994, Guzmán et al. 1996, Krause 1996, Lartigue und Ávila 1996, Lerner und Quesnel 1994, Lerner und Yanes 1996, Mier y Terán 1996, Moreno 1991, Molina und Bringas 1996) und in den meisten Veröffentlichungen und Analysen der beiden größten, in vielen Ländern der Welt durchgeführten Fertilitätsstudien, dem World Fertility Survey und dem Demographic and Health Survey (z.B. Guzmán et al. 1996), wird auch Mexiko berücksichtigt. 7 Alle Quellen stimmen in den generellen Trends und Entwicklungen der Mortalität und Fertilität Mexikos überein, allerdings nicht in den konkreten Zahlen. Dies liegt daran, daß einerseits unterschiedliche Datenquellen verwendet werden, andererseits die Schätzungen voneinander abweichen und bestimmte Datenquellen für Fehler anfälliger sind (Krause 1996: 126-9). Werden Zivilregister verwendet, stellt beispielsweise in einigen Jahren ein großes Problem die Unter- und in anderen Jahren die Überregistrierung dar. Trotzdem können verallgemeinernde Aussagen über die demographische Entwicklung gemacht werden, da sich die Quellen in ihren Darstellungen nicht widersprechen. 7 Der demographische Wandel ist generell für Lateinamerika recht gut dokumentiert (vgl. z. B. die Sammelbände von Guzmán et al. 1996 und Pebley und Rosero-Bixby 1997). KAPITEL 6. DER FERTILE WANDEL 215 Bis in die siebziger Jahre durchlebte Mexiko ein beständiges Bevölkerungswachstum. Die Wachstumsrate stieg von 1,8% pro Jahr Ende der vierziger Jahre auf 3,4% Anfang der siebziger Jahre. Erst in den siebziger Jahren ging das Bevölkerungswachstum zunächst langsam, in den achtziger Jahren dann aber immer schneller, zurück. Das lang anhaltende Bevölkerungswachstum hatte eine enorme Zunahme der Gesamtbevölkerung zur Folge. Um 1900 betrug die mexikanische Bevölkerung nach Schätzungen ungefähr 13,6 Millionen, Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts (1950) ≈25,8 Millionen, in den siebziger Jahren hatte sich diese Zahl fast verdoppelt (1979 ≈48,3 Millionen), und gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts hat sich diese Zahl bei einer Gesamtbevölkerung von ≈93 Millionen abermals fast verdoppelt (Alba und Potter 1986, Krause 1996, El Proceso vom 10.11.1996). Wie für den demographischen Übergang charakteristisch, kam es vor allem aufgrund sinkender Mortalität bei bis in die siebziger Jahre hinein gleichbleibend hoher Fertilität zu diesem starken Bevölkerungswachstum. Bevor auch nur geringste Anzeichen eines fertilen Wandels zu beobachten waren, sanken die Mortalitätsziffern und stieg die Lebenserwartung bei Geburt (Rabell und Mier y Terán Rocha 1986). Lag die Lebenserwartung bei Geburt 1933 erst bei 33 Jahren, erhöhte sie sich bis 1960 auf 58 Jahre, bis in die siebziger Jahre auf 66 Jahre und betrug 1994 72,6 Jahre (Rabell und Mier y Terán Rocha 1986, Krause 1996: 133). Schon in der ethnographischen Beschreibung wurde die Entwicklung der Säuglings- und Kindersterblichkeit für Pueblo Nuevo dargestellt. Vor allem in den Jahren zwischen 1940 und 1960 gingen sowohl die Mortalitätsziffern für die gesamte mexikanische Bevölkerung als auch die Säuglings- und Kindersterblichkeit, vor allem aufgrund einer verbesserten Gesundheitssituation, stark zurück (Rabell und Mier y Terán 1986, Krause 1996: 133-5). Der Rückgang der Kindersterblichkeit liegt in Pueblo Nuevo zeitlich später, was sicherlich damit zusammenhängt, daß eine effektive Gesundheitsversorgung der Bevölkerung erst Mitte der siebziger Jahre im Tal von Solís vorhanden war. Außerdem muß berücksichtigt werden, daß die demographische Entwicklung Mexikos alles andere als homogen verlief. Gerade ländliche Regionen, die in ejidos organisiert sind, liegen bei allen Ziffern, sei es die Mortalität oder die Fertilität betreffend, weit hinter dem Entwicklungsstand der urbanen Regionen zurück. Krause bezeichnet diese regionalen und auch sozialen Differenzen als ‚strukturelle Heterogenität‘, welche bis heute in Mexiko existiert. Beispielsweise war 1975 die Säuglingssterbewahrscheinlichkeit in ländlichen Gebieten dreimal höher als in urbanen Zentren. Diese Differenz bestand auch in den achtziger Jahren fort (Krause 1996: 139). Trotz dieser regionalen Unterschiede, bei denen es sich 216 DAS GEPLANTE KIND hauptsächlich um die Differenz zwischen ländlichen und urbanen Regionen handelt, ist der generelle Rückgang der Mortalität, wenn auch in ländlichen Regionen langsamer, seit den sechziger Jahren in ganz Mexiko zu beobachten. Diese Entwicklung der Mortalität, bei gleichbleibend hoher Fertilität, ist eine der wichtigsten Ursachen des starken Bevölkerungswachstums. Bis zu Beginn der siebziger Jahre gab es so gut wie keinen Rückgang der Fertilität. Die allgemeine Fruchtbarkeitsziffer, die Anzahl an Geburten pro tausend Frauen, lag gleichbleibend bei ungefähr 200. 8 Auch die zusammengefaßte Geburtenziffer (total fertility rate (TFR)), eine der wichtigsten Maßzahlen zum Vergleich von demographischen Daten verschiedener Länder, die die durchschnittliche Anzahl an Kindern pro Frau am Ende ihrer reproduktiven Phase angibt, lag von 1940 bis 1970 gleichbleibend bei ungefähr 7 Kindern (Krause 1996: 152, zur Berechnung der TFR vgl. 6.2.1). Nach Lerner und Yanes (1996: 122) konnte sogar bis 1976 kein bedeutsamer Wandel des reproduktiven Verhaltens von Frauen ländlicher Regionen erkannt werden. 9 Warum war also bis ungefähr 1970, trotz einer sich stark verbessernden wirtschaftlichen Situation des Landes und rückläufiger Mortalität (Alba und Potter 1986, Coale 1978), kein genereller Rückgang der Fertilität zu beobachten? Alba und Potter (1986: 55-58) nennen mehrere Gründe. Aufgrund historischer Erfahrungen starken Bevölkerungsverlustes vor allem während der mexikanischen Revolution kam es zu einer sehr pronatalistischen Politik. Das gleichbleibend hohe Fertilitätsniveau wurde in offiziellen Bewertungen als durchaus erwünscht beurteilt. Diese Jahre standen unter der Maxime: ‚gobernar es poblar‘, ‚Regieren heißt Bevölkern‘. 10 1936 wurde ein erstes Bevölkerungsgesetz verabschiedet, welches äußerst pronatalistisch war (vgl. Krause 1996: 160-163). Auch das zweite Bevölkerungsgesetz von 1947 setzte diese politische Haltung fort. Aufgrund der pronatalistischen Politik waren bis in die siebziger Jahre die Verbreitung von Informationen und Mitteln zur Empfängnisverhütung und Abtreibung grundsätzlich verboten (Alba und Potter 1986: 61, Krause 1996: 163). Daß sich bis in die siebziger Jahre nichts an dieser Politik änderte, lag nicht nur an den historischen Erfahrungen, sondern auch 8 1930: 198; 1940: 196; 1950: 192; 1960: 200; 1970: 198 (Krause 1996: 152). Wie hinsichtlich der Entwicklung der Mortalität sind auch Stadt/Land Unterschiede bezüglich der Fertilität zu beobachten. Obwohl kein genereller Rückgang der Fertilität bis zu Beginn der siebziger Jahre zu beobachten ist, zeigen sich trotzdem schon in den sechziger Jahren diese Unterschiede. Frauen aus ländlichen Regionen, die Ende der sechziger Jahre ihre reproduktive Phase beendet hatten, hatten fast zwei Kinder mehr als Frauen aus urbanen Regionen (Alba 1977: 31). 10 Eine ähnliche pronatalistische Ideologie ist auch für andere Ländern Lateinamerikas beschrieben worden (vgl. Stycos 1970) 9 KAPITEL 6. DER FERTILE WANDEL 217 an einem immer stärker werdenden Nationalismus, der sich in Abgrenzung zu den USA bildete. 11 Denn gerade die USA entwickelten ab einem gewissen Punkt ein großes Interesse an einer rückläufigen Fertilitätsentwicklung in Mexiko, da starke Migrationsströme befürchtet wurden und generell in der stark zunehmenden Bevölkerung eine Gefahr für die nationale Sicherheit und Ruhe des Landes gesehen wurde (Krause 1996: 169). Neben diesen Entwicklungen war die Zeit bis 1970 auch von einem großen Optimismus geprägt. Aufgrund der wirtschaftliche Erfolge war man davon überzeugt, daß es kein Problem sei, die wachsende Bevölkerung adäquat zu versorgen: „Mexico can sustain a population three or four times its present size“ sagte 1968 G. P. Serrano, Mexikos damaliger Sekretär für Kommunikation (zitiert nach Stycos 1970: 63). Bis Ende der sechziger Jahre ging die große Mehrheit der mexikanischen Intellektuellen und Politiker von dieser wirtschaftlichen Kapazität ihres Landes aus, obwohl die stark ansteigende Migration in die urbanen Zentren und die zunehmende Landknappheit der ejidos schon in eine ganz andere Richtung wiesen (Alba und Potter 1986: 55). Denn nicht alle Regionen des Landes profitierten gleichermaßen vom wirtschaftlichen Aufschwung. Gerade ländliche Regionen, die auf der Basis der ejidos organisiert waren, lagen weit hinter der nationalen Entwicklung zurück. Die Konsequenzen einer zunehmenden Ressourcenknappheit wurden schon ausführlich in der ethnographischen Beschreibung diskutiert. Mitglieder eines Haushalts, der wichtigsten Produktionseinheit innerhalb des ejido Systems, sahen sich gezwungen, ihr Überleben zu sichern, indem sie sich neue Einkommensquellen neben der Landwirtschaft erschlossen. Je größer der Haushalt war, desto besser konnte eine Diversifikation der Einkommensquellen durchgeführt werden. Vor allem die in diesen Jahren einsetzende Migration nach Mexiko-Stadt war hierbei die wichtigste neue Einkommensquelle. Aber auch innerhalb des dörflichen Kontextes war es während dieser Zeit von Vorteil, viele Kinder zu haben. Je mehr Familienmitglieder Teil des ejidos waren, desto stärker war auch ihr Gewicht und ihre Stimme bei Entscheidungen. Um ejido Land für einen Haushalt zu sichern, war es notwendig, männliche Erben zu haben. Weiterhin war es für eine Familie von Vorteil, verheiratete Söhne zu haben, denn bei den erneuten Landverteilungen, wie sie in den sechziger und siebziger Jahren erfolgten, wurden diese bevorzugt bedacht. Insofern 11 Auch diese Entwicklung eines Nationalismus gepaart mit einem Anti (US) Amerikanismus findet sich zu dieser Zeit in mehreren Ländern Lateinamerikas, beispielsweise Peru (Stycos 1970: 70-1). 218 DAS GEPLANTE KIND bestand eine gewichtige Motivation, möglichst früh zu heiraten, wodurch die reproduktive Phase sehr lang war. Da die meisten ejidos wie auch das ejido Pueblo Nuevo fast gar nicht von technologischen Innovationen profitierten, bestand außerdem ein großer Bedarf an billigen Arbeitskräften. Ein Haushalt mit vielen Kindern konnte also sowohl den Bedarf an billigen Arbeitskräften decken und trotzdem noch neue Einkommensquellen erschließen. Neben den wirtschaftlichen Vorteilen, die eine kinderreiche Familie erlangen konnte, war sie auch in einer besseren Position, soziales Kapital zu akkumulieren, welches wiederum in wirtschaftliches Kapital transformiert werden konnte. Migrierten beispielsweise ein Teil der Söhne und Töchter nach Mexiko-Stadt, nutzten diese einerseits schon bestehende soziale Beziehungen, vergrößerten andererseits aber durch eigene Kontakte das schon bestehende Netzwerk. Andere Haushaltsmitglieder konnten diese neuen Kontakte wiederum nutzen. Die Relevanz dieser Netzwerke im informellen Sektor Mexiko-Stadts, in dem es keine Form der Absicherung, wie Kranken- oder Altersversicherungen, und keine Arbeitsverträge gibt, hat Lomnitz Studie (1977) über eine Hüttenstadt in Mexiko-Stadt Anfang der siebziger Jahre sehr überzeugend gezeigt. Soziale Kontakte, die die Migranten in Mexiko-Stadt nutzten, waren vornehmlich Familienbeziehungen und compadrazgo Beziehungen. Die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen waren also für den landwirtschaftlichen Haushalt immer noch dergestalt, daß eine hohe, unkontrollierte Fertilität einen sozialen und wirtschaftlichen Vorteil darstellte. Coales (1975) in den theoretischen Grundlagen dieser Arbeit beschriebene zweite Grundbedingung, damit es zu einem Rückgang der Fertilität kommt, war also nicht erfüllt (vgl. 2.1 und Abbildung 6.1). Effektive Verhütungsmittel waren entweder nicht bekannt oder nicht zugänglich. Somit war auch Coales (1975) dritte Grundbedingung ebenfalls nicht gegeben (vgl. 2.3 und Abbildung 6.1). Und schließlich wurde eine reproduktive Entscheidung kaum als ein Abwägen von Kosten und Nutzen wahrgenommen. Ein bewußtes Planen und Reduzieren der natürlichen Fertilität galt zum einen als unmoralisch und entsprach zum anderen nicht der gängigen Bevölkerungsideologie. Damit war auch Coales (1975) erste Grundbedingung nicht erfüllt (vgl. 2.2 und Abbildung 6.1). Weder auf der Makroebene, noch auf der Mikroebene der einzelnen Akteure innerhalb eines ejidos wurde es also während dieser Jahre – von ungefähr 1940 bis ungefähr Mitte der siebziger Jahre – als Vorteil wahrgenommen, die Zahl der Kinder einzuschränken. KAPITEL 6. DER FERTILE WANDEL 219 1976 begann die erste Frau in Pueblo Nuevo, ein Verhütungsmittel zu benutzen. Dieses Datum ist insofern bedeutsam, als Lerner und Yanes (1996: 122) in ihrer Untersuchung des fertilen Wandels im ländlichen, in ejidos organisierten, Mexiko den Beginn des Wandels ebenfalls auf das Jahr 1976 datieren. Vor diesem Datum charakterisieren sie die Fertilität in diesen Regionen als eindeutig nicht kontrolliert, sondern natürlich. 12 Um einen Eindruck des fertilen Verhaltens vor den Jahren des Wandels und der heutigen Situation zu erhalten, sollen deshalb im folgenden Frauen betrachtet werden, deren reproduktive Phase zum Zeitpunkt der Feldforschung abgeschlossen war. Die Auswahl dieser Frauen ist insofern problematisch, da sie sich zum Teil noch während der achtziger und sogar neunziger Jahre in ihrer reproduktiven Phase befanden. Wären aber nur Frauen ausgewählt worden, die vor 1976 ihre reproduktive Phase beendeten hatten, hätte sich die Fallzahl auf nur 16 Fälle reduziert. Die Fertilität der 56 ausgewählten Frauen, deren reproduktive Phase 1997 oder davor als abgeschlossen zu definieren ist, 13 kann, trotz erster Anzeichen des fertilen Wandels sowie des Beginnes einer kontrollierten Fertilität, mit Abstrichen als natürliche Fertilität charakterisiert werden, wie im folgenden zu sehen sein wird. Sie gibt insofern, wenn auch mit Einschränkungen, Auskunft über das fertile Verhalten vor der Zeit des umfassenden fertilen Wandels. 6.2.1 Die Fertilität der Frauen mit abgeschlossener reproduktiver Phase Frauen, die 1997 oder früher ihre reproduktive Phase abgeschlossen haben, haben sehr viele Kinder bekommen. 56 Frauen hatten 577 Lebendgeburten. 14 Um einen ersten Eindruck von der Fertilität dieser Frauen zu erhalten, ist es sinnvoll, mit einer Darstellung der Parität zu beginnen. Unter Parität wird die Anzahl und Verteilung aller Lebendgeburten einer Frau verstanden (Höhn et al. 1987: 610). Tabelle 6.1 gibt Auskunft über die Anzahl und Verteilung der Parität der ausgewählten Frauen. 12 Die Definition von ‚natürlicher‘ und ‚kontrollierter‘ Fertilität folgt im nächsten Abschnitt. Als Frauen mit abgeschlossener reproduktiver Phase werden alle Frauen definiert, die 1997 45 Jahre oder älter waren. 45 Jahre ist eine gängige Konvention innerhalb der Demographie sowie der Ethnodemographie (vgl. z.B. Howell 1979 und Schulze 1997). 14 Die Aufbereitung der Zensusdaten und der Geburtengeschichten wurde mit den Programmen CLEANCENS (Lang 1995a), FERTIL (Lang 1998b) und ASGZ (Lang 1995b) durchgeführt. Das Programm FERTIL erstellt mehrere Matrizen (z.B. Geburtsdaten aller Frauen und ihrer Kinder), die für die Analysen in andere Programme, wie SPSS und EXCEL, importiert worden sind. 13 DAS GEPLANTE KIND 220 Parität Alter 15-19 20-24 25-29 30-34 35-39 40-44 45-49 Kinder 0 1 2 3 4 3 2 2 2 5 2 2 1 0 0 0 6 4 5 7 8 9 10 11 12 13 3 4 6 1 1 7 17 2 13 6 17 5 5 11 29 3 8 11 11 6 6 17 24 1 7 7 14 5 2 18 26 4 6 12 3 6 16 30 6 3 2 7 17 6 6 35 40 63 20 22 82 143 Frauen 2 0 0 2 1 1 1 1 6 5 5 7 2 2 7 11 14 15 16 SUM F.jahre 6 3 4 54 280 8 3 12 113 280 8 2 13 115 280 13 4 14 115 280 13 3 13 106 280 7 17 60 280 1 7 14 245 56 15 80 577 1925 4 1 5 ASGZ 0,193 0,403 0,411 0,411 0,379 0,214 0,057 2,068 56 ∅ Parität 10,34 (VAR 15,25 s.e. 0,522); ZGZ 10,34 Tabelle 6.1: Parität und ASGZ von 56 Frauen 45 Jahre oder älter Im Augenblick sind nur die von Null bis 16 betitelten Spalten sowie die Zeile ‚Frauen‘, die die absoluten Häufigkeiten an Frauen für die jeweilige Parität angibt, von Interesse. Die Verteilung der Geburten innerhalb der Altersklassen wird im Anschluß beschrieben. Zum Beispiel gibt es zwei Frauen, die drei Kinder haben, also eine Parität von drei. Hingegen haben fünf Frauen eine Parität von 16. Die Zeile ‚Kinder‘ ergibt sich aus diesen Angaben: Z.B. haben fünf Frauen eine Parität von 16, es handelt sich folglich um insgesamt 80 Geburten (Zeile ‚Kinder‘). Zwei Frauen haben eine Parität von drei. Dies ergibt folglich sechs Kinder (Geburten). Zwei Frauen haben eine Parität von null. Dies entspricht einem prozentualen Anteil von 3,5%. Howell (1979) beschreibt, daß man ungefähr von 3-10% an Frauen innerhalb einer Population ausgehen kann, die primär steril sind und somit eine Parität von null haben. Dieser Wert entspricht also dem, was auch für andere Populationen bekannt ist. Weiterhin ist auffallend, daß keine Frau eine Parität von eins oder zwei aufweist. Diese Beobachtung wird auch im weiteren Verlauf noch von Bedeutung sein. Aus den Angaben zur Parität läßt sich die durchschnittliche Parität ermitteln. Durchschnittlich bekamen die Frauen 10,34 Kinder (± 0,522 s.e.; siehe letzte Zeile von Tabelle 6.1). In einem nächsten Schritt soll nun die Verteilung der Lebendgeburten in Beziehung zum Alter der Mütter bei Geburt gesetzt werden. Es werden Altersklassen von fünf Jahren gebildet. Es ist auch möglich, Abstände von einem Jahr zu wählen. Da die Fallzahlen aber klein sind, ist es sinnvoller, mit fünf Jahren zu arbeiten. In der Regel beginnt die erste Altersklasse mit 15 Jahren und endet die letzte Altersklasse mit 49 Jahren. Keine der hier beschriebenen 56 Frauen hat vor ihrem 15. Lebensjahr ein Kind bekommen. Allerdings gibt es eine Frau, die Geburten nach ihrem 49. KAPITEL 6. DER FERTILE WANDEL 221 Lebensjahr (im 50. und im 53. Lebensjahr) angegeben hat. Inwieweit es sich um einen Erinnerungsfehler handelt, ist schwer zu beurteilen. Die Frau hatte allein 12 Lebensgeburten und es fiel ihr schwer, sich an die genauen Geburtsdaten zu erinnern. Es ist aber sehr wohl möglich, daß Frauen auch mit über 50 Jahren noch ein Kind bekommen. Beide Geburten werden nicht in die Berechnungen miteinbezogen und fehlen folglich in Tabelle 6.1. Zunächst soll wiederum nur eine Parität betrachtet werden, um zu veranschaulichen, wie die Tabelle zu lesen ist. Es gibt fünf Frauen die eine Parität von 16 haben und folglich 80 Geburten insgesamt. Da das Alter der Mütter bei Geburt bekannt ist, können nun die 80 Geburten in Beziehung zu den Altersklassen gesetzt werden. Vier der 80 Geburten fanden in der Altersklasse der 15- bis 19-jährigen statt. Im Gegensatz dazu gab es 17 Geburten in der Altersklasse der 40- bis 44-jährigen. Es ist auffallend, daß die hohen Altersklassen zwischen 35 und 44 Jahre verhältnismäßig viele Geburten aufweisen. Die Anzahl der Geburten (Spalte SUM) bleibt über die Altersklassen zwischen 20 bis 40 Jahren hinweg fast gleichbleibend hoch. Dies drückt sich auch in den relativ hohen altersspezifischen Geburtenziffern für die Altersklassen zwischen 30 und 45 Jahren aus, die im folgenden erläutert werden sollen. Altersspezifische Geburtenziffern (ASGZ) geben an, wie viele Geburten die Frauen einer bestimmten Altersklasse im Schnitt haben: ASGZ (x) = Anzahl der Geburten von Frauen der Altersklasse x Anzahl der Frauen(jahre) der Altersklasse x Wie auch in anderen ethnodemographischen Untersuchungen sind die Fallzahlen für die einzelnen Altersklassen nicht besonders groß. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, auf das Konzept der ‚durchlebten Intervalle‘ zurückzugreifen. Dies soll anhand der Daten in Tabelle 6.1 verdeutlicht werden. Alle 56 Frauen haben die ersten sechs Intervalle durchlebt, denn alle Frauen sind ja mindestens 45 Jahre alt. Deshalb kann man für jede der 56 Frauen fünf durchlebte Intervallsjahre pro Altersklasse - man spricht auch von Frauenjahren - berechnen. Das ergibt insgesamt 280 Frauenjahre (Spalte F.jahre) pro Intervall. Die letzte Altersklasse von 45 bis 49 Jahre haben nicht alle Frauen durchlebt, da das Auswahlkriterium darin besteht, daß eine Frau 45 Jahre oder älter ist. Insgesamt sind 18 der Frauen zwischen 45 und 49 Jahre alt. Ihr jeweiliger Anteil an Frauenjahren (z.B. hat eine 46-jährige Frau 2 Frauenjahre für diese Altersklasse) wurde bei der Berechnung der Frauenjahre für diese Altersklasse berücksichtigt. Aus diesem Grund hat auch die letzte Altersklasse weniger Frauenjahre als die anderen Altersklassen. 222 DAS GEPLANTE KIND Nach der oben eingeführten Formel ist es jetzt möglich, die altersspezifischen Geburtenziffern zu berechnen. In der Altersklasse der 15- bis 19-jährigen gibt es insgesamt 54 Geburten (Spalte SUM) und 280 Frauenjahre. Das ergibt eine altersspezifische Geburtenziffer von 0,193 (Spalte ASGZ). Aus der Summe aller altersspezifischen Geburtenziffern multipliziert mit der Altersklassengröße (hier fünf Jahre) ergibt sich ein Maß für die Gesamtfertilität der Population (Lang 1993: 125) - die zusammengefaßte Geburtenziffer (ZGZ oder total fertility rate (TFR)). Die Werte ergeben eine sehr hohe ZGZ von 10,34. Schulze beschreibt für die Wampar in Papua Neuguinea einen Wert von 7,3, welchen er ebenfalls als hoch einschätzt (Schulze 1997: 146). Es fragt sich, warum die ZGZ der Wampar mit der Pueblo Nuevos vergleichbar ist. Der Grund besteht darin, daß man bei beiden Populationen davon ausgehen kann, daß sie ein Reproduktionsverhalten haben, das dem Konzept der natürlichen Fertilität entspricht. Das Konzept der natürlichen Fertilität sowie sein Gegenstück, das Konzept der kontrollierten Fertilität, gehören zu den in der Demographie und Ethnodemographie am häufigsten diskutierten Konzepten (vgl. Coale 1986, Bongaarts 1983, Bongaarts und Watkins 1996, Knodel 1983, Santow 1995, Wood 1990, 1994). Der Begriff der natürlichen Fertilität findet sich schon seit den dreißiger Jahren in der Literatur (Knodel 1983: 61), doch wurde er erst mit den Arbeiten Louis Henrys (1961) zu einem standardisierten Konzept. Henry definiert natürliche Fertilität als die Fertilität einer Population, die keine bewußten Maßnahmen zur Begrenzung ihrer Geburten vornimmt, nachdem eine bestimmte Anzahl an Geburten erreicht ist. Der entscheidende Punkt besteht darin, daß nach Henry bei natürlicher Fertilität das reproduktive Verhalten unabhängig von der Anzahl der bereits geborenen Kinder, also der Parität, ist. Im Gegensatz dazu impliziert kontrollierte Fertilität nach Henry, daß Paare ihre reproduktive Phase bewußt beenden, wenn sie die von ihnen gewünschte Anzahl an Kinder erreicht haben. 15 Natürliche Fertilität hat nichts mit biologisch natürlicher Fertilität gemein, denn nach Henrys Definition ist es sehr wohl möglich, daß bestimmte Praktiken des Verzögerns von Geburten vorhanden sein können, die aber nicht in Abhängigkeit zu der schon erreichten Parität stehen dürfen. Praktiken wie Stillen und nachgeburtliche Abstinenztabus, die die Wahrscheinlichkeit einer weiteren Schwangerschaft reduzieren und das Geburtenintervall verlängern, sind hier von Bedeutung. Diese Praktiken sind aber nicht an die schon erreichte Parität gebunden, sondern werden nach dem ersten Kind ebenso wie auch nach dem fünften oder sechsten Kind 15 Bei Henry geht es nur um das Beenden der reproduktiven Phase (limiting) und noch nicht um fertiles Verhalten, das aufgrund einer bewußten Verlängerung der Geburtenintervalle (spacing; z.B. durch Verhütung) kontrolliert wird. Dafür wurde er auch kritisiert (vgl. z.B. Santow 1995). KAPITEL 6. DER FERTILE WANDEL 223 durchgeführt. Um kontrollierte Fertilität handelt es sich deshalb auch fast immer dann, wenn moderne Verhütungsmittel, wie z.B. Hormonpräparate oder Sterilisation, verwendet werden, die zu einem Ende der reproduktiven Phase nach Erreichen der gewünschten Kinderzahl führen. Es ist aber auch möglich, daß alternative Methoden, wie z.B. der Coitus interruptus, benutzt werden (Santow 1995, Coale 1986). Spacing, also die Verzögerung einer weiteren Schwangerschaft, kann innerhalb einer Population mit natürlicher Fertilität also durchaus verbreitet sein, stopping, also das bewußte Beenden der reproduktiven Phase nach erreichter, gewünschter Parität, hingegen auf keinen Fall. Ein Paradebeispiel für eine Population mit natürlicher Fertilität, die ausgiebiges spacing betreibt, sind die !Kung (Howell 1979). Vergleicht man die !Kung mit anderen Population mit natürlicher Fertilität zeigt sich weiterhin, daß das Niveau der Reproduktion, z.B. gemessen an der zusammengefaßten Geburtenziffer, unabhängig davon ist, ob es sich um eine Population mit natürlicher oder kontrollierter Fertilität handelt. Die !Kung haben eine ZGZ von 4,7 (Howell 1979: 124), die schon erwähnten Wampar von 7,3 (Schulze 1997: 146). Grund für diese Variationen zwischen Populationen mit natürlicher Fertilität sind Variationen innerhalb der proximaten Determinanten (vgl. Abbildung 6.1), wie z.B. verschiedene Stillpraktiken und unterschiedliche Abstinenzgebote (Bongaarts und Watkins 1996, Bongaarts 1983). Um zu ermessen, ob es sich um eine Population mit natürlicher Fertilität handelt, sind die Erkenntnisse, die über die Verlaufsform natürlicher Fertilität ermittelt werden konnten, das wichtigste Instrument. Über die Verlaufsform natürlicher Fertilität herrscht weitgehend Einigkeit, nämlich die typisch konvexe Ausprägung des Graphen für die altersspezifischen Geburtenziffern (Schulze 1997: 146, Knodel 1983). Die Standardverlaufsform natürlicher Fertilität ist für europäische Gesellschaften empirisch recht gut abgesichert (Coale 1986). Zur Überprüfung der Verlaufsform der Fertilität der Frauen Pueblo Nuevos bietet sich deshalb ein Vergleich mit Modellwerten an. Es wird das sogenannte Gompertz-Fertilitätsmodell zur Überprüfung verwendet, das sowohl von Schulze (1997: 147ff) als auch von Newell (1988: 175ff) gut beschrieben und dokumentiert worden ist. Gegeben sind die altersspezifischen Geburtenziffern, so wie sie Tabelle 6.1 zu finden sind, sowie Standardwerte, die von Booth stammen und das typische Verlaufsmuster von Fertilität bei Populationen mit hoher Fertilität wiedergeben (Newell 1988: 175). In einem ersten Schritt werden die altersspezifischen Geburtenziffern auf 1 normiert und dann von den normierten Werten die proportionalen Antei- 224 DAS GEPLANTE KIND le der jeweiligen Altersklasse errechnet, indem die einzelnen Werte durch die ZGZ dividiert werden. Diese proportionalen Anteile werden dann kumuliert und mit Hilfe der Gompertz Transformation linearisiert. 16 Die dabei entstehenden Werte werden von Newell (1988:175) als Gompit-Werte bezeichnet. Diese Gompit-Werte werden dann gegen die Standardwerte (Newell 1988: 175) in ein Koordinatensystem eingetragen. Mit Hilfe einer normalen linearen Regressionsgerade kann man nun die Parameter für α und β bezüglich der Anpassung der Standardwerte bestimmen. 17 Es ergibt sich ein α-Wert von –0,241, ein β-Wert von 0,999 und ein Wert von 0,9991 für r2. Um die Ergebnisse zu interpretieren, müssen diese Parameter der Regressionsgeraden in Beziehung zum Standard gesetzt werden (Newell 1988: 178). Ein negativer α-Wert von -0,241 besagt, daß die fertile Phase der betrachteten Frauen im Vergleich zum Standard später beginnt. Im Gegensatz zu diesem Ergebnis bedeutet z.B. ein α-Wert von über 0, daß die fertile Phase früher als der Standard beginnt; ein Wert von 0 entspräche dem Standard. Der β-Wert gibt den Grad der Verteilung der Werte an (Newell 1988: 178). Ein Wert von 1 entspricht dem Standard, ein Wert von über 1,5 bedeutet, daß die Verteilung der Fertilität extrem verdichtet ist, es sich also um eine Population mit einem späten reproduktiven Beginn sowie einem frühen reproduktiven Ende handelt. Der β-Wert von etwa 1 (0,999) bedeutet, daß, abgesehen von dem späten Höhepunkt der Fertilität, die Verteilung der Fertilität über die Altersklassen den Standardwerten entspricht. r2 sagt etwas über die Übereinstimmung der Werte aus. Ein Wert von 0,9991 besagt, daß die Empirie – die Gompit-Werte - in einer hohen Übereinstimmung mit den Standardwerten ist. Um nun die empirischen altersspezifischen Geburtenziffern mit Modellwerten vergleichen zu können, muß zunächst eine Rücktransformation erfolgen. Die Werte dieser Rücktransformation werden dann ‚entkumuliert‘ und ‚entnormalisiert‘, es werden also die gleichen Rechenschritte wie oben durchgeführt, nur in umgekehrter Form. Jetzt ist es möglich, die empirischen Werte mit dem Gompertz-Modell zu vergleichen (vgl. Abbildung 6.2). 16 Folgende Formel wird für die die Gompertz-Transformation verwendet: Gompit (p) = -ln(-ln(p)); wobei p der jeweilige proportionale Anteil ist. Die Formel für die Rücktransformation (siehe unten) ist folgendermaßen: p = exp(-exp(-Gompit)); wobei p der jeweilige proportionale Anteil ist. 17 Y(x) = α + β Ys(x); wobei Y(x) der Gompit Wert für eine Altersklasse x ist und Ys(x) der Standardwert für eine Altersklasse x ist. KAPITEL 6. DER FERTILE WANDEL 225 0,6 ASGZs (5 Jh.) 0,5 0,4 0,3 empirische Werte 0,2 Gompertz 0,1 0 15-19 20-24 25-29 30-34 35-39 40-44 Altersklassen Abbildung 6.2: Fertilitätsverlauf Frauen 45 Jahre und älter (N=56) Vergleicht man die beiden Kurvenverläufe, so zeigt sich, daß die empirischen altersspezifischen Geburtenziffern weitgehend dem Verlauf der Modellwerte entsprechen (vgl. Abbildung 6.2). Es gibt aber einige markante Abweichungen. Im Gegensatz zum Modell ist der Kurvenverlauf der empirischen Werte erheblich flacher - die betrachteten Frauen erreichen ihren reproduktiven Höhepunkt zwischen 20-24 Jahren und halten diesen dann die folgenden 15 bis 20 Jahre. Erst in der Altersklasse der 40- bis 44-jährigen gehen die empirischen Werte zurück. Der Standard hingegen konzentriert den Höhepunkt der Reproduktion in der Altersklasse der 25- bis 29-jährigen und nimmt dann leicht, aber beständig ab. Inwieweit es sich um Datenfehler handelt, ist schwer zu sagen. Die hier betrachteten Frauen hatten bei der Erhebung teilweise Probleme, sich an die genauen Geburtsjahre ihrer Kinder zu erinnern, doch konnten diese Erinnerungslücken fast immer mit Hilfe von Geburtsurkunden und dem direkten Befragen der Kinder behoben werden. Der extrem flache Kurvenverlauf entspricht auch dem, was Frauen in informellen Gesprächen immer wieder mitteilten. Befragt danach, wie denn Frauen ‚früher‘ ihre Kinder, also in welchen Abständen, bekommen hätten, sagten viele Frauen, wie z.B. die Informantin Gloria: „Alle zwei Jahre, bis Gott nicht mehr gewollt hat.“ (Feldnotiz Nr. 41 30/1/97). 226 DAS GEPLANTE KIND Aufgrund der bisher durchgeführten Analysen, also der Betrachtung der Paritäten und den daraus resultierenden ASGZs sowie den Ergebnissen des Gompertzmodells, können schon erste wichtige Erkenntnisse über das reproduktive Verhalten der Frauen mit abgeschlossener Fertilität erlangt werden. Sowohl die durchschnittliche Parität als auch die ZGZ sind extrem hoch, was schon vermuten läßt, daß es sich um eine Population mit natürlicher Fertilität handelt. Diese Vermutung kann durch die Ergebnisse des Gompertzmodells bestätigt werden. Eindeutig handelt es sich um einen konvexen Kurvenverlauf. Die Fertilität der hier betrachteten Frauen geht langsam aufgrund biologischer Ursachen zurück. Die Mehrheit dieser Frauen hat ihre Fertilität eindeutig nicht nach dem Erreichen einer gewünschten Parität limitiert. Es wurde schon festgestellt, daß die ZGZ mit durchschnittlich 10 Kindern pro Frau in Pueblo Nuevo auch für eine Population mit natürlicher Fertilität sehr hoch ist. Das ein so hohes Fertilitätsniveau erreicht wurde, liegt unter anderem an einem frühen Heiratsalter dieser Frauen, denn aufgrund ihres frühen Heiratsalters und frühen Alters bei erster Geburt haben diese Frauen auch eine lange reproduktive Phase (vgl. 6.1 und Abbildung 6.1). 1. Alter bei erster Geburt und Heiratsalter: Alle hier betrachteten Frauen haben nur einmal geheiratet. Elf der 51 Frauen waren im Jahr 1997 verwitwet, hatten aber nicht noch einmal geheiratet. 18 Im Alter von 18 Jahren waren mehr als die Hälfte und im Alter von 25 Jahren waren über 90% der Frauen verheiratet (∅ 18,7; std. 4,9; Median 18,0). Das Alter bei erster Geburt folgt zeitlich eng auf das Heiratsalter. Direkt im ersten Jahr ihrer Ehe haben die meisten Frauen auch ihr erstes Kind bekommen (∅ 19,6 Jahre; std. 3,7; Median 18,5). Diese Ergebnisse entsprechen dem, was auch für andere ländliche Regionen Mexikos beschrieben worden ist (Krause 1996: 155). In einer Untersuchung von 3000 in ländlichen Regionen lebenden Frauen Ende der siebziger Jahre schlossen nur 7% eine erste Verbindung im Alter zwischen 25 und 29 Jahren. 80% der Frauen waren hingegen vor ihrem 25. Lebensjahr verheiratet (Krause 1996: 155). Ein sehr geringer Prozentsatz war, wie auch in Pueblo Nuevo, unverheiratet. 19 Diese Umstände, ein frühes Heiratsalter, ein frühes Alter bei erster Geburt sowie ein großer Anteil an in Partnerschaft lebender Frauen, sind eine wichtige Ursache des hohen Fertilitätsniveaus der Frauen mit abgeschlossener Reproduktion in Pueblo Nuevo. 18 Von den 56 Frauen werden fünf Frauen nicht in die Berechnung des durchschnittlichen Heiratsalters einbezogen, da sie entweder unverheiratet waren (2 Frauen) oder nicht zu ihrem Heiratsalter befragt wurden (3 Frauen). 19 Unter 10% nach Krause (1996: 155), in Pueblo Nuevo nur 4% (2 von 56 Frauen). KAPITEL 6. DER FERTILE WANDEL 227 Die erste Komponente (Alter bei erster Geburt) und eine ihrer wichtigsten proximaten Determinanten (Heiratsalter, Abbildung 6.1) liegen also zeitlich relativ früh und nah beieinander. 2. Länge der Geburtenintervalle und Stillverhalten: Auch die Länge der Geburtenintervalle (die zweite Komponente, Abbildung 6.1) ist eine Ursache des hohen Fertilitätsniveaus. Die Verteilung aller 514 Geburtenintervalle, also der Zeitraum zwischen zwei Lebendgeburten, die diese Frauen hatten, zeigt eine deutliche Rechtsschiefe. 43% aller Geburtenintervalle waren Zweijahresintervalle, im Gegensatz zu 15% an Dreijahresintervallen. Dieses Ergebnis entspricht den Erkenntnissen von Schulze (1997: 154) für Populationen mit natürlicher Fertilität. Auffallend ist allerdings, daß verhältnismäßig viele Einjahresintervalle vorliegen (33% aller Geburtenintervalle). Dies liegt hauptsächlich daran, daß besonders die älteren Frauen sehr viele Kinder bekommen haben, die nach der Geburt verstarben. Außerdem kann es zwangsläufig zu Rundungsfehlern bei der Berechnung der Geburtenintervalle kommen, da nicht mit Monaten, sondern mit Jahren gerechnet wurde. Ein durchschnittliches Intervall von gut zwei Jahren (∅ 2,09; std. 0,25) 20 und wenig Variationen zwischen der Länge der einzelnen Geburtenintervalle erklärt auch, warum die empirische Kurve im Vergleich zu den Standardwerten des Gompertzmodells viel flacher ist. Im Gegensatz zu den Standardwerten ist die empirische Verteilung der Geburtenintervalle auch noch in höheren Altersklassen, vor allem den Altersklassen der 30- bis 34-jährigen und 35- bis 39-jährigen, fast identisch mit der Verteilung der jüngeren Altersklassen (vgl. Abbildung 6.2). Nach Bongaarts (1982), Nag (1983) und Wood (1994) ist die wichtigste proximate Determinante bei Populationen mit natürlicher Fertilität, die Einfluß auf die Länge der Geburtenintervalle hat, die Stillpraxis. 21 Nach einer Geburt ist eine Frau temporär unfruchtbar. Stillt diese Frau nicht, dann beträgt diese Phase im Durchschnitt nur 1,5 Monate, bei Stillen kann diese unfruchtbare Phase bis zu zwei Jahre nach der Geburt andauern (Bongaarts 1978: 115). Der Grund, warum eine Frau nach einer Geburt und bei andauerndem Stillen unfruchtbar ist, besteht in der Produktion eines Hormons, welches zur sogenannten „lactational amenhorrhoea“ (McNeilly 1995: 11, Bongaarts 1983: 108) führt. Diese nachgeburtliche Sterilität ist dann beendet, wenn die Frau ihren ersten Eisprung hat und wieder fruchtbar ist. 20 Bis zum zwölften (!) Geburtenintervall beträgt die durchschnittliche Intervallslänge zwei Jahre. In Pueblo Nuevo gibt es keine Abstinenztabus nach einer Geburt. Abstinenztabus, die ebenfalls die Länge der Geburtenintervalle beeinflussen können, wirken sich auf eine andere, hier nicht diskutierte proximate Determinante, die Koitusfrequenz, aus. 21 228 DAS GEPLANTE KIND In der Regel läßt sich dies daran erkennen, daß die Frau wieder menstruiert. 22 Die Phase der nachgeburtlichen Sterilität kann wie gesagt aufgrund bestimmter Stillpraktiken verlängert werden. Nach McNeilly (1995) und Bongaarts (1983) ist hierbei der wichtigste Faktor die Art und Weise wie, wie lange, wann und wie oft das Kind an der Brust saugt, denn aufgrund des Saugens des Säuglings an der Brustwarze wird die Produktion eines Hormons, welches den Eisprung verhindert, stimuliert (Bongaarts 1983: 108). Das Saugen an der Brust wird wiederum von einer Reihe weiterer Faktoren, vor allem dem Beifüttern von anderer Nahrung neben der Muttermilch, beeinflußt (Zohoori und Popkin 1996). Vereinfacht läßt sich sagen, daß die Wahrscheinlichkeit, daß Stillen einen verhütungsähnlichen Effekt hat, sich dann entscheidend erhöht, wenn: (a) Mindestens 6 Monate gestillt wird, besser noch länger (McNeilly 1995:11, Weiss 1993); (b) Stillen bei Bedarf praktiziert wird, also immer dann, wenn das Kind nach der Brust verlangt und nicht nach einem festgelegten Zeitplan (Mc Neilly 1995: 11, Zohoori und Popkin 1996); (c) Keine zusätzliche Nahrung beigefüttert wird (McNeilly 1995: 11, Nag 1983: 162f).23 Ihre Kinder zu stillen, war für die älteren Frauen sowohl eine Selbstverständlichkeit als auch eine Notwendigkeit. Um die Verzerrung aufgrund von Erinnerungsfehlern zu begrenzen, wurde das Stillverhalten nur hinsichtlich des letzten und bei einigen Fragen, vor allem der Frage, warum abgestillt wurde, auch des vorletzten Kindes detailliert erfragt. Daran anschließend wurde ermittelt, inwiefern das beschriebene Stillverhalten auch auf die anderen Kinder der Frau zutraf. Es waren wenige Abweichungen festzustellen, und man kann davon ausgehen, daß die überwiegende Mehrheit der Frauen eine bestimmte Form des Stillens beibehielt und somit die 22 Zu den Details vgl. McNeilly 1995, Weis 1993, Wood 1994, Zohoori und Popkin 1996. Diese Punkte sind auch die wichtigsten Anweisungen des sogenannten Bellagio Consensus, eines Konsenses über die Anweisungen zum Stillen als Familienplanungsmethode, den Vertreter der WHO und des UNO Kinder Fonds 1988 in Italien erarbeiteten. Die sich daraus ergebende empfohlene Strategie wird als „gemischte t-Strategie“ bezeichnet, wobei t die Zeit ist, in der bei einer bestimmten Form des Stillens, wie oben beschrieben, Stillen als Verhütung anzusehen und zu empfehlen ist. t soll nach Ergebnissen des Bellagio Konsensus sechs Monate nicht überschreiten und danach soll auf andere Verhütungsmittel zurückgegriffen werden (McNeilly 1995, Weis 1993, Zohoori und Popkin 1996). Zohoori und Popkin (1996) beschreiben noch weitere Faktoren, die einen Effekt auf das Saugen des Säuglings haben, wie beispielsweise, ob mit einer oder beiden Brüsten gestillt wird, doch liegen dazu keine Daten vor und deshalb werden diese Faktoren hier ausgeklammert. 23 KAPITEL 6. DER FERTILE WANDEL 229 Aussagen zum letzten Kind auf die anderen Kinder zu verallgemeinern sind. 24 Generell existiert im Dorf die Meinung, daß die Muttermilch über einen bestimmten Zeitraum hinweg die beste Nahrung für den Säugling ist. Einerseits bietet sie den unschlagbaren Vorteil, daß sie nichts kostet, andererseits bedarf sie keiner langen Vorbereitungen und steht dem Säugling, der überall hin mitgenommen werden kann, somit jederzeit, auch wenn die Mutter z.B. auf den Feldern arbeitet, zur Verfügung. Deshalb ist es nicht erstaunlich, daß von 48 Frauen mit abgeschlossener reproduktiver Phase 73% ihr letztes Kind gestillt haben. 25 Die anderen 27% Frauen stillten aus sehr unterschiedlichen Gründen ihr letztes Kind nicht. Z.B. gaben mehrere Frauen an, daß das Kind nicht gestillt werden wollte (30%). Weitere 15% der Frauen waren der Meinung, daß Flaschennahrung dem Stillen vorzuziehen ist, da sie ihrer Meinung nach hygienischer sei. Diese Frauen hatten ihre vorherigen Kinder allerdings sehr wohl gestillt. Alle 48 Frauen haben zumindest eines ihrer Kinder gestillt und die überwiegende Mehrheit hat alle Kinder gestillt. 26 83% der Frauen stillten ihr Kind nach Bedarf, also immer dann, wenn der Säugling die Brust verlangte, unabhängig davon, ob das während des Tages oder in der Nacht war. Allerdings begannen die Frauen verhältnismäßig früh, dem Kind neben der Muttermilch andere Nahrung zu geben (hauptsächlich tortillas). Nach fünf Monaten hatte mehr als die Hälfte der Frauen damit begonnen, beizufüttern. Nur 30% begannen mit dem Beifüttern erst nach 7 Monaten. Dies hängt sicherlich auch mit der verbreiteten Meinung zusammen, daß ungefähr ab dem sechsten Monat die Muttermilch zu ‚dünn’ wird. Mehrere Frauen berichteten, daß ihre Milch ungefähr nach sechs Monaten immer wäßriger werden würde und nach weiteren Monaten nur noch Wasser sei. 60% der Frauen stillten ihr Kind ab, indem sie dem Kind vermehrt oder ausschließlich andere Nahrung gaben. Teilweise geschah das von einem auf den anderen Tag, teilweise über mehrere Tage hinweg. Andere Praktiken, wie das Einreiben der Brust mit Asche, Chili und verschiedenen Kräutern scheinen eher individuelle Methoden des Abstillens zu sein und wurden nie von mehr als ein oder zwei Frauen verwendet. Im Schnitt stillten die Frauen knapp 14 Monate. Weniger als 12 Monate stillten nur wenige Frauen. Die meisten Frauen stillten zwischen 12 und 24 Monaten. Nur 24 Fragen zum Stillverhalten sind im zweiten Fragebogen gestellt worden (vgl. 3.2), der sich im Anhang (9.2) befindet. Alle Fragen zum Stillverhalten sind offene Fragen gewesen, die keine Antworten vorgegeben haben. Diese Fragen sind für die Auswertung kodiert worden. 25 Nicht alle 56 Frauen konnten über ihre Stillpraxis befragt werden. 26 Die weite Verbreitung des Stillens ist auch für andere Regionen Mexikos vor dem Beginn des fertilen Wandels beschrieben worden (Krause 1996: 156). 230 DAS GEPLANTE KIND eine Frau stillte ihr letztes Kind drei Jahre lang. Ein Kind zu lange zu stillen gilt als eine cochinada, eine Schweinerei, und es wird als sehr unpassend empfunden, wenn eine Mutter ihr Kind noch stillt, wenn es schon laufen kann, was bei der Mehrheit der Kinder mit 1 ½ bis 2 Jahren der Fall ist. Deshalb gaben auch 17% der Frauen an, daß sie abgestillt hätten, da ihr Kind zu groß oder zu alt gewesen sei. Die überwiegende Mehrheit (47%) gab allerdings an, daß sie das Stillen beendet hätten, da sie wieder schwanger geworden sei. 27 Zu stillen, wenn die Frau erneut schwanger ist, gilt für die älteren Frauen als inakzeptabel. Einerseits wird vermutet, daß es dem Embryo schaden kann. Durch ein Stillen während der Schwangerschaft wird dem Embryo seine Nahrung entzogen und es könnte zu einer Totgeburt kommen. Andererseits wird davon ausgegangen wird, daß es auch dem Säugling schadet, da dieser nicht mehr ‚gute’ Milch bekommt, sondern Milch, die immer wäßriger wird, da ja noch ein anderes ‚Kind mittrinkt’. 28 Da die Frauen fast alle nach Bedarf stillten, senkten sie das Risiko einer neuen Empfängnis zumindest in den ersten elf Monaten. Allerdings erhöhten sie das Risiko einer Empfängnis, da sie früh mit dem Beifüttern anderer Nahrung begannen. Doch scheint die Stillpraxis bis ungefähr zum 12. Monat einen verhütungsähnlichen Effekt gehabt zu haben. Hiermit erklärt sich auch, warum das Geburtenintervall im Schnitt 2 Jahre beträgt. Die meisten der Frauen sind um den 12. Monat nach der Geburt ihres Kindes wieder schwanger geworden. Vielen dieser Frauen ist der Zusammenhangs zwischen ihrem Stillverhalten und einer erneuten Schwangerschaft bewußt. 85% der Frauen gaben an, sie hätten schon von dem Zusammenhang zwischen Stillen und Verhütung gehört. Über die Hälfte dieser Frauen gab an, daß sie den Zusammenhang kennen und ihn für sich genutzt hätten (54%). Es kann also festgehalten werden, daß sich erstens die überwiegende Mehrheit der älteren Frauen so verhielt, daß ihr Stillverhalten einen verhütungsähnlichen Effekt zumindest im ersten Jahr nach der Geburt hatte und zweitens, daß sich wiederum die Mehrheit des Effekts bewußt war und ihn für sich nutzte. 3. Alter bei letzter Geburt und Verhütung: Auch die dritte Komponente – das Alter bei letzter Geburt (vgl. Abbildung 6.1) – entspricht generell dem, was für Populationen mit natürlicher Fertilität und hohem Fertilitäsniveau charakteristisch ist. Für Populationen mit natürlicher Fertilität ist das Ende der reproduktiven Phase im wesentlichen von physiologischen Ursachen 27 Diese Aussage bezieht sich auf das vorletzte Kind, siehe oben. Einige Frauen gaben auch an, daß bei einer erneuten Schwangerschaft die Milch zu puro sangre, purem Blut, wird und der Säugling daran stirbt. 28 KAPITEL 6. DER FERTILE WANDEL 231 abhängig. Verschiedene Untersuchungen haben ergeben, daß Populationen mit natürlicher Fertilität ihr Alter bei letzter Geburt im Schnitt zwischen 38 und 39 Jahren haben (Schulze 1997: 152). Die älteren Frauen Pueblo Nuevos haben im Durchschnitt ihr letztes Kind mit 40 Jahren (∅ 39,9; std. 5,3; Median 40,0) bekommen, was prinzipiell immer noch den Ergebnissen, die zu Populationen mit natürlicher Fertilität vorliegen, entspricht. Allerdings ist die recht hohe Standardabweichung von +/- 5,3 Jahren auffällig. Die wichtigste Erklärung dieser Abweichungen besteht darin, daß einige Frauen, die in den achtziger Jahren in ihren Dreißigern waren und deshalb Zugang zu Verhütungsmitteln hatten, diesen genutzt haben und ihr Alter bei letzter Geburt früher liegt. Knapp 30% der Frauen mit abgeschlossener reproduktiver Phase haben ein Verhütungsmittel verwendet, wobei es auffallend ist, daß mehr als die Hälfte dieser Frauen sich sterilisieren ließen, in einigen Fällen auch, nachdem die Frau vorher schon ein anderes Verhütungsmittel benutzt hatte. 29 Im Schnitt waren die Frauen zwischen 35 und 36 Jahre alt, als sie zu verhüten begannen. Sie hatten zwischen acht und neun Kinder. Die jüngeren Frauen der hier betrachteten Frauen mit abgeschlossener Reproduktion waren diejenigen, die Verhütungsmittel benutzten. Im Erhebungsjahr waren die ehemaligen Benutzerinnen oder heute sterilisierten Frauen im Schnitt 50 Jahre alt (∅ 50,2 Jahre; std. 3,6), was insofern nicht erstaunlich ist, als es ja auch nur die jüngeren Frauen sind, denen Verhütungsmittel überhaupt zur Wahl standen. 30 Für die Frauen mit abgeschlossener reproduktiver Phase wurde zu Beginn dieses Abschnittes eine zusammengefaßte Geburtenziffer von 10,34 ermittelt. Doch wie Lang (1993) zurecht kritisiert, ist die zusammengefaßte Geburtenziffer, wenn auch sehr populär und verbreitet in Demographie und Ethnodemographie, trotzdem ein artifizielles Konzept: „Es ist fern von allem, was ‚normale Sterbliche’ von der Fer- 29 Daten zur Verwendung von Verhütungsmitteln konnten nur von 48 Frauen erfragt werden. Frauen, die kein Verhütungsmittel benutzt haben, waren 1997 im Schnitt 62 Jahre (61,9) alt. Natürliche Verhütungsmittel, wie Tees oder Kräuter, waren wenig bekannt und wurden nach Angaben der Frauen fast nicht verwendet. Ob Frauen noch vor zwanzig Jahren mehr Wissen über natürliche Verhütungsmittel hatten und dieses Wissen im Laufe der Zeit immer weiter in den Hintergrund gedrängt und u.U. sogar vergessen wurde, oder ob die älteren Frauen mir, da ich mit der lokalen Gesundheitsklinik affiliert war und deshalb auch mehr mit westlicher Medizin in Verbindung gebracht wurde, über ihr alternatives Wissen nicht berichten wollten, kann nicht beurteilt werden. Auffällig ist allerdings, daß die meisten älteren Frauen über moderne Methoden informiert sind und ihr Wissen vor allem von ihren Schwiegertöchtern und Töchtern sowie verschiedenen Ärzten, vor allem der lokalen Gesundheitsklinik in Solís, haben. 30 232 DAS GEPLANTE KIND tilität begreifen und es hat vor allem auch keinen Bezug zum kulturellen Handeln, das ja der Fertilität keineswegs ungesteuert freien Lauf läßt.“ (Lang 1993: 125). Im Gegensatz dazu sind die hier diskutierten Komponenten von Fertilität, also das Alter bei erster und letzter Geburt sowie die Geburtenintervalle, für die Individuen tatsächlich nachvollziehbar und stellen die Bereiche der Reproduktion dar, die beeinflußt werden können. Aus diesen Erkenntnissen hat Lang ein Fertilitätsmaß entwickelt, daß neben den drei Komponenten von Fertilität auch den Prozentsatz primär steriler Frauen berücksichtigt, also Frauen, die gegen Ende ihrer reproduktiven Phase eine Parität von null haben. Dieses Maß zur Gesamtfertilität einer Population nennt Lang (1993) zusammengefaßte Intervallfertilität (ZI): ZI = (1-PS) * (((ALG-AEG) / GI) +1) wobei PS der Prozentsatz primär steriler Frauen einer Population ist, ALG das durchschnittliche Alter bei letzter Geburt, AEG das durchschnittliche Alter bei erster Geburt und GI die durchschnittliche Länge der Geburtenintervalle ist (Lang 1993: 126). Setzt man die Werte für die Frauen Pueblo Nuevos mit abgeschlossener Reproduktion ein, ergibt sich eine ZI von 10,29, ein Wert, der nur um 0,05 von der ZGZ abweicht. Zur Beschreibung der Fertilität ist dieses Maß für die älteren Frauen Pueblo Nuevos also geeignet, da es die unterschiedlichen Effekte der einzelnen Komponenten zeigt. Das Alter bei erster Geburt respektive das Heiratsalter variieren nur sehr wenig zwischen den Frauen. Auch das Stillverhalten, die wichtigste proximate Determinante zur Erklärung der Länge der Geburtenintervalle, ist recht einheitlich. Das Alter bei letzter Geburt variiert am stärksten. Dies läßt sich mit hoher Gewißheit auf die Verbreitung von Verhütungsmitteln zurückführen, die einige der Frauen gegen Ende ihrer reproduktiven Phase auch verwendeten. Trotzdem ist die Fertilität der älteren Frauen mit Einschränkungen als natürliche Fertilität mit einem sehr hohen Fertilitätsniveau zu beschreiben, wie vor allem die Ergebnisse des Gompertzmodells gezeigt haben. KAPITEL 6. DER FERTILE WANDEL 6.3 233 Wandel der Fertilität (≈1970- ) Diese Form fertilen Verhaltens, mit einem frühen Heiratsalter und Alter bei erster Geburt, kurzen Geburtenintervallen und relativ spätem Alter bei letzter Geburt, hat sich grundlegend seit ungefähr Mitte der siebziger Jahre verändert. Auch in den ländlichen Regionen begannen, zeitlich etwas später als in den urbanen Zentren des Landes, die Geburtenziffern zu sinken, was zunächst vor allem an den Veränderungen der dritten Komponente, dem Alter bei letzter Geburt, lag, wie es auch schon im vorangegangenen Abschnitt deutlich wurde. 6.3.1 Der fertile Wandel Mexikos seit den siebziger Jahren Schon die ethnographische Beschreibung hat gezeigt, daß zu Beginn der siebziger Jahre die bis dahin als mehr als ausreichend wahrgenommenen wirtschaftlichen Kapazitäten und Ressourcen Mexikos stark ausgeschöpft waren. Die Konsequenzen dieser wirtschaftlichen Situation, vor allem eine immer stärker werdende Arbeitsmigration in die Metropolen des Landes, machten eine Umkehr der nationalen, pronatalistischen Bevölkerungspolitik mehr als zwingend. Diese Umorientierung erfolgte tatsächlich Mitte der siebziger Jahre. Allerdings ist mehrfach zurecht darauf hingewiesen worden, daß der Beginn des fertilen Wandels nicht nur auf diesen institutionellen und politischen Wandel zurückzuführen ist, denn die Fertilitätsziffern für einen Teil der Bevölkerung (in den urbanen Zentren lebende Paare mit einer guten Schulbildung) sanken schon vor den, in großem Rahmen durchgeführten, staatlichen Familienplanungsmaßnahmen (Moreno 1991: 161, Krause 1996: 165). Für ganz Mexiko läßt sich der fertile Wandel wie folgt beschreiben. Generell wird die Mitte der siebziger Jahre als Beginn des fertilen Wandels angesehen (Alba und Potter 1986, Mier y Terán 1996, Moreno 1991, Krause 1996). Zwischen 1970 und 1974 ist die zusammengefaßte Geburtenziffer um 11% gesunken und die Intensität dieses Rückganges hat in den folgenden Jahren sogar noch zugenommen, wie Tabelle 6.2 zeigt: DAS GEPLANTE KIND 234 Jahre Rückgang (%) Altersklasse 1970 1974 1978 1982 1986 15-19 20-24 25-29 30-34 35-39 40-44 ZGZ (15-44) 126 308 326 280 196 110 6,8 105 290 302 256 178 83 6,1 132 242 229 189 140 64 5,0 105 229 194 155 116 45 4,2 84 202 203 143 97 34 3,8 Rückgang zw. Zeitpunkten (%) 11% 18% 15% 1970-1986 33 34 38 49 51 69 44 10% Quelle: Mier y Terán 1996: 326. Die altersspezifischen Geburtenziffern beziehen sich auf 1000 Frauen. Tabelle 6.2: Altersspezifische Geburtenziffern und zusammengefaßte Geburtenziffern, Mexiko, 1970-1986 Zwischen 1970 und 1986 ist die zusammengefaßte Geburtenziffer um 44% von 6,8 auf 3,8 gesunken. Eindeutig ist zu erkennen, daß vor allem die Frauen älterer Altersklassen ihr fertiles Verhalten verändert haben. In den drei letzten Altersklassen haben sich die altersspezifischen Geburtenziffern um 50% oder mehr, in der Altersklasse der 40- bis 44-jährigen sogar um 69% reduziert. Der fertile Wandel ist aber nicht homogen verlaufen, denn bestimmte Bevölkerungsgruppen weichen bis heute signifikant von den Durchschnittswerten ab. Zu Beginn des fertilen Wandels Anfang der siebziger Jahre (1972-6) hatten Frauen, die in ländlichen Regionen lebten, im Schnitt acht Kinder am Ende ihrer reproduktiven Phase, wohingegen Frauen aus urbanen Regionen nur sechs Kinder hatten (Mier y Terán 1996: 326). Mitte der achtziger Jahre (1984-1986), als Konsequenz unterschiedlicher Intensität und Geschwindigkeit des fertilen Rückganges, war die Differenz zwischen den ZGZs sogar noch größer. Frauen aus ländlichen Regionen hatten sechs Kinder im Gegensatz zu Frauen aus urbanen Regionen, die nur noch drei Kinder hatten. Hinsichtlich der drei Komponenten von Fertilität – Alter bei erster Geburt, Geburtenintervalle und Alter bei letzter Geburt – zeigt sich eindeutig, daß vor allem ein früheres Alter bei letzter Geburt und somit eine verkürzte reproduktive Phase Ursache des Geburtenrückganges ist (Mier y Terán 1996: 328). Dies steht damit in direktem Zusammenhang, daß vor allem Frauen der Altersklassen über 30 Jahren entschieden ihr fertiles Verhalten geändert haben. Das Alter bei erster Geburt hingegen hat sich wenig verändert (Mier y Terán 1996: 327). Die ersten Geburtenintervalle, ungefähr bis zum vierten Kind, variieren ebenfalls kaum, doch zeigen sich KAPITEL 6. DER FERTILE WANDEL 235 Tendenzen, Kinder höherer Paritäten, ungefähr ab dem vierten Kind, in größeren Abständen zu bekommen. Wiederum sind es hauptsächlich Frauen mit schon mehreren Lebendgeburten und über 30 Jahren, die in dieser Form ihre Geburtenintervalle verlängern (Mier y Terán 1996: 327). Die proximaten Determinanten Heiratsalter und Stillverhalten werden als nicht ursächlich für den fertilen Wandel in Mexiko angesehen und haben sich nur sehr wenig, wie auch das Alter bei erster Geburt, geändert, ohne daß eine klare Tendenz erkennbar wäre (Moreno und Singh 1996: 117, Rosero-Bixby 1996: 147). 31 Das Heiratsalter liegt fast gleichbleibend bei durchschnittlich ungefähr 20 Jahren ebenso wie das Alter bei erster Geburt ein Jahr später (Mier y Terán 1996: 327). Auch hat sich der Anteil an in Partnerschaft lebenden Frauen fast nicht gewandelt. Nach Mier y Terán (1996: 327) waren zu Beginn der neunziger Jahre nur 5% gegen Ende ihrer reproduktiven Phase unverheiratet und nur 7% hatten niemals eine Lebendgeburt. Trotzdem variieren diese proximaten Determinanten, wenn man die Population nach Wohnort und Schulbildung unterteilt. 50% der Frauen, die in ländlichen Regionen leben, heiraten vor dem 18. und bekommen ihr erstes Kind vor ihrem 20. Lebensjahr. Im Gegensatz dazu liegen die Werte für Frauen, die in urbanen Regionen leben, vier, bzw. drei Jahre später (Median Heiratsalter 22 Jahre, Median Alter bei erster Geburt 23 Jahre; Mier y Terán 1996: 326). Ähnliche Abweichungen ergeben sich, wenn man Frauen ohne Schulbildung mit Frauen, die die secundaria besucht haben, vergleicht (Mier y Terán 1996: 327). Über die ausschlaggebende proximate Determinante für den fertilen Wandel Mexikos besteht in der Literatur kein Zweifel: „Change in contraceptive practice appears to account for the bulk of the measured fertility decline.“ (Alba und Potter 1986: 63, ebenso Mier y Terán 1996: 327, Krause 1996: 170, Moreno 1991: 60, Moreno und Singh 1996: 117). Der Einfluß der proximaten Determinante Abtreibung kann bis heute nicht beurteilt werden, was sicherlich damit zusammenhängt, daß Abtreibung bis heute gesetzlich verboten und tabuisiert ist. 32 Die Zunahme an Frauen, die mit der Benutzung eines Verhütungsmittels Mitte der siebziger Jahre 31 Entgegen Mier y Terán (1996) schreibt Krause (1996: 177) allerdings, daß sich die Zeit, die eine Frau ihr Kind stillt, verkürzt hat. Dies könnte u.U. bedeuten, daß die Fertilität sogar ansteigt, wie Nag (1980) gezeigt hat, wenn es nicht eine andere proximate Determinante gibt, die diesen Effekt begrenzt oder sogar umkehrt (wie Verhütung). Eben dies ist in Mexiko der Fall. 32 Nach Paxman et al. (1993) gibt es allerdings zwei Indikationen, bei denen eine legale Abtreibung möglich ist – bei Gefahr des Lebens der Mutter und bei Vergewaltigung und Inzest. Versuche, Aussagen über die Verbreitung von (illegalen) Abtreibungen z.B. anhand von Klinikdaten (Behandlung von Frauen nach Abtreibungen) zu machen, finden sich bei Frejka und Atkin (1996), Paxman et al. (1993) und Singh und Sedgh (1997). DAS GEPLANTE KIND 236 begannen, ist ebenso stark wie der schon oben beschriebene fertile Rückgang. Innerhalb von nur 15 Jahren stieg der Prozentsatz an verhütenden Frauen von 30% im Jahr 1986 auf über 60% im Jahr 1992. Doch wie auch schon die Stadt/Landunterschiede hinsichtlich des fertilen Rückgangs gezeigt haben, sind und waren es mehr Frauen aus urbanen Regionen, die Verhütung verwenden, bzw. verwendet haben (vgl. Tabelle 6.3). Verwendung von Verhütungsmittel (%) Ländliche Regionen Urbane Regionen Gesamt Quelle: Krause 1996: 180 1976 1979 1982 1987 1992 15,9 45,7 27,4 55,1 38,0 57,9 32,5 61,5 44,6 70,1 30,2 37,8 47,7 52,7 63,1 33 Tabelle 6.3: Prozentualer Anteil verheirateter Frauen im reproduktiven Alter, die ein Verhütungsmittel benutzen; Mexiko 1977-1987 Hinsichtlich des Gebrauchs bestimmter Verhütungsmethoden zeigen sich seit den achtziger Jahren ebenfalls Veränderungen. Generell kann festgehalten werden, daß Verhütung fast ausschließlich von Frauen praktiziert wird. 34 Waren Ende der siebziger Jahre vor allem hormonelle Methoden, wie die Pille und Injektionen, weit verbreitet, so liegt seit den achtziger Jahren die Sterilisation an erster Stelle (Alba und Potter 1986: 63, Mier y Terán 1996: 328, Krause 1996: 182). Die Popularität der Pille in den siebziger Jahren lag vor allem daran, daß sie innerhalb der staatlichen Familienplanungsprogramme sehr propagiert und massiv kostenlos verteilt wurde. Dies änderte sich in den achtziger Jahren. Die staatlichen Gesundheitseinrichtungen gingen stärker dazu über, Frauen, die schon viele Kinder hatten, nach der Geburt eines Kindes davon zu überzeugen, sich sterilisieren zu lassen. Allerdings wurden nicht alle Sterilisationen mit dem Einverständnis der Frau durchgeführt. Nach Krause (1996: 183) wurden 1987 13% der Sterilisationen ohne Einver33 Wie auch schon bei anderen Daten (vgl. 6.2 zum Bevölkerungswachstum) variieren die Quellen hinsichtlich der Prozentangaben, was daran liegt, daß einerseits Daten unterschiedlicher Erhebungen verwendet werden, andererseits die Auswahl der betrachteten Frauen (entweder Frauen im reproduktiven Alter oder nur Frauen, die in einer Beziehung leben) variiert. Allerdings stimmen alle Quellen in den generellen Tendenzen überein. Unter ländlichen Regionen werden Gemeinden mit weniger als 2500 Einwohnern verstanden. 34 Der Prozentsatz an Männern, die eine Form von Verhütung praktizierten, lag in verschiedenen Untersuchungen und zu verschiedenen Zeitpunkten nie höher als 7% (Llera 1990: 539). Bei den drei von Männern praktizierten Verhütungsmethoden handelt es sich um die männliche Sterilisation (Vasektomie), das Kondom und den Coitus interruptus. KAPITEL 6. DER FERTILE WANDEL 237 ständnis der Frau vorgenommen, allerdings wird die Quelle dieser Zahl nicht genannt. Trotzdem ist sie nicht unrealistisch, denn auch mehrere Frauen Pueblo Nuevos berichteten davon, daß sie über ihre Sterilisation vorab nicht informiert worden sind. Wurde die Pille 1976 noch von 35,9% der Anwenderinnen benutzt, ist ihr Anteil im Jahr 1992 auf 15,3% gesunken. Im Gegensatz dazu stieg der Anteil an sterilisierten Frauen von 8,9% im Jahr 1976 auf 43,3% im Jahr 1992 (Krause 1996: 183). Viele der sterilisierten Frauen haben vor ihrer Sterilisation kein anderes Verhütungsmittel benutzt. Für Mier y Terán (1996: 328) sind dies klare Anzeichen dafür, daß Familienplanung in Mexiko eine Methode des stopping und nicht des spacing ist. Sie faßt die wesentlichen Merkmale des fertilen Wandel in ganz Mexiko folgendermaßen zusammen: „This shows that in Mexico, contraception is used more to limit family size than for birth-spacing. These findings further substantiate the fact that family formation patterns have mostly changed with respect to the size of women’s completed families and their age at last birth, since birth intervals at early orders have not changed significantly.“ (Mier y Terán 1996: 328). Bevor der Frage nachgegangen wird, wie dieser fertile Wandel über die proximaten Determinanten hinaus zu erklären ist, wird im folgenden die Entwicklung des fertilen Verhaltens in Pueblo Nuevo dargestellt. 6.3.2 Der fertile Wandel Pueblo Nuevos seit den siebziger Jahren Um einen ersten Eindruck des fertilen Verhaltens in Pueblo Nuevo zu bekommen, wird zunächst der Frage nachgegangen, inwieweit sich die Anzahl der Geburten relativ zu der Anzahl der Frauen über die Zeit hinweg verändert hat. Für fünf Zeitperioden von jeweils zehn Jahren, wobei die erste Periode 1947 beginnt, die letzte Periode 1996 endet, wurde die sogenannte general fertility rate (Newell 1988: 38), die allgemeine Fertilitätsrate, berechnet (vgl. Abbildung 6.3). 35 35 Die Berechnung ist relativ einfach - innerhalb einer bestimmten Zeitperiode wird die Anzahl aller in dieser Periode stattgefundenen Geburten durch die Anzahl aller Frauen, die in dieser Periode zwischen 15 und 44 Jahre alt waren, dividiert. Es werden also die Geburten der Periode in ein Verhältnis zu den potentiellen Müttern der Population gesetzt. Wie in der Demographie üblich, handelt es sich bei den betrachteten Geburten immer um Lebendgeburten (vgl. Höhn et al. 1987: 106). DAS GEPLANTE KIND 238 3 2,5 GFR 2 1,5 1 0,5 0 1947-56, n=30 1957-66, n=52 1967-76, n=84 1977-86, n=130 1987-96, n=215 Zeit Abbildung 6.3: General Fertility Rate, Pueblo Nuevo, 1947-1996 36 Ein Rückgang ist deutlich zu erkennen. Die Ziffer geht, besonders seit den 70er Jahren, vor allem aber in den achtziger Jahren, stetig zurück. Frauen, die potentiell Mütter sein könnten, bekommen folglich im Zeitvergleich weniger Kinder. Dieses Ergebnis zeigt schon die erste Parallele zur generellen Entwicklung der Fertilität in Mexiko. Die periodische Betrachtung ist aber noch zu generell, denn sie zeigt nur, daß ein Rückgang stattgefunden hat und wann er beginnt. Darüber hinaus ist aber nicht festzustellen, wer sein Verhalten geändert hat. Der Vergleich mehrerer Geburtskohorten hilft hier weiter. 36 Innerhalb der Demographie und auch der Ethnodemographie gibt es verschiedene Möglichkeiten, Fertilität zu messen. Grob lassen sich die verschiedenen Ansätze in zwei Gruppen gliedern entweder betrachtet man alle Frauen und deren fertiles Verhalten hinsichtlich eines festgelegten Zeitpunkts respektive innerhalb einer Zeitperiode, oder man befaßt sich mit den reproduktiven Geschichten einer Gruppe von Frauen, die im gleichen Zeitintervall geboren wurden oder heirateten, also eine Alterskohorte bilden (Glenn 1977, Newell 1988, Ryder 1983). Die schon diskutierten altersspezifischen Geburtenziffern sind ein Beispiel für eine Kohortenbetrachtung, die general fertility rate ist ein Beispiel für eine periodische Betrachtung. KAPITEL 6. DER FERTILE WANDEL 239 Für sechs Geburtskohorten werden altersspezifische Geburtenziffern (vgl. 6.2.1) berechnet, und die Ergebnisse hinsichtlich der Altersklassen verglichen. 37 Vier Altersklassen werden gegenübergestellt - die 10- bis 19-jährigen, die 20- bis 29jährigen, die 30- bis 39-jährigen und die 40- bis 49-jährigen. Es wurden zehn Jahresintervalle gewählt, da bei fünf Jahresintervallen die Fallzahlen zu gering sind. Insgesamt wird das fertile Verhalten von 311 Frauen betrachtet. 38 0,5 0,45 ASGZ 10 Jahre 0,4 0,35 0,3 10- bis 19-jährige 20- bis 29-jährige 30- bis 39-jährige 0,25 40- bis 49-jährige 0,2 0,15 0,1 0,05 0 1947 1957 1967 1977 1987 1997 Zeit Abbildung 6.4: Fertilitätsverlauf der Altersklassen über die Zeit, Pueblo Nuevo, 1947-1997 Auf der y-Achse finden sich die altersspezifischen Geburtenziffern. Die Kurven zeigen das reproduktive Verhalten der jeweiligen Altersklassen im Zeitverlauf. Die Kurven sind nicht alle gleich lang. Die einzige vollständige Kurve ist die Altersklasse der 10- bis 19-jährigen. Alle Frauen haben diese Altersklasse durchlebt, ob das nun 1947 oder 1977 war. Anders sieht es mit der darauffolgenden Altersklasse, 37 Die Berechnung der altersspezifischen Geburtenziffern wurde mit dem Programm ASGZ (Lang 1995b) durchgeführt. 38 Im Gegensatz zu vorangegangenen Analysen werden hier Frauen ab einem Alter von 10 Jahren ausgewählt (vgl. 3.2). Neun Frauen werden nicht in die Darstellung miteinbezogen, da sie vor Beginn der ersten hier betrachteten Geburtskohorte, also vor 1928, geboren wurden. DAS GEPLANTE KIND 240 den 20- bis 29-jährigen, aus. Hier fehlt der erste Abschnitt der Kurve. Da der Zensus nur zu einem Zeitpunkt erhoben wurde, sind nur fünf Frauen 1947 schon 20 bis 29 Jahre alt. Diese Fallzahl ist sehr gering und aus diesem Grund wurde diese Kohorte nicht mehr in die Betrachtung mit einbezogen. Mit dem gleichen Prinzip erklärt sich die Länge der anderen Kurven. Die Kurve der Altersklasse der 10- bis 19-jährigen sinkt im Vergleich zu den anderen Kurven nur wenig. Frauen, die 1947 zwischen 10 und 19 Jahre alt waren, scheinen im Schnitt ähnlich viele Kinder bekommen zu haben, wie ihre Töchter 1967 und deren Töchter 1987 im gleichen Alter. Viele Kinder bekommen die Frauen dieser Altersklasse im Schnitt noch nicht, was besonders deutlich wird, wenn man sich das Verhalten der darauffolgenden Altersklassen, der 20- bis 29-jährigen Frauen, ansieht. Der Wert steigt fast um das Dreifache. Hier zeigt sich auch eine Verschiebung des Höhepunktes der Reproduktion. Bis 1987 liegt der Höhepunkt der Reproduktion bei der Altersklasse der 30- bis 39-jährigen, dann verschiebt er sich und ist ab 1987 bei der Altersklasse der 20- bis 29-jährigen zu finden. Eine ähnliche Verjüngen der Reproduktion hat auch schon die Fertilitätsentwicklung in ganz Mexiko gezeigt (vgl. Tabelle 6.2). Daß die Geburtenzahl abgenommen hat, wurde schon belegt. Jetzt kann gezeigt werden, welche Altersklassen im wesentlichen diesen Wandel bewirkt haben. Am stärksten haben die Frauen über 30 Jahren ihr reproduktives Verhaltens geändert. Betrachtet man nur die Jahre des Wandels, also beginnend in den siebziger Jahren, so zeigt sich, daß die Frauen der Altersklasse zwischen 30 und 39 Jahren ihre Fertilität um 69% reduziert haben, die Frauen der Altersklasse zwischen 40 und 49 Jahren sogar um 83% (vgl. Tabelle 6.4). Jahre Rückgang (%) Altersklasse 1977 1987 1997 1977-1997 10-19 20-29 30-39 40-49 0,068 0,352 0,448 0,208 0,080 0,280 0,267 0,145 0,032 0,212 0,143 0,035 53% 39% 69% 83% Tabelle 6.4: Altersspezifische Geburtenziffern Pueblo Nuevo, 1977-1997 Frauen der beiden jüngeren Altersklassen haben in erheblich geringerem Ausmaß ihr reproduktives Verhalten geändert. Die 20- bis 29-jährigen zeigen den geringsten Rückgang. Daß gerade diese Altersklasse ihr reproduktives Verhalten wenig änderte, hingegen die Frauen der beiden älteren Kohorten ihr reproduktives Verhalten KAPITEL 6. DER FERTILE WANDEL 241 stark wandelten, läßt vermuten, daß in Pueblo Nuevo ähnlich wie in ganz Mexiko, der fertile Wandel weniger durch spacing, also der Verlängerung der Geburtenintervalle, sondern viel mehr durch stopping, einem früheren Endes der reproduktiven Phase, zu erklären ist. Das Alter bei erster Geburt hat sich höchstwahrscheinlich, auch hier den nationalen Entwicklungen entsprechend, wenig geändert. Und auch die Geburtenintervalle, vor allem der niedrigeren Paritäten, dürften wenige Variationen aufweisen, denn gerade die Altersklasse der 20- bis 29-jährigen hat ihr reproduktives Verhalten kaum geändert. Kohorte N (gesamt) Frauen mit mind. 1 Geburt ∅ Alter bei erster Frauen mit mind. 1 Geburt Geburtenintervall ∅ Länge des Intervalls 1928-1937 1938-1947 1948-1957 1958-1967 1968-1977 1978-1987 12 20 33 49 80 117 11 18 32 42 66 9 17,8 (2,8) 18,8 (3,5) 21,9 (4,7) 20,6 (3,7) 19,1 (2,3) 16,8 (1,6) 11 18 31 40 47 1 2,07 (0,5) 2,19 (0,4) 2,73 (1,9) 3,11 (1,8) 1,95 (0,7) Summe/∅ 311 178 19,6 (1,6) 148 2,41 (0,5) Tabelle 6.5: Alter bei erster Geburt und durchschnittliche Geburtenintervalle, Pueblo Nuevo 39 Das Alter bei erster Geburt unterlag im Laufe der Zeit leichten Schwankungen, im wesentlichen gruppieren sich die Werte aber um den Mittelwert (vgl. Tabelle 6.5). Wie in ganz Mexiko scheint eine Verschiebung des Alters bei erster Geburt nicht zu beobachten zu sein. Die Geburtenintervalle hingegen variieren stärker und es scheint eine Tendenz zu bestehen, die Abstände zwischen den Geburten zu verlängern. Diese Veränderung beginnt mit der Kohorte der zwischen 1948 und 1957 geborenen Frauen, also Frauen, die Ende der siebziger Jahre in ihren Zwanzigern waren und dann in den achtziger Jahren als erste die Möglichkeit hatten, die neu zur Verfügung stehenden Verhütungsmittel zu nutzen. Insofern scheint es also auch spacing Mechanismen zu geben. Es ist aber zu vermuten, daß hauptsächlich Frauen mit höheren Paritäten auch ihre Geburtenabstände verlängert haben, denn wie Abbildung 6.4 und Tabelle 6.4 gezeigt haben, haben die Frauen der Altersklasse zwischen 20 bis 29 Jahren ihr reproduktives Verhalten am wenigsten geändert. Nur 39 Bei allen Durchschnittsangaben findet sich die Standardabweichung in Klammern hinter dem angegebenen Wert. In der Kohorte 1978-1987 gibt es nur 9 Geburten insgesamt. Das durchschnittliche Alter bei erster Geburt ist daher problematisch. Bei der Berechnung des durchschnittlichen Alters bei erster Geburt für alle Kohorten wurde diese Kohorte deshalb ausgeklammert. 242 DAS GEPLANTE KIND der Wert für die jüngste Kohorte (1968-1977, also Frauen, die 1997 zwischen 20 und 29 Jahren waren) fällt aus dem Trend der Verlängerung der Geburtenintervalle heraus (letzte Spalte von Tabelle 6.5). Dies unterstützt die Vermutung, daß Frauen der jüngeren Altersklasse erst eine bestimmte Anzahl an Kindern in kurzen Abständen bekommen, bevor sie mit einer Kontrolle ihrer Fertilität beginnen. Insofern sind ihre Geburtenintervalle sehr kurz. Eine Verlängerung der Abstände zwischen den Geburten wird sich für diese Kohorte erst in den folgenden Jahren bemerkbar machen. Das Alter bei letzter Geburt, die dritte Komponente von Fertilität, läßt sich nicht mit Hilfe der bisher verwendeten Kohorten analysieren, da nur drei der Kohorten und dort auch nicht alle Frauen - in Frage kommen. Aus diesem Grund werden einerseits nur Frauen betrachtet, die 1997 mindestens 45 Jahre alt waren und andererseits Frauen, die sich sterilisieren ließen. 1997 waren 54 Frauen mindestens 45 Jahre oder älter . 40 Weitere 16 Frauen waren noch nicht 45 Jahre alt, aber sterilisiert, womit das Alter bei letzter Geburt ebenfalls eindeutig zu ermitteln ist. Schon unter 6.2.1 ist das durchschnittliche Alter bei letzter Geburt für alle Frauen, die ihre reproduktive Phase abgeschlossen haben, berechnet worden (∅ 39,9; std. 5,3; Median 40,0). In diesem Zusammenhang ist festgestellt worden, daß die hohe Standardabweichung vermuten läßt, daß durch den fertilen Wandel gerade das Alter bei letzter Geburt sich verändert hat. Dies steht auch in Einklang zu den bisher in diesem Abschnitt ermittelten Erkenntnissen, daß gerade Frauen über 40 Jahren in ganz Mexiko und in Pueblo Nuevo ihr fertiles Verhalten besonders stark verändert haben. Um diesen Wandel zu erfassen, werden die Frauen mit abgeschlossener Fertilität in drei Geburtskohorten unterteilt. Seit Ende der siebziger Jahre ist es auch in Pueblo Nuevo möglich, Verhütungsmittel zu erhalten. Frauen, die ihre reproduktive Phase vor Ende der siebziger Jahre abgeschlossen haben, bilden die erste Kohorte. In der zweiten Kohorte befinden sich Frauen, die die Innovation Verhütung Ende der siebziger Jahre noch gegen Ende ihrer reproduktiven Phase miterlebt haben. Die letzte Kohorte besteht aus Frauen, die während eines Großteils ihrer reproduktiven Phase zumindest die Möglichkeit hatten, ihre Fertilität zu kontrollieren. 40 Insgesamt handelt es sich um 56 Frauen, die 1952 oder davor geboren wurden. Zwei dieser Frauen hatten aber eine Parität von null und folglich keine Geburt und auch kein Alter bei letzter Geburt (vgl. 6.2.1). Diese beiden Frauen werden hier ausgeklammert. KAPITEL 6. DER FERTILE WANDEL Kohorte 1898 – 1932 1933 –1942 1943 – 1952 Summe/∅ Sterilisierte Frauen unter 45 243 Anzahl Frauen ∅ Alter bei letzter Geburt 17 12 25 42,0 (6,7) 41,7 (2,8) 37,6 (4,2) 54 39,9 (5,3) 16 30,2 (5,1) Tabelle 6.6: Alter bei letzter Geburt, Pueblo Nuevo Die reproduktive Phase verkürzt sich, da das Alter bei letzter Geburt früher liegt (vgl. Tabelle 6.6). Die hohe Standardabweichung der ältesten Kohorte, also jene Frauen, die schon vor Ende der siebziger Jahre ihre reproduktive Phase abgeschlossen haben, erklärt sich damit, daß es in dieser Kohorte mehrere Witwen gibt, die nicht wieder geheiratet haben. Die meisten der sterilisierten Frauen (elf der sechzehn Fälle) sind zwischen 35 und 44 Jahre alt. Es erscheint sehr wahrscheinlich, daß sich die reproduktiven Phasen der Frauen in den nächsten Jahren noch mehr verkürzen werden, wenn man bedenkt, daß von den 37 Frauen zwischen 35 und 44 Jahren schon knapp 30% sterilisiert sind. Auch dieses Ergebnis – generell eine Verkürzung der reproduktiven Phase aufgrund eines früheren Alters bei letzter Geburt und eine starke Zunahme an sterilisierten Frauen – entspricht der Beschreibung des fertilen Rückgangs auf nationaler Ebene. Das ausgewählte Untersuchungsdorf ist in seinem fertilen Wandel folglich exemplarisch für die allgemeine Entwicklung der Fertilität in Mexiko. Eine Verlängerung der Geburtenintervalle bei höheren Paritäten sowie ein früheres Ende der reproduktiven Phase sind eindeutig die beiden Komponenten, die den fertilen Wandel bewirkt haben. Hingegen hat sich das Alter bei erster Geburt so gut wie nicht verändert. Jetzt fragt sich, welche der vier proximaten Determinanten - Anteil an Verheirateten/Heiratsalter, Verhütung, Abtreibung und Stillverhalten – diese beiden Komponenten beeinflußt haben. Aufgrund der Ergebnisse auf nationaler Ebene ist davon auszugehen, daß es auch in Pueblo Nuevo vor allem die proximate Determinante Verhütung ist, die ursächlich für eine Verlängerung der Geburtenintervalle bei höheren Paritäten und ein früheres Alter bei erster Geburt ist. Bis auf die jüngste Kohorte, der zwischen 1978 und 1987 geborenen Frauen, werden alle anderen anfangs verwendeten Kohorten betrachtet. In der Kohorte 1978 bis 1987 leben erst 8% aller Frauen in einer festen Beziehung, wodurch die Ergebnisse der proximaten Determinanten verzerrt werden und diese Kohorte deshalb hier ausgeschlossen wird. Für die Analyse des Heiratsalters können folglich 194 Fälle verwendet werden. DAS GEPLANTE KIND 244 Kohorte 1928-1937 1938-1947 1948-1957 1958-1967 1968-1977 Gesamt (∅) % Heirat 100 100 97 96 74 ∅ Alter bei Heirat 18,7 (7,8) 18,5 (4,5) 21,3 (6,3) 19,6 (4,3) 18,5 (2,7) 19,3 (1,2) % Stillen 73 (8) 56 (9) 79 (22) 82 (28) 91 (50) ∅ Länge des letzten Intervalls (Monate) 15,2 (4,7) 11,8 (2,5) 11,8 (7,7) 9,7 (5,4) 8,5 (5,4) 11,4 (2,5) Tabelle 6.7: Die proximaten Determinanten Heirat und Stillverhalten, Pueblo Nuevo 41 Die proximate Determinante Anteil an Verheirateten (Tabelle 6.7, Spalte % Heirat) hat sich im Lauf der Zeit nicht wesentlich geändert. Gleiches gilt für das durchschnittliche Alter bei Heirat, bzw. dem Beginn einer dauerhaften (sexuellen) Beziehung. Dieses Ergebnis ist nicht überraschend, denn das Heiratsalter steht in Pueblo Nuevo in einem Zusammenhang zum Alter bei erster Geburt. Diese Komponente der Fertilität variierte über die Zeit hinweg nur wenig und dies drückt sich wiederum in dem nur wenig variierenden Heiratsalter aus. Zu heiraten ist in Pueblo Nuevo die Norm, wie der Anteil an Verheirateten zeigt. Wer im Dorf bleibt, heiratet. Unverheiratete oder primär sterile Frauen verlassen in der Regel das Dorf. Nur unter sehr speziellen Umständen, wie zum Beispiel der Pflege eines kranken Vaters, heiratet eine Frau nicht. Diese Fälle sind aber sehr selten und fallen nicht ins Gewicht. Auch hinsichtlich des Heiratsalters und des Alters bei erster Geburt entspricht die Situation Pueblo Nuevos also dem, was für ganz Mexiko bekannt ist. Nicht nur in Pueblo Nuevo, sondern in ganz Mexiko ist nach Mier y Terán: „(...) entry into some type of marital union (...) a generalized fact, and almost all women become mothers.“ (1996: 327, vgl. auch Rosero-Bixby 1996: 148). Der Einfluß der proximaten Determinante Stillverhalten auf die Komponente Geburtenintervalle ist schon ausführlich unter 6.2.1 diskutiert worden. Nicht alle 311 Frauen, die in den bisherigen demographischen Analysen berücksichtigt wurden, konnten auch zu ihrem Stillverhalten sowie zu ihrer Verwendung von Verhütungsmitteln befragt werden. Entweder hatten sie noch kein Kind oder waren zum Zeitpunkt der Erhebung dieser Daten nicht erreichbar. Aus diesem Grund werden neben den Prozentangaben auch die absoluten Häufigkeiten in Klammern angegeben (vgl. Tabelle 6.7 und Tabelle 6.8). Die Prozentangaben und absoluten Häufigkeiten 41 Heirat entspricht hier dem Beginn aller Formen des Zusammenlebens (kirchliche und/oder staatliche Heirat sowie unión libre). KAPITEL 6. DER FERTILE WANDEL 245 beziehen sich nur auf die Frauen, zu denen Angaben vorlagen. 42 Alle Angaben zum Stillen beziehen sich wiederum nur auf das letzte Kind einer Frau. Wie gezeigt wurde, sind die Geburtenintervalle im Laufe der Zeit in Pueblo Nuevo länger geworden. Insbesondere Frauen mit höheren Paritäten haben ihre Geburtsabstände vergrößert. Es fragt sich, inwiefern ein verändertes Stillverhalten hierzu beigetragen hat. Betrachtet man die Ergebnisse in Tabelle 6.7 zeigt sich allerdings, daß die Laktationsdauer im Laufe der Zeit verkürzt wurde und deshalb wohl kaum eine Erklärung für die Verlängerung der Geburtenintervalle darstellt. Allerdings hat sich der hohe Anteil an stillenden Frauen über die Zeit nicht verändert, was vor allem damit zu erklären ist, daß Säuglingsnahrung für die Frauen in Pueblo Nuevo extrem teuer ist und das Stillen generell als für die Entwicklung des Säuglings förderlich angesehen wird. 43 Es bleibt also festzuhalten, daß weder die proximate Determinante Heirat, noch das Stillverhalten eine Erklärung des fertilen Wandels darstellen. Dieses Ergebnis entspricht dem, was auch schon für den fertilen Wandel in ganz Mexiko festgestellt wurde. Die beiden anderen proximaten Determinanten - Verhütung und Abtreibung - sind also höchstwahrscheinlich die wichtigste Ursache des festgestellten Wandels. Es war nicht möglich, systematische Daten über die Häufigkeit von Abtreibungen zu erheben. Nur mir sehr vertraute Frauen erzählten, daß auch Abtreibungen praktiziert würden, wollten aber diese Angaben nicht vertiefen. 44 Aus diesem Grund kann deshalb nur die proximate Determinante Verhütung analysiert werden. 42 Beispielsweise haben in der Kohorte 1938-1947 9 Frauen gestillt und 7 Frauen nicht gestillt (vgl. Tabelle 6.7). Das entspricht einem Anteil von 56% stillender Frauen. Zu 4 Frauen lagen keine Angaben vor. Diese 4 Fälle werden bei der Prozentberechnung nicht berücksichtigt. 43 Nur die Kohorte 1938-1947 hat einen relativ geringen Anteil an stillenden Frauen. Warum Frauen dieser Kohorte fast zur Hälfte ihr letztes Kind nicht gestillt haben, ist ungeklärt. Ein möglicher Grund könnte darin bestehen, daß mehrere der Frauen dieser Kohorte sich nach der Geburt ihres letzten Kindes sterilisieren ließen und für einige Zeit im Krankenhaus waren. Generell haben aber auch diese Frauen ihre anderen Kinder gestillt. 44 Auf ähnliche Probleme ist schon hinsichtlich der Analyse der Situation in ganz Mexiko hingewiesen worden (vgl. 6.3.1 und Fußnote 32). DAS GEPLANTE KIND 246 Kohorte 1928-1937 1938-1947 1948-1957 1958-1967 1968-1977 % Benutzerinnen 0 (0) 35 (7) 66 (19) 65 (24) 58 (39) Art des Verhütungsmittels 45 ∅ Anzahl an Kindern bei Erstbenutzung Sterilisation / Injektion Sterilisation Sterilisation / Injektion Spirale 9,4 (4,4) 7,3 (4,1) 2,4 (1,9) 2,1 (1,1) Tabelle 6.8: Die proximate Determinante Verhütung, Pueblo Nuevo Ein starker Anstieg der Verwendung von Verhütungsmitteln ist deutlich erkennbar. In der ersten Kohorte gibt es noch keine einzige Frau, die jemals ein modernes Verhütungsmittel verwendet hat. Diese Frauen befanden sich Ende der siebziger Jahre, als die staatlichen Familienplanungsprogramme auch in Pueblo Nuevo begannen, am Ende ihrer reproduktiven Phase und hatten keinen Bedarf mehr an Geburtenkontrolle. Man könnte argumentieren, daß diese Frauen eben keine modernen, sondern sogenannte traditionelle oder natürliche Verhütungsmittel einsetzten. Dies ist aber nicht der Fall. Bezieht man auch natürliche Verhütungsmittel mit ein, wie die Kalendermethode, Tees oder den Coitus interruptus, bleibt die prozentuale Verteilung gleich. Das Wissen über und vor allem die Anwendung dieser Formen der Verhütung findet sich nicht in den ältesten Kohorten, sondern nur in den drei jüngeren Kohorten. Allerdings sind die Benutzerinnen dieser Art von Verhütung so wenige, daß sie hier ausgeklammert werden können. In der Kohorte 1938-1947, die als erste Kohorte sowohl einen Bedarf als auch die Möglichkeit hatte, Verhütungsmittel zu verwenden, nutzte gut ein Drittel der Frauen die neuen Angebote. Daß Frauen dieser Kohorte, und auch der beiden darauffolgenden, sich vor allem sterilisieren ließen, zeigt auch, daß die Verwendung von Verhütungsmitteln vor allem einen Effekt auf das Alter bei letzter Geburt hatte. Allerdings benutzten viele der Frauen schon vor ihrer Sterilisation ein anderes Verhütungsmittel. Wie auch auf nationaler Ebene spielten in den siebziger Jahren vor allem hormonelle Mittel (Injektionen und die Pille) eine Rolle, was durch die Angaben in Tabelle 6.8 nicht deutlich wird. Die sterilisierten Frauen ließen sich alle erst in den achtziger Jahren sterilisieren. Allerdings zeigt sich anhand der jüngsten Kohorte, daß heute neben der Sterilisation auch die Spirale immer mehr an Bedeutung gewinnt. Dies bestätigen auch die Daten und Erfahrungen des Klinikpersonals 45 Hier findet sich das in der jeweiligen Kohorte am meisten verwendete Verhütungsmittel. Haben zwei Verhütungsmittel den gleichen Wert, werden beide angegeben. Hat eine Frau mehrere Verhütungsmittel verwendet, wird nur das zuletzt verwendete gezählt. KAPITEL 6. DER FERTILE WANDEL 247 in Solís. 46 Frauen der beiden jüngsten Kohorten verwenden temporär begrenzbare Verhütungsmittel, die die reproduktive Phase nicht irreversibel beenden. Diese Kohorten beeinflussen die Länge der Geburtenintervalle, lassen sich aber die Option offen, noch weitere Kinder zu bekommen. Hier zeichnet sich eine neue Entwicklung des fertilen Verhaltens ab. Die stopping Mechanismen der erste Jahre des fertilen Wandels, vor allem aufgrund der sehr verbreiteten Sterilisation, werden sukzessive durch Formen des spacings auch jüngerer Frauen mit weniger Kindern abgelöst. Verhütung wurde in den ersten Jahren des fertilen Wandels hauptsächlich zur Verkürzung der reproduktiven Phase eingesetzt. Neben einem endgültigen Ende aufgrund einer Sterilisation oder einer andauernden Benutzung von sehr effizienten Verhütungsmitteln gab es aber auch ältere Frauen mit vielen Kindern, die Verhütung als eine Möglichkeit der Verlängerung der Geburtenintervalle einsetzten. Auf das Alter bei erster Geburt scheint die Verwendung von Verhütungsmitteln so gut wie keinen Einfluß zu haben, da nur zwei Frauen vor der Geburt ihres ersten Kindes verhütet haben. Wie die Anzahl an Kindern bei erster Benutzung von Verhütung zeigt (vgl. Tabelle 6.8), bekommen die meisten Frauen erst ein bis zwei Kinder, bevor sie eine Kontrolle ihrer Fertilität in Betracht ziehen. Die proximate Determinante Verhütung hat also mit Abstand am stärksten die Fertilität in Pueblo Nuevo verändert. 47 Die beiden anderen Determinanten hatten fast keinen Einfluß. Der Anteil an Verheirateten bzw. das Heiratsalter blieben über die Zeit relativ unverändert. Das Stillverhalten veränderte sich zwar, denn die Intervalle wurden kürzer. Unter Ausschluß von Verhütung hätte dies ein Ansteigen der Fertilität zur Folge gehabt (Nag 1980). Da dies aber nicht der Fall ist, kann mit Gewißheit gesagt werden, daß die Veränderung des Stillverhaltens keinen Einfluß auf den Rückgang der Fertilität hatte. 48 Durch die detaillierte Analyse der Komponenten und proximaten Determinanten konnte nachgewiesen werden, daß der fertile Wandel in Pueblo Nuevo weitgehend dem fertilen Wandels auf nationaler Ebene entspricht. Sowohl in Pueblo Nuevo als auch in ganz Mexiko hat sich vor allem das 46 Persönliche Kommunikation mit Dr. Linares, 17. Mai 1997. Zur proximaten Determinante Abtreibung kann allerdings nichts gesagt werden. 48 Bongaarts hat auch ein Modell zur Quantifizierung der Anteile entwickelt, die die vier proximaten Determinanten hinsichtlich der abgeschlossenen Geburtenziffer aller in fester Beziehung lebender Personen (total marital fertility rate) haben (Bongaarts 1978, 1982). Dieses Modell läßt sich aber nicht ohne Probleme auf die hier besprochenen Daten anwenden, da einerseits die Fallzahlen zu gering sind (Bongaarts verwendet Daten des World Fertility Survey) und andererseits das Modell auch keinen Wandel für eine Population, die nur zu einem Zeitpunkt befragt wurde, feststellen kann, sondern nur im Vergleich zu anderen Populationen oder mehreren Erhebungszeitpunkten (vgl. Bongaarts 1982). 47 DAS GEPLANTE KIND 248 Alter bei letzter Geburt verändert. Die wichtigste proximate Determinante zur Erklärung dieser zeitlichen Begrenzung der reproduktiven Phase ist die Verwendung von Verhütungsmitteln. Im Gegensatz dazu hat sich weder in Pueblo Nuevo noch in ganz Mexiko das Heiratsalter und das Alter bei erster Geburt signifikant geändert. Daß kulturelle Faktoren den Verlauf des fertilen Wandels beeinflußt haben, wurde schon mehrfach in den vorangegangenen Ausführungen erwähnt und diskutiert. Im folgenden soll nun versucht werden, über die Komponenten und proximaten Determinanten hinaus die Ursachen des in Pueblo Nuevo stattgefundenen fertilen Wandels zu erklären. 6.4 Ursachen des fertilen Wandels Die Schnelligkeit und Intensität des fertilen Wandels in Mexiko ist um so erstaunlicher, wenn man bedenkt, daß es vor den Jahren des Wandels über Jahrzehnte trotz sinkender Mortalitätsziffern und anhaltendem wirtschaftlichen Wachstum zu keinem nennenswerten Rückgang der Geburtenziffern kam. Bis in die siebziger Jahre schien Mexikos Entwicklung sogar zu belegen, daß es für ein Land möglich ist, wirtschaftlich zu prosperieren, ohne daß es zu einem Rückgang der Fertilität kommt. Allerdings erfaßte diese wirtschaftliche Entwicklung nur einen Teil der Bevölkerung. Ein großer Teil der Bevölkerung – darunter die in ejidos organisierten Bauern – blieben von diesen Entwicklung weitgehend unberührt. Teilweise stellten die neuen Arbeitsmöglichkeiten in den Metropolen des Landes sogar eine weitere Motivation für eine hohe, unkontrollierte Fertilität dar, denn innerhalb eines kinderreichen Haushalts war es besser möglich, sowohl die traditionellen Wirtschaftsformen aufrechtzuerhalten als auch neue Einkommensquellen zu erschließen. Warum kam es dann ab Mitte der siebziger Jahre zu einem Rückgang der Geburtenziffern, dessen Ende bis heute nicht in Sicht ist? Welche Rahmenbedingungen haben sich inwiefern geändert, so daß eine Kontrolle der Fertilität von einem Paar erstens als wirtschaftlicher und sozialer Vorteil wahrgenommen wird, zweitens reproduktive Entscheidungen zu bewußten Entscheidungen werden, und drittens effektive Verhütungsmittel bekannt und zugänglich sind (Coale 1975, vgl. Abbildung 6.1)? Die Frage, warum sich die Rahmenbedingungen für Coales (1975) dritte der drei Grundbedingungen, den Zugang zu und das Wissen über effektive Verhütungsmethoden, geändert haben, ist am einfachsten zu beantworten und wird deshalb an den Anfang gestellt. KAPITEL 6. DER FERTILE WANDEL 6.4.1 249 Die Diffusion effektiver Verhütungsmethoden In den siebziger Jahren und unter der Regierung Echeverrías und seines Nachfolgers López Portillo wurde die bis dato bestehende Bevölkerungspolitik radikal geändert. Ende 1973 wurde ein neues Bevölkerungsgesetz verabschiedet (Alba und Potter 1986: 61, Krause 1996: 168). Dieses Bevölkerungsgesetz revidierte das bis dahin bestehende pronatalistische Bevölkerungsgesetz von 1947, welches Verbreitung und Verwendung von Verhütungsmitteln verbot, und Abtreibungen als ein Verbrechen klassifizierte und dementsprechend bestrafte. Anders als in den Jahren bis 1970 lautete nun die Maxime nicht mehr ‚Regieren heißt Bevölkern‘ sondern ‚Regieren heißt, die Geburtenrate kontrollieren‘ (Krause 1996: 169). Daß es zu diesem Wandel kam, lag auch daran, daß seit Beginn der siebziger Jahre die Kritik einflußreicher mexikanischer Intellektueller an der Regierungspolitik immer lauter und stärker wurde. Es wurde darauf hinwiesen, daß sich das mexikanische Modell von anhaltendem wirtschaftlichen Wachstum und anhaltendem Bevölkerungswachstum seinem Ende näherte (Alba und Potter 1986: 58-61). Diese Befürchtungen wurden bestätigt, als die mexikanische Wirtschaft de facto Mitte bis Ende der siebziger Jahren in ihre erste Krise kam. Die Situation der ejidatarios wurde immer prekärer, da neue Landressourcen fast nicht mehr zur Verfügung standen, und die Metropolen des Landes, die die Arbeitsmigranten bis dahin noch aufnehmen konnten, die Grenzen ihrer Kapazität erreichten. Außerdem erhöhte sich der Druck der USA auf Mexiko und seine Bevölkerungspolitik, da die USA unter anderem aufgrund des anhaltenden Bevölkerungswachstums sowohl eine Gefahr für den inneren Frieden des Landes als auch ein unkontrolliertes Anwachsen illegaler Migranten befürchtete (Krause 1996: 169). Die Reduzierung des Bevölkerungswachstums wurde zur nationalen Priorität, und um dieses Ziel zu erreichen, wurden unterschiedliche nationale Institutionen, vor allem aus dem Gesundheitssektor, im Rahmen eines groß angelegten Familienplanungsprogrammes aktiviert (Alba und Potter 1986: 63, Krause 1996: 169). Die Verbreitung von Verhütungsmitteln war eingebettet in eine generelle Expansion des Gesundheitssektors. Gerade Regionen, in denen es bis in die siebziger Jahre so gut wie keine medizinische Versorgung gab, wurden hier berücksichtigt (Alba und Potter 1986: 64). In ländlichen Regionen, wie dem Tal von Solís, entstanden Gesundheitszentren. Innerhalb der Gemeinden wurden traditionelle Hebammen medizinisch ausgebildet und dazu angeregt, ihr Wissen über neue Verhütungsmethoden zu verbreiten. Wie in anderen ländlichen Regionen so wurden auch in Pueblo Nuevo sogenannte promotoras rekrutiert, meist junge, unverheiratete Mäd- 250 DAS GEPLANTE KIND chen, die sich um die gesundheitlichen Belange der lokalen Bevölkerung kümmerten. In der ethnographischen Beschreibung wurde gezeigt, daß Frauen aus Pueblo Nuevo, die in den siebziger Jahren ihr erstes Kind bekamen, immer seltener eine Hausgeburt hatten. Da immer mehr Frauen ihre Kinder in den neuen Gesundheitszentren in Solís und Temascalcingo zur Welt brachten, erfuhren diese Frauen auch von den neuen Verhütungsmethoden und wurden dazu angeregt, sie zu benutzen. Doch auch diejenigen Frauen, die diese Möglichkeiten nicht wahrnahmen, erreichte die neue Familienpolitik. Sowohl im Fernsehen als auch im Radio wurde die neue Familienideologie ‚la familia pequeña vive mejor‘ (die kleine Familie lebt besser) propagiert. Daß diese Botschaft die Bevölkerung erreichte, zeigt sich noch heute u.a. darin, daß auf meine Frage nach der gewünschten Kinderzahl sowie der Begründung dieser Zahl, eben dieser Satz immer wieder genannt wurde. Außerdem hielten (und halten bis heute) die Ärzte des Gesundheitszentrums in Solís Vorträge über Familienplanung und Gesundheitsversorgung in den Schulen aller Gemeinden des Tals. Generell manifestierte sich die neue Politik auch in den Schulen. Aufklärungsunterricht wurde eingeführt und zum ersten Mal mit relativer Offenheit über das Thema Sexualität gesprochen. Schulbücher wurden so überarbeitet, daß sie in Einklang zur offiziellen Bevölkerungspolitik standen (Alba und Potter 1986: 65) und das neue Ideal der Kleinfamilie propagierten. Über verschiedene Kanäle wurden also die neue Familienpolitik sowie die Mittel, diese umzusetzen, auch in den ländlichen Regionen verbreitet – durch lokale Hebammen, Schulen und Schulbücher, Gesundheitskliniken und moderne Kommunikationsmedien. Wissen über und Verwendung von Verhütungsmitteln hat seit Ende der siebziger Jahre im ganzen Land stark zugenommen. Gleiches gilt für Pueblo Nuevo. Bis auf die beiden ältesten (1908-1927 und 1928 bis 1937 geborene Frauen) Kohorten und die jüngste Kohorte (1978-1982 geborene Frauen) kennen in den übrigen Kohorten über 90% der Frauen mindestens ein, meistens aber mehrere Verhütungsmittel. Im Schnitt nannten die Frauen drei Verhütungsmittel. Mit Abstand am häufigsten wurden die Pille, die Spirale und hormonelle Spritzen genannt. 49 Daß gerade Frauen der beiden ältesten Kohorten und der jüngsten Kohorte weniger Wissen angeben, 49 Von 198 befragten Frauen nannten 174 Frauen mindestens ein Verhütungsmittel. Von insgesamt 24 verschiedenen genannten Methoden wurden nur sechs Methoden (Pille, Spirale, hormonelle Spritzen, Kondome, Sterilisation der Frau und Kalendermethode; Reihenfolge nach der Häufigkeit der Nennungen) mehr als zehnmal genannt, weitere zwei Methoden (Vasektomie und Tees) wurden fünfmal genannt, alle anderen Methoden wurden nur einmal genannt (u.a. Sprays, Diaphragma). KAPITEL 6. DER FERTILE WANDEL 251 liegt daran, daß diese Frauen auch weniger Bedarf an solchen Mitteln haben, da sie entweder ihre reproduktive Phase schon abgeschlossen haben oder erst am Anfang dieser stehen. Trotzdem ist zu bedenken, daß auch in diesen Kohorten über 70% der Frauen zumindest ein Verhütungsmittel nennen können. Daß dieses Wissen auch tatsächlich zur Anwendung kommt, zeigte sich schon bei der Analyse der proximaten Determinanten von Fertilität. Die Anzahl der Frauen, die jemals ein Verhütungsmittel verwendete, stieg auf über 60% pro Kohorte an (vgl. Tabelle 6.8). Neben der Änderung der Bevölkerungspolitik sind aber auch die kulturellen Rahmenbedingungen zu beachten, in die die Verwendung von Verhütung eingebettet ist. Denn die Verwendung, und nicht nur das Wissen über Verhütungsmittel, hat sich erst in den achtziger und vor allem in den neunziger Jahren über eine kleine Gruppe von Pionierinnen hinaus verbreitet (Tabelle 6.9). Zeitpunkt der erstmaligen Benutzung N 1976-1980 1981-1985 1986-1990 1991-1997 8 14 20 50 ∅ Alter Erstbenutzung ∅ Kinder bei Erstbenutzung 23,1 (7,1) 27,9 (6,6) 28,4 (6,9) 23,1 (6,5) 4,3 (3,8) 3,4 (3,2) 5,3 (4,4) 2,9 (3,1) Tabelle 6.9: Beginn der Anwendung von Verhütungsmitteln Die beiden Frauen, die 1976 als erste im Dorf ein Verhütungsmittel benutzten, hatten lange Zeit in Mexiko-Stadt gelebt und dort auch von Verhütung erfahren. Diese beiden Frauen sind comadres und eng sozial verbunden. Die eine von ihnen – Lucia, deren Lebensgeschichte auch im Kapitel über die soziale Einbettung der Frau analysiert worden ist – heiratete einen Mann aus Pueblo Nuevo und kam deshalb ins Dorf. Die andere, Graciella, heiratete einen Mann, den sie in Mexiko-Stadt kennengelernt hatte und mit dem sie ins Dorf zurückkehrte. Beide Frauen waren in den ersten Jahren in Pueblo Nuevo soziale Außenseiter. Hauptsächlich interagierten ihre Familien untereinander, aber nicht mit den anderen Dorfbewohnern. Die sozialen Kosten, die durch ihr zu dem Zeitpunkt den sozialen Normen nicht entsprechendes Verhalten für sie entstanden, waren gering. Ähnlich ist auch die Situation der anderen Frauen, die vor den achtziger Jahren mit der Verwendung von Verhütung begannen. Fast alle hatten in Mexiko-Stadt gelebt. Deshalb erstaunt es auch nicht, daß das durchschnittliche Alter dieser Pionierinnen bei erster Benutzung im Vergleich sehr niedrig liegt. Die sich später herausbildende Norm, Verhütung zum stopping nicht aber zum spacing einzusetzen, trifft auf die Mehrheit dieser Frauen 252 DAS GEPLANTE KIND noch nicht zu. Diese Frauen begannen früh, Verhütung zu verwenden, und sie ließen sich nicht sterilisieren, sondern verwendeten vor allem hormonelle Mittel. Die erste Frau, die aus dem lokalen Dorfkontext heraus ein Verhütungsmittel benutzte, war 1979 eine Frau, die zu dem Zeitpunkt schon 12 Kinder hatte. Diese Frau ließ sich sterilisieren. In den achtziger Jahren folgten ihr auch einige Töchter und Schwiegertöchter, und verwendeten ebenfalls Verhütungsmittel. Es sind also zwei unterschiedliche soziale Quellen, die eine Benutzung von Verhütung im Laufe der Zeit im Dorf verbreiteten. Die ersten Frauen waren eindeutige soziale Außenseiterinnen. Indem sie aber Verhütung ‚wagten‘, zeigten sie anderen Frauen und Paaren, daß Verhütung nicht gesundheitsschädigend ist. In den siebziger Jahren war – trotz der Kampagnen der Regierung – ein wichtiger Grund, warum Frauen keine Verhütungsmittel benutzten, die Angst vor gesundheitlichen Nebenwirkungen (Alba und Potter 1986: 64). Zeitlich verzögert begannen ältere Frauen des Dorfes mit vielen Kindern, nun ebenfalls die neuen Mittel zu nutzen. Bei diesen Frauen handelte es sich nicht mehr um soziale Außenseiterinnen, ganz im Gegenteil, diese älteren Frauen waren sozial gut eingebettet und hatten eine großen Einfluß auf ihnen nahestehende jüngere Frauen. Die Pionierinnen waren wichtig, um den Prozeß in Gang zu setzen. Zu seiner eigentlichen Ausbreitung, die bis heute andauert, kam es aber erst durch die sozial anerkannten, älteren Frauen, die sich in der Mitte oder den letzten Jahren ihrer reproduktiven Phase befanden. Das Alter bei erster Benutzung stieg bis gegen Ende der achtziger Jahre an (vgl. Tabelle 6.9). Mit Ende zwanzig begann in diesen Jahren der Durchschnitt der Frauen mit der Verhütung. Bemerkenswerter Weise ist sowohl das Alter bei erster Benutzung als auch die durchschnittliche Anzahl an Kindern in den neunziger Jahren allerdings wieder gesunken. Auch hier könnte sich ein neuer Trend zeigen. Nicht mehr nur ältere Frauen mit relativ vielen Kindern verwenden Verhütung vor allem zum stopping, sondern auch jüngere Frauen greifen zu diesen Mitteln, um ihre Geburtenabstände zu verlängern. Ein ähnliches Ergebnis hat auch schon die Analyse der verwendeten Verhütungsmittel erbracht (vgl. Tabelle 6.8). In den neunziger Jahren nimmt die Verwendung an temporären Mitteln, vor allem der Spirale und der hormonellen Mittel, wieder zu. Eine neue Generation von Benutzerinnen scheint sich herauszubilden – Frauen, die schon früh in ihrer reproduktiven Phase damit beginnen, ihre Schwangerschaften und Geburten zu planen. Allerdings sind diese geplanten reproduktiven Entscheidungen auch heute noch von bestimmten kulturellen Rahmenbedingungen beeinflußt, die eine unabhängige, bewußte reproduktive Entscheidung in der Regel erst nach der Geburt mindestens eines Kindes wahrscheinlich machen. KAPITEL 6. DER FERTILE WANDEL 253 Bis auf zwei Ausnahmen hat bis heute keine Frau vor der Geburt ihres ersten Kindes ein Verhütungsmittel verwendet. Unverheiratete Frauen verwenden keine Verhütungsmittel, sicherlich zum großen Teil deshalb, da sie auch keinen Bedarf haben. 50 Daß Frauen vor der Geburt des ersten Kindes nicht verhüten, hängt mit den kulturellen Rahmenbedingungen zusammen, die durch den Lebenszyklus vorgegeben werden. Die Frauen sollten so schnell als möglich nach der Heirat schwanger werden. Shedlin und Hollerbach (1981) und Hollerbach (1980) beschreiben für eine sich nur unweit von Pueblo Nuevo befindende Gemeinde die Repressalien, die eine Frau zu ertragen hat, falls sie nicht nach gut einem Jahr des Zusammenlebens mit dem Mann schwanger ist. Die Frau muß sich sowohl gegen den Vorwurf der Sterilität als auch den der Verwendung von Verhütungsmitteln verteidigen. Nicht sofort nach der Heirat Kinder zu bekommen, wird als abweichendes Verhalten wahrgenommen, das Sanktionen - vor allem vernichtenden Klatsch – nach sich zieht. Aus diesem Grund ist es keineswegs verwunderlich, daß das Alter bei erster Geburt in Pueblo Nuevo bis heute im Schnitt gut ein Jahr nach dem Beginn der Beziehung liegt und sich fast nicht verändert hat (vgl. 6.3.2). Wie für Lateinamerika häufig beschrieben (Gutmann 1996: 118-121, Lewis 1956, McGinn 1966, Nicassio 1977), bestätigen Kinder die Männlichkeit des Mannes sowie die Weiblichkeit der Frau. Teil sowohl der weiblichen als auch der männlichen Geschlechterrolle ist die Vater- bzw. Mutterschaft. Allerdings haben die beiden Geschlechterrollen, häufig als Machismo und Marianismo (Browner und Lewin 1982) zusammengefaßt, unterschiedliche Implikationen. Frauen sollen durch die Geburt und Erziehung vieler Kinder der stereotypen Rollenerwartung der aufopfernden Mutter entsprechen, wohingegen die Zeugung vieler Kinder die männliche Rollenerwartung des dominanten, potenten Mannes erfüllen soll (Nicassio 1977: 578). Doch entgegen dieser Annahme, daß mehr Kinder auch mehr Männlichkeit/Weiblichkeit bedeuten, zeigt Nicassio (1977), daß es reicht, nur einige Kinder zu haben, um den kulturspezifischen Rollenerwartungen gerecht zu werden. Wie viele Kinder das sein sollten, variiert innerhalb Lateinamerikas erstaunlich wenig. Die gewünschte Kinderzahl liegt zwischen drei und vier Kindern (Bongaarts und Lightbourne 1996, Browner 1986b, Shedlin und Hollerbach 1981), und auch 50 Der zwar nicht große, aber doch vorhandene Anteil an madres solteras, alleinerziehenden Müttern (acht Frauen im Alter zwischen 17 und 26 Jahren), zeigt, daß es auf der individuellen Ebene vielleicht doch einen Bedarf gäbe, der aber kulturell als völlig inakzeptabel gilt. Erst eine feste Beziehung (unión libre oder Heirat) legitimiert sexuelle Beziehungen. 254 DAS GEPLANTE KIND die Männer und Frauen Pueblo Nuevos nannten drei oder vier Kinder als eine wünschenswerte Anzahl (Frauen: 3,14 [std.1,26]; Männer: 3,56 [std.1,4]). 51 In mehreren Gruppeninterviews wurde mir erklärt, warum gerade eine Familie mit drei oder vier Kinder ein erstrebenswertes Ziel ist. Der folgende Ausschnitt stammt aus einem Gruppeninterview mit acht Frauen zwischen 17 und 25 Jahren. Frau 1: „(...) Denn, meine Schwester hat, mein Neffe mußte sechs Jahre warten, um einen (Bruder, Anm. der Verf.) zu bekommen, und er war extrem aggressiv (...). Und als dann der andere kam, hat der Junge begonnen, sich zu beruhigen (...).“ Frau 2: „Da war er nicht mehr der Wichtigste.“ Frau 3: „Ich habe einen Cousin, der ist aus dem gleichen Grund ganz verrückt geworden.“ Frau 2: „Ach wirklich? (...)“ Frau 1: „Also, das ist ja das, was ich sage - es ist schlecht, nur ein Kind zu haben.“ Frau 3: „Und ich glaube ja auch, daß zwei schon ganz gut sind, denn stell dir mal vor, du wirst eins verlieren. Aber - eines Tages wird sich Gott dann auch noch an das andere erinnern und was bleibt dir dann? Nichts. Und deshalb glaube ich, egal was ist, vier ist eine gute Zahl.“ Frau 2: „Drei!“ Frau 3: „O.k., drei bis vier.“ 52 Nur ein Kind zu haben ist für die Mutter schwierig, und auch das Kind leidet unter dieser Situation. Zwei Kinder sind schon besser, doch hier besteht das Risiko, daß eines der Kinder stirbt und die Mutter wiederum nur ein Kind hat. Drei oder vier Kinder sind eine wünschenswerte Zahl, denn sie können sich Gesellschaft leisten, wodurch sie nicht mehr aggressiv oder einsam sind, und selbst wenn ein Kind sterben sollte, bleiben der Mutter immer noch mehrere Kinder. 53 Durch die Geburt mindestens eines Kindes haben Frauen wie auch Männer unter Beweis gestellt, daß sie zeugungsfähig sind. Sie haben den Rollenerwartungen eines Mannes/einer Frau entsprochen, und sie sind deshalb in der Lage zu entschei- 51 198 Frauen, die 15 Jahre oder älter waren, wurden zu ihrer gewünschten Familiengröße befragt. 192 Frauen nannten eine gewünschte Anzahl an Kindern, 6 Frauen konnten keine Zahl nennen, sondern gaben an, daß dies Gottes Entscheidung ist. Die niedrigste gewünschte Zahl war ein Kind, die höchste Zahl waren acht Kinder. 101 Männer, die 15 Jahre oder älter waren, wurden ebenfalls befragt. Alle Männer konnten eine gewünschte Anzahl nennen. Das Minimum waren zwei Kinder, das Maximum zehn Kinder. 52 Gruppeninterview vom 23.10.1996, Seite 2. Die (...) zeigen Stellen an, an denen es nicht möglich ist, das Interview zu transkribieren, da zu viele Frauen gleichzeitig reden. 53 Auf die Relevanz des von den Eltern wahrgenommenen Wertes von Geschwistern haben besonders Bulatao und Fawcett hingewiesen: „In the middle segment of the fertility career, a particular value stands out: providing sibling companionship for the first child. Studies have consistently shown this to be a powerful and virtually universal motive for the second child.“ (1983: 9). KAPITEL 6. DER FERTILE WANDEL 255 den, ob sie ein Verhütungsmittel einsetzen und somit die Geburt eines weiteren Kindes zeitlich verzögern. Trotzdem sind die Paare auch weiterhin kulturellen Erwartungen und Normen ausgesetzt, denn wie gezeigt wurde, sollte eine Familie in Pueblo Nuevo drei bis vier Kinder haben. Nur ein Kind zu haben gilt als ebenso inakzeptabel wie eine Verzögerung der Geburt des ersten Kindes. Die Entscheidung des Zeitpunktes für ein zweites, drittes oder auch viertes Kinder wird allerdings erheblich weniger von kulturellen Erwartungen diktiert, als dies bei der Geburt des ersten Kindes der Fall ist. Durch dieses Verhalten entsprechen die Männer und Frauen Pueblo Nuevos einerseits den kulturellen Erwartungen und vermeiden andererseits die Risiken, die mit der Benutzung von Verhütungsmitteln in Verbindung gebracht werden. In den Gruppeninterviews sowie in den Lebensgeschichten formulierten Frauen immer wieder ihre Angst vor unbeabsichtigten Nebenwirkungen bei der Verwendung von Verhütungsmitteln. Vor allem die Angst vor ungewollter Sterilität spielte eine große Rolle. Diese Angst wird hinsichtlich der an Männer wie auch Frauen gestellten Rollenerwartung verständlich. Erst nach der Geburt eines Kindes kann es das Paar wagen, auch ungewollte Nebenwirkungen von Verhütungsmitteln in Kauf zu nehmen. Eine Veränderung des Verhaltens hinsichtlich der beiden anderen Komponenten - Geburtenintervalle und Alter bei letzter Geburt - ist den Paaren also kulturell möglich. Die Veränderung der kulturellen Rahmenbedingungen, so daß Coales dritte Grundbedingung erfüllt ist, gilt also nicht für die gesamte reproduktive Phase. Die soziale Kontrolle, vor allem, falls ein Paar bei den Eltern des Mannes und nicht in einem eigenen Haushalt lebt, aber auch die kulturellen Erwartungen, die verlangen, daß nach Eingehen einer Partnerschaft so schnell wie möglich ein Kind geboren werden sollte, limitieren die Entscheidungsautonomie dieser jungverheirateten Paare in starkem Maße. Shedlin und Hollerbach (1981) haben gezeigt, daß die Kommunikation über Verhütungsmittel zwischen den Ehepartnern signifikant nach der Geburt von ein oder zwei Kindern zunimmt. Daß Ehepartner nach der Geburt mindestens eines Kindes eher über Verhütung reden, liegt aber nicht nur an der größeren Kommunikations- und Entscheidungsfreiheit, die die Paare nach Beweis ihrer Zeugungsfähigkeit und der Erfüllung ihrer Geschlechterrolle haben. Hinzu kommt, daß viele der Paare erst nach der Geburt eines oder zweier Kinder einen eigenen Haushalt etablieren und wirtschaftlich von ihren Eltern unabhängig werden. Hinsichtlich Coales dritter Grundbedingung ist festzuhalten, daß Paare in Pueblo Nuevo heute sowohl über das Wissen effektiver Verhütungsmittel verfügen als auch Zugang zu diesen Mitteln haben. Allerdings unterliegen Kommunikation über 256 DAS GEPLANTE KIND und Verwendung dieser Mittel für Paare, die noch keine Kinder oder erst ein Kind haben und/oder die im Haus der Eltern des Mannes leben, kulturellen Rahmenbedingungen, die eine bewußte reproduktive Entscheidung sehr einschränken. Doch ist trotzdem noch ungeklärt, warum Paare überhaupt ab den siebziger Jahren einen Bedarf nach Verhütungsmitteln entwickelten, oder, anders formuliert, warum es für Paare ein sozialer und wirtschaftlicher Vorteil wurde und ist, solche Mittel anzuwenden. Dieser Frage soll im nächsten Abschnitt genauer nachgegangen werden. 6.4.2 Wirtschaftliche und soziale Vorteile einer Reduzierung der Fertilität Das Interesse des Staates an einer Reduzierung der Geburtenraten und einer Senkung des Bevölkerungswachstums stand in engem Zusammenhang zu den wirtschaftlichen Problemen, die nach Jahren des Wachstums Ende der sechziger Jahre auftraten. So wie von 1940 bis ungefähr 1970 das Bevölkerungswachstums als positiv, ja sogar notwendig für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes wahrgenommen wurde, so wurde nach 1970 das Bevölkerungswachstum als die größte Gefahr für die erreichte wirtschaftliche Entwicklung des Landes erkannt. Doch nicht nur aus nationaler Sicht hatte sich der Zusammenhang von wirtschaftlichem Wachstum und Bevölkerungswachstum verändert. Auch auf der Mikroebene einzelner Haushalte im landwirtschaftlichen Sektor kam es zu einem einschneidenden Wandel vieler Rahmenbedingungen, die eine hohe Fertilität bis dahin begünstigt hatten. Sechs Faktoren haben vornehmlich dazu geführt, daß sich die sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Paare und Haushalte in Pueblo Nuevo stark verändert haben (vgl. 2.1): 1. 2. 3. 4. 5. 6. eine zunehmende Knappheit an Ressourcen, vor allem an Land; eine zunehmende Arbeitsmigration; ein stärkerer Einsatz von Technologie in der Landwirtschaft; ein Rückgang der Kinder- und Säuglingssterblichkeit; eine Ausbreitung von Schulbildung; eine Veränderung des Status der Frau. Diese Faktoren und ihre Konsequenzen wurden alle in den theoretischen Grundlagen dieser Arbeit erörtert und in der ethnographischen Beschreibung für den untersuchten Fall dargestellt. Im folgenden werden sie noch einmal zusammengefaßt, um vor dem Hintergrund der sich wandelnden wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen in einem zweiten Schritt die unterschiedlichen reproduktiven KAPITEL 6. DER FERTILE WANDEL 257 Strategien, mit denen die Haushalte und Paare auf die neue Situation reagiert haben, zu analysieren. Eine der gewichtigsten Entwicklungen bestand in der immer stärker zunehmenden LANDKNAPPHEIT (1). Beginnend in den siebziger Jahren wurde es für immer weniger Haushalte möglich, ausschließlich von der Landwirtschaft zu leben. Auch neue Landverteilungen konnten dieses Problem nur verzögern, nicht aber lösen. Die zwingende Konsequenz aus dieser Entwicklung bestand für die einzelnen Haushalte darin, sich neben der Landwirtschaft andere Einkommensquellen zu erschließen. Da es in der Region aber außerhalb der Landwirtschaft zu dem Zeitpunkt fast keine anderen Einkommensmöglichkeiten gab, mußten Haushaltsmitglieder in andere Regionen migrieren. Zunächst handelte es sich nicht nur um eine MIGRATION (2) der jüngeren Generation. In einer Phase des Übergangs konnte auch der (männliche) Haushaltsvorstand oder das ältere Ehepaar migrieren, während sich die jüngere Generation um die Verwaltung und Bestellung der Felder kümmerte. In den sechziger und siebziger Jahren migrierten die Bewohner Pueblo Nuevos bis auf wenige Ausnahmen noch nicht in die USA, sondern in das nur wenige Busstunden vom Dorf entfernt gelegene Mexiko-Stadt. Die Gefahren und die körperlichen Belastungen dieser Art der Migration sind weitaus geringer als bei einer illegalen Migration in die USA. Gleiches gilt aber auch für die potentiellen Verdienstmöglichkeiten. Solange es nur zu einer Arbeitsmigration innerhalb Mexikos kam, bestand der um eine erweiterte Familie aufgebaute Haushalt als Produktionseinheit in vielen Fällen mehr oder weniger weiter. Die ältere und die jüngere Generation waren noch nicht wirtschaftlich voneinander unabhängig, und es kam vorerst nicht zu einer Verschiebung der bestehenden hierarchischen Strukturen (Lesthaeghe 1980). Noch kontrollierte und verwaltete die ältere Generation die wirtschaftlichen Einkünfte. Eine hohe Fertilität stellte weiterhin einen Vorteil dar, denn so war es möglich, einerseits die landwirtschaftliche Produktion, die immer noch von ausreichend Arbeitskräften abhing, fortzuführen, und andererseits neue Einkommensquellen zu erschließen. Als dann aber die Migration in die USA immer mehr zunahm, vor allem, da sich auch die wirtschaftlichen Kapazitäten der mexikanischen Metropolen immer mehr erschöpften, migrierten fast ausschließlich nur noch jüngere Männer aus den oben genannten Gründen. In diesem zweiten Stadium kam es verstärkt genau zu den Konsequenzen, die Lesthaeghe und Wilson (1986) beschrieben haben. Auch die jüngere Generation konnte jetzt unabhängig vom Haushalt zu einem eigenen Einkommen gelangen. Die in der Ethnographie beschriebene Entwicklung, daß gerade 258 DAS GEPLANTE KIND die jüngeren Dorfbewohner in modernen und größeren Häusern leben und mehr Konsumgüter besitzen, zeigt diese wirtschaftliche Autonomie der jüngeren von der älteren Generation. Besonders deutlich wird dies in dem in der Ethnographie beschriebenen Fall von Julius-Caesar M., der mit nur zwanzig Jahren in der Lage ist, sich ein zweistöckiges Haus nach amerikanischem Vorbild direkt neben die kleine Hütte seines Vaters zu bauen. In seinem Haus lebt Julius-Caesar M. mit seiner jungen Frau alleine. Dieser Fall zeigt auch eine weitere, zeitlich noch junge Entwicklung, von der aber zu erwarten ist, daß sie in den kommenden Jahren zunehmen wird. Einige junge Paare leben heute in den ersten Jahren ihrer Ehe nicht mehr bei den Eltern des Mannes, da die jungen Ehemänner schon vor der Eheschließung in die USA migriert sind und deshalb auch die (wirtschaftlichen) Möglichkeiten haben, früher, als es traditionell üblich ist, einen eignen Haushalt zu etablieren. Die Auflösung des ejido Systems zu Beginn der neunziger Jahre hat diese Entwicklungen sogar noch verstärkt, denn die Landwirtschaft wird dadurch zunehmend zu einer Option für nur noch einige wenige Familien, die in der Lage sind, einerseits neues Land zu kaufen und andererseits in neue Technologien zu investieren. Es ist nicht erstaunlich, daß der starke Anstieg der Migration in die USA und die Auflösung des ejido Systems fast zeitgleich sind. Wie die verschiedenen Migrationsstrategien gezeigt haben, ist die Auflösung des ejidos auch eine Chance für viele Haushalte, neue Investitions- und Wirtschaftsstrategien zu versuchen. Allerdings hat die Auflösung des ejidos, in dem es – überspitzt formuliert – niemandem besonders gut ging, aber auch niemandem besonders schlecht – für einige Familien und Haushalte auch sehr negative Konsequenzen gehabt. Durch strategisch ungünstige Landverkäufe stehen mehrere Familien heute vor sehr schwerwiegenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen. Die sich neu herausbildende Stratifizierung der ländlichen Gemeinschaft ist also nicht nur eine Verschiebung der hierarchischen Struktur von der älteren zu der jüngeren Generation. Auch in der jüngeren Generation gibt es Verlierer des neuen Systems. Vielmehr ist das wesentliche Merkmal der neuen wirtschaftlichen Ordnung, die sich im Dorf bildet, daß heute die wirtschaftlichen Möglichkeiten nicht mehr in Abhängigkeit zum Alter eines Dorfbewohners stehen. Heute ist es möglich, daß ein Mann schon mit zwanzig Jahren ein Haus, ein Auto und eigenes Land besitzt, was noch vor dreißig Jahren in diesem Kontext undenkbar war. Ebenso gibt es aber sowohl Zwanzigjährige als auch Fünfzigjährige, die ihren und den Lebensunterhalt ihrer Familien mit äußerst ungewisser Saisonarbeit bestreiten müssen. Wie in den theoretischen Grundlagen dieser Arbeit ausgeführt worden ist, stellt die Möglichkeit, wirtschaftliche und soziale Autonomie unabhängig vom Alter ei- KAPITEL 6. DER FERTILE WANDEL 259 nes Individuums oder den Entscheidungen eines Kollektivs, wie dem ejido, zu erlangen, zwar eine entscheidende Grundvoraussetzung für einen fertilen Wandel dar. Daneben müssen aber weitere Faktoren hinzu kommen. Auch in Pueblo Nuevo gibt es seit einigen Jahren TECHNOLOGISCHE INNOVATIONEN (3), wie Traktoren und neue Düngemittel. Investition und Gebrauch dieser technologischen Möglichkeiten vermindern den Bedarf eines Haushalts an Arbeitskräften. Weiterhin ist die SÄUGLINGS- UND KINDERSTERBLICHKEIT (4) rapide zurückgegangen. Wie auch in den theoretischen Ausführungen prognostiziert, haben diese beiden Entwicklungen dazu geführt, daß einerseits mit weniger Geburten eine gewünschte Kinderzahl erreicht werden kann und andererseits der Bedarf an vielen Kindern als Arbeitskräfte in der Landwirtschaft gesunken ist. Wie die Migration und die damit verbundenen neuen Einkommensquellen stellt auch eine alle Bevölkerungsgruppen einschließende SCHULBILDUNG (5), welche Caldwell (1980: 255) als mass education bezeichnet, einen wichtigen Faktor dar, damit es zu einem fertilen Wandel kommt. In der ethnographischen Beschreibung hat sich eindeutig gezeigt, daß seit den siebziger Jahren in Pueblo Nuevo die große Mehrheit der Kinder zumindest einige Jahre die primaria besucht. Der Prozentsatz an Analphabeten ist beständig zurückgegangen, und immer mehr Frauen und Männer besuchen sogar weiterführende Schulen nach dem Abschluß der primaria. Gleich den Veränderungen der Einkommensstruktur, so hat auch eine starke Verbreitung von Schulbildung u.a. den Effekt, wirtschaftliche Alternativen und Möglichkeiten eines Individuums zu verbessern. Der letzte Faktor, der hier als STATUS DER FRAU (6) bezeichnet wird, wird in vielen Studien hauptsächlich als der Zugang der Frau zu eigenen Ressourcen operationalisiert und mit dem Anteil an berufstätigen Frauen gemessen. In diesen Studien (z.B. Handwerker 1989) wird davon ausgegangen, daß ein eigener Zugang zu Ressourcen es einer Frau ermöglicht, unabhängig von (Ehe) Mann und Kindern (reproduktive) Entscheidungen zu treffen. Die ethnographischen Beschreibung hat aber gezeigt, daß nur sehr wenige Frauen einer Berufstätigkeit außerhalb des Hauses nachgehen. Mehr als zwei Drittel aller Frauen sind Hausfrauen. Allerdings gibt es eine Gruppe von Frauen, die von ihrem Haus aus Bier oder pulque verkauft. Neben dem Zugang von Ehepaaren zu eigenen wirtschaftlichen Ressourcen unabhängig von der erweiterten Familie gibt es im Dorf also auch einige Frauen, die sich eigene Einkommensquellen erschlossen haben. Trotzdem ist der Zugang einer Frau zu wirtschaftlichen Ressourcen weiterhin begrenzt. Die große Mehrheit der Frauen ist entweder von ihren Eltern, von ihrem Ehemann oder von ihren Kindern wirt- 260 DAS GEPLANTE KIND schaftlich abhängig. Vielleicht stellen die wenigen Fälle an außerhalb des Hauses arbeitenden Frauen aber einen Trend dar, der sich in der Zukunft verstärken wird. Nachdem nun die wichtigsten Faktoren, die in unterschiedlicher Intensität dazu geführt haben, daß es zu einem Wandel der wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen gekommen ist, noch einmal zusammengefaßt worden sind, geht es im folgenden darum zu zeigen, welche reproduktiven Strategien Paare und Haushalte entwickelt haben, um innerhalb dieser neuen Rahmenbedingungen wirtschaftlich zu überleben. Drei Strategietypen können voneinander unterschieden werden (vgl. 2.1): 1. TRADITIONELLE STRATEGIE – ein Paar hat weiterhin relativ viele Kinder, in die relativ wenig investiert wird (vor allem hinsichtlich ihrer Schulbildung), und die früh für den Haushalt zu arbeiten beginnen; 2. GEMISCHTE STRATEGIE – ein Paar hat weiterhin relativ viele Kinder. In einen Teil der Kinder wird viel (in Form von Schulbildung) investiert, in einen anderen Teil der Kinder hingegen wenig. Die schlechter ausgebildeten Kinder tragen erheblich früher zum Haushaltseinkommen bei; 3. MODERNE STRATEGIE – ein Paar hat relativ wenige Kinder, in die aber viel (in Form von Schulbildung) investiert wird. Zunächst zur ersten Strategie: Die TRADITIONELLE STRATEGIE, in der viele Kinder immer noch ein ökonomischer Vorteil sind, da diese schon in jungen Jahren für den Haushalt arbeiten, sei es als Junge auf den Feldern der Familie oder als Mädchen im Haushalt der Familie oder als Hausmädchen in Mexiko-Stadt, findet sich noch heute in der Gemeinde und wird sicherlich noch über längere Zeit weiter existieren. Auch diese Paare investieren heute in eine elementare Bildung ihrer Kinder. Allerdings geht diese nicht über einige Jahre primaria hinaus, damit das Kind lesen und schreiben kann. Kurzfristig gelingt es diesen Paaren, ihr Überleben zu sichern. Aber ihr wirtschaftliches Überleben ist von großen Unsicherheiten geprägt. Sind diese Haushalte gezwungen, etwa bei einer schweren Krankheit eines der Haushaltsmitglieder, ihr Land zu verkaufen, können sie nicht auf die Ressource Bildung zurückgreifen. Hinzu kommt, daß die Migration nach Mexiko-Stadt – eine Möglichkeit für landlose Familien - für die Kinder mit wenig Schulbildung immer schwieriger geworden ist. Die Arbeitgeber in Mexiko-Stadt fordern inzwischen, selbst bei Arbeiten im informellen Sektor, wie der Tätigkeit als Hausmädchen, mindestens den Abschluß der primaria, häufig sogar den Abschluß der secundaria (Alba und Potter 1986: 64). Mit diesen Risiken können Eltern, die eine GEMISCHTE STRATEGIE verfolgen, besser umgehen. Diese Familien kombinieren alte Strukturen und neue Mög- KAPITEL 6. DER FERTILE WANDEL 261 lichkeiten. Ein Teil der Kinder dieser Familien erhält eine überdurchschnittliche Ausbildung. Hierbei handelt es sich meist um die jüngeren Kinder, deren Ausbildung mit Hilfe der älteren Kinder finanziert wird. Ein anderer Teil der Kinder hilft weiter in der Landwirtschaft oder im Haushalt. Diese Strategie, die aus Sicht der älteren Generation am besten die Risiken unloyaler Kinder mindert, ist weiterhin im Dorf stark verbreitet. Eine relativ hohe Kinderzahl ist – wie auch in der ersten Strategie – von Vorteil, da mit vielen Kindern eine Diversifikation der Einkommen besser zu erreichen ist. Allerdings werden auch Familien, die eine dieser beiden Strategien verfolgen, weniger Kinder bekommen, da aufgrund des Rückgangs der Säuglings- und Kindersterblichkeit die beiden Strategien mit weniger Kindern verfolgt werden können. Hinzu kommt, daß die Kosten für ein Kind generell für alle Paare des Dorfes gestiegen sind. Denn selbst wenn ein Kind nur für einige Jahre zur primaria geht, was heute auf so gut wie alle Kinder zutrifft, verursacht das für den Haushalt mehr Kosten als er vor der generellen Verbreitung von Schulbildung zu tragen hatte. Insofern ist es auch nicht erstaunlich, wenn sich Frauen, die gemeinsam mit ihrem Mann eine der beiden Strategien verfolgen, nach dem Erreichen einer als notwendig angesehenen Kinderzahl sterilisieren lassen. Trotzdem werden diese Frauen weiterhin überdurchschnittlich viele Kinder bekommen. Im Gegensatz zu diesen beiden Strategien investieren Eltern, die eine MODERNE STRATEGIE verfolgen, überdurchschnittlich stark in die Ausbildung ihrer wenigen Kinder. Diese Strategie zahlt sich zwar nicht kurzfristig aus, langfristig können die Eltern aber stark von ihrem Verhalten profitieren. Allerdings ist diese Strategie für die Eltern riskant, da die Möglichkeit besteht, daß sich die gut ausgebildeten, wenigen Kinder ihren Eltern gegenüber nicht loyal zeigen. Insofern ist diese Strategie hauptsächlich für solche Eltern eine Option, die aufgrund ihrer eigenen wirtschaftlichen Stellung nicht oder kaum von ihren Kindern (wirtschaftlich) abhängig sind. Wie in der ethnographischen Beschreibung gezeigt wurde (vgl. 4.2.2.1), wünschen gebildetere Frauen und Männer, die selber über die primaria hinaus zur Schule gegangen sind, mehr Schulbildung für ihre Kinder und investieren auch mehr in die Bildung ihrer Kinder. Der Effekt der Schulbildung der Frau ist hier sogar noch stärker. Da diese Paare selber eine bessere Schulbildung haben, häufig nicht von der Landwirtschaft leben und ihnen deshalb auch mehr Kapital zu Verfügung steht, um in die Bildung ihrer Kinder zu investieren, können sie es sich leisten, zum einen auf die Arbeitskraft ihrer Kinder innerhalb der Landwirtschaft zu verzichten und zum anderen das Risiko eines unloyalen Kindes einzugehen. Ist das Kind aber den Eltern gegenüber loyal, profitieren diese Eltern von ihrer wirtschaftlichen Strategie. Es ist zu vermuten, daß es in den kommenden Jahren immer mehr DAS GEPLANTE KIND 262 Paare geben wird, die eine solche moderne Strategie verfolgen. Die traditionelle Strategie wird hingegen immer seltener zu finden sein, und Paare, die sich auf sie verlassen (müssen), werden mit hoher Wahrscheinlichkeit immer mehr verarmen. 54 6.4.3 Das Planen reproduktiver Entscheidungen Eine notwendige Voraussetzung, damit es zur Planung einer gewünschten Kinderzahl kommt, besteht darin, daß eine Frau oder ein Paar eine Vorstellung über eine ideale Kinderzahl haben (E. van de Walle 1992). Wird hingegen keine Zahl, sondern eine andere Instanz, wie Gott, als Entscheidungsträger genannt, kann nicht von einer bewußten, Kosten und Nutzen abwägenden reproduktiven Entscheidung gesprochen werden. Auf die mit dieser Konzeptualisierung verbundenen Probleme wurde schon im Kapitel über die theoretischen Grundlagen dieser Arbeit eingegangen (vgl. 2.2). Diese notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung ist heute in Pueblo Nuevo gegeben. Bis auf eine Ausnahme nannten alle Frauen, die 1996/97 im reproduktiven Alter waren, eine gewünschte Kinderzahl. Fünf weitere Frauen, die Gott als Referenz angaben, hatten ihre reproduktive Phase beendet. Heute läßt sich deshalb für Pueblo Nuevo anhand der Art und Weise, wie auf die Frage nach einer gewünschten Kinderzahl geantwortet wird, nicht ermessen, inwiefern eine Frau oder ein Paar eine bewußte, reflektierte reproduktive Entscheidung trifft. Andere Rahmenbedingungen sind dafür ausschlaggebend, ob ein Paar in der Lage ist, 54 Diese drei Strategien erfassen das reproduktive Verhalten fast aller Paare, so wie es heute in der Gemeinde zu finden ist. Es gibt aber eine Familie, die eine auffallende Ausnahme darstellt. Giselda, 36 Jahre, und ihr Mann Alberto, 41 Jahre, haben beide eine höhere Schulbildung. Alberto hat durch geschickte Investitionen mit Abstand den größten Landbesitz in der Gemeinde. Er besitzt moderne Maschinen, zwei Autos, ein modernes Haus. Darüber hinaus verwaltet Giselda die CONASUPO tienda des Dorfes. Diese Konstellation läßt vermuten, daß dieses Paar nur wenige, aber sehr gut ausgebildete Kinder hat. Entgegen dieser Erwartung hat Giselda zehn Schwangerschaften gehabt, neun ihrer Kinder haben überlebt. Bis auf den jüngsten Sohn, der zu klein ist, um in den Kindergarten zu gehen, besuchen alle Kinder die Schule. Es fragt sich, inwiefern diese Familie einen neuen Trend darstellt. Eine mögliche Hypothese kann darin bestehen, daß es einen kurvilinearen Zusammenhang zwischen Fertilität auf der einen, Schulbildung und wirtschaftlicher Stellung der Eltern auf der anderen Seite gibt. Die wirtschaftlich potentesten und am besten ausgebildeten Eltern haben ebenso wie die wirtschaftlich marginalsten und am schlechtesten ausgebildeten Eltern überdurchschnittlich viele Kinder, allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Paare in der Mitte, mit durchschnittlicher oder etwas gehobener Bildung und wirtschaftlicher Stellung sind hingegen diejenigen Paare, die nur noch wenige Kinder bekommen. Der Fall Giseldas könnte ein Beleg für eine solche Entwicklung in der Zukunft sein, allerdings ist zu bedenken, daß dieser Fall bisher der einzige Fall in der Gemeinde ist. Inwieweit es sich wirklich um einen Trend handelt, kann erst in den kommenden Jahren beurteilt werden. KAPITEL 6. DER FERTILE WANDEL 263 eine solche Art der Entscheidung zu treffen. 55 Schon in den vorangegangenen Abschnitten haben sich hierzu Hinweise ergeben. Aufgrund normativer Vorstellungen ist es einem Paar nur sehr schwer möglich, die Geburt des ersten Kindes nach einer öffentlichen Etablierung seiner Beziehung zu verzögern. Anders ist es mit den folgenden Kindern. Weiterhin spielt die wirtschaftliche und soziale Situation, in der ein Paar lebt, eine große Rolle in Bezug darauf, ob es ihm möglich ist, eine unabhängige und reflektierte Entscheidung zu treffen. Paare, die die ersten Jahre ihrer Ehe bei den Eltern des Mannes verbringen, sind aufgrund ihrer sozialen und wirtschaftlichen Situation erheblich weniger zu einer solchen Entscheidung in der Lage, als Paare, die von Beginn ihrer Beziehung an wirtschaftlich und sozial relativ unabhängig sind. Je früher es einem Paar möglich ist, sich eine eigene wirtschaftliche Existenz aufzubauen, desto wahrscheinlicher wird es auch, daß ein Paar eine von den normativen Vorgaben der älteren Generation unabhängige Planung seines Lebens, und damit verbunden auch seiner reproduktiven Entscheidungen, vornimmt. Neben diesen Veränderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die schon ausführlich im vorangegangenen Abschnitt diskutiert worden sind, ist es aber auch in Pueblo Nuevo generell zu einem institutionellen und ideologischen Wandel, so wie er von Lesthaeghe und Wilson (1986, Lesthaeghe 1980) beschrieben worden ist, gekommen. Diese Entwicklung, die Lesthaeghe (1980) treffend als Individualisierung beschreibt, hängt mit dem schwindenden Einfluß der katholischen Kirche, mit der Auflösung des ejido Systems und mit den sich verändernden Geschlechterbeziehungen zusammen. Wie in der Ethnographie beschrieben worden ist, ist der Einfluß der katholischen Kirche auch in Pueblo Nuevo zurückgegangen (vgl. 4.2.2.3). Der Besuch der Kirche beschränkt sich in den meisten Familien auf Fest- und Feiertage. Gerade in Fragen der Verhütung zeigt sich sehr deutlich, daß nicht mehr die Interessen eines größeren Kollektivs, wie der Kirche oder des Haushalts, im Vordergrund stehen, sondern die individuellen Interessen. Lucias Argumentation, die in der Analyse des sozialen Umfeldes der Frau vorgestellt worden ist und mit der sie ihren Mann von der Verwendung von Verhütung überzeugt hat, zeigt, daß sie sich bewußt gegen die Dogmen der Kirche und für ihr eigenes und das Wohl ihrer Kinder entscheidet. Doch gibt es auch weiterhin Familien im Dorf, für die die ideologischen Vorgaben der katholischen Kirche handlungsleitend sind. Allerdings stellen diese Familien 55 Wie in den theoretischen Grundlagen dieser Arbeit schon erklärt worden ist, ist es nur schwer möglich, den Entscheidungsprozeß als solchen zu beschreiben. Wichtiger ist hier, die Rahmenbedingungen zu schildern, welche eine bewußte, reflektierte Entscheidung wahrscheinlich machen. 264 DAS GEPLANTE KIND nur noch eine Gruppe unter mehreren Gruppen dar. Es ist nicht zu einer generellen Ablehnung der Institution und Ideologie der katholischen Kirche gekommen, sondern zu einer Ergänzung dieser Institution und ihrer ideologischen Vorgaben durch andere Institutionen und Ideologien. Das Individuum oder das Paar ist heute, allerdings in Abhängigkeit von seinen wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen, in der Lage, zwischen diesen Optionen zu wählen. Dies zeigt sich etwa darin, daß direkt neben die Kirche in Solís in den siebziger Jahren die Gesundheitsklinik gebaut worden ist, die mit großer Vehemenz Familienplanung propagiert. Die zunehmende Individualisierung der ländlichen Gemeinschaft ist sicherlich auch durch die Auflösung des ejido Systems verstärkt worden. Es ist nur noch begrenzt möglich, sich auf ein Kollektiv zu verlassen, dafür kann das Kollektiv aber auch weniger Einfluß auf die individuellen Entscheidungen nehmen. Der um eine erweiterte Familie aufgebaute Haushalt als Produktionseinheit ist nur noch eine mögliche Variante, um in dieser neuen Situation wirtschaftlich zu überleben. Immer stärker verbreitet sich eine neue Form der Produktion, deren Basis die Kernfamilie ist. Daß sich diese Kernfamilien auch in sichtbarer Weise von den erweiterten Familienhaushalten unterscheiden, zeigt sich etwa in dem in der Ethnographie beschriebenen zunehmenden Mauerbau und der Entstehung von Wohnzimmern (vgl. 4.2.2.1). Diese Familien wollen nur noch dann in die soziale Interaktion ihrer erweiterten Familie und des Dorfes, die auch eine starke soziale Kontrolle für das Individuum bedeutet, eingebunden sein, wenn sie sich dazu entscheiden. Das soziale Leben dieser Familien spielt sich nicht mehr für alle sichtbar vor dem Haus ab, sondern hinter verschlossenen Türen. Auch Schule, Migration und neue Kommunikationsmedien, wie Radio und Fernsehen, haben neue Werte und Normen initiiert und verbreitet. Neben dem Effekt, den Migration und Schulbildung auf die wirtschaftlichen Möglichkeiten eines Individuums haben, erweitern sie auch das Wissen eines Individuums über alternative Sichtweisen und Entscheidungsmodi. Beispielsweise bestand für viele der unverheirateten Mädchen der Wert eines Kindes darin, daß es Ausdruck der Liebe zwischen Mann und Frau ist. Das Konzept der romantischen Liebe wird gerade in den im Dorf sehr populären und stark von jungen Mädchen konsumierten telenovelas verbreitet. Die Verbreitung von Schulbildung hat nur begrenzt dazu geführt, daß Frauen heute andere Tätigkeiten außer der Hausarbeit ausüben. Dies liegt allerdings auch an den generell im Tal nur sehr begrenzt vorhandenen Arbeitsmöglichkeiten. Vielmehr hat sich durch eine bessere Schulbildung von Mann und Frau sowohl die Beziehung zwischen den Geschlechtern als auch die Beziehung zwischen den Eltern und ihren Kindern verändert. Wie auch in der in den theoretischen Grundlagen KAPITEL 6. DER FERTILE WANDEL 265 zitierten Studie von LeVine et al. (1991) sind es in Pueblo Nuevo gerade die gut ausgebildeten Mütter mit wenigen Kindern, die sich intensiv mit ihren Kindern auseinandersetzen. Zur Interaktion zwischen Müttern und ihren Kindern wurden keine systematischen Daten erhoben. Aber viele ethnographische Beobachtungen haben gezeigt, daß diese Mütter ein anders Konzept von den Rechten ihrer Kinder haben. 56 Hinsichtlich der Interaktion von Mann und Frau sind verschiedene Tendenzen zu beobachten. Heute gibt es in Pueblo Nuevo Partnerschaften, in denen Mann und Frau, wenn auch weiterhin in getrennten Bereichen arbeitend, trotzdem gemeinsam entscheiden. Doch selbst diese Trennung in verschiedene Arbeitsbereiche löst sich sukzessive auf, da immer mehr Männer auch Aufgaben im Haushalt übernehmen. Gemeinsam entscheidende Paare sind häufig überdurchschnittlich gebildet. Da Mann und Frau eine ähnliche Schulbildung haben, ist es wahrscheinlicher, daß sich beide als kompetent in Entscheidungsfragen wahrnehmen. Weiterhin leben diese Paare nicht in einem um eine erweiterte Familie aufgebauten Haushalt, sondern sind wirtschaftlich unabhängig. Die Schwiegermutter und die Schwiegereltern haben wenig, u.U. gar keinen Einfluß auf die Kommunikation und die Entscheidungen des Paares. Die wirtschaftliche Abhängigkeit der Frauen von ihren Kindern ist in diesen Fällen erheblich geringer als in Partnerschaften, in denen Mann und Frau keine egalitären Partner sind. Für eine Frau, die in einer Beziehung lebt, in der beide Partner an Entscheidungen und Planung beteiligt sind, ist die Beziehung zu ihrem Ehemann deshalb mindestens genauso wichtig wie die zu ihren Kindern. Es gibt aber auch weiterhin Paare, die wenig oder gar nicht gemeinsam entscheiden. Die wirtschaftliche Situation dieser Frauen ist von großer Unsicherheit geprägt. Indem sie eine sehr starke Bindung zu ihren Kindern entwickeln, die diese dazu verpflichtet, der Mutter zu helfen, versuchen diese Frauen, sich gegen (wirtschaftliche) Risiken abzusichern. Häufig leben diese Frauen bei den Eltern des Mannes. Wichtige Entscheidungen werden von den männlichen Haushaltsmitgliedern oder der älteren Generation getroffen. Hier zeigt sich wiederum die Bedeutung eines sozialstrukturellen Ansatzes, der verschiedene Phasen des Lebenszyklus berücksichtigt. Unter Umständen kann es in späteren Lebensphasen auch zu einer egalitären Beziehung kommen, wie die Lebensgeschichte von Chucha (vgl. 5.3.5) gezeigt hat. 56 Beispielsweise hatten mehrere dieser Mütter (z.B. Angela und Guadalupe, vgl. 5.3) ein Poster von der UNICEF über die Rechte von Kindern in ihren Wohnzimmern (!) aufgehängt. 266 DAS GEPLANTE KIND Daß es Paaren gelingt, ihre reproduktiven Wünsche auch tatsächlich in die Realität umzusetzen, ist ein Indikator dafür, ob ein Paar bewußte und unabhängige reproduktive Entscheidungen trifft und treffen kann. Martín (1995) hat gezeigt, daß gebildetere Frauen signifikant häufiger Wunsch und Realität in Einklang bringen können. Dies bestätigt sich auch für Pueblo Nuevo. Je länger eine Frau zur Schule gegangen ist, desto kleiner ist die Differenz zwischen ihrer tatsächlichen Anzahl an Kindern und ihrer gewünschten Anzahl. 57 Die Schulbildung dieser Frauen kann auf unterschiedliche Art und Weise dazu führen, daß sie ihre Planung auch umsetzen. Zum einen erhöht die Schulbildung die Kommunikation zwischen den Partnern und macht deshalb eine abgewogene, von beiden Partnern gemeinsam getroffene Entscheidung wahrscheinlicher. Durch Schulbildung kann ein Paar weiterhin eine größere soziale und wirtschaftliche Autonomie erlangen, wodurch der Einfluß und die Interessen auf und am reproduktiven Verhalten eines Paares von größeren Kollektiven, wie dem um eine erweiterte Familie aufgebauten Haushalt, verringert werden. Ab der primaria findet in Pueblo Nuevo Aufklärungsunterricht statt (vgl. 6.3.1). Allerdings müssen die Eltern eines Kindes hierfür ihr Einverständnis geben. Deshalb wissen viele der Frauen, die länger zur Schule gegangen sind, mehr über effiziente Verhütungsmethoden. Dies erhöht auch die Wahrscheinlichkeit der (effizienten) Anwendung. Ursachen, die zu einer reflektierteren und unabhängigeren reproduktiven Entscheidung führen, stehen also in einem starken Zusammenhang zu den im vorangegangenen Abschnitt diskutierten Veränderungen. Die Veränderungen der sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, allerdings in Abhängigkeit zur Position im Lebenszyklus, haben dazu geführt, daß reproduktive Entscheidungen heute immer mehr zu individuellen Entscheidungen einer Frau oder eines Paares werden. Parallel dazu ist es aber auch zu einem institutionellen Wandel gekommen, durch den sich neue Normen und Werte in der Gemeinde verbreitet haben. Dieser Wandel stellt aber auf keinen Fall eine Ablösung eines alten ideologischen Systems durch ein neues ideologisches Systems dar. Vielmehr ist eine weitgehende Homogenität im Verhalten und Denken von einer Heterogenität sowohl im Verhalten als auch in den Überzeugungen abgelöst worden. 57 Um Verzerrungen zu vermeiden, werden nur Frauen im reproduktiven Alter, die in einer Partnerschaft leben, hier berücksichtigt (N=110). Es ergibt sich eine Korrelation von r=-0,390**. KAPITEL 6. DER FERTILE WANDEL 6.5 267 Zusammenfassung der Ergebnisse Das fertile Verhalten der Bewohner Pueblo Nuevos hat sich ähnlich der nationalen Entwicklung, insbesondere aber der Entwicklung in anderen ländlichen Regionen Mexikos, verändert. Das kausale Modell der Komponenten, proximaten Determinanten und Coales drei Grundbedingungen (vgl. Abbildung 6.1) konnte diesen Wandel erfassen und erklären. Die ethnographische Beschreibung Pueblo Nuevos hat gezeigt, warum es vor den siebziger Jahren zu keinem fertilen Rückgang kommen konnte. Rahmenbedingungen, die gegeben sein müssen, damit die drei von Coale (1975) formulierten Grundbedingungen zur Anwendung kommen, waren noch nicht vorhanden. Dies änderte sich Mitte der siebziger Jahre. Pueblo Nuevo bestätigt die von Watkins formulierte Erkenntnis, daß „(...) dollar for dollar, family-planning programs are more effective in countries or areas that have experienced development.“ (1987: 657). Der beschriebene fertile Wandel und der damit in Zusammenhang stehende Wandel der kulturellen Rahmenbedingungen ist aber weder in seinem Verlauf noch in seinem bisherigen Ergebnis homogen. Zwar verlief der Rückgang der Fertilität nach einem bestimmten Muster (wenige Veränderungen des Alters bei erster Geburt, leichte Veränderungen der Geburtenabstände und ein erheblich früheres Alter bei letzter Geburt), doch hat sich auch dieses Muster in den letzten Jahren gewandelt. Eine Gruppe von Frauen hat damit begonnen, eine Planung ihrer reproduktiven Phase durch eine Verlängerung ihrer Geburtenabstände vorzunehmen. Natürlich kann auch ein früheres Ende der reproduktiven Phase Ausdruck von reproduktiver Planung sein. Auch solche Frauen, die sehr schnell und mit sehr kurzen Geburtenabständen ihre gewünschte Kinderzahl erreichen und dann, hauptsächlich durch eine Sterilisation, ihre reproduktive Phase beenden, finden sich heute in der Gemeinde. Es stehen den Paaren und Frauen des Dorfes heute folglich verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, um die Zahl an Kindern zu bekommen, die sie für wünschenswert halten. Vor der Zeit des umfassenden Wandels war das Leben eines Individuums vom Individuum selber aufgrund seiner starken Einbindung in Kollektive, wie ejido und Kirche, nur äußerst begrenzt planbar. Durch den Wandel der Rahmenbedingungen hat sich diese Situation heute sehr deutlich verändert, was die beschriebenen Vorund Nachteile für den einzelnen mit sich bringt. Da Paare heute erheblich autonomer Entscheidungen treffen können, haben sich auch neue Strategien des Überlebens entwickelt. Ebenso variiert das reproduktive Ergebnis dieser Strategien, die 268 DAS GEPLANTE KIND Anzahl an Kindern eines Paares. Das bisherige Ergebnis des fertilen Wandels in Pueblo Nuevo besteht vor allem darin, daß es zu starken Variation des reproduktiven Verhaltens gekommen ist. Trotzdem lassen sich bestimmte prototypische Handlungsweisen erkennen, die eine Ordnung in die zu beobachtende Heterogenität bringen. Aufgrund bestimmter Rahmenbedingungen, in denen sich ein Paar zu einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens befindet, können Hypothesen hinsichtlich seines reproduktiven Verhaltens gebildet werden. Um welche Rahmenbedingungen es sich hierbei handelt, wurde in den vorangegangenen Kapiteln detailliert beschrieben. Beispielsweise ist zu erwarten, daß ein gebildetes Paar eher außerhalb der Landwirtschaft tätig ist, mehr Besitz hat und in wenige, dafür aber gut ausgebildete Kinder investiert. Die Formulierung, Operationalisierung und Überprüfung dieser Hypothesen, durch die die vorhandenen fertilen Variationen erklärt werden sollen, sind Gegenstand des folgenden Kapitels. Bevor aber die Variationen fertilen Verhaltens erklärt werden, müssen sie zunächst ebenfalls operationalisiert und gemessen werden. Mit dieser Operationalisierung und Messung wird im folgenden Kapitel begonnen. Kapitel 7 Variationen fertilen Verhaltens 7.1 Von der Homogenität zur Heterogenität fertilen Verhaltens Das fertile Verhalten der älteren Frauen des Dorfes ist weitaus homogener als das fertile Verhalten jüngerer Kohorten, denn die älteren Frauen hatten nicht oder nur sehr begrenzt die Möglichkeit, ihre Fertilität zu kontrollieren. Die wichtigste Ursache, warum es trotzdem zu Variationen des fertilen Verhaltens der älteren Frauen gekommen ist, besteht in der Witwenschaft einer Frau. Die überwiegende Mehrheit verwitweter Frauen heiratete nicht wieder, wodurch ihre reproduktive Phase zum Teil erheblich früher endete, als dies für die anderen Frauen ihrer jeweiligen Kohorte der Fall ist. Da diese Variationen hier nicht von Bedeutung sind, werden im folgenden nur Frauen betrachtet, deren Mann im Jahr 1997 noch lebte. Variationen des fertilen Verhaltens dieser Frauen lassen sich fast ausschließlich auf die im vorangegangenen Kapitel beschriebenen Veränderungen der proximaten Determinanten sowie der Rahmenbedingungen zurückführen. 145 Frauen und ihre jeweilige Anzahl an lebenden Kindern werden betrachtet. Unterteilt man diese Frauen in die, schon in vorangegangenen Kapiteln verwendeten Kohorten, zeigt sich deutlich, daß die jeweiligen Standardabweichungen der durchschnittlichen Anzahl an Kindern pro Kohorte zunehmen (Tabelle 7.1). ∅ Anzahl an Kindern Kohorte N 1908-27 1928-37 1938-47 1948-57 1958-67 1968-77 1978-82 3 7 13 24 35 54 9 12,3 14,6 11,6 7,5 5,0 2,4 1,0 0,58 1,99 2,47 3,45 2,41 1,25 0,71 Gesamt 145 5,41 4,29 Standardabweichungen Tabelle 7.1: Standardabweichungen der durchschnittlichen Anzahl an Kindern pro Kohorte 269 270 DAS GEPLANTE KIND Die Variationen fertilen Verhaltens gehen in den beiden letzten Kohorten wieder zurück. Dies liegt daran, daß die Frauen dieser beiden Kohorten noch sehr wenige Kinder haben und aufgrund dessen die Variationen geringer sind. Hinzu kommt, daß alternative reproduktive Entscheidungen häufig erst nach der Geburt des zweiten oder sogar des dritten Kindes für ein Paar möglich werden, wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt wurde (vgl. 6.4.1). Das fertile Verhalten dieser Frauen ist weiterhin verhältnismäßig homogen und es ist davon auszugehen, daß die Variationen des fertilen Verhaltens dieser Frauen erst in den kommenden Jahren sichtbar werden. Insbesondere die Kohorten 1948-57 und 1958-67 weisen starke Variationen der Anzahl an Kindern auf. Die im vorangegangenen Kapitel formulierte Annahme, daß es aufgrund der starken Veränderungen der proximaten Determinanten und der Rahmenbedingungen neben dem fertilen Wandel auch zu starken Variationen fertilen Verhaltens gekommen ist, läßt sich also bestätigen. Das fertile Verhalten der Frauen, die aufgrund ihrer Kohorte und aufgrund ihrer Position im Lebenszyklus unterschiedliche reproduktive Strategien wahrnehmen können, ist sehr heterogen (Kohorten 1948-57 und 1958-67). Einerseits gibt es Frauen, die ihre Fertilität stark reduziert haben und nur noch zwei Kinder bekommen, andererseits finden sich in diesen Kohorten weiterhin Frauen, die bis zu 13 Kindern bekommen. Diese Variationen zu erklären, ist Gegenstand dieses Kapitels. Vorab muß allerdings ein Fertilitätsmaß entwickelt werden, mit Hilfe dessen es möglich ist, die Fertilität von Frauen unterschiedlichen Alters zu vergleichen. Die absolute Anzahl an Kindern einer Frau steht immer auch in Abhängigkeit zum Alter der jeweiligen Frau. Um zu ermessen, inwieweit die Fertilität einer Frau als niedrig oder hoch zu beurteilen ist, muß das Alter der jeweiligen Frau folglich berücksichtigt werden. 7.1.1 Möglichkeiten und Probleme bei der Messung von fertilen Variationen Jeder, der eine Weile in Pueblo Nuevo gelebt hat, wird sich intuitiv ein Bild davon machen, welche Frau ‚wenige‘ und welche Frau ‚viele‘ Kinder hat. Eine Einschätzung und Beurteilung des fertilen Verhaltens der Dorfbewohner untereinander ist Gegenstand sehr vieler Alltagsgespräche im Dorf. Zum Beispiel kommentierte Angela, meine Assistentin, häufig das fertile Verhalten ihrer Nachbarinnen: „Ja, die Cuca, die hat so viele Kinder, das würde ich nie ertragen“ (Feldnotiz Nr. 11, 1/10/96) oder „Die Susanna, die hat es richtig gemacht, nur zwei Kinder und dann die Spirale.“ (Feldnotiz Nr. 11, 1/10/96). Es fragt sich, was für Kriterien die Grundlage dieser Beurteilungen sind. KAPITEL 7. VARIATIONEN FERTILEN VERHALTENS 271 Eine Frau, die fünf Kinder hat, könnte auf den ersten Blick viele Kinder haben, doch wenn man bedenkt, daß sie schon älter als 45 Jahre ist und höchstwahrscheinlich keine weiteren Kinder mehr bekommt, alle anderen Frauen ihres Alters aber zehn Kinder haben, dann hat diese Frau nicht mehr viele Kinder sondern im Vergleich zu Frauen ihres Alters sogar wenige Kinder. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt man, wenn man eine 19 Jahre alte Frau mit zwei Kindern betrachtet. Die reine Anzahl an Kindern erscheint wenig, setzt man das reproduktive Verhalten dieser Frau in Bezug zum reproduktiven Verhalten anderer Frauen ihres Alters, so zeigt sich aber, daß diese Frau für ihr Alter sehr viele Kinder hat. Im Gegensatz zu ihren Altersgenossinnen, die fast alle noch kein Kind haben, hat sie schon zwei Kinder. Die Berücksichtigung des Alters und der Kohorte einer Frau, um zu ermitteln, ob eine Frau ‚viele‘ oder ‚wenige‘ Kinder hat, wird von den Bewohnern des Dorfes intuitiv vorgenommen. Da alle Frauen der älteren Kohorten für heutige Verhältnisse sehr viele Kinder gehabt haben, sind die fertilen Abweichungen einiger Frauen innerhalb dieser Kohorten anders zu beurteilen als die Variationen in den jüngeren Kohorten. Insofern ist es für den Vergleich des fertilen Verhaltens aller Frauen notwendig, ein Maß zu konstruieren, welches nicht in Abhängigkeit zur Kohorte und zum Alter einer Frau steht. Ein solches Maß muß berücksichtigen, daß ältere Frauen sich zeitlich gesehen schon länger in ihrer reproduktiven Phase befinden und deshalb auch mehr Kinder haben können als jüngere Frauen. In der demographischen und der ethnodemographischen Literatur finden sich mehrere Versuche, mit diesem Problem umzugehen. Drei Ansätze sind hierbei im wesentlichen zu nennen: 1. Es werden nur Frauen betrachtet, deren reproduktive Phase als abgeschlossen gelten kann (Martín 1995, Odell 1986, Handwerker 1989); 2. Nicht die Fertilität als solche wird gemessen und erklärt, sondern die Verwendung von Verhütung (Hill, Stycos und Back 1959); 3. In Regressionsmodellen wird das Alter einer Frau als eine von mehreren erklärenden Variablen eingegeben. Die zu erklärende Variable ist die Anzahl an Lebendgeburten (Balk 1994). Das Problem des ersten Ansatzes besteht darin, daß ein solches Vorgehen die Fallzahlen – gerade bei ethnodemographischen Arbeiten, die ohnehin nur wenige Fälle 272 DAS GEPLANTE KIND untersuchen – drastisch reduziert. 1 Hinzu kommt, daß sich u.U. die Variationen fertilen Verhaltens erst bei jüngeren Kohorten zeigen, die sich noch in ihrer reproduktiven Phase befinden, das fertile Verhalten der Frauen mit abgeschlossener reproduktiver Phase hingegen sehr homogen ist. Dies gilt auch für den hier untersuchten Fall. Der zweite Ansatz ist dann problematisch, wenn Fertilität und nicht nur die proximate Determinante Verhütung untersucht werden soll. Die proximate Determinante Verhütung ist ohne Frage eine der wichtigsten Ursachen für die Variationen fertilen Verhaltens. Trotzdem ist sie nicht der einzige Grund, warum es zu Variationen fertilen Verhaltens kommt. Andere proximate Determinanten, wie die Koitusfrequenz und die Häufigkeit von Abtreibungen, führen gleichfalls zu fertilen Variationen. Eine direkte Messung der Variationen fertilen Verhaltens und nicht nur eine Messung einer Ursache dieser Variationen ist deshalb wünschenswert. Durch ein solches Vorgehen kann der Einfluß der anderen proximaten Determinanten, zumindest indirekt, berücksichtigt werden. Auch der letzte Ansatz ist für ethnodemographische Untersuchungen problematisch, denn er legt die Methode der Auswertung fest. In solchen Regressionsmodellen ist das Alter einer Frau eine erklärende Variable neben anderen. Das Alter einer Frau erklärt den größten Teil der Variationen fertilen Verhaltens (z.B. Balk 1994). Möchte man aber nicht nur mit Regressionen arbeiten, sondern auch z.B. bivariate Verfahren anwenden, kommt es wiederum zu den oben beschriebenen Problemen. Die Anzahl an Kindern einer Frau kann beispielsweise nicht ohne eine Berücksichtigung ihres Alters mit ihrer Schulbildung korreliert werden. 1 Auch wenn man das Ende der reproduktiven Phase flexibler handhabt und nicht das strikte Kriterium des Alters der Frau, das beispielsweise mindestens 45 Jahre oder älter sein muß, anwendet, bleibt dieses Problem bestehen. Handwerker (1989) vergrößert beispielsweise seine Stichprobe, indem er Frauen in seine Analysen miteinbezieht, die 35 Jahre, bei einigen Analysen sogar erst 30 Jahre alt sind. Handwerker argumentiert, daß prozentual gesehen die meisten Kinder vor dem 35. (30.) Lebensjahr geboren werden. Allerdings ist dieses Vorgehen problematisch, denn wie die Analyse des fertilen Wandels in Pueblo Nuevos gezeigt hat, gibt es auch nach dem 30. und 35. Lebensjahr noch viele Geburten und Variationen von Fertilität zeigen sich u.U. erst bei diesen mittleren Altersklassen. Eine andere Möglichkeit – das Arbeiten mit sogenannten offenen Intervallen – löst das Problem ebenfalls nicht. Ein offenes Intervall ist das Intervall nach der Geburt des letzten Kindes einer Frau und dem Zeitpunkt der Erhebung. Hat eine, zum Zeitpunkt der Erhebung vierzigjährige Frau etwa im Alter von 35 Jahren ihr letztes Kind bekommen, beträgt das offene Intervall 5 Jahre. Um mehr Frauen als nur die Frauen mit abgeschlossener Reproduktion einzubeziehen, kann man festlegen, wie lang das offene Intervall sein muß, damit die reproduktive Phase einer Frau als beendet gelten kann. So können etwa alle Frauen einbezogen werden, die 45 Jahre und älter sind oder ein offenes Intervall von mindestens fünf Jahren haben. Trotzdem werden weiterhin viele Frauen von der Analyse ausgeschlossen. KAPITEL 7. VARIATIONEN FERTILEN VERHALTENS 273 Um das reproduktive Verhalten von Frauen unterschiedlichen Alters trotzdem miteinander vergleichen zu können, wurde ein Fertilitätsmaß entwickelt, das das Alter der jeweiligen Frau berücksichtigt. Frauen ähnlichen Alters werden miteinander verglichen. Es wird bestimmt, welche Frau im Vergleich zu ihren Altersgenossinnen eine sehr niedrige, niedrige, hohe oder sehr hohe Fertilität hat. Die verschiedenen Kategorien lassen sich dann über die Alterskohorten hinweg, aus denen sie gebildet wurden, miteinander vergleichen. Im folgenden wird nur noch das fertile Verhalten von 106 Frauen analysiert. Diese Frauen befinden sich alle noch in ihrer reproduktiven Phase, sind also zwischen 15 und 44 Jahren alt, und sie leben in einer Beziehung. Tatsächlich treffen diese beiden Kriterien auf 110 Frauen der Gemeinde zu. Vier dieser Frauen werden im folgenden aber ausgeklammert, da ihr reproduktives Verhalten nicht mit den hier erfaßten Variablen erklärt werden kann. Drei dieser Frauen sind mit hoher Wahrscheinlichkeit steril und schon seit mehr als zehn Jahre verheiratet. Trotz eines starken Kinderwunsches hat keine dieser Frauen bisher ein Kind bekommen. Ihre Kinderlosigkeit hat physiologische Ursachen, die in dieser Arbeit nicht erklärt werden können. Eine weitere Frau hat erst mit 40 Jahren geheiratet, da sie bis dahin ihre Eltern gepflegt hat. Auch diese Frau hat im Vergleich zu ihren Altersgenossinnen eine sehr niedrige Fertilität. Da alle vier Fälle im gegebenen Rahmen irrelevant sind und bei einer Einbeziehung die Ergebnisse verzerren würden, bleiben sie unberücksichtigt. Daß nur Frauen zwischen 15 und 44 Jahren, die in einer Partnerschaft leben, ausgewählt worden sind, liegt daran, daß viele der erklärenden Variablen, wie etwa die Schulbildung und der Beruf des Mannes, sich nur auf diese Gruppe von Frauen beziehen. 2 Die 106 ausgewählten Frauen werden in vier Jahres Kohorten unterteilt. Eine Unterteilung in drei Jahres Kohorten wäre methodisch noch präziser, ist aber nicht durchführbar, da sich die Fallzahlen pro Kohorte zu stark verringern würden. Potentiell können die älteren Frauen der jeweiligen Kohorte bei Geburtenintervallen von ungefähr zwei Jahren ein Kind mehr haben als die jüngsten Frauen der Kohorte. Das hier verwendete Fertilitätsmaß ist also keinesfalls frei von möglichen Verzerrungen, kann aber aufgrund der relativ kleinen Fallzahlen nicht anders operationalisiert werden. Insgesamt ergibt dieses Vorgehen 7 Kohorten. Die erste vier Jahres Kohorte beginnt 1953. Die letzte Kohorte ist größer als alle anderen Kohorten und umfaßt 2 Diese Eingrenzung der Stichprobe ist auch in anderen (ethno) demographischen Untersuchungen üblich und wird als die Untersuchung der sogenannten marital fertility bezeichnet (Balk 1994, 1997). DAS GEPLANTE KIND 274 nicht vier, sondern sechs Jahre. Hierbei handelt es sich um die zwischen 1977 und 1982 geborenen Frauen. Zunächst wurden diese Frauen in zwei Kohorten mit jeweils drei Jahren unterteilt. Hierbei ergab sich aber, daß für die Kohorte von 1977 bis 1979 vierzehn Frauen berücksichtigt werden können, für die Kohorte von 1980 bis 1982 allerdings nur eine Frau. Aus diesem Grund wurden diese beiden Kohorten zusammengefaßt. In den jeweiligen Kohorten werden zwischen minimal 7 (für die Kohorte 1957 bis 1960) und maximal 24 Frauen (für die Kohorte 1973 bis 1976) verglichen. Für jede Kohorte werden ein Mittelwert und vier Quartile berechnet. Je nachdem, ob sich die Anzahl an Kindern einer Frau ober- oder unterhalb des Mittelwertes ihrer Kohorte befindet, wird festgelegt, ob sie eine sehr niedrige (erstes Quartil), eine niedrige (zweites Quartil), eine hohe (drittes Quartil) oder eine sehr hohe (viertes Quartil) Fertilität hat. Wie in Tabelle 7.2 zu sehen ist, sind die beiden mittleren Kategorien (niedrige und hohe Fertilität) stärker vertreten als die beiden extremen Kategorien (sehr niedrige und sehr hohe Fertilität). Trotzdem kann die Verteilung als einigermaßen ausgeglichen gelten. Fertilitätskategorie N % Sehr niedrige Fertilität Niedrige Fertilität Hohe Fertilität Sehr hohe Fertilität 21 31 32 22 19,8 29,2 30,2 20,8 Tabelle 7.2: Verteilung der Kategorien, N=106 Um die Qualität dieses Fertilitätsmaßes zu überprüfen, können zwei verschiedene Verfahren angewendet werden. Feldnotizen zeigen, daß die Kommentare und Einschätzungen der Frauen über die Fertilität anderer Dorfbewohnerinnen gut mit den Kategorien des Fertilitätsmaßes übereinstimmen. Beispielsweise wird Giselda, 36 Jahre alt und 9 lebende Kinder, als eine Frau mit sehr vielen Kindern gleichermaßen von anderen Frauen als auch innerhalb des Fertilitätsmaßes beurteilt. Im Gegensatz dazu wird Lucia, 37 Jahre und fünf lebende Kinder, sowohl von anderen Frauen als auch innerhalb des Fertilitätsmaßes als eine Frau charakterisiert, die eine niedrige Fertilität hat. Eine andere Möglichkeit, die Validität des Fertilitätsmaßes zu überprüfen, besteht darin, zu untersuchen, inwieweit durch dieses Maß die Variationen der Fertilität erfaßt werden, wenn der Effekt des Alters der Frauen ausgeklammert wird. In einem ersten Schritt wird eine Regression der Anzahl an lebenden Kindern als abhängiger Variable und des Alters der Frauen als unabhängiger Variable durchge- KAPITEL 7. VARIATIONEN FERTILEN VERHALTENS 275 führt. Hierbei ergibt sich, daß fast 60% der Variationen fertilen Verhaltens mit dem Alter erklärt werden können. 3 In einem zweiten Schritt werden die standardisierten Residuen, also die nicht erklärten Variationen, mit dem Fertilitätsmaß korreliert. Erfaßt das Fertilitätsmaß die Variationen fertilen Verhaltens unabhängig vom Alter, dann muß es sehr hoch mit den Residuen korrelieren. Eine Korrelation von r=0,792*** bestätigt diese Annahme. Das konstruierte Fertilitätsmaß erfaßt tatsächlich die Variationen fertilen Verhaltens unabhängig vom Alter der untersuchten Frauen. Der fertile Wandel in Pueblo Nuevo hat dazu geführt, daß es zu starken Variationen des fertilen Verhaltens gekommen ist. Diese Variationen können – altersunabhängig – mit Hilfe des entwickelten Fertilitätsmaßes operationalisiert werden. Nachdem nun sowohl Tatbestand als auch Operationalisierung und Messung des zu untersuchenden Phänomens – den Variationen fertilen Verhaltens – gegeben sind, gilt es im folgenden, das Phänomen zu erklären. 7.2 7.2.1 Erklärung der fertilen Variationen Die zu erklärenden Variablen Die Erklärung der Variationen fertilen Verhaltens wird sich nicht ausschließlich auf das entwickelte Fertilitätsmaß beschränken, denn aufgrund der Ergebnisse vorangegangener Kapitel ist es möglich, neben einer generellen Analyse der Fertilität auch die wichtigsten Komponenten und proximaten Determinanten in einem hierarchischen Kausalmodell zu erklären. Dadurch ergibt sich ein differenzierteres Bild der unterschiedlichen Formen, aufgrund derer es zu Variationen fertilen Verhaltens kommt. Das Fertilitätsmaß ist aber der Ausgangspunkt der Analyse und im folgenden fragt sich, welcher Anteil an Variationen, die durch das Fertilitätsmaß operationalisiert wurden, sich durch welche proximaten Determinanten statistisch erklären läßt. Die Beschreibung und Analyse des fertilen Wandels hat gezeigt, daß insbesondere die proximate Determinante Verhütung zu dem beobachteten Rückgang beigetragen hat. Die Zahl der Frauen, die jemals ein Verhütungsmittel benutzt haben, seien es traditionelle Mittel, wie der Coitus interruptus, oder moderne Verhütungsmethoden, wie hormonelle Methoden, ist stark angestiegen. Allerdings ist die in dem Zusammenhang durchgeführte Operationalisierung und Messung der Ver3 r=0,756***, r2=0,572. 276 DAS GEPLANTE KIND wendung von Verhütung noch zu vereinfachend gewesen. Um nun die beschriebenen Variationen fertilen Verhaltens zu erklären, muß die proximate Determinante präziser operationalisiert werden. Mehrere Frauen haben zwar ein Verhütungsmittel verwendet, dies aber nach sehr kurzer Zeit, in einigen Fällen schon nach einem Monat, wieder abgesetzt. Der Effekt, den Verhütung in diesen Fällen hat, ist minimal und kann folglich nicht die Variationen fertilen Verhaltens erklären. Aus diesem Grund wird berechnet, wie viele Monate ihrer reproduktiven Phase eine Frau durch Verhütung vor einer Schwangerschaft geschützt gewesen ist. Als Beginn der reproduktiven Phase wird das Heiratsalter festgelegt. 4 Da die hier betrachteten Frauen alle zwischen 15 und 44 Jahre alt sind, sich also im reproduktiven Alter befinden, wird das vorläufige Ende der reproduktiven Phase als ihr jetziges (im Jahr 1997) Alter festgelegt. Die Differenz von Heiratsalter und jetzigem Alter ergibt die Jahre, die eine Frau bisher sexuell aktiv gewesen ist. Diese Zeitperiode wird in Monate umgerechnet und in Beziehung gesetzt zu den Monaten, die eine Frau aufgrund der Verwendung von Verhütung vor einer Schwangerschaft geschützt gewesen ist. Der prozentuale Anteil ihrer reproduktiven Phase, den eine Frau in Monaten durch Verhütung geschützt gewesen ist, gibt Auskunft darüber, wie intensiv die Frau verhütet hat – ob es sich bei ihrer Verwendung eher um ein kurzfristiges ‚Experiment‘ gehandelt hat oder eine langfristige Planung von Geburten vorliegt. Diese Messung unterliegt mehreren Verzerrungen. Zum einen ist die Verwendung von Monaten problematisch – einige Frauen konnten keine präzisen Monatsangaben machen, sondern nannten Jahre, die dann in Monate umgerechnet wurden. Zum anderen ist die Zeit, während der eine Frau nicht sexuell aktiv war, in mehreren Fällen aufgrund der Migration des Mannes länger. Viele Frauen benutzen während einer längeren Abwesenheit ihrer Männer keine Verhütungsmittel. Idealer Weise müßten für diese Frauen die Monate der Abwesenheit des Mannes in die ‚geschützte Zeit‘ miteinbezogen werden. Dies ist aber nicht möglich, da nur für die Männer, die 1996/97 in die USA migriert sind, genaue Zeitangaben vorliegen. Für Männer, die vor diesem Zeitpunkt migriert sind, wurde nur der Beginn und die Häufigkeit der Migration erhoben, nicht aber, wie lange sie migriert sind. Nur die Frauen einzubeziehen, deren Männer 1996/97 migriert sind, wird die Verzerrung sehr wahrscheinlich verstärken. Insofern wird die Abwesenheit des Mannes nicht miteinbezogen, denn es ist davon auszugehen, daß sich die Verzerrung über alle 4 Das Heiratsalter ist nicht notwendigerweise das Datum der staatlichen/kirchlichen Heirat sondern generell der Beginn der Beziehung zum (Ehe)Mann. KAPITEL 7. VARIATIONEN FERTILEN VERHALTENS 277 Frauen hinweg verteilt. Auch durch eine Schwangerschaft und das sich daran anschließende Stillverhalten verlängert sich die Zeit, während der eine Frau vor einer erneuten Schwangerschaft geschützt ist. Bei einer präzisen Messung müßten diese Faktoren zeitlich so genau wie möglich berücksichtigt werden. Das Ziel des hier verwendeten Verhütungsindex ist es aber nur, die Intensität, mit der eine Frau verhütet hat, zu operationalisieren und zu messen. Neben der Analyse der proximaten Determinante Verhütung werden im folgenden auch die beiden anderen bisher diskutierten proximaten Determinanten Stillverhalten und Heiratsalter/Alter bei erster Geburt noch einmal analysiert. 5 Zwar hat die Beschreibung des fertilen Wandels ergeben, daß beide Determinanten keine signifikanten Variationen im Kohortenvergleich aufweisen, aber es ist möglich, daß dieses Ergebnis durch eine Analyse der vier verschiedenen Fertilitätskategorien aufgehoben wird. Variiert das Alter bei erster Geburt beispielsweise innerhalb aller Kohorten, so bleibt der Mittelwert für alle Kohorten zwar annähernd gleich, kann aber für bestimmte Gruppen innerhalb aller Kohorten, beispielsweise Frauen mit sehr niedriger Fertilität, signifikant abweichen. Tabelle 7.3 zeigt die Ergebnisse der drei proximaten Determinanten Verhütung, Stillverhalten und Alter bei erster Geburt in Bezug auf die vier Fertilitätskategorien. Nur 102 Frauen zwischen 15 und 44 Jahren, die in einer Beziehung leben, können hier einbezogen werden, da 4 Frauen noch kein Kind haben. Sehr niedrige Fertilität Niedrige Fertilität Hohe Fertilität Sehr hohe Fertilität Gesamt Schutz durch Verhütung (Zeitdauer in %) 6 ∅ Alter bei N 1. Geburt Schutz durch Stillen (Anteil Frauen in %) 17 31 32 22 26,7 31,8 22,3 14,3 22,7 (4,0) 19,9 (2,5) 18,4 (2,3) 18,4 (2,2) 66,7 80,6 100 95,5 102 24,5 19,6 (3,1) 87,4 Tabelle 7.3: Fertilitätskategorien und proximate Determinanten 5 Die folgenden Analysen arbeiten nur noch mit dem Alter bei erster Geburt, welches im vorangegangenen Kapitel nicht als proximate Determinante, sondern als eine der drei Komponenten klassifiziert wurde. Wie gezeigt wurde, liegen Heiratsalter und Alter bei erster Geburt zeitlich dicht beieinander. Beim Heiratsalter ist es aber wahrscheinlicher, daß Memorierungs- und Erhebungsfehler auftreten. Das Alter bei erster Geburt ist hingegen eindeutig festzulegen. Das Alter bei erster Geburt wird im folgenden – der Einfachheit halber – als proximate Determinante bezeichnet. 6 Moderne und traditionelle Mittel (es wurden nur die Kalendermethode und der Coitus interruptus genannt). Standardabweichungen von ∅ Alter bei erster Geburt in Klammern. 278 DAS GEPLANTE KIND Das Stillverhalten hat mit Sicherheit keinen Effekt auf die Fertilität. Erheblich weniger Frauen mit sehr niedriger und niedriger Fertilität haben ihr letztes Kind gestillt als Frauen mit hoher und sehr hoher Fertilität. Stände nur das Stillverhalten als Kontrolle ihrer Fertilität den Frauen zur Verfügung, wären gerade die Frauen mit niedriger/sehr niedriger Fertilität besonders ‚gefährdet‘. Im Gegensatz dazu haben sowohl das Alter bei erster Geburt als auch die Verwendung von Verhütung einen Einfluß auf die Fertilität. Frauen der beiden ersten Fertilitätskategorien haben sich überdurchschnittlich lang durch Verhütungsmittel vor Schwangerschaften geschützt. Dies gilt insbesondere für die Kategorie der Frauen mit niedriger Fertilität. Frauen mit hoher und sehr hoher Fertilität liegen hingegen unterhalb des Durchschnittswerts (vgl. Tabelle 7.3). Hinsichtlich des Alter bei erster Geburt zeigt sich, daß Frauen mit niedriger und sehr niedriger Fertilität später ihr erstes Kind bekommen als die Frauen der beiden hohen Fertilitätskategorien. Insbesondere das im Vergleich zu den hohen Fertilitätskategorien durchschnittlich mehr als vier Jahre später liegende Alter bei erster Geburt der Frauen mit sehr niedriger Fertilität zeigt, daß neben der proximaten Determinante Verhütung auch das Alter bei erster Geburt – entgegen den Ergebnissen der Kohortenanalyse (!) – einen Effekt auf die Fertilität hat. Die Standardabweichungen zeigen, daß das Verhalten der Frauen mit hoher und sehr hoher Fertilität hinsichtlich ihres Alters bei erster Geburt bedeutend homogener ist als das Verhalten der Frauen mit sehr niedriger Fertilität. Diese Ergebnisse sind besonders erstaunlich wenn man bedenkt, daß in Analysen des fertilen Wandels Mexikos generell postuliert wird, daß sich das Heiratsalter und das Alter bei erster Geburt nicht verändert haben. Immer wieder wird darüber nachgedacht, warum die malthusianische Revolution – ein späteres Heiratsalter und Alter bei erster Geburt – in Mexiko nicht oder kaum zu beobachten ist (z.B. Krause 1996: 179). Variationen und Wandel fertilen Verhaltens werden fast ausschließlich auf die Zunahme der Verwendung an Verhütungsmitteln – die neomalthusianische Revolution – zurückgeführt. Ähnlich wurde auch im vorangegangenen Kapitel argumentiert. Ein Grund für diese Ergebnisse besteht darin, daß die Kohortenbetrachtung zumindest für den hier diskutierten Fall nicht das adäquate Instrument ist, um diese Variationen zu erfassen. Erst durch die Analyse der vier Fertilitätskategorien werden die Unterschiede deutlich. Es zeichnet sich folglich ab, daß es mehrere – mindestens zwei – Gruppen von Frauen gibt, die auf unterschiedliche Art und Weise eine signifikante Reduzierung ihrer Fertilität durchgeführt haben. Sowohl ein späterer Beginn der reproduktiven KAPITEL 7. VARIATIONEN FERTILEN VERHALTENS 279 Phase als auch die Verwendung von Verhütung scheinen einen Effekt auf die Fertilität zu haben. Allerdings gibt es keinen signifikanten Zusammenhang zwischen dem Alter bei erster Geburt und der Intensität, mit der eine Frau verhütet. Um zu überprüfen, wie stark der Effekt der jeweiligen Determinante ist, werden beide als erklärende Variablen in ein lineares Regressionsmodell eingegeben. Die zu erklärende Variable ist das oben vorgestellte Fertilitätsmaß (vgl. Tabelle 7.4). Abhängige Variable: Fertilitätsmaß Unabhängige Variablen: Alter bei erster Geburt Intensität an Verhütung R R2 Korrigiertes R2 F – Statistik Anzahl an Fällen -0,442*** -0,267*** 0,527 0,277 0,263 18,988*** 102 Signifikanzniveaus: * α<0,10, ** α<0,05, *** α<0,01 Tabelle 7.4: Lineare Regression mit den beiden Determinanten Verhütung und Alter bei erster Geburt; standardisierte Koeffizienten Sowohl das Alter bei erster Geburt als auch die Verwendung von Verhütung haben einen Effekt auf die Fertilität und sind hochsignifikant. Insgesamt können gut 26% der Variationen erklärt werden. Allerdings ist der Effekt, den das Alter bei erster Geburt hat, erheblich stärker als der Effekt von Verhütung. Eine Erklärung für dieses Ergebnis besteht darin, daß Verhütung, wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt wurde, von den meisten Frauen aufgrund ihrer Position im Lebenszyklus nicht vor der Geburt eines zweiten Kindes verwendet wird. Aus diesem Grund wird eine weitere Regressionsanalyse mit den Frauen durchgeführt, die mindestens zwei Kinder haben. 88 Fälle können berücksichtigt werden. Das Ergebnis verbessert sich – gut 34% der Varianz können erklärt werden. Der Effekt des Alters bei erster Geburt sinkt nur unwesentlich (r=-0,431***), der Effekt von Verhütung, wie angenommen, steigt hingegen (r=-0,360***). Insofern gilt es im folgenden, die beiden proximaten Determinanten Verhütung und Alter bei erster Geburt, die beide einen signifikanten Effekt auf die Fertilität haben, zu erklären. Da aber diese beiden Determinanten die Variationen fertilen Verhaltens nur begrenzt erklären – über 70% der Varianz können durch diese beiden Determinanten nicht erklärt werden – sollen als dritte zu erklärende Variable 280 DAS GEPLANTE KIND die Residuen, die nicht erklärten Variationen, berücksichtigt werden. Ursachen für diese nicht erklärten Variationen sind andere proximate Determinanten, wie z.B. eine niedrige Koitusfrequenz etwa aufgrund der Abwesenheit des Mannes oder einer Abtreibungen, die nicht erhoben werden konnten. Alle drei abhängigen Variablen, die Intensität von Verhütung, das Alter bei erster Geburt und die nicht durch das Alter bei erster Geburt und die Verwendung von Verhütungsmitteln erklärten Variationen der Fertilität - die Residuen des Fertilitätsmaßes -, sind intervallskaliert. Dies ist beim Alter bei erster Geburt und der Intensität von Verhütung, dem prozentualen Anteil der reproduktiven Phase, den eine Frau durch Verhütung geschützt gewesen ist, offensichtlich. Die Residuen sind die positiven und negativen Abweichungen jedes einzelnen Falls von der Regressionsgrade und ebenfalls intervallskaliert. Beispielsweise kann eine Frau um –0,93 abweichen, was besagt, daß ihre Fertilität niedriger liegt, als durch ihr Alter bei erster Geburt und ihre Intensität an Verhütung erklärt werden kann. Die Unterteilung der Fertilität in drei zu erklärende Variablen bietet den Vorteil, daß die Ursachen der Variationen besser erfaßt werden können. Hinzu kommt, daß bei einer ausschließlichen Verwendung des Fertilitätsmaßes lineare Regressionen nicht verwendet werden können, da es sich um eine ordinalskalierte Variable handelt. Im folgenden sollen nun Hypothesen zur Erklärung dieser drei Variablen gebildet werden. Grundlage für die Formulierung der Hypothesen sind die Ergebnisse der vorangegangenen Kapitel. KAPITEL 7. VARIATIONEN FERTILEN VERHALTENS 7.2.2 281 Motivation und Handlungsfreiheit – Hypothesen und Ergebnisse zur Erklärung fertiler Variationen Bestimmte Charakteristika von Paaren können dazu führen, daß Paare es als einen wirtschaftlichen oder sozialen Vorteil wahrnehmen, ihre Fertilität zu reduzieren. Doch hängt eine solche fertile Entscheidung, wie in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt wurde, nicht nur von der Motivation eines Paares ab. Gegebene Rahmenbedingungen können die Handlungsfreiheit eines Paares stark einschränken. Zunächst muß also bestimmt werden, welche Paare aufgrund ihrer persönlichen Charakteristika, wie einer Berufstätigkeit außerhalb der Landwirtschaft oder einer besseren Schulbildung, motiviert sind, ihre Fertilität zu reduzieren. Diese Zielsetzung entspricht Coales, in den theoretischen Grundlagen und im vorangegangenen Kapitel ausführlich diskutierter (vgl. 2.1. und 6.4.2), zweiter Grundbedingung. Im Anschluß daran soll analysiert werden, welche normativen Rahmenbedingungen die Entscheidung eines Paares positiv oder negativ im Sinne einer Reduzierung der Fertilität - und damit in Zusammenhang stehend eines späteren Alters bei erster Geburt und der Verwendung von Verhütungsmitteln – beeinflussen (Coales erste Grundbedingung; vgl. 2.2 und 6.4.3). Coales dritte Grundbedingung, das Wissen über und Vorhandensein von effektiven Verhütungsmethoden (vgl. 2.3 und 6.4.1), braucht nicht erklärt zu werden. Wie das vorangegangene Kapitel deutlich gezeigt hat (insbesondere 6.4.1), ist das Wissen über Zugang und Verwendung von Verhütungsmethoden mittlerweile in Pueblo Nuevo stark verbreitet, und es gibt fast keine Variationen zwischen Paaren. Wichtiger ist deshalb die Klärung der Frage, warum einige Paare erfolgreicher und intensiver verhüten als andere Paare. Aus diesem Grund wird die Intensität von Verhütung als eine zu erklärende Variable und nicht als eine erklärende Variable konzeptualisiert. Die formulierten Hypothesen sind alle das Resultat der empirischen Ergebnisse und theoretischen Überlegungen vorangegangener Kapitel. 7 Zunächst werden Hypothesen zu Coales zweiter Grundbedingung vorgestellt und überprüft. 7 Neben den hier formulierten Hypothesen sind natürlich auch noch weitere Zusammenhänge denkbar. 282 DAS GEPLANTE KIND Hypothesen zu den wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen Die erste Hypothese wird als LANDHYPOTHESE bezeichnet. Kapitel 6 und die ethnographische Beschreibung haben gezeigt, daß es bei viel Landbesitz von Vorteil sein kann, viele Kinder zu haben, die bei der Arbeit helfen (erste Hypothese in Tabelle 7.5). Insofern ist davon auszugehen, daß Landbesitz einen negativen Effekt auf das Alter bei erster Geburt (je früher ein Paar heiratet, desto mehr Kinder können geboren werden) und auf die Intensität von Verhütung (je weniger ein Paar verhütet, desto mehr Kinder wird es haben) hat. Generell werden diese Paare eine höhere Fertilität haben (positiver Effekt auf die Residuen des Fertilitätsmaßes). Allerdings haben die vorangegangenen Kapitel ebenfalls gezeigt, daß immer mehr Paare mit viel Landbesitz auch modernere Technologien verwenden, wodurch der Nutzen von Kindern als Arbeitskräfte in der Landwirtschaft gemindert wird. Die zweite Hypothese in Tabelle 7.5, die HILFEHYPOTHESE, ist aus den Erkenntnissen der theoretischen Grundlagen sowie der Analyse des sozialen Umfeldes der Frau gebildet worden. Viele Kinder als Sicherung gegen Risiken und als Altersversicherung können dann notwendig sein, wenn Paaren und insbesondere Frauen nur wenige andere Quellen der Absicherung zur Verfügung stehen. Erwartet eine Frau Hilfe von ihren Kindern und möchte aus diesem Grund viele Kinder haben, um das Risiko von unloyalen oder verstorbenen Kindern zu mindern, wird sie früh ein erstes Kind bekommen (negativer Effekt) und nicht verhüten (negativer Effekt). Generell wird bei einer solchen Abhängigkeit von der Hilfe vieler Kinder eine höhere Fertilität angenommen (positiver Effekt auf die Residuen). Berufe außerhalb der Landwirtschaft, wie Lehrer, Taxifahrer oder Handwerker, werden in der Regel besser bezahlt als die Arbeit in der Landwirtschaft. Bei einigen der Berufe, wie der Arbeit in einem Restaurant in Mexiko-Stadt und dem Beruf des Lehrers, kommt hinzu, daß die Arbeitnehmer eine Krankenversicherung haben. Ehemänner, die solchen Berufen nachgehen, sind erheblich weniger auf die Hilfe vieler Kinder angewiesen. Insofern können solche Paare motiviert sein, ihre Fertilität zu reduzieren (negativer Effekt auf die Residuen) und Verhütungsmittel zu verwenden (positiver Effekt). Je sicherer und lukrativer die Arbeit eines Mannes ist, desto mehr Zeit erfordert aber auch die Ausbildung. Um sich erst beruflich zu etablieren, wird das Alter bei erster Geburt deshalb verzögert (positiver Effekt). Diese Hypothese wird als BERUF-DES-MANNES-HYPOTHESE bezeichnet. Die Verkodung der Berufe findet sich, ebenso wie die Beschreibung aller anderen erklärenden Variablen, im Anhang (vgl. 9.4). KAPITEL 7. VARIATIONEN FERTILEN VERHALTENS 283 Auch die Arbeit der Frau kann einen Effekt auf ihr fertiles Verhaltens haben (BERUF-DER-FRAU-HYPOTHESE). Wie in der ethnographischen Beschreibung zu sehen war, arbeiten zwar nur wenige Frauen außerhalb ihres Hauses. Neben diesen Frauen gibt es aber weiterhin einige Frauen, die von ihrem Haus aus z.B. Bier oder pulque verkaufen. Generell ist deshalb anzunehmen, daß Frauen, die einer vom Haushalt unabhängigen Arbeit nachgehen, auch eine größere wirtschaftliche und soziale Unabhängigkeit von ihrem Mann und ihren Kindern besitzen. Dieser Effekt verstärkt sich, wenn die Frau nicht nur von ihrem Haus aus verkauft, sondern das Haus verläßt, um zu arbeiten. Neben ihrer größeren wirtschaftlichen Eigenständigkeit hat eine solche Frau weiterhin die Möglichkeit, auch andere Rollen neben der Rolle der Mutter einzunehmen. Sie muß nicht notwendigerweise früh ein Kind bekommen (positiver Effekt auf das Alter bei erster Geburt), da ihre soziale Rolle nicht ausschließlich die der Mutter ist, und sie ist außerdem aufgrund größerer sozialer Autonomie in der Lage, zu verhüten (positiver Effekt). Generell werden solche Frauen deshalb eine niedrigere Fertilität haben (negativer Effekt auf die Residuen). Die als MORTALITÄTSHYPOTHESE bezeichnete Hypothese erfaßt den Zusammenhang zwischen der Kindersterblichkeit und dem fertilen Verhalten. Wie in der ethnographischen Beschreibung gezeigt wurde, ist die Kindersterblichkeit unter fünf Jahren stark zurückgegangen. Trotzdem sterben weiterhin Kinder unter fünf Jahren und es ist anzunehmen, daß Paare, die den Verlust vieler Kinder hinnehmen müssen, motiviert sind, nicht zu verhüten, um einen solchen Verlust auszugleichen. Insofern wird eine negative Beziehung zwischen der Anzahl verstorbener Kinder relativ zur Länge der reproduktiven Phase der Frau und der Intensität von Verhütung angenommen. Im Gegensatz dazu wird der Effekt vieler verstorbener Kinder die Fertilität eines Paares generell erhöhen (positiver Effekt auf die Residuen). Ein Zusammenhang zwischen verstorbenen Kindern und Alter bei erster Geburt wird nicht angenommen, da die Erfahrung des Verlustes eines Kindes erst mit der Geburt eines Kindes beginnen kann. In der ethnographischen Beschreibung konnte gezeigt werden, daß es drei Kategorien von Häusern in Pueblo Nuevo gibt. Traditionelle Häuser sind mit Abstand am kostengünstigsten, moderne Häuser am teuersten. Die dritte Kategorie bilden Häuser, die moderne und traditionelle Materialien kombinieren. Der Besitz eines modernen Haus ist Ausdruck von wirtschaftlicher und sozialer Autonomie eines Paares. Moderne Häuser haben in der Regel ein Wohnzimmer, in das sich die Frau und die Familie zurückziehen kann. Dadurch entsteht die Möglichkeit, sich der 284 DAS GEPLANTE KIND dörflichen sozialen Kontrolle weitgehend zu entziehen. Um ein modernes Haus zu finanzieren, reicht in der Regel die Arbeit in der Landwirtschaft nicht aus. Einkommensquellen außerhalb der Landwirtschaft müssen erschlossen werden. Ähnlich wie bei dem Beruf des Mannes bedarf es aber Zeit und Ressourcen, einen solchen Lebensstandard zu etablieren. Insofern ist anzunehmen, daß Paare, die ein modernes Haus besitzen, später ihr erstes Kind bekommen (positiver Effekt). Auch werden diese Paare intensiver verhüten (positiver Effekt), da sie einerseits weniger sozialen Kontrollmechanismen unterliegen und andererseits nicht durch die Geburt vieler Kinder und den damit verbundenen Kosten ihren schon etablierten Lebensstandard mindern wollen. Hinzu kommt, daß Paare, die wirtschaftlich weitgehend von ihren Kindern und Eltern autonom sind, es sich auch eher leisten können, nur wenige Kinder zu bekommen. Generell wird die Fertilität solcher Paare also niedrig sein (negativer Effekt auf die Residuen). Diese Hypothese wird als BESITZHYPOTHESE bezeichnet. 8 Die MIGRATIONSHYPOTHESE ähnelt der Besitzhypothese und gründet sich ebenso wie diese auf den Ergebnissen der ethnographischen Beschreibung. Durch Migration von Ehemann und/oder Ehefrau in die USA und/oder nach Mexiko-Stadt steigt die Wahrscheinlichkeit, daß das Paar wirtschaftlich und sozial sowohl von seinen Eltern als auch seinen Kindern unabhängig wird. Aufgrund dieser größeren wirtschaftlichen Unabhängigkeit besteht einerseits weniger Zwang, den reproduktiven Vorgaben der Eltern oder der erweiterten Familie des Paares zu folgen, andererseits kann das Risiko, nur wenige Kinder zu bekommen, aufgrund der eigenen wirtschaftlichen Stellung leichter eingegangen werden. Die wirtschaftliche Etablierung eines Paares durch Migration kann das Alter bei erster Geburt – ähnlich wie beim Beruf des Mannes und der Art des Hauses – zeitlich verzögern (positiver Effekt). Um den erreichten Lebensstandard nicht durch die Kosten vieler Kinder zu mindern, wird davon ausgegangen, daß Paare, die überdurchschnittlich häufig migrieren, intensiver verhüten (positiver Effekt). Generell wird die Fertilität dieser Paare niedrig sein (negativer Effekt auf die Residuen). Die beiden letzten Hypothesen – die BILDUNG-DER-FRAU-HYPOTHESE und die BILDUNG-DES-MANNES-HYPOTHESE – haben gemeinsam, daß generell bei einem längeren Schulbesuch, unabhängig vom Geschlecht, es zu einem späteren Alter bei erster Geburt kommt (positiver Effekt). Hinzu kommt für beide Ge8 Alternativ zum Hausindex kann auch ein Index über den Besitz von Konsumgütern (vgl. 4.2.2.1) verwendet werden, der zu ähnlichen Ergebnissen führt. Die Indizes sind hochkorrelierend (Spearmans rs=0,422***; N=106), weshalb nur einer der beiden Indizes verwendet wird. KAPITEL 7. VARIATIONEN FERTILEN VERHALTENS 285 schlechter, daß durch einen längeren Schulbesuch die Chancen auf besser bezahlte Arbeit steigen. Dies wiederum kann zu größerer wirtschaftlicher und sozialer Autonomie führen, wodurch die intensive Benutzung von Verhütung wahrscheinlicher wird (positiver Effekt) und die Fertilität generell niedriger ist (negativer Effekt auf die Residuen). Tabelle 7.5 faßt die angenommenen Richtungen der Zusammenhänge noch einmal zusammen. Erklärende Variablen, deren Ausprägungen nicht explizit in Tabelle 7.5 genannten werden, finden sich im Anhang (vgl. 9.4). Angenommene Richtung des Zusammenhangs Hypothesen Erklärende Variablen Landhypothese Landbesitz in Hektar Im Alter von Kindern erwartete Hilfe; 0= keine Hilfe erwartet; 1= Hilfe erwartet Skala von sieben Berufen; je höher, desto besseres Einkommen und mehr Absicherung 1=Hausfrau; 2=Hausfrau, die aber vom Haus aus verkauft; 3=Arbeit außerhalb des Hauses Anzahl verstorbener Kinder unter 5 Jahren relativ zur Länge der bisherigen rep. Phase einer Frau Index Art des Hauses; 1= traditionelles Haus, 2= Mischform, 3= modernes Haus Index Migration nach MexikoStadt/USA; Mann und Frau Hilfehypothese Beruf-des-MannesHypothese Beruf-der-FrauHypothese Mortalitätshypothese Besitzhypothese Migrationshypothese Bildung-der-FrauSchulbildung Frau Hypothese (1) Bildung-des-MannesSchulbildung Mann Hypothese (1) Alter 1. Geburt Verhütung Residuen des F.maß - - + - - + + + - + + - k. Z. - + + + - + + - + + - + + - Tabelle 7.5: Hypothesen zum Zusammenhang von Verhütung, Alter bei erster Geburt, Residuen des Fertilitätsmaßes und wirtschaftlichen/sozialen Vorteilen von Kindern Um die Hypothesen zu testen, wird für jede abhängige Variable eine lineare Regressionen durchgeführt. Vorab muß aber überprüft werden, inwieweit die erklärenden Variablen untereinander korrelieren. Beispielsweise könnten die Schulbildung des Mannes und sein Beruf hochkorrelierend sein, wodurch einerseits nur eine der beiden Variablen in das Regressionsmodell eingehen müßte und sollte, und andererseits auch nicht erklärbar ist, welche der beiden Variablen tatsächlich einen Effekt auf die abhängige Variable hat. Opp und Schmidt (1976: 171) schlagen als DAS GEPLANTE KIND 286 Konvention einen Grenzwert von maximal 0,6 vor. Die verwendeten Grundgesamtheiten für die Pearson Korrelationen sind nicht immer gleich, sondern schwanken zwischen N=101 und N=106, da bei fehlenden Werten nur ein paarweiser Ausschluß vorgenommen wurde. Bei einem listenweisen Ausschluß, der bei einem fehlenden Wert den Fall für alle Korrelationen ausschließt, ändern sich die Ergebnisse allerdings nur unwesentlich. Es werden nur Frauen einbezogen, die zwischen 15 und 44 Jahre alt sind und in einer Partnerschaft leben. Hilfe Beruf Kinder Mann Land Hilfe Kinder Beruf Mann Beruf Frau Tote Kinder Art des Hauses Migration Schulbildung Frau n.s. Beruf Frau Tote Kinder Art des Hauses n.s. 0,280*** n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. 0,198** n.s. Migration Schulbildung Frau Mann n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. 0,279*** 0,312*** n.s. 0,212** n.s. n.s. -0,198** n.s. n.s. 0,265*** n.s. n.s. n.s. 0,406*** Signifikanzniveaus: * α<0,10, ** α<0,05, *** α<0,01; n.s.=kein signifikanter Zusammenhang Tabelle 7.6: Pearson Korrelationen der erklärenden Variablen zu wirtschaftlichen/sozialen Vorteilen von Kindern Bis auf die Schulbildung von Mann und Frau, die relativ stark korrelieren, liegen alle anderen signifikanten Korrelation nur zwischen 0,2 und 0,3 (vgl. Tabelle 7.6). Doch ist auch die Korrelation zwischen der Schulbildung des Mannes und der Schulbildung der Frau noch unbedenklich, wenn man einen Grenzwert von 0,6 annimmt. Insofern können alle erklärenden Variablen in die Regressionen eingehen. Begonnen wird mit der Regression zur Erklärung des Alters bei erster Geburt (Tabelle 7.7). KAPITEL 7. VARIATIONEN FERTILEN VERHALTENS Abhängige Variable: Alter bei erster Geburt Unabhängige Variablen: Land Hilfe Kinder Beruf Mann Beruf Frau Tote Kinder Art des Hauses Migration Schulbildung Frau Schulbildung Mann R R2 Korrigiertes R2 F – Statistik Anzahl an Fällen 1. Ergebnis mit allen erklärenden Variablen -0,188* 0,100 0,166 0,226** 0,132 0,219** 0,078 -0,086 0,132 0,458 0,210 0,124 2,447** 93 9 287 Nur signifikante Variablen aus 1 -0,191* 0,179* 0,226** 0,324 0,105 0,078 3,839** 102 Signifikanzniveaus: * α<0,10, ** α<0,05, *** α<0,01 Tabelle 7.7: Lineare Regression zur Erklärung des Alters bei erster Geburt aufgrund wirtschaftlicher/sozialer Variablen, standardisierte Koeffizienten In der zweiten Spalte der Tabelle finden sich die Ergebnisse für alle erklärenden Variablen, in der dritten Spalte finden sich die Ergebnisse einer weiteren Regression, die nur mit den signifikanten Variablen der ersten Regression durchgeführt wurde. Die signifikanten Zusammenhänge bleiben auch bei einer Isolierung der Variablen bestehen. Allerdings zeigt sich ebenfalls, daß die Stärke einiger signifikanter Variablen bei einer Isolierung zunimmt, wie dies für den Hausbesitz der Fall ist, andere signifikante Variablen hingegen einen schwächeren Effekt als in der ersten Regression mit allen erklärenden Variablen haben, wie hier der Beruf der Frau. Wie angenommen wurde, gibt es einen negativen, wenn auch nicht besonders starken Zusammenhang zwischen Landbesitz und Alter bei erster Geburt. Je mehr Land ein Paar besitzt, desto früher wird das erste Kind geboren. Die von Kindern erwartete Hilfe ist hingegen nicht signifikant, was sicherlich daran liegt, daß die überwiegende Mehrheit an Frauen Hilfe erwartet und es keine starken Variationen zwischen den Frauen gibt. Erstaunlich ist, daß sich weder die Migrations-, noch die Beruf-des-Mannes-Hypothese bestätigen. Allerdings ist der Effekt des Hausbesitzes eindeutig und entspricht der Richtung des angenommenen Zusammenhanges. Paare mit einem moderneren und teureren Haus verzögern das Alter bei erster Ge9 Die Fallzahlen aller Regressionen sind schwankend, da hier mit dem listenweisen Ausschluß gearbeitet wurde. Ein paarweiser Ausschluß verändert die Ergebnisse nicht. DAS GEPLANTE KIND 288 burt. Daß solche Paare es sich allerdings leisten können, ein solches Haus zu bauen, muß mit ihrem wirtschaftlichem Einkommen in einem Zusammenhang stehen. Ein Grund, warum diese Paare wirtschaftlich potenter sind und sich deshalb vor der Geburt eines Kindes etablieren können, besteht darin, daß auch die Frau zu einem besseren Einkommen beiträgt. Daß es keinen signifikanten Zusammenhang zwischen der Anzahl verstorbener Kinder und dem Alter bei erster Geburt gibt, wurde angenommen. Allerdings wurde ein positiver, signifikanter Zusammenhang zwischen Schulbildung und Alter bei erster Geburt erwartet. Dies ist nicht der Fall, was sicherlich daran liegt, daß die Schulbildung von Männern wie auch Frauen in Pueblo Nuevo nur in wenigen Fällen das 16. Lebensjahr überschreitet und somit ihr Ende noch vor dem durchschnittlichen Alter bei erster Geburt liegt. Es ist also festzuhalten, daß es eine Gruppe von Paaren gibt, die bewußt die Geburt ihres ersten Kindes verzögern, um vorab einen gewissen eigenständigen Wohlstand zu etablieren. Dieser materielle Besitz wird aufgrund unterschiedlicher Einkommensquellen akkumuliert, wodurch es nicht möglich ist, ihn ausschließlich auf Migration oder den Beruf des Mannes zurückzuführen. Außerdem trägt auch die Frau dazu bei, daß sich das Paar wirtschaftlich etabliert. Abhängige Variable: Intensität Verhütung Unabhängige Variablen: Land Hilfe Kinder Beruf Mann Beruf Frau Tote Kinder Art des Hauses Migration Schulbildung Frau Schulbildung Mann R R2 Korrigiertes R2 F – Statistik Anzahl an Fällen 1. Ergebnis mit allen erklärenden Variablen -0,096 -0,162 0,216** 0,090 0,0 -0,024 0,031 0,254** -0,088 0,395 0,156 0,069 1,785* 97 Nur signifikante Variablen aus 1 0,203** 0,206** 0,327 0,107 0,089 5,925*** 102 Signifikanzniveaus: * α<0,10, ** α<0,05, *** α<0,01 Tabelle 7.8: Lineare Regression zur Erklärung der Intensität von Verhütung aufgrund wirtschaftlicher/sozialer Variablen, standardisierte Koeffizienten KAPITEL 7. VARIATIONEN FERTILEN VERHALTENS 289 Ein anderes Bild ergibt sich hinsichtlich der Intensität der Verhütungsmittelbenutzung (Tabelle 7.8). Nur zwei Variablen – die Schulbildung der Frau und der Beruf des Mannes – haben einen signifikanten Effekt, der auch bei einer nochmaligen Regression mit nur diesen beiden Variablen in fast gleicher Stärke erhalten bleibt. Die Benutzung von Verhütung hat folglich andere Ursachen als ein höheres Alters bei erster Geburt. Daß ein Paar verhütet, hängt nicht nur mit seiner wirtschaftlichen Unabhängigkeit zusammen, auch wenn der Effekt des Berufes des Mannes u.U. in diese Richtung weist. Wie die Analyse von Coales erster Grundbedingung, der Unabhängigkeit der reproduktiven Entscheidung, im folgenden noch deutlicher zeigen wird, ist eine wichtige Bedingung, warum ein Paar erfolgreich und längerfristig verhütet, vor allem die Art der Beziehung zwischen Mann und Frau. Die Diskussion soll deshalb verschoben werden, bis auch die Ergebnisse zu Coales erster Grundbedingung vorgestellt worden sind. Zunächst werden die Ergebnisse der Regressionsanalyse zu Coales zweiter Grundbedingung der dritten abhängigen Variable, den Residuen des Fertilitätsmaß, analysiert. Abhängige Variable: Residuen Unabhängige Variablen: Land Hilfe Kinder Beruf Mann Beruf Frau Tote Kinder Art des Hauses Migration Schulbildung Frau Schulbildung Mann R R2 Korrigiertes R2 F – Statistik Anzahl an Fällen 1. Ergebnis mit allen erklärenden Variablen 0,060 0,012 0,147 0,081 0,152 -0,290*** 0,076 -0,245** -0,030 0,468 0,219 0,134 2,583** 93 Nur signifikante Variablen aus 1 -0,294*** -0,182* 0,385 0,148 0,131 8,599*** 102 Signifikanzniveaus: * α<0,10, ** α<0,05, *** α<0,01 Tabelle 7.9: Lineare Regression zur Erklärung der Residuen des Fertilitätsmaßes aufgrund wirtschaftlicher/sozialer Variablen, standardisierte Koeffizienten Wie bei den vorangegangenen Regressionen bleiben auch bei der dritten Regression die Effekte bei einer Isolierung der signifikanten Variablen erhalten (Tabelle 7.9). Die angenommenen Richtungen der Zusammenhänge bestätigen sich. Die 290 DAS GEPLANTE KIND Fertilität von Frauen, die in einem moderneren Haus leben und eine bessere Schulbildung haben, ist noch niedriger, als durch ihre Benutzung von Verhütung und ihr Alter bei erster Geburt erklärt werden kann. Die Interpretation dieses Ergebnisses ist problematischer als für die anderen beiden abhängigen Variablen, da die Residuen des Fertilitätsmaßes ein Konglomerat mehrerer proximater Determinanten darstellen, die nicht isoliert werden konnten. Trotzdem weisen die Ergebnisse in eine bestimmte Richtung. Daß ein Paar ein moderneres Haus besitzt, zeigt auch, daß ein solches Paar in der Lage ist, sein Leben unabhängig von den traditionellen Strukturen erfolgreich zu planen. Die Fähigkeit, Entscheidungen abzuwägen, wird wesentlich in der Schule vermittelt. Eine solche Planung wird aber nicht von einem Partner allein durchgeführt, sondern von beiden Partnern. Insofern könnte ein Grund, warum Paare mit moderneren und teureren Häusern und einer Ehefrau, die eine überdurchschnittliche Schulbildung besitzt, eine sehr niedrige Fertilität haben darin bestehen, daß diese Paare generell ihr Leben gemeinsam planen und u.U. auch natürliche Verhütungsmethoden, wie die Kalendermethode, anwenden, dies aber in der Fragebodenerhebung nicht berichtet haben. Diese Argumentation wird im folgenden noch einmal aufgegriffen und vertieft, denn die Ergebnisse zu Coales erster Grundbedingung, der unabhängigen und abwägenden reproduktiven Entscheidung, weisen in eine ähnliche Richtung (vgl. 7.2.3). Mehrere Variablen haben auf keine der abhängigen Variablen einen Effekt. Hierbei handelt es sich konkret um die Variablen erwartete Hilfe von Kindern, tote Kinder, Migration und Schulbildung des Mannes. Die Schulbildung des Mannes wird im folgenden noch einmal aufgegriffen und wird deshalb noch nicht endgültig diskutiert. Sowohl die Variable erwartete Hilfe der Kinder als auch die Variable tote Kinder haben keinen Effekt, da die Variationen zwischen den Frauen zu gering sind. So gut wie alle Frauen erwarten Hilfe von ihren Kindern in der Zukunft. Entscheidende Unterschiede entstehen erst zwischen den Frauen, wenn betrachtet wird, welche Art der Hilfe erwartet wird. Die erwartete Hilfe steht wiederum in einem Zusammenhang mit der Investition der Eltern in ihre Kinder. Ein Paar, welches in eine gute und teure Ausbildung investiert, erwartet eine andere Form der Hilfe als ein Paar, dessen Kinder schon mit 12 Jahren auf den Feldern arbeiten. Dieser Punkt wird im Verlauf der Analyse ebenfalls noch einmal aufgegriffen (vgl. 7.2.4). Nur wenige Frauen zwischen 15 und 44 Jahren haben verstorbene Kinder. Erweitert man allerdings die Stichprobe um alle befragten Frauen, ergibt sich ein anderes Bild. Wie die ethnographische Beschreibung gezeigt hat, haben viele der Frauen, die älter als 50 Jahre sind, verstorbene Kinder. Diese Frauen haben weiterhin auch tatsächlich mehr Kinder als Frauen ähnlichen Alters, die keine oder nur wenige KAPITEL 7. VARIATIONEN FERTILEN VERHALTENS 291 verstorbene Kinder haben. Für jüngere Frauen verschwindet dieser Zusammenhang. Daß Migration keinen Effekt hat, ist hingegen erstaunlich. Ein möglicher Grund könnte darin bestehen, daß das Phänomen nicht adäquat operationalisiert wurde. Doch auch bei einer Isolierung der einzelnen Variablen, die für den Migrationsindex verwendet wurden, etwa nur der Betrachtung der Migration des Mannes in die USA, kommt es zu keinem signifikanten Zusammenhang. Dies spricht gegen die Vermutung, daß der Grund für den nicht vorhandenen Zusammenhang in einer unbrauchbaren Operationalisierung besteht. Immer noch ist es in Pueblo Nuevo weit verbreitet, daß die Ehefrau eines in die USA migrierenden Mannes bei ihren Schwiegereltern lebt. In der Analyse des sozialen Umfeldes der Frau wurden mehrerer solcher Fälle ebenso wie die damit einhergehenden Konflikte ausführlich beschrieben. In den meisten Fällen kommt es zu Streitigkeiten über den Empfang und die Ausgabe des vom Ehemann, bzw. Sohn aus den USA gesandten Geldes. Häufig wird das Geld dann auch nicht in den materiellen Wohlstand der eigenen Kernfamilie des Mannes, sondern in den um eine erweiterte Familie aufgebauten Haushalt investiert. Die Handlungen der Brüder Augustino, Pedro und Juan E., die in der Ethnographie beschrieben wurden, stehen exemplarisch für dieses Verhalten. Diese Brüder haben ihr Geld gemeinsam in einen Traktor und Land und nicht in ihre jeweiligen Kernfamilien investiert, was zu großem Unmut der Ehefrauen führte. Trotzdem gibt es auch Fälle, wo das vom Ehemann durch Migration verdiente Geld ausschließlich für seine eigene Kernfamilie verwendet wird. Vor allem moderne Häuser werden von solchem Geld erbaut, in denen die Familie unabhängig von Eltern und Schwiegereltern lebt. Allerdings handelt es sich hierbei nicht nur um Männer, die in den USA gearbeitet haben, sondern auch um Männer, die temporär oder permanent in Mexiko-Stadt arbeiten. Weiterhin können auch Paare, bei denen der Mann eine gut bezahlte Anstellung im Tal von Solís ausübt, etwa Lehrer ist, ein solches Haus besitzen. Aus diesem Grund ist auch der Besitz eines teureren und moderneren Hauses ein erheblich besserer Indikator für die wirtschaftliche Eigenständigkeit einer Familie als der Beruf des Mannes oder die Migrationsgeschichte des Paares. Besitzt eine Familie ein solches Haus, so zeigt dies sehr deutlich, daß sie wirtschaftlich und sozial von Dorf und erweiterter Familie autonom ist. Dies ist bei einer ausschließlichen Betrachtung nur der Migrationsgeschichte nicht unbedingt der Fall, und aus diesem Grund hat Migration an sich auch keinen signifikanten Effekt. Nur der Hausbesitz steht in einem Zusammenhang mit dem Alter bei erster Geburt und mit den Residuen des Fertilitätsmaßes, denn er ist der eigentliche 292 DAS GEPLANTE KIND Indikator wirtschaftlicher Unabhängigkeit, unabhängig davon, wie diese erworben worden ist. Im folgenden sollen nun die bisherigen Ergebnisse erweitert werden, indem sie durch die von Coale formulierte erste Grundbedingung ergänzt werden. 10 Nicht nur die wirtschaftliche Situation eines Paares und die damit einhergehende Wahrnehmung des Nutzens von Kindern kann dazu führen, daß Paare ihr Alter bei erster Geburt verzögern, Verhütung benutzen und generell eine niedrigere Fertilität haben. Ebenso wichtig sind die normativen Rahmenbedingungen, die die Handlungsfreiheit eines Paares beeinflussen (vgl. 2.2 und 6.4.3). Wiederum werden Hypothesen formuliert, die das Resultat der vorangegangenen Kapitel sind. Jetzt geht es um den Zusammenhang der drei abhängigen Variablen und der Wahrscheinlichkeit, mit der ein Paar unter bestimmten Rahmenbedingungen eine unabhängige, reflektierte reproduktive Entscheidung trifft. Hypothesen zu den normativen Rahmenbedingungen Die beiden ersten Hypothesen, die BILDUNG-DER-FRAU-HYPOTHESE (2) und BILDUNG-DES-MANNES-HYPOTHESE (2), waren auch schon Teil der vorherigen Überlegungen. Allerdings wurden in dem Zusammenhang die wirtschaftlichen Aspekte von Schulbildung in den Vordergrund gestellt. Schulbildung kann aber auch bedeuten, daß Männer und Frauen andere als die traditionell im Dorf vorhandenen Werte und Normen kennenlernen und übernehmen. Wie in den theoretischen Grundlagen ausgeführt, ist es deshalb beispielsweise wahrscheinlich, daß gebildetere Paare sowohl einen egalitäreren Umgang untereinander als auch zu ihren Kindern pflegen. Dies wiederum kann dazu führen, daß solche Paare Entscheidungen generell und fertile Entscheidungen im Besonderen gemeinsam treffen. Es ist zu erwarten, daß Entscheidungen, die in einer solchen Form getroffen werden, eher zwischen Kosten und Nutzen abwägen, was zu einer niedrigeren Fertilität solcher Paaren führen kann (negativer Effekt auf Residuen). Hinzu kommt, daß bei einer besseren Schulbildung auch mehr Wissen über Verhütungsmethoden erlangt wird, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, daß solche Methoden angewendet werden (positiver Effekt). Auch das Alter bei erster Geburt kann sich bei mehr Schulbildung von Mann und/oder Frau verzögern (positiver Effekt), da vor der Geburt eines Kin10 Es wurden auch Regressionen mit allen signifikanten Variablen, die sich aufgrund der bisherigen Analysen ergeben haben, durchgeführt. An den Ergebnissen ändert sich nichts – alle signifikanten Variablen bleiben für die drei abhängigen Variablen in gleicher Weise signifikant. Aus diesem Grund werden die Ergebnisse hier nicht abgebildet. KAPITEL 7. VARIATIONEN FERTILEN VERHALTENS 293 des erst eine Ausbildung beendet wird. Durch mehr Schulbildung lernt ein Individuum auch neue Entscheidungsmöglichkeiten kennen, wie etwa zu migrieren, bevor man heiratet, wodurch es ebenfalls zu einem höheren Alter bei erster Geburt kommen kann. Die angenommenen Richtungen der Zusammenhänge zwischen diesen beiden Hypothesen und den drei abhängigen Variablen ebenso wie die angenommenen Richtungen der Zusammenhänge aller folgenden Hypothesen finden sich in Tabelle 7.10. Dort werden auch die Ausprägungen der einzelnen erklärenden Variablen beschrieben. Eine ausführlichere Beschreibung findet sich im Anhang (vgl. 9.4). Die EGALITÄTSHYPOTHESE kann u.U. mit der Schulbildung in einem Zusammenhang stehen. Wie die Analyse des sozialen Umfeldes der Frau und das vorangegangene Kapitel gezeigt haben, haben die Veränderungen der Geschlechterbeziehungen kaum dazu geführt, daß es zu einer vom Mann unabhängigen Entscheidungsautonomie der Frau gekommen ist. Vielmehr besteht die wesentliche Veränderung darin, daß immer mehr Männer und Frauen gemeinsam planen und entscheiden, was zu einer sukzessiven Auflösung der bestehenden Geschlechtertrennung führt. Die Operationalisierung der Egalität der Beziehung zwischen Mann und Frau besteht in einem Index, der sechs dichotome Variablen zu einer Variable zusammenfaßt. Die einzelnen Variablen sind im Anhang (vgl. 9.4) beschrieben. Bei allen Variablen handelt es sich um Entscheidungssituationen und Tätigkeiten, die entweder nur von einem Geschlecht alleine getroffen und ausgeführt werden, oder von beiden Partnern gemeinsam. Beispielsweise wurde danach gefragt, ob der Mann im Haushalt hilft und wer die Entscheidungen für den Haushalt trifft. Je höher der Indexwert ist, desto seltener treffen Mann und Frau gemeinsam Entscheidungen. Insofern ist zu erwarten, daß in einer egalitären Beziehung die Wahrscheinlichkeit steigt, daß Familienplanung durchgeführt wird (negativer Effekt auf Verhütung). Generell werden diese Paare eine niedrige Fertilität haben (positiver Effekt auf Residuen), da sie gemeinsam planen und miteinander kommunizieren. Ob dieser Index einen Effekt auf das Alter bei erster Geburt hat, ist fraglich, da sich die gestellten Fragen alle auf Entscheidungen innerhalb einer schon existierenden Ehe oder Partnerschaft beziehen. Die PLANUNGSHYPOTHESE erfaßt den Zusammenhang zwischen dem Vermögen eines Paares, die Kinder zu bekommen, die es als optimal empfindet und den drei abhängigen Variablen. Wie das vorangegangene Kapitel gezeigt hat, können heute so gut wie alle Paare eine gewünschte Anzahl an Kindern nennen. Allerdings gibt es große Variationen zwischen Wunsch und Realität. Paare, bei denen 294 DAS GEPLANTE KIND Wunsch und Realität übereinstimmen oder sogar noch weitere Kinder gewünscht werden, sind besser in der Lage, zu planen. Je mehr ein Paar aber von seinen eigentlichen Vorstellungen abweicht, desto höher wird seine Fertilität sein (positiver Effekt auf die Residuen). Es ist zu erwarten, daß Paare, die nicht die Anzahl an Kindern haben, die sie tatsächlich woll(t)en, entweder nicht oder nur wenig erfolgreich verhüten (negativer Effekt) oder früh ein erstes Kind bekommen haben (negativer Effekt). Die SCHWIEGERMUTTERHYPOTHESE stellt, wie die FREUNDINNENHYPOTHESE, eines der Ergebnisse der Analyse des sozialen Umfeldes der Frau dar. Das Leben mit der Schwiegermutter kann starke Auswirkungen auf die Unabhängigkeit der reproduktiven Entscheidungen eines Paares haben. Kommt es zu nicht der Norm entsprechendem Verhalten, so wie es in der Ethnographie beschrieben wurde, kann die Schwiegermutter auf eine schnelle Etablierung der Beziehung bestehen, was zu einem frühen Alter bei erster Geburt führen kann. Lebt eine Frau hingegen nicht bei ihrer Schwiegermutter, können sie und ihr Mann reproduktive Entscheidungen erheblich autonomer treffen. Dies kann zu einer Verzögerung des Alters bei erster Geburt führen (positiver Effekt). Ebenfalls kann eine Schwiegermutter, wenn das junge Paar nicht in ihrem Haus lebt, ihre reproduktiven Vorstellungen, etwa ein Verbot der Verwendung von Verhütung, erheblich weniger dem Paar diktieren. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, daß ein von der Schwiegermutter unabhängiges Paar, eher verhütet (positiver Effekt) und deshalb generell eine niedrigere Fertilität hat (negativer Effekt auf Residuen). Gibt eine Frau an, daß sie Freundinnen hat, kann das bedeuten, daß sie einerseits mehr Informationen über Verhütung bekommt und andererseits reproduktive Entscheidungen in größerer Unabhängigkeit von ihrer erweiterten Familie treffen kann. Deshalb wird angenommen, daß eine Frau mit Freundinnen eher verhütet (positiver Effekt). Es ist auch anzunehmen, daß Frauen mit einem größeren sozialen Umfeld mehr und andere als die traditionell gegebenen Entscheidungsmöglichkeiten kennen. Z.B. kann eine Frau durch eine Freundin davon überzeugt werden, vor einer Heirat einige Jahre in Mexiko-Stadt zu arbeiten. Dadurch kann es zu einem späteren Alter bei erster Geburt kommen (positiver Effekt). Generell werden Frauen mit Freundinnen eine niedrigere Fertilität haben (negativer Effekt auf die Residuen). 11 11 In Kapitel 5 ist zwischen der Freundin und anderen weiblichen Rollen, vor allem der comadre, unterschieden worden. Im Gegensatz dazu erfaßt die hier verwendete Variable Freundin nur, ob eine Frau eine Freundin hat, nicht aber, ob die Freundin zugleich auch comadre ist. KAPITEL 7. VARIATIONEN FERTILEN VERHALTENS 295 Die EHEHYPOTHESE erfaßt den Zusammenhang zwischen der Eheform und den drei abhängigen Variablen. Lebt eine Frau oder hat eine Frau vor einer staatlichen oder kirchlichen Heirat in unión libre gelebt, kann das bedeuten, daß ihr Alter bei erster Geburt früher liegt und diese Frauen mehr Kinder haben, als Frauen, die ‚ehrenhaft‘ auf einen Mann gewartet haben (negativer Effekt auf das Alter bei erster Geburt, positiver Effekt auf die Residuen). Eine weitere Erklärung, warum das Alter bei erster Geburt von Frauen, die ‚tugendhaft‘ geheiratet haben, später liegt als das von Frauen, die in unión libre gelebt haben, könnte auch darin bestehen, daß es Frauen gibt, die sich bewußt gegen eine unión libre und ein meistens damit einhergehendes Leben mit ihrer Schwiegermutter entschieden haben. Diese Frauen ziehen es vor, so lange mit der Heirat zu warten, bis der Mann genügend Kapital erwirtschaftet hat, damit sie unabhängig von der Schwiegermutter in einem eigenen Haus leben können. In solchen Fällen handelt es sich eher um strategische Überlegungen der Frau und des Paares als um ein sehr ‚tugendhaftes‘, normkonformes Verhalten. In allen Fällen wird aber angenommen, daß bei einer ‚tugendhaften‘ Heirat das Alter bei erster Geburt später liegt. Der Effekt auf Verhütung hingegen ist ambivalent – heute kann eine unión libre sowohl mehr Autonomie der Frau bedeuten, wenn sie sich etwa bewußt für diese Form entscheidet, um sich nicht so stark zu binden, oder genau das Gegenteil, wenn etwa die Schwiegermutter festlegt, daß die Frau erst dann kirchlich heiraten darf, wenn sie ein Kind geboren hat. Die letzte Hypothese, die ALTERSDIFFERENZHYPOTHESE, befaßt sich mit dem Zusammenhang zwischen der Altersdifferenz von Mann und Frau und ihrem reproduktiven Verhalten. Ist ein Mann sehr viel älter als seine Frau kann das bedeuten, daß er mehr Entscheidungsautorität hat und reproduktive Entscheidungen nicht vom Paar gemeinsam, sondern nur vom Mann getroffen werden. Dadurch wird die Verwendung von Verhütungsmitteln unwahrscheinlicher (negativer Effekt). Auch das Alter bei erster Geburt kann bei Paaren, wo der Mann erheblich älter als die Frau ist, früher liegen (negativer Effekt). In der Analyse der sozialen Einbettung der Frau wurden mehrere Fälle geschildert, in denen der ältere Mann darauf bestand, daß seine jüngere Frau so schnell wie möglich in einer unión libre in das Haus seiner Eltern kommt. Paare hingegen, wo Mann und Frau gleichen Alters sind oder die Frau sogar älter als der Mann ist, werden eher eine egalitäre Beziehung unterhalten und den Beginn ihrer öffentlichen Beziehung gemeinsam planen. Generell ist zu erwarten, daß Paare, wo der Mann erheblich älter ist, eine höhere Fertilität haben (positiver Effekt auf die Residuen). Alle Hypothesen zu Coales erster Grundbedingung sowie die angenommenen Richtungen der Zusammenhänge finden sich noch einmal in Tabelle 7.10. DAS GEPLANTE KIND 296 Angenommene Richtung des Zusammenhangs Hypothesen Erklärende Variablen Bildung-der-FrauSchulbildung Frau Hypothese (2) Bildung-des-MannesSchulbildung Mann Hypothese (2) Egalitätsindex; je höher, desto weniger Egalitätshypothese werden Entscheidungen von Mann und Frau gemeinsam getroffen Differenz zwischen Wunsch und tatPlanungshypothese sächlicher Anzahl an Kindern Leben mit der Schwiegermutter; 0=Frau Schwiegermutterlebt oder hat bei Schwiegermutter gehypothese lebt; 1=Frau lebt nicht und hat nie bei Schwiegermutter gelebt Freundinnen0=Frau hat keine Freundinnen; 1=Frau hypothese hat Freundinnen Leben in unión libre; 0=Frau hat nicht/lebt nicht in unión libre; 1=Frau Ehehypothese lebt oder hat in unión libre gelebt AltersdifferenzAlter des (Ehe)manns minus Alter der hypothese (Ehe)frau Alter 1. Geburt Verhütung Residuen des F.maß + + - + + - ? - + - - + + + - + + - - ? + - - + Tabelle 7.10: Hypothesen zum Zusammenhang von Verhütung, Alter bei erster Geburt, Residuen des Fertilitätsmaßes und der Unabhängigkeit der fertilen Entscheidung Wie auch schon für die erklärenden Variablen zu Coales zweiter Grundbedingung wird zunächst überprüft, ob die erklärenden Variablen zu Coales erster Grundbedingung untereinander korrelieren. Wiederum soll ein Grenzwert von 0,6 als maximal tolerierbare Stärke der Korrelation gelten. Es wird ein paarweiser Ausschluß vorgenommen, bei einem listenweisen Ausschluß verändern sich die Ergebnis allerdings nur unwesentlich. KAPITEL 7. VARIATIONEN FERTILEN VERHALTENS Schulbildung Mann Schulbildung Frau 0,406*** Schulbildung Mann Egalität der Bez. Wunsch/Realität Schwiegermutter Freundin Unión libre Wunsch/ Realität Egalität -0,294*** -0,339*** -0,419*** -0,294*** n.s. 297 AltersSchwiegerUnión Freundin mutter libre differenz 0,231** n.s. -0,237** n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. Signifikanzniveaus: * α<0,10, ** α<0,05, *** α<0,01; n.s.=kein signifikanter Zusammenhang Tabelle 7.11: Pearson Korrelationen der erklärenden Variablen zur unabhängigen, reflektierten Entscheidung Keine der Korrelationen überschreitet den Grenzwert und deshalb können alle erklärenden Variablen in die linearen Regressionen eingehen (Tabelle 7.11). Begonnen wird wiederum mit dem Alter bei erster Geburt (Tabelle 7.12). Abhängige Variable: Alter bei erster Geburt Unabhängige Variablen: Schulbildung Frau Schulbildung Mann Egalität der Beziehung Differenz Wunsch/Realität Schwiegermutter Freundin Unión libre Altersdifferenz R R2 Korrigiertes R2 F – Statistik Anzahl an Fällen 1. Ergebnis mit allen erklärenden Variablen -0,120 0,188* -0,127 0,061 0,243** 0,217** -0,126 -0,362*** 0,513 0,263 0,194 3,795*** 94 Nur signifikante Variablen aus 1 0,152* 0,260*** 0,183* -0,329*** 0,462 0,214 0,180 6,257*** 97 Signifikanzniveaus: * α<0,10, ** α<0,05, *** α<0,01 Tabelle 7.12: Lineare Regression zur Erklärung des Alters bei erster Geburt aufgrund der sozialen und normativen Rahmenbedingungen, standardisierte Koeffizienten Bisher hat sich gezeigt, daß Paare, die einen gewissen materiellen Wohlstand besitzen, den sie außerhalb der Landwirtschaft erworben haben und der auch aufgrund der Tätigkeit der Frau erlangt werden konnte, die Geburt ihres ersten Kindes verzögert haben. Durch die Ergebnisse zu Coales erster Grundbedingung kann dieses 298 DAS GEPLANTE KIND Ergebnis vertieft und erweitert werden (vgl. Tabelle 7.12). Paare, die nicht bei ihrer Schwiegermutter gelebt haben, bekommen später ihr erstes Kind. Außerdem sind beide Partner entweder gleich alt oder die Frau ist älter. Neben dem familiären Kontext haben diese Frauen auch noch Freundinnen, und der Mann besitzt eine bessere Schulbildung. Hieraus ergibt sich ein relativ eindeutiges Bild, das die Ursachen einer Verzögerung des Alters bei erster Geburt gut erfaßt. Eine Gruppe von Paaren ist in Pueblo Nuevo entstanden, die ihr Leben, und damit auch ihre reproduktiven Entscheidungen, von Beginn ihrer Beziehung an plant. Diese Paare ziehen es vor, mit der Geburt ihres ersten Kindes zu warten, um sich vorab materiell und sozial unabhängig von ihren Eltern zu etablieren. Ihre eigene wirtschaftliche und soziale Autonomie ist diesen Paaren wichtiger als die Vor- und Nachteile, die ein Leben im erweiterten Haushalt mit den Schwiegereltern der Frau mit sich bringt. Außerdem gelangen diese Paare zu einem materiellen Wohlstand, der für dörfliche Verhältnisse überdurchschnittlich ist. Dieser materielle Wohlstand ist kein Ergebnis der traditionellen Wirtschaftsweise. Er ist das Resultat von zeitlich relativ neuen Einkommensquellen, wie der temporären Arbeitsmigration nach Mexiko-Stadt. Die Ehepartner sind gleichen Alters oder die Frau ist älter, wodurch es wahrscheinlich ist, daß diese Paare verhältnismäßig egalitäre Partnerschaften unterhalten. Auch hat die Frau neben ihren verwandtschaftlichen Beziehungen noch Freundschaftsbeziehungen, was ebenfalls zeigt, daß es sich um tendenziell egalitärere Beziehungen handelt. Wie die Analyse des sozialen Umfeldes der Frau gezeigt hat, ist es nicht unbedingt üblich, daß eine Ehefrau Freundinnen hat. In mehreren Fällen werden solche Freundschaften sogar von den Ehemännern unterbunden. Es muß sich bei der Verzögerung des Alters bei erster Geburt um ein zeitlich relativ junges Phänomen handeln. Im vorangegangenen Abschnitt wurde ausführlich diskutiert, daß die fertilen Variationen und der fertile Wandel in Mexiko in der Forschungsliteratur generell nicht auf ein späteres Alter bei erster Geburt zurückgeführt werden, sondern im wesentlichen auf die Zunahme der Verwendung von Verhütungsmitteln. Daß Verhütungsmittel auch im hier untersuchten Fall eine wichtige Rolle spielen, warum es zu Variationen fertilen Verhaltens kommt, steht außer Frage, doch die Verzögerung des Alters bei erster Geburt ist für den hier untersuchten Fall von ebenso großer Bedeutung. Aufgrund ausgeprägter Veränderungen der Lebensbedingungen der dörflichen Gemeinschaft, so wie sie in der Ethnographie beschrieben worden sind, ist das beobachtete Phänomen weitergefaßt zu erklären. Daß es heute junge Paare gibt, die sich bewußt gegen das Leben in einer erweiterten Familie entscheiden und deshalb mit der Heirat und Geburt eines Kindes warten, bis sie sich wirtschaftlich eigenständig etabliert haben, ist die Konsequenz der KAPITEL 7. VARIATIONEN FERTILEN VERHALTENS 299 Entwicklung, so wie sie in Pueblo Nuevo seit den siebziger Jahren zu beobachten ist. Zunächst aus einer Zwangssituation heraus – aufgrund des starken Bevölkerungsanstiegs stand nicht mehr für alle Familien ausreichend Land zur Subsistenzwirtschaft zur Verfügung – begannen die Dorfbewohner, sich Einkommensquellen außerhalb der Landwirtschaft zu erschließen. So wie in den theoretischen Grundlagen beschrieben, die sich stark in diesem Punkt an den Arbeiten von Lesthaeghe orientieren (Lesthaeghe und Wilson 1986, Lesthaeghe 1980), waren die zusätzlichen Einkünfte zunächst nur eine Stärkung des um eine erweiterte Familie aufgebauten Haushalts. Mit der Zeit wurden sich aber immer mehr Paare der jüngeren Generation ihres eigenständigen ökonomischen Potentials bewußt und begannen, nicht mehr für den erweiterten Haushalt zu arbeiten, sondern nur noch für ihren eigenen materiellen Wohlstand. Deshalb profitieren junge Paare in gewisser Weise heute sogar davon, daß es nicht mehr ausreichend Arbeit innerhalb der Landwirtschaft gibt. Da die Anforderungen, die an Arbeitnehmer gestellt werden, in Mexiko aufgrund der kritischen Arbeitsmarktsituation immer höher werden, ist zu erwarten, daß sich das Alter bei erster Geburt und auch das Heiratsalter innerhalb dieser Subpopulation noch weiter nach oben verschieben werden. 12 Im folgenden Abschnitt wird anhand einiger prototypischer Paare diese neu entstandene Strategie konkret beschrieben (vgl. 7.2.3). Die folgende Tabelle 7.13 zeigt den Zusammenhang zwischen der Intensität von Verhütung und den unabhängigen Variablen. 12 Es wurden auch Regressionen mit dem Heiratsalter als abhängiger Variable (anstelle des Alters bei erster Geburt) durchgeführt. Die hierbei signifikanten unabhängigen Variablen entsprechen den signifikanten unabhängigen Variablen der Regressionen für das Alter bei erster Geburt. Dies erstaunt nicht, wenn man bedenkt, daß beide Variablen sehr hoch korrelieren (r=0,863***, N=102). DAS GEPLANTE KIND 300 Abhängige Variable: Intensität Verhütung Unabhängige Variablen: Schulbildung Frau Schulbildung Mann Egalität der Beziehung Differenz Wunsch/Realität Schwiegermutter Freundin Unión libre Altersdifferenz R R2 Korrigiertes R2 F – Statistik Anzahl an Fällen 1. Ergebnis mit allen erklärenden Variablen 0,238** -0,081 -0,285*** 0,129 0,016 0,165* 0,102 0,017 0,449 0,201 0,130 2,804*** 98 Nur signifikante Variablen aus 1 0,156* -0,282*** 0,138 0,408 0,166 0,141 6,704*** 105 Signifikanzniveaus: * α<0,10, ** α<0,05, *** α<0,01 Tabelle 7.13: Lineare Regression zur Erklärung der Intensität von Verhütung aufgrund der sozialen und normativen Rahmenbedingungen, standardisierte Koeffizienten Die vorangegangenen Ergebnisse haben erbracht, daß die Schulbildung der Frau und der Beruf des Mannes einen signifikanten Effekt auf die Intensität der Verhütungsmittelbenutzung haben. Dieses Ergebnis bestätigt sich auch hinsichtlich der Analyse von Coales erster Grundbedingung, wird aber um einen entscheidenden Faktor erweitert. Den mit Abstand stärksten Effekt auf die Intensität von Verhütung hat die Art der Beziehung zwischen den Ehepartnern (Tabelle 7.13). Dieser Effekt bliebt in gleicher Stärke auch bei einer Isolierung nur der signifikanten Variablen bestehen (vgl. dritte Spalte von Tabelle 7.13). Je egalitärer die Beziehung ist, das heißt, je mehr Entscheidungen und Tätigkeiten gemeinsam getroffen werden, desto intensiver verhütet das Paar. Im vorangegangenen Kapitel wurde der kulturelle Kontext der Benutzung von Verhütungsmitteln ausführlich diskutiert. Die kulturelle Norm, an die sich auch fast alle Paare halten, besagt, daß keine Verhütung vor der Geburt eines, besser noch zweier Kinder, verwendet werden sollte. Entscheidet sich ein Paar dann für die Benutzung von Verhütung, hat dies allerdings auch wirtschaftliche Gründe. Wie in der Analyse des sozialen Umfeldes der Frau (vgl. 5.3.5) und in der ethnographischen Beschreibung (vgl. 4.2.2.3) gezeigt worden ist, besteht eines der wichtigsten Motive für die Benutzung von Verhütung im materiellen Wohl der Familie und insbesondere der Kinder. Es wird befürchtet, daß der erreichte oder erwünschte Lebensstandard mit weiteren Kindern nicht zu halten oder zu erreichen ist. Allerdings ist dieses wirtschaftliche Motiv für die Verwendung von KAPITEL 7. VARIATIONEN FERTILEN VERHALTENS 301 Verhütung in Bezug zur Art der Beziehung zwischen Mann und Frau zu setzen. Mehrere Frauen berichteten davon, daß sie heimlich versucht hätten, gegen den Willen ihres Mannes zu verhüten. In allen mir bekannten Fällen beendeten die Frauen nach relativ kurzer Zeit wieder die Verwendung von Verhütungsmitteln. Treffen hingegen Mann und Frau gemeinsam eine solche reproduktive Entscheidung, verhüten die Frauen erfolgreich und langfristig. Daß eine Beziehung einen solchen egalitären Charakter hat, der sich eindeutig von den traditionellen Vorstellungen der Geschlechterbeziehung unterscheidet, ist nicht notwendiger Weise eine Konsequenz des materiellen Wohlstands eines Paares. Entscheidender ist die Schulbildung, insbesondere die Schulbildung der Frau. Wie in den theoretischen Grundlagen angenommen wurde und Tabelle 7.13 zeigt, kommt es bei einer besseren Schulbildung der Ehefrau eher zu egalitären Beziehungen, da einerseits Normen und Werte außerhalb des dörflichen Kontextes gelernt und übernommen werden, andererseits die Wahrscheinlichkeit steigt, daß das Paar über Probleme und Entscheidungen miteinander kommuniziert, so wie es auch in der Schule vermittelt wird. Die Analyse der prototypischen Fälle wird diese Interpretation noch detaillierter ausführen (vgl. 7.2.3). Generell ist also festzuhalten, daß die Intensität der Verhütungsmittelbenutzung und die Verzögerung des Alters bei erster Geburt unterschiedliche Ursachen haben. Noch einmal muß auch betont werden, daß Verhütung und Alter bei erster Geburt in keinem Zusammenhang stehen. Die Verzögerung des Alters bei erster Geburt ist eine wirtschaftliche und soziale Strategie einer Gruppe von Paaren, die für sich erkannt hat, daß es für ihre eigene Kernfamilie von großem Vorteil sein kann, mit Heirat und erstem Kind zu warten. Die intensive Benutzung von Verhütung hat ebenfalls wirtschaftliche Gründe. Die Bedingung, damit diese Motivation auch erfolgreich umgesetzt wird, besteht allerdings darin, daß Mann und Frau eine relativ egalitäre Beziehung haben. Daß sich die Art der Geschlechterbeziehung in dieser Form verändert hat, ist ursächlich auf die Verbreitung besserer Schulbildung für beide Geschlechter zurückzuführen. Im folgenden werden die Ergebnisse des Regressionsmodells für die Residuen des Fertilitätsmaßes analysiert. DAS GEPLANTE KIND 302 Abhängige Variable: Residuen Unabhängige Variablen: Schulbildung Frau Schulbildung Mann Egalität der Beziehung Differenz Wunsch/Realität Schwiegermutter Freundin Unión libre Altersdifferenz R R2 Korrigiertes R2 F – Statistik Anzahl an Fällen 1. Ergebnis mit allen erklärenden Variablen -0,168 0,076 0,043 0,473*** 0,095 0,138 0,184* -0,101 0,536 0,287 0,220 4,286*** 94 Nur signifikante Variablen aus 1 0,487*** 0,130 0,484 0,235 0,219 14,868*** 100 Signifikanzniveaus: * α<0,10, ** α<0,05, *** α<0,01 Tabelle 7.14: Lineare Regression zur Erklärung der Residuen des Fertilitätsmaßes aufgrund der sozialen und normativen Rahmenbedingungen, standardisierte Koeffizienten Nur zwei erklärende Variablen haben einen signifikanten Effekt auf die Residuen (vgl. Tabelle 7.14). Der Effekt der Variable unión libre verschwindet sogar bei einer nochmaligen Regression mit nur diesen beiden signifikanten Variablen. Die Variable, die mit Abstand den stärksten Effekt auf die nicht durch Verhütung und Alter bei erster Geburt erklärte Varianz hat, ist die Differenz zwischen der gewünschten und der tatsächlichen Anzahl an Kindern (vgl. Tabelle 7.9 und Tabelle 7.14). Frauen, die eine noch höhere als durch die anderen beiden abhängigen Variablen erklärbare Fertilität haben, wünschen sich erheblich weniger Kinder, als sie tatsächlich haben. Außerdem haben diese Frauen, auch wenn der Effekt nur schwach ist, tendenziell in einer unión libre gelebt. Frauen hingegen, die eine niedrige Fertilität haben, die nicht nur durch Verhütung/Alter bei erster Geburt zu erklären ist, haben nicht in einer unión libre gelebt und können ihre Wünsche umsetzen (vgl. Tabelle 7.14). Außerdem sind sie gebildeter und leben in einem teureren und moderneren Haus (vgl. Tabelle 7.9). Aufgrund dieser Ergebnisse wird vermutet, daß es vor allem eine proximate Determinante und ein Problem der Datenerhebung sind, die dazu geführt haben, daß Frauen eine nicht durch ihre Verwendung von Verhütungsmittel und ihr Alter bei erster Geburt erklärte niedrige Fertilität haben. Die proximate Determinante Koitusfrequenz könnte eine Ursache der nicht erklärten Varianz sein. Eine der Ursachen, warum ein Paar ein modernes Haus besitzt und sich gegen eine unión libre entscheidet, besteht darin, daß vor allem der Mann KAPITEL 7. VARIATIONEN FERTILEN VERHALTENS 303 durch Arbeitsmigration versucht, die nötigen materiellen Grundlagen zu schaffen. Wie auch bei der Verzögerung des Alter bei erster Geburt gibt es auch hier eine Gruppe von Paaren, die versuchen, sich unabhängig von ihren Eltern zu etablieren, bzw. ihren schon erreichten Lebensstandard zu verbessern. Aufgrund der Arbeitsmigration des Mannes kommt es aber zu einer verhältnismäßig niedrigen Koitusfrequenz, wodurch die Wahrscheinlichkeit einer Empfängnis sinkt, was wiederum zu einer niedrigeren Fertilität führt. Eine andere Vermutung besteht darin, daß die Verwendung von natürlicher Verhütung nur unzureichend erfaßt worden ist. Es könnte eine Gruppe von Paaren im Dorf geben, die natürliche Verhütung anwenden, vor allem den Coitus interruptus und die Kalendermethode, dies aber nicht während der Interviews berichtet haben. Für diese These spricht, daß die Frauen mit niedriger, nicht erklärter Fertilität, eine bessere Schulbildung haben. Aufgrund dieser Schulbildung wird davon ausgegangen, daß solche Paare auch in der Lage sind, die nötige Disziplin für natürliche Verhütungsmethoden aufzubringen. Ebenfalls für die nicht genannte Anwendung natürlicher Verhütung spricht, daß Paare mit niedriger, nicht erklärter Fertilität nicht in einer unión libre gelebt haben. Dies könnte auch ein Zeichen für eine stärkere Konformität gegenüber religiösen Normen sein. Geht man von einer solchen Konformität aus, besteht eine alternative Vermutung darin, daß diese Frauen mit mir nicht über die Verwendung von Verhütungsmethoden gesprochen haben, da sie eine größere Scham als andere Frauen hatten, über Themen wie Verhütung und Sexualität zu sprechen. Im folgenden Abschnitt soll anhand einiger prototypischer Fälle nachvollzogen werden, welche der möglichen Zusammenhänge am wahrscheinlichsten sind. 13 13 Es wurden auch Regressionen mit allen signifikanten Variablen der ersten Grundbedingung durchgeführt. An den vorgestellten Ergebnissen ändert sich nichts. Weiterhin wurden alle erklärenden Variablen beider Grundbedingung in eine Regression, bzw. in drei Regressionen – für jede der abhängigen Variablen eine – eingegeben. Die Ergebnisse weichen nur unwesentlich von den bisher vorgestellten Ergebnissen ab. DAS GEPLANTE KIND 304 7.2.3 Prototypische Fälle Aufgrund der Regressionsanalysen haben sich bestimmte Charakteristika der Frauen und Paare sowie ihrer kulturellen Rahmenbedingungen ergeben, mit Hilfe derer das fertile Verhalten erklärt werden kann. Im folgenden sollen nun anhand ausgewählter, prototypischer Fälle diese Ergebnisse veranschaulicht werden. Um zu ermessen, inwieweit eine Frau ein prototypisches Beispiel für ein bestimmtes Verhalten ist, werden zunächst Durchschnittswerte der drei abhängigen Variablen berechnet. Im Anschluß daran werden Frauen ausgewählt, die in die beiden extremen Quartile (erstes und viertes Quartil) fallen, deren Verhalten also nicht dem Durchschnitt entspricht, sondern signifikant abweicht. Nur solche Fälle sind mit Hilfe der gebildeten erklärenden Variablen gut interpretierbar. Danach wird überprüft, inwieweit die durch die Regressionsanalysen ermittelten Charakteristika auf diese Frauen zutreffen. Zunächst zu den Mittelwerten und den Verteilungen der drei abhängigen Variablen (Tabelle 7.15). Alter erste Geburt Intensität von Verhütung Residuen des Fertilitätsmaßes N Mittelwert 1. Quartil 4. Quartil 102 106 102 19,6 (3,1) 24,3% 0 (1) 14 15-17 Jahre 0% -2,4 bis –0,64 22-32 Jahre Über 43% 0,85 bis 2,6 Tabelle 7.15: Verteilungen und Mittelwerte der drei abhängigen Variablen Die Regressionsanalysen haben gezeigt, daß Frauen, die entweder ihr erstes Kind sehr früh bekommen oder die Geburt des ersten Kindes stark verzögern, bestimmte Charakteristika aufweisen. Für jeweils vier Fälle, zwei Fälle, wo ein sehr frühes Alter bei erster Geburt vorliegt und zwei Fälle, wo ein spätes Alter bei erster Geburt vorliegt, sind diese Charakteristika noch einmal in Tabelle 7.16 zusammengefaßt. Durch Plus- und Minuszeichen ist markiert worden, inwieweit der jeweilige Fall den Ergebnissen der Regressionsanalyse entspricht. 14 Standardisierte Residuen haben immer einen Mittelwert von 0 und eine Standardabweichung von 1. KAPITEL 7. VARIATIONEN FERTILEN VERHALTENS Abh. Variablen Unabh. Variablen AEG %V. Resi. Land Frühes AEG Spätes AEG Juana, 17,1 Ki. Lucia, 44, 5 Ki. Tomasa, 32, 2 Ki. Meche, 24, 1 Ki. 17 0 -0,2 17 75,9 -1,6 26 33,3 -0,6 22 0 -0,6 305 1,5h (+) 3,8h (+) 0,5h (+) 0,5h (+) Beruf Frau Haus Nein (+) Nein (+) Nein (-) Nein (-) Tra. (+) Mod. (-) Mod. (+) Mod. (+) Bild. Mann Schw. mutter Wenig (+) Wenig (+) Viel (+) Wenig (-) Nein (-) Ja (+) Nein (+) Nein (+) Freun. Alter Nein (+) Nein (+) Ja (+) Nein (-) +4 (+) 0 (-) +2 (-) -1 (+) Zu den Variablen: AEG: Alter bei erster Geburt; %V.: Prozent Verhütung; Resi: standardisierte Residuen des Fertilitätsmaßes; Land: Landbesitz in Hektar; Beruf Frau: Beruf der Frau, nein=keine Berufstätigkeit; Haus: traditionelles (tra.) oder modernes (mod.) Haus; Bild. Mann: Schulbildung des Mannes, wenig=primaria oder weniger, viel=mehr als primaria; Schw. mutter: Leben mit der Schwiegermutter; Freun.: Freundin oder nicht; Alter: Altersdifferenz zwischen Ehepartnern (positive Werte=Mann älter). Tabelle 7.16: Prototypische Fälle für das Alter bei erster Geburt Keiner der ausgewählten Fälle entspricht vollkommen den Kriterien, die sich aufgrund der Regressionsanalysen ergeben haben. Dies liegt aber vor allem daran, daß alle signifikanten Variablen, auch solche, die nur einen schwachen Effekt haben, hier einbezogen werden. Es wird versucht, möglichst viele der schon in dem Kapitel zur sozialen Einbettung der Frau analysierten Fälle hier wieder aufzugreifen. Allerdings ist dies nur bei drei der zehn Frauen möglich, da mehrere der Frauen entweder nicht den Kriterien der hier analysierten Stichprobe (Frauen zwischen 15 und 44 Jahren, die in einer Beziehung leben) entsprechen, oder in das zweite und dritte Quartil bei allen drei abhängigen Variablen fallen. Sowohl Juana als auch Lucia haben ein sehr frühes Alter bei erster Geburt (vgl. Tabelle 7.16). Juana hat nie verhütet, Lucia hingegen hat während mehr als 75% ihrer reproduktiven Phase die Spirale verwendet, womit sie zu den am intensivsten Verhütung benutzenden Frauen gehört. Daß Juana bisher nicht verhütet hat, liegt sicherlich auch daran, daß sie noch sehr jung ist und erst ein Kind hat. Wie in der Ethnographie beschrieben wurde, liegt der durchschnittliche Landbesitz bei 1,5 Hektar (vgl. 4.2.2.4). Insofern haben beide Familien einen durchschnittlichen oder, in Lucias Fall, sogar überdurchschnittlichen Besitz an Land und leben ausschließlich von der Landwirtschaft (vgl. Tabelle 7.16, Spalte ‚Land‘). Der Mann von Juana hat sein Land vom Vater vererbt bekommen und hofft darauf, noch mehr Land zu erben. Auch der Mann von Lucia hat sein Land von seinem Vater geerbt und 306 DAS GEPLANTE KIND versorgt diesen heute. Lucias Familie ist wirtschaftlich eindeutig besser gestellt, was sich auch darin ausdrückt, daß sie ein modernes Haus besitzt, wenn auch noch ohne eine Toilette aber mit einem Wohnzimmer. Da Lucias Mann für Dorfverhältnisse viel Land besitzt, kann er es sich leisten, sowohl Mais als auch Weizen anzubauen. Der Weizen wird vollständig verkauft. Im Gegensatz dazu baut Juanas Mann Mais und Bohnen an, beides Produkte, die fast ausschließlich zum Eigenkonsum verwendet werden. Beide Frauen geben an, daß sie keine Freundinnen haben, und dies hat sich auch während meiner mehrfachen Besuche bestätigt. Auch haben beide Männer eine geringe Schulbildung (vgl. Tabelle 7.16). Daß Lucia so früh ihr erstes Kind bekommen hat, erklärt sich damit, daß sie zu jenem Zeitpunkt ihres Lebens alles daran setzte, das Haus ihrer Eltern in MexikoStadt zu verlassen. In Pueblo Nuevo angekommen stellte sie dann fest, daß sie vom Regen in die Traufe gekommen war, denn nun unterstand sie zwar nicht mehr ihrer Mutter, dafür aber ihrer Schwiegermutter. Juana lebt zwar nicht bei ihren Schwiegereltern, aber in einer ähnlichen Situation. Der Vater von Juanas Mann verstarb vor mehreren Jahren und die Mutter zog daraufhin zu einem ihrer Kinder nach Mexiko-Stadt. Abraham, Juanas Mann, blieb bei der Großmutter in Pueblo Nuevo. Der Beginn Juanas Ehe entspricht stark dem Dilemma, wie es in der Ethnographie beschrieben wurde. Ihr älterer Mann überredete sie, mit zum Haus seiner Großmutter, in dem er lebte, zu kommen. Es wurde abend und damit für Juana zu spät, nach Hause zurückzukehren. Kurz darauf zog Juana in ein kleines Haus neben dem Haus der Großmutter ihres Mannes. Insofern lebt Juana zwar nicht mit ihrer Schwiegermutter zusammen. Trotzdem sind sowohl Lucia als auch Juana typisch für Frauen in Pueblo Nuevo, die sehr früh ihr erstes Kind bekommen, wie sich im folgenden zeigen wird. Wie in der Analyse der sozialen Einbettung der Frau beschrieben wurde, sprechen viele Frauen immer wieder davon, daß sie ihre Ehe und generell ihr Leben bereuen. Sie hätten damals einfach nicht nachgedacht über das, was sie taten. Dies trifft auch auf Juana zu. Lucia hingegen hat über ihre Handlungen nachgedacht und wollte so früh heiraten und ein Kind bekommen. Ähnlich wie auch Sara, deren Lebensgeschichte ebenfalls im Kapitel über die soziale Einbettung der Frau analysiert wurde, bestand ihre Motivation hauptsächlich darin, das nicht mehr für sie zu ertragende Elternhaus zu verlassen – koste es, was es wolle. Sowohl die ‚Unüberlegtheit‘ als auch der Wunsch, das Elternhaus um jeden Preis zu verlassen, hat für die Frauen seinen Preis. Wie gezeigt wurde, sind die wirtschaftlichen Kapazitäten dieser Frauen und Familien erheblich geringer als die derjenigen Frauen und Familien, KAPITEL 7. VARIATIONEN FERTILEN VERHALTENS 307 die später heiraten und schon einen eigenständigen Wohlstand erwirtschaftet haben. Da diese Familien schon früh die Kosten mehrerer Kinder tragen müssen und unter Umständen auch noch Geld an den erweiterten Haushalt abgeben, sind ihre Chancen einer Aufwärtsmobilität einerseits erheblich geringer und andererseits immer, im Vergleich zu Paaren, die erst einen gewissen eigenständigen Besitz akkumulieren, zeitlich verzögert. Heute geht es Lucias Familie wirtschaftlich recht gut, doch bis es dazu kam, mußte die Familie erst Jahrzehnte der wirtschaftlichen und sozialen Abhängigkeit durchleben. Erst nachdem der Vater von Lucias Mann dem Sohn das Land vererbt hatte, ging es der Familie wirtschaftlich besser. Auch Juanas Mann hofft, von der Großmutter noch mehr Land zu erben. Diese wirtschaftliche Strategie, die als traditionell zu bezeichnen ist, und die in völligem Einklang zu den bisherigen Formen des wirtschaftlichen Aufstiegs steht, unterscheidet sich stark von der Strategie, die sowohl Tomasa und ihr Mann als auch Meche und ihr Mann verfolgen (vgl. Tabelle 7.16). Beide Frauen haben ein spätes Alter bei erster Geburt. Tomasa und Meche haben beide Männer geheiratet, die sie schon seit ihrer Kindheit kannten und die ebenfalls in Pueblo Nuevo geboren wurden. Im Gegensatz zu Juana und Lucia haben aber diese beiden Frauen und ihre Männer schon früh beschlossen, mit der Heirat und einem Kind zu warten. Im Fall von Tomasa beendete der Mann vor der Heirat die Ausbildung zum Lehrer. Im Fall von Meche erwirtschaftete der Mann vor der Heirat genug Geld durch seine Arbeit in einem Restaurant in Mexiko-Stadt, so daß er und Meche sich ein eigenes Grundstück kaufen und ein modernes Haus bauen konnten. Die beiden Frauen lebten während dieser Zeit bei ihren Eltern. Dadurch vermieden sie es bewußt, mit ihrer Schwiegermutter zu leben, die insbesondere im Fall von Meche einen sehr schlechten Ruf im Dorf hat. Meche gibt zwar an, daß sie keine Freundinnen hat (vgl. Tabelle 7.16). Dies steht aber sicherlich in einem Zusammenhang damit, daß sie sich einerseits intensiv um ihre Tochter kümmert und andererseits sehr viele Schwestern hat, mit denen sie täglich interagiert. Hier zeigt sich auch eine weitere Ursache für das Handeln dieser Paare. Meche und Tomasa haben beide – im Gegensatz zu Lucia - eine gute Beziehung zu ihren Eltern. Für sie ist es nicht schwierig gewesen, länger als es normalerweise der Fall ist, bei ihren Eltern zu leben und auch die Eltern waren nicht dagegen. Daß diese beiden Paare nicht schnell geheiratet und ein Kind bekommen haben, sondern es vorgezogen haben, strategisch zu planen, liegt also zum einen daran, daß aus der Perspektive der Frau, wenn sie eine gute Beziehung zu ihren Eltern unterhält, es eindeutig vorzuziehen ist, bei den Eltern zu bleiben und mit der Heirat zu 308 DAS GEPLANTE KIND warten, als mit der Schwiegermutter zusammenzuleben. Zum anderen ist aus der Perspektive des Mannes die Verzögerung von Heirat und Geburt des ersten Kindes ebenfalls ein Vorteil, denn dies gibt ihm die Chance, sich unabhängig von seinen Eltern und frei von Verpflichtungen, die die Versorgung einer Familie mit sich bringt, selber wirtschaftlich zu etablieren. Es zeigt sich folglich, daß einige der erklärenden Variablen einen besonders starken Einfluß haben. Dies haben auch schon die Ergebnisse der Regressionsanalysen erbracht, denn die Stärke der Effekte ist nicht für alle signifikanten Variablen gleich. Insbesondere die beiden Variablen Schwiegermutter und Art des Hauses sind gute Indikatoren dafür, welche der oben beschriebenen Strategien angewendet wird. Um diese Überlegungen zu vertiefen, werden die vier wichtigsten Variablen, d.h. diejenigen Variablen, die die stärksten Effekte in den Regressionsanalysen haben und deren Effekte sich auch bei einer isolierten Betrachtung nur der signifikanten Variablen in gleicher Weise bestätigen, ausgewählt und noch einmal analysiert. Hierbei handelt es sich um die erklärenden Variablen Art des Hauses, Schwiegermutter, Altersdifferenz zwischen den Ehepartnern und Freundin. Eines der Probleme der Regressionsanalysen besteht darin, daß nicht zu ermessen ist, welche Kombinationen an Variablen welchen Effekt auf die zu erklärende Variable haben. Nur die Signifikanz und Stärke der einzelnen erklärenden Variablen kann durch diese Methode erfaßt werden. Im folgenden werden deshalb die 102 Frauen, die ein Alter bei erster Geburt haben, nach ihren Merkmalen und Merkmalskombinationen geordnet. Alle ausgewählten Variablen werden hierfür dichotomisiert. 15 Insgesamt ergeben sich bei vier dichotomen Variablen 16 mögliche Kombinationen, wobei z.B. eine dieser Kombinationen diejenigen Frauen erfaßt, auf die alle vier Merkmale zutreffen (also eine ‚1‘ in allen vier Spalten, siehe Tabelle 7.17, letzte Zeile) und eine diejenigen erfaßt, die keine der vier Merkmale haben (also eine ‚0‘ in allen vier Spalten, vgl. Tabelle 7.17, zweite Zeile). Mehrere der möglichen Kombinationen werden aufgrund einer Fallzahl von 102 unbesetzt sein. Nachdem die Frauen ihrer jeweiligen Kombination zugeordnet worden sind, wird für jede Kombination ein durchschnittliches Alter bei erster Geburt berechnet. 15 Die Variablen Schwiegermutter und Freundin sind schon dichotome Variablen. Die Variable Altersdifferenz, eine intervallskalierte Variable, wird dichotomisiert, indem die Fälle in zwei Gruppen eingeteilt werden – Paare und Männer, die gleichaltrig sind oder wo die Frau älter ist und Paare, wo der Mann älter ist. Die Art des Hauses wird in ähnlicher Weise dichotomisiert – Paare, die in einem modernen Haus wohnen, stellen eine Gruppe dar, alle anderen Paare die andere Gruppe. KAPITEL 7. VARIATIONEN FERTILEN VERHALTENS 309 Hieran läßt sich erkennen, welche Kombinationen von Merkmalen einen besonders starken Effekt auf das Alter bei erster Geburt haben. Es ist zu vermuten, daß bei Frauen, auf die viele der Merkmale zutreffen, die z.B. nicht bei der Schwiegermutter gelebt haben, in einem modernen Haus leben und eine Freundin haben, das durchschnittliche Alter bei erster Geburt später liegt als bei Frauen, auf die keines der Merkmale zutrifft. Um Durchschnitte zu berechnen, darf die Anzahl an Frauen für die jeweilige Kombination nicht zu klein sein. Deshalb werden nur solche Kombinationen einbezogen, deren Fallzahl größer als vier ist. 16 Kombinationen von Merkmalen Freundin Schwiegermutter Haus Altersdifferenz ∅ Alter bei erster Geburt 0 0 0 0 17,2 (1,1) 1 0 0 0 0 1 0 0 0 0 1 0 0 0 0 1 18,0 (1,9) 18,3 (2,5) 1 1 1 0 0 0 1 0 0 1 0 1 0 1 0 1 1 0 0 0 1 0 1 1 18,8 (2,3) 19,3 (1,7) 21,0 (2,9) 18,6 (1,9) 1 1 1 0 1 1 0 1 1 0 1 1 0 1 1 1 21,4 (3,7) 22,2 (3,2) 21,4 (3,7) 20,6 (2,1) 1 1 1 1 22,0 (2,4) Freundin: 0 keine Freundin, 1 Freundin; Schwiegermutter: 0 hat mit Schwiegermutter zusammen gelebt, 1 hat nicht mit Schwiegermutter zusammengelebt; Haus: 0 traditionelles Haus/Haus der Mischform, 1 modernes Haus; Altersdifferenz: 0 Mann älter als Frau, 1 Paar gleichaltrig/Frau älter Tabelle 7.17: Die wichtigsten erklärenden Variablen und ihre Effekte auf das Alter bei erster Geburt Die Ergebnisse sind eindeutig und unterstützen die bisher gewonnenen Erkenntnisse. Je mehr der Merkmale zutreffen, desto später liegt das Alter bei erster Geburt. 16 Insgesamt ist nur für 12 der 16 möglichen Kombinationen das durchschnittliche Alter bei erster Geburt berechnet worden (vgl. Tabelle 7.17). Eine Kombination kommt nicht vor (Haus und Altersdifferenz), drei Kombinationen scheiden aus, da sie zu wenig Fälle haben. Dadurch reduziert sich die betrachtete Fallzahl von 102 auf 96. DAS GEPLANTE KIND 310 Trifft keines der Merkmale zu, liegt das Alter bei erster Geburt bei 17 Jahren, treffen zwei Merkmale zu, liegt es gut zwei Jahre später und treffen drei der Merkmale zu, dann liegt es weitere ein bis zwei Jahre später. Einzige Ausnahme ist die Altersdifferenz. Sie hat auch alleine einen starken Einfluß auf das Alter bei erster Geburt, das bei einem ausschließlichen Zutreffen nur dieser Variable bei 22 Jahren liegt. Hiermit werden auch die Ergebnisse sowohl der Regressionsanalysen als auch der Betrachtung der prototypischen Fälle noch einmal erweitert. Wenn beide Partner gleichaltrig sind oder die Frau älter ist, dann bekommt ein Paar später das erste Kind. In solchen Fällen wird die anhand der prototypischen Fälle beschriebene Planung des Lebens generell und der Geburt des ersten Kindes im Speziellen besonders erfolgreich in die Tat umgesetzt. Mann und Frau sind in der Planung egalitärere Partner. Vor allem hat auch die Frau einen starken Einfluß auf die Umsetzung der gewünschten Ziele, wie z.B. ein Leben ohne Schwiegermutter. Die Ursachen, warum es zu einem frühen oder späten Alter bei erster Geburt kommt, sind nun detailliert analysiert worden. Im folgenden sollen anhand prototypischer Fälle die Ergebnisse zur Intensität der Verwendung von Verhütung vertieft werden. Wiederum werden aufgrund der Verteilung der Variable vier Frauen ausgewählt, die entweder gar nicht oder sehr intensiv verhütet haben. Abh. Variablen Keine Verhütung Unabh. Variablen AEG %V. Resi. BerufM. BildF. Sipriana, 34, 7 Kinder 17 0 +0,2 Ja (+) Wenig (+) Wenig (+) Nein (+) Julia, 35, 7 Kinder 16 0 +0,4 Ja (+) Wenig (+) Wenig (+) Ja (-) 21 67,0 -1,0 Nein (+) Viel (+) Viel (+) Ja (+) 19 67,1 -0,2 Nein (+) Viel (+) Viel (+) Ja (+) Lupe, 33, Intensive 2 Kinder VerAngela, 28, hütung 2 Kinder Egalität Freundin Zu den Variablen: AEG: Alter bei erster Geburt; %V.: Prozent Verhütung; Resi: standardisierte Residuen des Fertilitätsmaßes; BerufM: in der Landwirtschaft oder nicht; BildF: Schulbildung der Frau, wenig=primaria oder weniger, viel=mehr als primaria; Egalität: sehr egalitäre Beziehung (0 Punkte), wenig egalitäre Beziehung (über 4 Punkte); Freundin: Freundin oder nicht. Tabelle 7.18: Prototypische Fälle für die Benutzung von Verhütung Sowohl Sipriana als auch Julia haben ein sehr frühes Alter bei erster Geburt und sie haben niemals Verhütungsmethoden verwendet (vgl. Tabelle 7.18). Aufgrund dessen läßt sich in einem ersten Schritt erklären, warum beide Frauen für ihr Alter mit KAPITEL 7. VARIATIONEN FERTILEN VERHALTENS 311 sieben Kindern eine sehr hohe Fertilität haben. Sipriana und Julia haben beide intensiv und lange gestillt. Sie geben an, daß sie jedes ihrer Kinder ungefähr zwei Jahre lang gestillt haben, womit sich ebenfalls erklärt, warum die beiden Frauen Geburtenabstände von im Schnitt zweieinhalb bis drei Jahren haben. Auch haben beide Frauen einen Teil ihrer Kinder zu Hause geboren, nur mit Hilfe der Schwiegermutter und einer lokalen Hebamme. Daraufhin befragt, ob sie es nicht als riskant empfunden hätten, ihre Kinder zu Hause zu bekommen, sagten beide, daß sie einerseits nicht wüßten, warum dies riskant sein sollte und außerdem kein Geld für eine Geburt in einer Klinik hätten. Zwei von Siprianas Kindern verstarben im Kleinkindalter. Beide Frauen haben nur wenige Jahre die primaria in Pueblo Nuevo besucht und können kaum lesen und schreiben. Auch ihre Männer haben keine bessere Schulbildung. Zwar haben beide Ehemänner Landbesitz, allerdings kann nur die Familie von Julia, deren Mann zwei Hektar besitzt, davon leben. Siprianas Mann besitzt nur 0,3 Hektar und versorgt seine Familie im wesentlichen damit, daß er als peón für andere Landwirte arbeitet. Der Grund, warum sowohl Sipriana als auch Julia niemals Verhütung verwendet haben, besteht unter anderem darin, daß beide Frauen Angst vor möglichen Nebenwirkungen haben. In einem Gespräch mit Sipriana stellte sich später aber heraus, daß es vor allem Siprianas Ehemann ist, der gegen die Verwendung von Verhütung ist, da solche Mittel seiner Meinung nach Krebs erzeugen. Sipriana lebt sozial sehr isoliert und hat keine Freundinnen. Deshalb hat sie auch wenig Möglichkeiten, andere Informationen außer der Meinung ihres Ehemannes zu erhalten. Hier zeigt sich schon, daß beide Frauen ein Interesse an der Verwendung von Verhütungsmitteln haben, diese Mittel aber aus verschiedenen Gründen – vor allem wegen ihrer Beziehung zu ihrem Ehemann – nicht nehmen (können). Ihre Motivation drückt sich weiterhin darin aus, daß beide Frauen angeben, erheblich mehr Kinder zu haben, als sie eigentlich geplant haben – Sipriana nennt als ideale Familiengröße vier Kinder, Julia drei Kinder. Tatsächlich haben aber beide Frauen sieben Kinder. Beide Frauen geben weiter an, daß ihre Ehemänner die Zahl an Kindern, die sie tatsächlich haben, so gewünscht hätten. Die Frauen gehen also davon aus, daß ihre Ehemänner mehr Kinder als sie selber wollten und sich mit diesem Wunsch auch durchgesetzt haben. Nur Julias Mann ist zu seinen Vorstellungen befragt worden. Er sagt, daß es seine Frau ist, die so viele Kinder haben wollte. Er selber wäre auch mit nur vier Kindern zufrieden gewesen. Daß diese Differenz zwischen Mann und Frau kein Einzelfall ist, zeigt sich, wenn noch weitere Paare, für die Informationen von Frau und Mann erhoben werden konnten, in die Analyse miteinbezogen werden. 312 DAS GEPLANTE KIND 44 Paare können betrachtet werden. Männer und Frauen wurden unabhängig voneinander nach ihrer gewünschten Anzahl an Kindern und ihrer Einschätzung dessen, was ihr jeweiliger Partner als optimale Anzahl empfand, befragt. Wie im vorangegangenen Kapitel beschrieben, gibt es zwischen Männern und Frauen keine großen Unterschiede hinsichtlich der gewünschten Kinderzahl. Beide Geschlechter geben im Schnitt drei oder vier Kinder an, allerdings liegt der Durchschnittswert für Männer ein wenig höher als für Frauen. Auch zeigt sich kein signifikanter Zusammenhang zwischen der gewünschten Kinderzahl und der Anzahl an tatsächlichen Kindern. So gut wie alle Dorfbewohner haben mittlerweile das Ideal der Kleinfamilie mit drei oder vier Kindern übernommen, auch wenn sie dieses Ideal häufig nicht in die Realität umsetzen. 17 Starke Abweichungen gibt es hingegen in der Einschätzung der Wünsche des Partners und diese Abweichungen stehen in einem Zusammenhang mit der Fertilität der Paare. Je mehr Kinder ein Paar hat, desto falscher schätzen sowohl Männer als auch Frauen den Kinderwunsch ihres Partners ein. 18 Wie auch im Falle Julias, wo sowohl sie als auch ihr Mann den Wunsch des Partners vollkommen falsch und viel zu hoch eingeschätzt haben, gibt es mehrere Paare in Pueblo Nuevo, die zum einen eine überdurchschnittlich hohe Fertilität haben und zum anderen die Vorstellungen des Partners entweder nicht kennen oder falsch interpretieren. Aufgrund der Ergebnisse der Regressionsanalysen ist es möglich, die Ursachen dieser Differenzen, die auch dazu geführt haben, daß Frauen wie Julia und Sipriana keine Verhütung verwenden, zu ermitteln. Die Schulbildung der Frau und die Art der Beziehung zwischen Mann und Frau spielen hierbei eine wichtige Rolle. In einer Beziehung, in der Entscheidungen entweder getrennt oder vom Mann alleine getroffen werden und in der es folglich nur wenig Kommunikation über Entscheidungen gibt, ist es nicht zu erwarten, daß Mann oder Frau eine Vorstellung von den Wünschen ihres Partners haben. Je mehr Mann und Frau aber miteinander kommunizieren und gemeinsam entscheiden, desto besser kennen sie die Wünsche und Motive ihres Partners. Dieser Wandel der traditionellen Geschlechterrollen hängt ursächlich mit der Verbreitung anderer als der im Dorf ge- 17 Dieser Zusammenhang hat sich bei den Regressionsanalysen der Residuen des Fertilitätsmaßes schon gezeigt. Je stärker die gewünschte Anzahl an Kindern von der tatsächlichen Anzahl abweicht, desto höher ist auch die Fertilität eines Paares (Pearson Korrelation mit dem Fertilitätsmaß: r=0,455***). 18 Pearson Korrelationen zwischen der Abweichung der Einschätzung des Mannes bezüglich des Kinderwunsches seiner Frau und ihres tatsächlichen Wunsches und dem Fertilitätsmaß: r=0,350**; Für die Frauen (Einschätzung des Wunsches des Mannes im Vergleich zu dem, was der Mann angegeben hat, korreliert mit dem Fertilitätsmaß): r=0,396***. KAPITEL 7. VARIATIONEN FERTILEN VERHALTENS 313 gebenen Normen und Werte zusammen. Eine bessere Schulbildung, vor allem der Frau, hat eben diesen Effekt (vgl. 6.4.3). Genau dies gilt im Fall von Angela und Lupe (vgl. Tabelle 7.18). Beide Frauen haben während eines Großteils ihrer reproduktiven Phase Verhütung verwendet und vor allem aufgrund dessen eine für ihr Alter sehr niedrige Fertilität. Sowohl sie selber als auch ihre Ehemänner haben die secundaria besucht und beide Männer, Lupes Mann ist Lehrer, Angelas Mann hat ein eigenes Taxi, sind in Berufen außerhalb der Landwirtschaft tätig. Entscheidungen werden generell von Mann und Frau gemeinsam getroffen, so auch die Entscheidung, Verhütung zu verwenden. Auch schätzen die Ehepartner – sowohl Angelas als auch Lupes Mann konnten befragt werden – die Wünsche ihrer Partnerin richtig ein. Eine wichtige Motivation von Angela und Lupe, in Abstimmung mit ihrem Mann zu verhüten, bestand darin, mehr Zeit für die schon geborenen Kinder zu haben. Auch wirtschaftliche Gründe waren für die Verwendung von Verhütung ausschlaggebend, vor allem Überlegungen, inwieweit sich das Paar ein weiteres Kind leisten kann, ohne den erreichten Lebensstandard und die gute Ernährung und Ausbildung der schon vorhandenen Kinder zu gefährden. Doch ohne die Art der Beziehung, die beide Frauen zu ihren Ehemännern haben, wäre es zu solchen reflektierten und erfolgreichen Entscheidungen sicherlich nicht gekommen. Die Ergebnisse der Regressionsanalysen bestätigen sich also auch hinsichtlich der prototypischen Fälle und können durch diese noch erweitert werden, da sich zeigt, in welcher Form die einzelnen signifikanten, erklärenden Variablen in einem Zusammenhang mit der Verwendung von Verhütung stehen. Um diese Ergebnisse weiter zu vertiefen, werden im folgenden – wie auch schon bei der Analyse des Alter bei erster Geburt – die einzelnen Kombinationen der vier erklärenden Variablen separat analysiert. Insgesamt können alle 106 Frauen, die zwischen 15 und 44 Jahre alt sind und in einer Beziehung leben, analysiert werden. Wiederum werden Durchschnittswerte des prozentualen Anteils der reproduktiven Phase, den eine Frau durch Verhütung geschützt gewesen ist, für jede der 16 möglichen Kombinationen berechnet (Tabelle 7.19). 19 19 Eine Kombination (Bildung, Beruf und Freundin) kommt nicht vor, sechs Kombinationen haben weniger als vier Fälle und entfallen deshalb. Die Anzahl an verwendeten Fällen reduziert sich deshalb von 106 auf 97 Fälle. Alle Variablen wurden dichotomisiert (vgl. Tabelle 7.19). DAS GEPLANTE KIND 314 Egalität Kombinationen von Merkmalen Bildung der Frau Beruf des Mannes Freundin %Verhütung 0 0 0 0 13,9 1 0 0 0 0 1 0 0 0 0 1 0 0 0 0 1 24,4 43,7 1 1 1 0 0 0 1 0 0 1 0 1 0 1 0 1 1 0 0 0 1 0 1 1 1 1 1 0 1 1 0 1 1 0 1 1 0 1 1 1 37,2 38,1 1 1 1 1 39,2 13,0 35,8 22,1 Egalität: 0 keine egalitäre Bez., 1 egalitäre Bez.; Bildung (der Frau): 0 primaria oder weniger, 1 secundaria oder mehr; Beruf (des Mannes): 0 in der Landwirtschaft, 1 nicht in der Landwirtschaft; Freundin: 0 keine Freundin, 1 Freundin Tabelle 7.19: Die erklärenden Variablen und ihre Effekte auf die Benutzung von Verhütung Die bisherigen Ergebnisse bestätigen sich eindeutig. Frauen, auf die keines der Merkmale zutrifft, haben im Schnitt nur 14% ihrer reproduktiven Phase verhütet, ein prozentualer Anteil, der weit unter dem Durchschnitt für alle Frauen liegt (Durchschnittliche Intensität der Verhütungsbenutzung: 24,3%, vgl. Tabelle 7.15). Treffen zwei Merkmale zu, erhöhen sich die Werte auf 22,1% und 35,8% (vgl. Tabelle 7.19). Treffen drei Merkmale zu, kommt es zu einem weiteren Anstieg. Mit einer Einschränkung verhüten diejenigen Frauen am stärksten, auf die alle vier Merkmale zutreffen, die also sowohl in einer egalitären Beziehung leben als auch eine bessere Schulbildung haben, deren Mann außerhalb der Landwirtschaft tätig ist und die eine oder mehrere Freundinnen haben. Angela und Lupe sind Frauen, die in diese Kategorie fallen. Allerdings gibt es eine Kategorie, die eine Ausnahme zu diesem additativen Prinzip darstellt. Mit Abstand am intensivsten verhüten Frauen, die ausschließlich in die Kategorie ‚bessere Schulbildung‘ fallen. Selbst wenn diese Frauen mit besserer Schulbildung keine Freundin haben, der Mann in der Landwirtschaft tätig ist und sie in keiner egalitären Beziehung leben, verhüten sie trotzdem sehr intensiv. In solchen Fällen trifft es nicht zu, daß die Schulbildung der Frau zu einer kommu- KAPITEL 7. VARIATIONEN FERTILEN VERHALTENS 315 nikativeren und egalitäreren Beziehung führt, so wie dies für die vorher diskutierten Fälle plausible war. Daß die bessere Schulbildung der Frau trotzdem für sich genommen einen so starken Effekt auf die intensive Verwendung von Verhütung hat, liegt sehr wahrscheinlich daran, daß diese Frauen aufgrund ihrer besseren Kenntnis über Verhütungsmittel, welche ihnen in der Schule vermittelt wurde, auch weniger Bedenken haben, diese Mittel anzuwenden. Im Kapitel zur sozialen Situation der Frau hat sich gezeigt, daß Frauen mit besserer Schulbildung nicht nur ein anderes Verhältnis zu ihrem Ehemann, sondern auch zu ihren Kindern entwickeln. Das kulturelle Ideal, sich zeitintensiv um die Erziehung und Entwicklung eines Kindes zu kümmern (LeVine et al. 1991), hat hauptsächlich durch eine verbesserte Schulbildung Einzug in das Leben der Bewohner Pueblo Nuevos gefunden. Insofern gibt es offenbar eine Gruppe von Frauen, deren bessere Schulbildung keinen oder nur einen geringen Effekt auf ihre Beziehung zum Ehemann hat. Diese Beziehung verläuft weiterhin nach den vorgegebenen traditionellen Geschlechterrollen. Was sich hingegen verändert hat und was auch dazu geführt hat, daß diese Frauen mit besserer Schulbildung intensiv verhüten und dadurch erheblich weniger Kinder als traditionell üblich bekommen, ist die Beziehung zu ihren Kindern. Das einzelne Kind und seine Bedürfnisse sind für diese Frauen wichtiger, damit aber auch zeitund kostenintensiver geworden. Der Zusammenhang zwischen der Bildung einer Frau und auch eines Paares und dem wahrgenommenen Wert ihrer Kinder sowie den daraus resultierenden Investitionen in diese Kinder wird im folgenden Abschnitt noch einmal aufgegriffen und vertieft. Schon in den vorangegangen Analysen wurde angemerkt, daß die Analyse und Interpretation der Residuen des Fertilitätsmaßes schwieriger ist als dies für die anderen beiden abhängigen Variablen der Fall ist. Gerade aus diesem Grund kann die vertiefende Analyse der prototypischen Fälle besonders aufschlußreich sein. Wiederum werden vier Frauen ausgewählt, die die beiden extremen Gruppen der Verteilung repräsentieren (Tabelle 7.20). DAS GEPLANTE KIND 316 Abh. Variablen Sehr niedrige Fertilität Sehr hohe Fertilität Unabh. Variablen AEG %V. Resi. Haus Carmela, 35, 4 Kinder 18 30,6 -0,9 Susanna, 23, 2 Kinder 18 30,0 Juana N, 41, 13 Kinder 18 María, 33, 8 Kinder 20 BildF. Planen Unión libre Mod. (+) Viel (+) Ja (+) Nein (+) -0,9 Mod.(+) Ja (+) Ja (-) 12,2 +1,2 Trad. (+) Wenig (+) Nein (+) Ja (+) 0,6 +1,4 Trad. (+) Wenig (+) Ja (-) Ja (+) Viel (+) Zu den Variablen: AEG: Alter bei erster Geburt; %V.: Prozent Verhütung; Resi: standardisierte Residuen des Fertilitätsmaßes; Haus: traditionelles (tra.) oder modernes (mod.) Haus; BildF.: Schulbildung der Frau, wenig=primaria oder weniger, viel=mehr als primaria; Planen: Ja=Wunsch und Realität stimmen überein oder es werden noch mehr Kinder gewünscht, Nein=Abweichung vom Ideal; Unión libre: in unión libre gelebt oder nicht. Tabelle 7.20: Prototypische Fälle für die Residuen des Fertilitätsmaßes Sowohl hinsichtlich ihres Alters bei erster Geburt als auch ihrer Intensität der Verhütungsmittelbenutzung fallen alle vier Frauen in die mittleren Kategorien (vgl. Tabelle 7.15). Sie haben weder besonders spät oder früh geheiratet und ihr erstes Kind bekommen, noch haben sie besonders intensiv oder gar nicht verhütet. Trotzdem ist ihre Fertilität sehr niedrig, bzw. sehr hoch und kann nicht nur mit Hilfe der beiden anderen abhängigen Variablen erklärt werden. Carmela und Susanna haben beide eine für Dorfverhältnisse gute Schulbildung und einen gehobenen Lebensstandard, der sich auch in dem Besitz eines modernen Hauses ausdrückt (Tabelle 7.20). Keine der beiden Frauen hat mit ihrer Schwiegermutter zusammengelebt. Zwar hat Susanna in einer unión libre gelebt. Allerdings repräsentiert Susanna genau den Typus ‚moderner‘ Frau, der sich frei für diese Eheform entschieden hat. Anders als bei Andrea und María (vgl. Tabelle 7.20), die beide in einer unión libre gelebt haben, nachdem sie ohne die Erlaubnis der Eltern eine Nacht mit ihrem Ehemann verbracht hatten und von ihren Eltern gezwungen wurden, nun die Konsequenzen ihres Handelns zu ziehen, ist für Susanna die unión libre eine Möglichkeit, sich immer noch von ihrem Mann zu trennen, wenn die Ehe nicht mehr gut funktioniert. Susanna ist der Meinung, daß eine solche Trennung, wenn man erst einmal staatlich und vor allem kirchlich verheiratet ist, nur noch sehr schwer möglich ist. Auf meine Frage hin, ob sie nicht durch ihre zwei Kinder schon an ihren Ehemann gebunden sei, entgegnete Susanna, daß die Frauen heute aufgrund ihrer besseren Schulbildung auch eher in der Lage sind, sich selber und auch ihre Kinder zu versorgen (Feldnotiz Nr. 55, 19/2/97). Trotzdem KAPITEL 7. VARIATIONEN FERTILEN VERHALTENS 317 schließt Susanna eine Heirat nicht aus, macht diese aber davon abhängig, wie sich ihre Beziehung entwickelt. Die Erklärung von Susannas sehr niedriger Fertilität ist eine andere als die von Carmelas sehr niedriger Fertilität. Susannas Mann ist Anfang 1996 in die USA migriert und kam für nur zwei Wochen im Januar 1997 nach Pueblo Nuevo. Danach ging er erneut in die USA. Vor seiner Arbeitsmigration in die USA hat Susannas Mann mehrere Jahre in Mexiko-Stadt gearbeitet. Während ihr Mann in MexikoStadt und später in den USA arbeitete, hat Susanna keine Verhütung benutzt. Sie war aber trotzdem vor einer erneuten Schwangerschaft geschützt, da ihr Mann abwesend war. Schon bezüglich der Messung der Intensität der Verhütungsmittelbenutzung wurde darauf hingewiesen, daß die Operationalisierung bestimmten Verzerrungen unterliegt. In Pueblo Nuevo ist es sehr verbreitet, daß eine Frau, sobald ihr Mann langfristig migriert, nicht mehr verhütet. Insofern erklärt vor allem die proximate Determinante Koitusfrequenz, die in einem direktem Zusammenhang mit der Abwesenheit des Mannes steht, warum Susannas Fertilität noch niedriger ist als aufgrund ihrer Verhütungsmittelbenutzung und ihres Alters bei erster Geburt zu erwarten wäre. Weiterhin steht die Abwesenheit des Mannes auch mit dem materiellen Wohlstand einer Familie in einem Zusammenhang. Die Regressionsanalysen haben ergeben, daß Frauen mit einer sehr niedrigen, nicht durch Verhütung und Alter bei erster Geburt erklärten Fertilität eher in modernen und somit teureren Häusern leben. In einigen Fällen resultiert der materielle Wohlstand wie auch die niedrige Fertilität dieser Frauen folglich aus der Migration – und somit der Abwesenheit – des Mannes. Auch Carmelas Mann ist in die USA migriert, allerdings wurde er schon nach einem Monat in Texas als illegaler Einwanderer aufgegriffen und kehrte nach Pueblo Nuevo zurück. Die Abwesenheit ihres Mannes erklärt nicht, warum Carmela weniger Kinder hat als aufgrund ihres Alters bei erster Geburt und ihrer Benutzung von Verhütungsmitteln zu erwarten wäre. Carmela und ihr Mann haben eine äußerst egalitäre und kommunikative Beziehung. Die beiden stimmen sich in allen wichtigen Entscheidungen ab. Noch wichtiger ist, daß Carmela und ihr Mann sehr gut über natürliche Verhütungsmethoden informiert sind. Carmela hat nie ein modernes Verhütungsmittel benutzt, sondern immer nur den Coitus interruptus und die Kalendermethode. Aus diesem Grund hatte sie auch Schwierigkeiten, genaue Daten, wann sie welche Methode benutzt hat, zu nennen. Deshalb wird davon ausgegangen, daß Carmela besser durch die natürliche Verhütung geschützt gewesen ist, als sich in den angegebenen 30% ausdrückt (vgl. Tabelle 7.20). Sehr wahr- 318 DAS GEPLANTE KIND scheinlich ist die Zahl zu niedrig. Außerdem kommt im Fall Carmelas hinzu, daß beide Partner die biologischen Zusammenhänge kennen und aufgrund ihrer egalitären Beziehung auch die nötige Disziplin haben, sich danach zu richten. Carmela hat genau die Zahl an Kindern, die sie wollte. Susanna möchte sogar noch weitere Kinder haben. Carmela ist sich sicher, daß sie mit ihrer Form der Verhütung auch keine weiteren Kinder bekommen wird. Susanna sagte, daß sie moderne Verhütung in Übereinstimmung mit ihrem Mann verwenden wird, sobald ihr Mann wieder permanent in Pueblo Nuevo lebt. Beide Frauen planen also ihr reproduktives Verhalten in Einklang mit ihrem Mann. Bei einer besseren Erfassung und Operationalisierung der proximaten Determinante Verhütung – im Fall von Carmela – und einer zusätzlichen Einbeziehung der Determinante Koitusfrequenz – im Fall von Susanna – wäre ihre sehr niedrige Fertilität sicherlich auch präziser erfaßt worden. Andere Gründe hat die sehr hohe Fertilität von Andrea und María (vgl. Tabelle 7.20). Beide Frauen haben einen sehr niedrigen Lebensstandard und nur wenige Jahre die primaria besucht. In beiden Fällen steht der jeweiligen Familie nur ein Zimmer, in dem geschlafen und gegessen wird, zur Verfügung. Andreas Mann ist starker Alkoholiker und im Dorf dafür bekannt, daß er seine Frau schlägt. Andrea sagte, daß sie nur zwei Kinder haben wollte, ihr Mann sich aber durchsetzte. Heimlich hat sie versucht, zu verhüten. Von Anita, der Krankenschwester aus Pueblo Nuevo, die in der Klinik in Solís arbeitet, ließ sie sich einmal eine zweimonatliche hormonelle Spritze geben. Nach Andrea erfuhr aber ihr Mann davon und drohte ihr, falls sie noch einmal so etwas gegen seinen Willen tun würde, sie umzubringen. Er bezichtigte sie, daß sie ihn mit einem anderen Mann betrügen wolle und deshalb unbedingt ein Verhütungsmittel brauche. Andrea versuchte danach nie wieder zu verhüten, sondern, wie sie es selber ausdrückte, fügte sich in ihr Schicksal (Feldnotiz Nr. 75, 10/5/97). Andrea ist sicherlich kein Einzelfall. In der Analyse des sozialen Umfeldes der Frau wurde beschrieben, wie sich die Beziehung zwischen den Geschlechtern langsam verändert. Doch sollte hierbei nicht vergessen werden, daß es immer noch eine Reihe an Frauen gibt, die in einer alles andere als egalitären Beziehung leben. In einigen Fällen – so auch im Fall Andreas – entsprechen die Probleme, die diese Frauen mir schilderten, sehr stark dem, was häufig unter dem sehr vereinfachenden Label ‚potenter Macho‘ zusammengefaßt wird. Juanas Mann hat innerhalb der Dorfgemeinschaft große soziale Schwierigkeiten und ist häufig in Prügeleien mit anderen Männern verwickelt. Zumindest in seinem eigenen Haushalt will er das letzte Wort haben. Dies ist sicherlich keine besonders gute Grundlage für eine egalitäre und kommunikative Beziehung, in der die Frau ihren KAPITEL 7. VARIATIONEN FERTILEN VERHALTENS 319 Wunsch, weniger Kinder zu bekommen und Verhütung zu verwenden, durchsetzten oder gar thematisieren könnte. Trotzdem sind nicht alle Fälle, wo eine höhere als aufgrund des Alters bei erster Geburt und der Verwendung von Verhütung zu erwartende Fertilität vorliegt, damit zu erklären, daß ein Paar keine gemeinsam Entscheidungen trifft. Auch María lebt in einem traditionellen Haus und hat nur eine geringe Schulbildung, allerdings ist ihre Beziehung zu ihrem Ehemann sehr egalitär. Der Grund, warum María mehr Kinder als andere Frauen ihres Alters hat, besteht im wesentlichen darin, daß María und ihr Mann so viele Kinder haben wollten. Entgegen dem mittlerweile im Dorf verbreiteten Ideal wollten María und ihr Mann acht Kinder und nicht drei bis vier. Nach der Geburt des achten und letzten Kindes ließ María sich sterilisieren. Warum María und ihr Mann so viele Kinder haben wollten und bekamen, hängt stark damit zusammen, daß sie eine wirtschaftliche Strategie verfolgen, die im vorangegangenen Kapitel als ‚gemischte Strategie‘ bezeichnet wurde. Aufgrund ihrer Kinder ist es dieser Familie möglich, relativ gut mit Risiken umzugehen, wenn auch für den Preis, daß keines der Kinder besonders gut ausgebildet ist. 20 Der Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen und reproduktiven Strategien wird Gegenstand des folgenden und letzten Abschnitts dieses Kapitels sein. Bisher ist ausführlich analysiert worden, aufgrund welcher Charakteristika und Rahmenbedingungen eines Paares es zu welchem reproduktivem Verhalten kommt. Wie in diesem und im vorangegangenen Kapitel gezeigt wurde, sind die Variationen fertilen Verhaltens parallel zu einem generellen Wandel der dörflichen Gemeinschaft entstanden. Starkes Bevölkerungswachstum und daraus resultierende Landknappheit, Migration, eine verbesserte Schulbildung, neue Berufe und neue Normen und Werte, wie ein Leben ohne Schwiegermutter, aber auch eine bewußte Entscheidung für eine unión libre, haben innerhalb der letzten 20 Jahre zu einer größeren Vielfalt und Individualisierung des Lebens in Pueblo Nuevo geführt. Eine der wichtigsten wirtschaftlichen, sozialen und reproduktiven Strategien, die aufgrund der bisherigen Forschungsergebnisse nicht zu vermuten gewesen ist, hat schon dieses Kapitel gezeigt und bewiesen: Paare warten mit der Heirat und der Geburt ihres ersten Kindes, um vor der Etablierung einer eigenen Familie zunächst 20 Da es sehr unterschiedliche Ursachen gibt, warum eine Frau eine höhere oder niedrigere Fertilität hat, als es aufgrund ihres Alters bei erster Geburt und ihrer Intensität der Verhütungsmittelbenutzung zu erwarten ist, wird im Gegensatz zu den vorherigen Analysen für die Residuen des Fertilitätsmaßes keine separate Analyse der Kombinationen der wichtigsten erklärenden Variablen durchgeführt. 320 DAS GEPLANTE KIND eine von der Herkunftsfamilie unabhängige soziale und wirtschaftliche Position zu erreichen. Doch neben dieser – ohne Frage für Mexiko überraschenden und wichtigen Strategie – sollen im folgenden noch weitere wirtschaftliche und reproduktive Strategien beschrieben und analysiert werden. 7.2.4 Investitionen in Kinder – Eltern und ihre wirtschaftlichen und reproduktiven Strategien Bisher wurde aufgrund bestimmter Charakteristika und Rahmenbedingungen der Eltern implizit davon ausgegangen, daß es bestimmte Typen von Eltern gibt, die bestimmte reproduktive Strategien verfolgen. Beispielsweise hat sich gezeigt, daß Eltern, die wirtschaftlich besser gestellt sind, etwa in einem modernen Haus wohnen, auch eine sehr niedrige Fertilität haben. Nun gilt es in einem nächsten Schritt zu fragen und zu beantworten, ob diese Gruppen von Eltern auch anders in ihre vielen oder wenigen Kinder investieren und welchen Vorteil sie sich mit ihren jeweiligen wirtschaftlichen/reproduktiven Strategie erhoffen, bzw. tatsächlich haben. Neben den Charakteristika und Rahmenbedingungen der Eltern kommt folglich ein weiterer Parameter in die Analyse – die Charakteristika der Kinder. Die Diversität unterschiedlicher wirtschaftlicher und reproduktiver Strategien ist ebenso ein Produkt des kulturellen Wandels wie die bisher diskutierten Variationen fertilen Verhaltens. Schon in den theoretischen Grundlagen (vgl. 2.1) und im vorangegangenen Kapitel (vgl. 6.4.2) wurden die erwarteten und qualitativ beobachteten Zusammenhänge zwischen diesen drei Parametern ausführlich diskutiert. Im vorangegangenen Kapitel wurde ebenfalls dargestellt, welche Veränderungen der wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen, vor allem die zunehmende Landknappheit, zu der Entstehung dieser Strategien geführt haben. Insgesamt handelt es sich um drei prototypische Strategien: die TRADITIONELLE Strategie, die GEMISCHTE Strategie und die MODERNE Strategie (vgl. 2.1 und 6.4.2 für eine ausführliche Beschreibung der Strategien). Um nun zu überprüfen, welche Strategie von welchen Eltern verfolgt wird, müssen in einem ersten Schritt die einzelnen Strategien operationalisiert werden. Für jede Familie sind die Tätigkeiten aller ihrer Kinder im Alter von vier bis zwanzig Jahren während des Schuljahres 1996/97 erhoben worden. Mit Hilfe dieser Daten kann erfaßt werden, wieviel eine Familie tatsächlich in die Schulbildung ihrer Kinder während dieses Jahres investiert hat. Die Investition in Kinder im Grundschul- KAPITEL 7. VARIATIONEN FERTILEN VERHALTENS 321 alter (primaria) wird von der Investition in Kinder im secundaria und preparatoria Alter unterschieden. Da bekannt ist, wie viele Kinder eine Familie im jeweiligen Schulalter hat, und wie viele Kinder tatsächlich die Schule besuchen, kann der prozentuale Anteil an Kindern in der Schule in Bezug auf alle vorhandenen Kinder leicht berechnet werden. Schon in der Ethnographie wurde beschrieben, daß die überwiegende Mehrheit der Kinder zumindest einige Jahre die primaria besucht (vgl. 4.2.2.1). Insgesamt haben 92 Paare Kinder im primaria Alter. Im Gegensatz zu den vorherigen Analysen werden nun auch Frauen und deren Kinder in die Analyse miteinbezogen, die über 44 Jahre alt sind oder nicht in einer Beziehung leben, da bei einer ausschließlichen Beschränkung nur auf Frauen zwischen 15 und 44 Jahren, die in einer Beziehung leben, die Fallzahlen zu klein werden. 40% dieser Familien haben alle ihre Kinder im primaria Alter im Schuljahr 1996/97 zur Schule geschickt, weitere 30% mehr als die Hälfte ihrer Kinder. Nur 12% der Familien haben keines ihrer Kinder im primaria Alter zur Schule geschickt. Aufgrund dieser Verteilung erstaunt es nicht, daß es keinen signifikanten Zusammenhang zwischen der Fertilität der Paare und ihrer Investition in die Schulbildung ihrer Kinder im primaria Alter gibt. 21 Wie auch aufgrund der Ergebnisse der ethnographischen Beschreibung zu erwarten, sind signifikante Unterschiede erst bei der Investition in eine bessere Schulbildung zu beobachten. Insgesamt haben 62 Familien Kinder im secundaria und preparatoria Alter. Von diesen 62 Familien investieren 42% nicht in die bessere Schulbildung ihrer Kinder. Keines der Kinder besucht die secundaria oder die preparatoria (=traditionelle Strategie). Weitere 35% der Familien investieren nur in die bessere Schulbildung eines Teils ihrer Kinder (=gemischte Strategie). Und schließlich investieren 23% der Familien in die bessere Schulbildung aller ihrer Kinder im secundaria und preparatoria Alter (=moderne Strategie). Im weiteren Verlauf der Analysen muß noch gezeigt werden, welchen Nutzen die nicht oder kaum in die Schulbildung ihrer Kinder investierenden Eltern von ihren Kindern haben. Vorab fragt sich, ob die Investition der Eltern in die bessere Schulbildung ihrer Kinder in einem Zusammenhang mit ihrer Fertilität steht. Es ergibt sich ein eindeutiger, relativ starker und hochsignifikanter Zusammenhang zwischen der Investition in die bessere Schulbildung der Kinder und der Fertilität eines Paares. 22 Je weniger Kinder ein Paar hat, desto eher verfolgt es die moderne Strategie. Paare mit vielen Kinder verfolgen hingegen entweder eine gemischte oder eine traditio21 22 Pearsons r=-0,124 n.s.. Spearmans rs zw. dem Fertilitätsmaß und der angewandten Strategie: rs=-0,370***. 322 DAS GEPLANTE KIND nelle Strategie. Aufgrund dieses Ergebnisses stellt sich nun die Frage, welchen Tätigkeiten die Kinder, die nicht zur Schule gehen, nachgehen. Schon im vorangegangenen Kapitel wurde ausführlich diskutiert, daß es sich hierbei um zwei Gruppen von Tätigkeiten handelt – entweder arbeiten die Kinder für den Haushalt in Pueblo Nuevo, etwa indem sie dem Vater auf den Feldern und der Mutter im Haushalt helfen, oder sie migrieren nach Mexiko-Stadt oder in die USA und tragen so zum Einkommen des Haushalts bei. Aus diesen drei Tätigkeitsbereich – Schule, Arbeit in Pueblo Nuevo und Migration – ergeben sich sieben verschiedene Kombinationen, die ein Haushalt mit der Arbeitskraft seiner Kinder im secundaria und preparatoria Alter verfolgen kann: 23 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. alle Kinder gehen zur Schule alle Kinder migrieren (Mexiko-Stadt/USA) alle Kinder arbeiten in Pueblo Nuevo (Feld/HH) ein Teil geht zur Schule, ein Teil migriert ein Teil geht zur Schule, ein Teil arbeitet in Pueblo Nuevo ein Teil migriert, ein Teil arbeitet in Pueblo Nuevo ein Teil geht zur Schule, ein Teil migriert, ein Teil arbeitet in Pueblo Nuevo Natürlich können auch Kinder, die nicht mehr im Schulalter sind, also älter als 20 Jahre sind, den Haushalt z.B. durch Arbeitsmigration finanziell unterstützen. In der Analyse der sozialen Situation der Frau hat sich gezeigt, daß gerade verwitwete Frauen auf diese Art der Hilfe stark angewiesen sind. Allerdings helfen Kinder, sobald sie eine eigene Familie haben, weniger als Kinder, die noch im Haushalt wohnen. Hinzu kommt, daß die unterschiedlichen wirtschaftlichen und reproduktiven Strategien der Eltern nur für diejenigen Kinder gezeigt werden können, die tatsächlich noch die Option haben, eine höhere Schule zu besuchen. Für Kinder über 20 Jahren ist nicht erhoben worden, welchen Tätigkeiten sie im Alter zwischen 12 und 20 Jahren nachgegangen sind. Aufgrund der Datenlage kann nur für die Kinder, die im Schuljahr 1996/97 zwischen 12 und 20 Jahren alt gewesen sind, gezeigt werden, welche Strategien Gruppen von Eltern verfolgen – ob Eltern z.B. eher eine ‚schnelle Hilfe‘ erwarten und u.U. auch kein Geld haben, eine langfristige Investition, wie eine gute Schulbildung, zu verfolgen, oder ob Eltern das Risiko eingehen und alles auf die Karte ‚Schulbildung‘ setzen. In Tabelle 7.21 ist die prozentuale Verteilung der sieben möglichen Kombinationen abgebildet. 23 Tatsächlich ergeben sich acht mögliche Kombinationen, aber eine dieser Kombinationen – die Kinder gehen weder zur Schule, noch migrieren sie, noch arbeiten sie in Pueblo Nuevo – ist empirisch nicht vorhanden und wird deshalb hier ausgeklammert. KAPITEL 7. VARIATIONEN FERTILEN VERHALTENS 323 Häufigkeiten % Nur Schule Nur Migration Nur Arbeit in PN Schule + Migration Schule + Arbeit PN Migration + Arbeit PN Schule + Migration + Arbeit PN 14 3 14 7 9 9 6 22,6 4,8 22,6 11,3 14,5 14,5 9,7 Gesamt 62 100 Tabelle 7.21: Die verschiedenen wirtschaftlichen Strategien der Eltern Wie sich zeigt, sind die beiden Extreme – ausschließliche Investition in die bessere Schulbildung und ausschließliche Arbeit in Pueblo Nuevo – mit jeweils 23% der Fälle am stärksten vertreten. Eine ausschließliche Migration der Kinder ist hingegen selten. Genau die Hälfte der Familien (50%) verfolgt eine der gemischten Strategien. Wiederum stellt sich die Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen diesen Strategien und der Fertilität der Eltern gibt (Tabelle 7.22). % Verteilung der wirtschaftlichen Strategien Fertilitätskategorie: N Sehr niedrige F. 6 Niedrige F. 15 Hohe F. 25 Sehr hohe F. 16 Gesamt 62 Schule Mig. Arbeit PN 33,3 26,7 28,0 6,3 16,7 8,0 20,0 20,0 37,5 22,6 4,8 22,6 Schule + Mig. Schule + Arbeit PN Mig. + Schule + Mig. Arbeit PN + Arbeit PN 13,3 12,0 12,5 50,0 20,0 8,0 6,2 6,7 16,0 25,0 13,3 8,0 12,5 11,3 14,5 14,5 9,7 Tabelle 7.22: Fertilität der Eltern und wirtschaftliche Strategien Es zeigen sich bestimmte Tendenzen: Eltern mit sehr niedriger Fertilität investieren tendenziell in die Schulbildung ihrer Kinder oder verfolgen eine gemischte Strategie aus Schulbildung und Arbeit in Pueblo Nuevo. Eltern mit einer niedrigen Fertilität investieren entweder ebenfalls ausschließlich in die Bildung der Kinder, verfolgen eine Mischung aus Schule und Arbeit in Pueblo Nuevo oder nutzen die Arbeitskraft ihrer Kinder ausschließlich in Pueblo Nuevo. Ähnlich verhält es sich mit den Eltern mit hoher Fertilität, allerdings kommt hier neben den beiden Strategien Schule und Arbeit in Pueblo Nuevo noch die Strategie Migration und Arbeit in Pueblo Nuevo hinzu. Eltern mit sehr hoher Fertilität investieren mit Abstand am wenigsten in eine ausschließlich bessere Bildung ihrer Kinder. Sie profitieren DAS GEPLANTE KIND 324 hauptsächlich von der Arbeit ihrer Kinder in Pueblo Nuevo und von der Migration ihrer Kinder. Sehr niedrige F. (83%) Nur Schule Niedrige F. (67%) Schule und Arbeit PN Hohe F. (64%) Nur Arbeit PN Sehr hohe F. (63%) Migration und Arbeit PN Abbildung 7.1: Fertilität der Eltern und ihre wichtigsten wirtschaftlichen Strategien Abbildung 7.1 faßt die Ergebnisse noch einmal graphisch zusammen. Die angegebenen Prozentzahlen sagen aus, wieviel Prozent der Fälle durch diese Strategien erklärt werden können. Die beiden extremen Fertilitätskategorien – sehr niedrige und sehr hohe Fertilität – verfolgen relativ eindeutige Strategien. Nur in den beiden mittleren Kategorien kommt es zu Abweichungen dieses Musters – eine Gruppe von Eltern mit hoher Fertilität investiert auch stark in die ausschließliche Bildung ihrer Kinder und eine Gruppe von Eltern mit niedriger Fertilität verfolgt eine traditionelle Strategie, indem die Kinder ausschließlich in Pueblo Nuevo arbeiten (beide Fälle sind durch die gestrichelten Pfeile gekennzeichnet). Es lassen sich also verschiedene wirtschaftliche Strategien voneinander unterscheiden. Diese Strategien stehen in einem Zusammenhang mit der Fertilität der Eltern, sie sind also zugleich wirtschaftliche und reproduktive Strategien. Jetzt fragt sich, welche Charakteristika und Rahmenbedingungen auf die jeweiligen Gruppen von Eltern zutreffen. Wiederum wird mit Hilfe einer Regressionsanalyse ermittelt, welche Gruppen von Eltern besonders intensiv in die bessere Schulbildung ihrer Kinder investieren. Die hierfür verwendeten Variablen und Hypothesen zu den wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen sind alle schon vorgestellt worden und sollen deshalb hier nicht mehr wiederholt werden (vgl. 7.2.2). 24 Neben diesen Variablen muß hier des weiteren berücksichtigt werden, daß die 24 Als abhängige Variable wird der prozentuale Anteil an Kindern, die tatsächlich in die secundaria oder preparatoria gehen, verwendet. Hierbei handelt es sich um eine intervallsaklierte Variable. Die verschiedenen Strategien hingegen sind ordinal-, je nach Betrachtungsweise sogar nominalsakliert, und können deshalb nicht durch ein Regressionsmodell erklärt werden. KAPITEL 7. VARIATIONEN FERTILEN VERHALTENS 325 Investition in eine bessere Schulbildung auch in Abhängigkeit zum Alter eines Paares steht. Wie in der ethnographischen Beschreibung gezeigt wurde, haben Frauen und Männer der Kohorte 1958-1967 zum ersten Mal in Pueblo Nuevo eine bessere, über die primaria hinausgehende Schulbildung erhalten. Um zu ermessen, inwieweit das Alter einen Effekt auf die Stärke der Investition in die Schulbildung der Kinder hat, wird auch das Alter der Frau in die Regression eingegeben. 25 Abhängige Variable: Schulbildung (%) Unabhängige Variablen: Land Beruf Mann Beruf Frau Art des Hauses Schulbildung Frau Schulbildung Mann Alter der Frau R R2 Korrigiertes R2 F – Statistik Anzahl an Fällen 1. Ergebnis mit allen erklärenden Variablen 0,085 0,215* -0,032 0,114 0,518*** 0,230* 0,116 0,718 0,515 0,436 6,524*** 51 Nur signifikante Variablen aus 1 0,188* 0,530*** 0,175 0,693 0,480 0,448 14,792*** 52 Signifikanzniveaus: * α<0,10, ** α<0,05, *** α<0,01 Tabelle 7.22: Lineare Regression zur Erklärung der Investition in bessere Schulbildung aufgrund wirtschaftlicher Variablen, standardisierte Koeffizienten Fast 50% der Varianz kann erklärt werden. Von den 62 Fällen mit Kindern im secundaria und preparatoria Alter mußten mehrere Fälle aufgrund von fehlenden Werten ausgeschlossen werden. Hierbei handelt es sich vor allem um Witwen und getrennt lebende Frauen, zu deren (verstorbenen) Ehemännern keine Informationen über deren Schulbildung vorliegen. Das Ergebnis ist überraschend, denn nur sehr wenige der erklärenden Variablen haben, trotz der hohen erklärten Varianz, einen signifikanten Effekt auf die Investition in eine bessere Schulbildung. Vor allem die Bildung der Frau ist der Grund dafür, warum Paare in eine bessere Schulbildung ihrer Kinder investieren. Auch die Bildung des Mannes und sein Beruf haben einen signifikanten Effekt, der aber schwach ist im Vergleich zu dem Effekt, den die Bildung der Frau hat. 25 Das Alter des Mannes und das Alter der Frau sind hochkorrelierend (r=0,981***). Aus diesem Grund geht nur das Alter der Frau in die Analyse ein. Alle anderen Korrelationen zwischen den erklärenden Variablen liegen weit unter dem Grenzwert von 0,6 (vgl. 7.2.2). 326 DAS GEPLANTE KIND Es sind weitere Regressionsanalysen durchgeführt worden, die alle (auch zu Coales erster Grundbedingung) signifikanten Variablen der vorangegangenen Regressionsanalysen berücksichtigen. An dem Ergebnis aus Tabelle 7.22 ändert sich nichts – auch bei diesen Analysen sind die einzigen signifikanten Variablen die Schulbildung der Frau, die Schulbildung des Mannes und der Beruf des Mannes. Am problemlosesten ist der Beruf des Mannes in diesem Zusammenhang zu erklären. Männer, die außerhalb der Landwirtschaft tätig sind und einem für Dorfverhältnisse lukrativen und gesicherten Beruf nachgehen, investieren eher in die bessere Schulbildung ihrer Kinder. Selbst wenn diese Paare noch nicht viel Besitz akkumuliert haben (kein signifikanter Zusammenhang zwischen Besitz und Investition in Schulbildung), stellt diese Strategie für sie eine Möglichkeit dar, mit einem verminderten Risiko, da das Paar nicht auf die direkte Arbeitskraft der Kinder angewiesen ist, durch eine bessere Schulbildung der Kinder eine Aufwärtsmobilität zu erreichen. Bemerkenswerter Weise hat das Alter der Frau trotz signifikanter Effekte der Schulbildung des Mannes und der Schulbildung der Frau keinen signifikanten Effekt auf die Investition in eine bessere Bildung. Daß gerade die Schulbildung der Frau eine so zentrale Rolle für die Investition in die Bildung der Kinder spielt, kann daran liegen, daß gebildetere Frauen selber den Nutzen von Schulbildung erfahren und erkannt haben. Susanna, eine der prototypischen Frauen, erklärt ihre bewußte Entscheidung für eine unión libre damit, daß es heute im Dorf immer mehr Frauen gäbe, die aufgrund ihrer Schulbildung auch alleine ihre Kinder aufziehen könnten. Auch sie habe die secundaria abgeschlossen und würde zur Not eine Anstellung finden (vgl. 7.2.3). Eine gebildetere Frau erkennt für sich folglich den Wert ihrer Schulbildung, der ihr eine, wenn auch nur latente, Unabhängigkeit verschafft und sie will diesen Wert an ihre Kinder weitergeben. Hinzu kommt, daß es diese Frauen aufgrund ihrer besseren Schulbildung, auch nach Susannas Argumentation, eher wagen können, Kinder zu haben, die später das Dorf verlassen. Bleiben diese Kinder ihren Eltern und Müttern gegenüber loyal, so profitieren die Frauen stark von ihrer Investition in die bessere Schulbildung. Generell bestätigen sich also die Annahmen, die in den theoretischen Grundlagen und im vorangegangen Kapitel formuliert wurden. Besitzt ein Paar eine gewisse materielle Sicherheit, etwa durch eine gute Ausbildung oder einen sicheren Beruf, ist es eher in der Lage und auch motiviert, in nur wenige Kinder viel zu investieren. Allerdings ist in den bisherigen Analysen die wichtige Rolle der Frau unterschätzt worden. Zwar üben nur wenige Frauen tatsächlich einen außerhäuslichen Beruf aus, doch alleine die Möglichkeit des eigenen Broterwerbs, die wahrscheinlicher wird, je besser eine Frau qualifiziert ist, scheint Frauen dazu zu motivieren, KAPITEL 7. VARIATIONEN FERTILEN VERHALTENS 327 eine risikoreichere, langfristig aber u.U. auch erfolgreichere wirtschaftliche und reproduktive Strategie zu verfolgen. 7.3 Zusammenfassung der Ergebnisse Daß heute ausgeprägte Variationen des fertilen Verhaltens in Pueblo Nuevo zu beobachten sind, hängt ursächlich mit dem sozialen und wirtschaftlichen Wandel der Gemeinde zusammen. Die Veränderungen der demographischen Verhältnisse, insbesondere der Fertilität, begannen im Zuge dessen, was sehr vereinfachend als ‚Modernisierung‘ zu bezeichnen ist. Diese komplexe Entwicklung ist ausführlich in vorangegangenen Kapiteln beschrieben worden. Die Variationen reproduktiven Verhaltens konnten nicht vollständig durch den in vorangegangenen Kapiteln durchgeführten Vergleich der Geburtskohorten erfaßt werden. Wie sich in diesem Kapitel gezeigt hat, gibt es nicht nur Variationen zwischen den Kohorten, sondern auch innerhalb der Kohorten. Ebenso hat die Erklärung der absoluten Anzahl an Kindern (oder Lebendgeburten) Probleme aufgeworfen, da sie in Abhängigkeit zum jeweiligen Alter einer Frau steht. Da sich in der vorliegenden Forschungsliteratur keine brauchbare Methode gefunden hat, mit diesem Problem im Rahmen einer ethnodemographischen Untersuchung umzugehen, ist ein eigenes Fertilitätsmaß entwickelt worden, welches auch Anwendung in weiteren ethnodemographischen Forschungen finden könnte. Dieses Fertilitätsmaß erfaßt die Variationen fertilen Verhaltens unabhängig vom Alter der Frauen. Die Fertilität aller Frauen kann hiermit in vier Kategorien – sehr niedrige, niedrige, hohe und sehr hohe Fertilität – eingeteilt werden. Die Validität des Fertilitätsmaßes ist sowohl qualitativ als auch statistisch überprüft worden. Um die Variationen fertilen Verhaltens zu erklären, sind in einem ersten Schritt zunächst die im vorangegangenen Kapitel beschriebenen und analysierten proximaten Determinanten als erklärende Variablen verwendet worden. Hierbei hat sich gezeigt, daß entgegen der Ergebnisse des vorangegangenen Kapitels nicht nur die proximate Determinante Verhütung einen signifikanten Effekt auf die Fertilität hat, sondern auch das Alter bei erster Geburt respektive das Heiratsalter. Das Stillverhalten hat keinen Einfluß auf die Variationen der Fertilität. Der Effekt des Alters bei erster Geburt ist durch die Kohortenanalysen der vorangegangenen Kapitel nicht erfaßt worden, da dieses – mehr noch als die Intensität der Verwendung von Verhütungsmitteln – innerhalb der Kohorten variiert. Die Intensität der Verwendung von Verhütungsmitteln und das Alter bei erster Geburt stehen allerdings in 328 DAS GEPLANTE KIND keinem statistischen Zusammenhang. Vielmehr handelt es sich um zwei unterschiedliche Strategien, die zu einer niedrigen Fertilität führen. Aufgrund dieses überraschenden Ergebnisses ist im weiteren Verlauf der Analyse nicht die Fertilität als solche – gemessen durch das Fertilitätsmaß – erklärt worden, sondern es sind drei zu erklärende Variablen gebildet worden. Zum einen handelt es sich hier um die beiden proximaten Determinanten Intensität der Verhütungsmittelbenutzung (1) und Alter bei erster Geburt (2). Da nicht alle proximaten Determinanten erhoben werden konnten, beispielsweise fehlen Informationen zu Abtreibungen und Koitusfrequenz, wurde zum anderen eine dritte zu erklärende Variable (die Residuen) gebildet. Die Intensität der Verhütungsmittelbenutzung und das Alter bei erster Geburt erklären nur gut 30% der Variationen fertilen Verhaltens. Die verbleibende nicht erklärte Varianz, die durch die Residuen der Regression (3) erfaßt wird, stellt deshalb die dritte zu erklärende Variable dar. Um diese drei abhängigen Variablen zu erklären, sind viele mögliche Zusammenhänge und Hypothesen denkbar. Durch die in den theoretischen Grundlagen der Arbeit formulierten Überlegungen sowie die in den vorherigen Kapiteln schon ermittelten Ergebnisse ist es gelungen, Hypothesen zu bilden und zu operationalisieren, die dann statistisch getestet worden sind. Hierbei dienten die von Coale (1975) formulierten ersten beiden Grundbedingungen, warum es zu einem fertilen Wandel und weitergefaßt zu Variationen von Fertilität kommt, als Leitlinien. Zuerst sind Hypothesen getestet worden, die den Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und fertilem Verhalten erfassen. Danach sind mehrere Hypothesen gebildet worden, die erklären sollen, warum es zu einer unabhängigen und reflektierten reproduktiven Entscheidung kommt. Bei dieser Gruppe von Hypothesen sind insbesondere die normativen und sozialen Rahmenbedingungen von Bedeutung gewesen. Insgesamt sind sechs Regressionen zu den drei abhängigen Variablen durchgeführt worden. Die Erklärung des Zusammenhanges von wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und fertilem Verhalten, mit dem die Regressionsanalyse begonnen worden ist, konnte durch die Ergebnisse zu den sozialen und normativen Rahmenbedingungen erweitert werden. Hinsichtlich der Verwendung von Verhütungsmitteln (1) hat sich gezeigt, wie entscheidend ein Ansatz ist, der die Interaktion zwischen Männern und Frauen berücksichtigt. Je egalitärer eine Beziehung ist, desto wahrscheinlicher wird es, daß ein Paar Verhütungsmethoden anwendet. Hierbei spielen die Schulbildung des Mannes und insbesondere der Frau eine wichtige Rolle. Dieses Ergebnis ist insofern von besonderer Relevanz, da sich zeigt, daß eine ausschließliche Fokussierung KAPITEL 7. VARIATIONEN FERTILEN VERHALTENS 329 auf die Lebenssituation der Frau im Rahmen demographischer und ethnodemographischer Untersuchungen problematisch ist. Ein ähnliches Ergebnis hat auch schon die Analyse des sozialen Umfeldes der Frau ergeben. Nachdem durch Regressionsanalysen bestimmte signifikante Charakteristika von Frauen und Paaren ermittelt worden sind, die besonders intensiv oder gar nicht verhüten, sind in einem zweiten Schritt prototypische Frauen ausgewählt worden, um die auf quantitativem Weg erzielten Ergebnisse qualitativ zu vertiefen. Folgende Ergebnisse dieser Analysen sollten bei späteren Untersuchungen erweitert werden: Da gerade die Egalität der Beziehung zwischen Mann und Frau einen so entscheidenden Einfluß auf die Verwendung von Verhütungsmittel hat, sollte an einer Verbesserung der Operationalisierung von ‚Egalität‘ gearbeitet werden. Denkbar ist etwa, nicht nur kognitive Daten zur Messung von Egalität zu verwenden, sondern auch Verhaltensdaten zu analysieren. Desweiteren bietet es sich an, die qualitativ ermittelten Ergebnisse der Analyse der verschiedenen sozialen Rollen des weiblichen Lebenszyklus systematisch auf ihren Einfluß auf das fertile Verhalten zu überprüfen. Durch das in diesem Kapitel gewählte Vorgehen, auf statistischen Ergebnissen aufzubauen und diese in einem zweiten Analyseschritt qualitativ anhand von Fallbeispielen zu vertiefen, ist es auch gelungen, die Residuen (3) zu erklären. Mehrere Ursachen haben dazu geführt, daß Frauen eine höhere oder niedrigere Fertilität haben als aufgrund ihres Alters bei erster Geburt und ihrer Verwendung von Verhütungsmitteln erklärt werden kann. Zum einen handelt es sich hier um Frauen, die aufgrund ihrer Beziehung zu ihrem Ehemann und ihrer Schulbildung in der Lage sind, natürliche Verhütungsmethoden, insbesondere den Coitus interruptus und die Kalendermethode, anzuwenden. Da es aber schwierig ist, genau anzugeben, wann und wie lange diese Methoden angewendet worden sind, erscheint es als sehr wahrscheinlich, daß bei einer besseren Messung der Verwendung von Verhütung auch mehr der Varianz erklärt werden würde. Zum anderen hat sich ein weiteres Erhebungs- und Datenproblem ergeben. Es wurde nicht berücksichtigt, daß viele Frauen keine Verhütung benutzen, sobald ihre Ehemänner für längere Zeit abwesend sind. Ebenso wie bei einer besseren Erfassung der Benutzung von natürlicher Verhütung würde sich bei einer Einbeziehung des Effektes, den die Abwesenheit des Mannes auf das reproduktive Verhalten der Frau hat, die erklärte Varianz erhöhen. Auch das Stillverhalten könnte hier als proximate Determinante eine Rolle spielen. Neben diesen Erhebungsproblemen besteht eine weitere Erklärung für eine, durch die beiden anderen abhängigen Variablen nicht erklärte, höhere Fertilität darin, daß es 330 DAS GEPLANTE KIND einige Frauen und Paare gibt, die sich, entgegen dem heute im Dorf existierende Ideal von drei bis vier Kindern, mehr Kinder wünschen. Wichtigste Ursache dieses Wunsches besteht in der von diesen Paaren verfolgten wirtschaftlichen Strategie. Drei wirtschaftliche Strategien (traditionelle, gemischte und moderne Strategie) sind aufgrund der ethnographischen Beschreibung und theoretischer Überlegungen formuliert worden. Im Anschuß daran ist gefragt worden, in welchem Zusammenhang diese Strategien zum reproduktiven Verhalten und den kulturellen Rahmenbedingungen der Eltern stehen. Durch die Analyse hat sich ergeben, daß es vor allem die gut ausgebildeten Eltern mit wenigen Kindern sind, die verstärkt in die Ausbildung ihrer Kinder investieren und eine moderne Strategie verfolgen. Eltern mit vielen Kindern und geringerer Schulbildung verfolgen hingegen weiterhin eine traditionelle Strategie, die fast ausschließlich die Arbeitskraft ihrer Kinder in der Landwirtschaft nutzt, oder eine gemischte Strategie, die die Investition in eine bessere Schulbildung eines Teils der Kinder mit dem Nutzen der Arbeitskraft innerhalb der Landwirtschaft eines anderen Teils der Kinder kombiniert. Diese Eltern profitieren von dem direkten Nutzen ihrer Kinder, sie müssen aber meist auf einen langfristigen sozialen Aufstieg verzichten. Es bleibt abzuwarten, in welcher Form sich diese schon klar erkennbaren Zeichen einer wirtschaftlichen Stratifizierung Pueblo Nuevos weiter entwickeln werden. Ein weiteres wichtiges Ergebnis dieses Kapitels besteht darin, daß es auch zu Veränderungen des Heiratsalters und des Alters bei erster Geburt (2) gekommen ist. Entgegen der Ergebnisse aller vorangegangenen Kapitel und der vorliegenden Forschungsliteratur, erklärt nicht nur die proximate Determinante Verhütung die Variationen fertilen Verhaltens, sondern auch die proximate Determinante Alter bei erster Geburt. Noch erstaunlicher sind die Charakteristika und Rahmenbedingungen der Paare, die bewußt die Geburt ihres ersten Kindes verzögern. Die temporär erweiterte Familie ist in Pueblo Nuevo die Norm. Die meisten Paare leben nach ihrer Heirat für eine begrenzte Zeit bei den Eltern des Mannes. Paare, die eine Heirat und die Geburt ihres ersten Kindes verzögern und sich bewußt dafür entscheiden, länger bei ihrer Herkunftsfamilie zu wohnen, handeln deshalb in gewisser Weise gegen die gängige Norm und Praxis des Dorfes. Diese Paare stellen eine relativ neue Gruppe in der Gemeinde dar. Sie haben schon eine gewisse Aufwärtsmobilität erzielt, was wesentlich mit ihrer Strategie, die Geburt ihres ersten Kindes zu verzögern, in Zusammenhang steht. Durch eine Verzögerung von Heirat und Alter bei erster Geburt ist es vor allem den Männern dieser Paare möglich, sich unabhängig von ihrer Herkunftsfamilie wirtschaftlich zu etablieren, ohne schon durch die Ver- KAPITEL 7. VARIATIONEN FERTILEN VERHALTENS 331 sorgung ihrer eigenen Kernfamilie zu große Verpflichtungen tragen zu müssen. Die Frauen dieser Paare profitieren ebenfalls von der Strategie. Sie können wirtschaftlich und sozial weitgehend autonom ihre Ehe beginnen und müssen nicht die Konflikte ertragen, die das Leben mit der Schwiegermutter in vielen Fällen mit sich bringt. Inwieweit diese Paare besonders intensiv in die Ausbildung ihrer wenigen Kinder investieren, kann noch nicht abschließend gesagt werden. Viele der Kinder gehen noch zur Schule. Es ist aber zu vermuten, daß gerade diese Paare ihre schon erreichte wirtschaftliche Stellung durch eine sehr gute Ausbildung der Kinder noch zu verbessern versuchen werden. Wie auch schon die Diskussion der Ergebnisse zur Benutzung von Verhütungsmitteln gezeigt hat, regen die hier ermittelten Erkenntnisse dazu an, bestimmte Fragen in kommenden Untersuchungen weiterzuverfolgen. Insbesondere das Verhältnis zu den Eltern – und nicht nur zu den Schwiegereltern der Frau – sollte auch systematisch erfaßt werden. Gerade die Fallbeispiele haben gezeigt, daß die Beziehung zu den Eltern das Heiratsverhalten und das reproduktive Verhalten, insbesondere im Hinblick auf reproduktive Entscheidungen zu Beginn einer Beziehung, wesentlich beeinflussen kann. Kapitel 8 Zusammenfassende Diskussion Viele Aspekte des Lebens in Pueblo Nuevo haben sich seit der Gründung der Gemeinde vor gut sechzig Jahren verändert. Ob sich die Lebensumstände generell verbessert haben, hängt allerdings davon ab, aus welchem Blickwinkel man dies beurteilt. Alle Haushalte haben heute Zugang zur Elektrizitäts- und zur Wasserversorgung. Die Grundschule wird von fast allen Kindern der Gemeinde besucht. Es gibt ein recht gut funktionierendes Bussystem und ein Telefon für alle Bewohner des Dorfes in der lokalen tienda. Die Sterbeziffern, insbesondere von Säuglingen und Kindern, sind deutlich zurückgegangen. Nationale Impfkampagnen haben die Verbreitung von Epidemien stark eingeschränkt. Das lokale Gesundheitszentrum bietet eine medizinische Grundversorgung zu sehr niedrigen Preisen. Diese Veränderungen, von denen die ganze Gemeinde profitiert, werden von allen Bewohnern Pueblo Nuevos als positiv wahrgenommen. Neue wirtschaftliche Chancen haben aber auch ehemalige Sicherheiten abgelöst. Das verhältnismäßig egalitäre, aber den einzelnen in seinen wirtschaftlichen Aufstiegsmöglichkeiten stark einschränkende kommunale Landverwaltungssystem besteht nur noch in Teilen. An Stelle der Landwirtschaft sind andere Einkommensstrategien getreten, vor allem die Lohnarbeit in Mexiko-Stadt und in den USA. Einigen Dorfbewohnern ist es deshalb möglich, ihr durch die zwar risikoreiche - aber falls erfolgreich auch sehr rentable - Migration verdientes Geld in eigene Kleinunternehmen, Land oder moderne Häuser zu investieren. Anders gestaltet sich die Situation derjenigen, die aus verschiedenen Gründen, wie z.B. dem Fehlen von sozialen Netzwerken, die neuen Möglichkeiten nicht nutzen können. Der Verlust an sozialer und wirtschaftlicher Egalität, die im ejido System weitgehend vorhanden war, wird von mehreren Bewohnern bedauert. Der Prozeß der sozialen und wirtschaftlichen Stratifizierung ist in Kapitel 4 ausführlich beschrieben worden. Der Haushalt spielt hierbei als Ausgangspunkt des sozialen Aufstiegs und der Risikominimierung eine wesentliche Rolle. Auf die große Flexibilität des Haushalts bei wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen hat Netting hingewiesen: „The family household is an institution sensitive to minor, short-term fluctuations in the socioeconomic environment and a prime means by which individuals adapt to the 333 334 DAS GEPLANTE KIND subtle shifts in opportunities and constraints that confront them.“ (Netting 1979, zitiert nach Netting, Wilk und Arnould 1984: xiii). Um verschiedene Haushaltsstrategien zu erfassen, wurden drei Strategietypen gebildet (Kapitel 2, 6, 7). Zu Beginn des ejido Systems war es für den Haushalt von Vorteil, viele Kinder zu haben, die früh in die Haushaltsökonomie eingebunden wurden. Die Rahmenbedingungen und Vorteile dieser Haushaltsstrategie sind in den Kapiteln 2, 6 und 7 diskutiert worden. Sie entsprechen dem, was Netting (1993: 58-101) generell für diesen Typus von Haushalt beschreibt. Diese Haushaltsstrategie habe ich als ‚traditionelle Strategie‘ bezeichnet. Insbesondere aufgrund des starken Bevölkerungswachstums war es jedoch ab den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr für alle Haushaltsmitglieder möglich, von der Landwirtschaft zu leben. Der Bau von Schulen auch in ländlichen Regionen vereinfachte es immer mehr Eltern, einen Teil ihrer Kinder zur Schule zu schicken. Es bildete sich eine neue Haushaltsstrategie heraus, die ich in dieser Arbeit die ‚gemischte Strategie‘ genannt habe. Einige Kinder arbeiteten weiterhin für den Haushalt in Pueblo Nuevo, einige migrierten, zunächst nach Mexiko-Stadt und später auch in die USA, und einige gingen zur Schule. Alba und Potter (1986) haben zu Recht bemerkt, daß der Haushalt für diese Strategie viele Kinder benötigt. In den siebziger Jahren begannen die Geburtenzahlen hingegen zurückzugehen und langsam bildete sich eine dritte Haushaltsstrategie heraus, die ich als ‚moderne Strategie‘ bezeichnet habe. Im Gegensatz zu den beiden anderen Strategien bekommen die Eltern nur noch wenige Kinder, die eine gute Schulausbildung erhalten. In den meisten Fällen leben die Eltern nicht mehr oder nur partiell von der Landwirtschaft. Berufe wie der des Lehrers oder der Besitz eines eigenen Taxis sind als Sicherung des Haushaltseinkommens hier die Regel. Diese drei Strategien haben sich jedoch nicht nacheinander abgelöst. Sie sind aufgrund bestimmter wirtschaftlicher und sozialer Bedingungen zu bestimmten Zeitabschnitten entstanden. Heute existieren alle drei Strategietypen nebeneinander in der Gemeinde, wie in Kapitel 7 dargestellt worden ist. In meiner Klassifikation in traditionelle, gemischte und moderne Haushaltsstrategien ist die interne Dynamik von Haushalten allerdings noch nicht genug berücksichtigt. Diese Dynamik soll im folgenden ausführlicher diskutiert werden. Fortes (1958) und Goody (1958; vgl. auch Netting, Wilk und Arnould 1984, Robichaux 1997: 150-152) haben das Konzept des Entwicklungszykluses des Haushalts eingeführt und in ihren Analysen von Haushaltsdynamiken umgesetzt. Robichaux (1997) kommt in seiner interkulturell vergleichenden Analyse des „mesoamerikanischen KAPITEL 8. ZUSAMMENFASSENDE DISKUSSION 335 Haushaltsformierungssystems“ (1997: 150) zu dem Schluß: „It is clear that, despite linguistic differences, this system, along with common religious ideas and other characteristics, is a basic phenomenon of the twentieth-century Mesoamerican culture and should be considered one of its defining traits.“ (1997: 162). Generell hat der Entwicklungszyklus des mesoamerikanischen Haushalts nach Robichaux (1997: 150; vgl. auch Robichaux 1996) folgende Charakteristika: Nach der Heirat wohnen Paare solange bei den Eltern des Mannes, bis sie in der Lage sind, sich eigenständig wirtschaftlich zu etablieren und ein eigenes Haus zu bauen (zur Verbreitung der patrilokalen Residenz in Mesoamerika vgl. auch Nutini 1968: 391 und Romney 1967: 207). Dieser Zyklus kulminiert im Erbe des Hauses durch den jüngsten Sohn (männliche Ultimogenitur). Verschiedentlich ist auch auf Variationen dieses Modells hingewiesen worden, insbesondere das Vorhandensein von matrilokaler Residenz nach der Heirat (Murphy 1976: 187-188, Nutini 1976: 8, Robichaux 1997: 156). In Pueblo Nuevo kann der von Robichaux formulierte Entwicklungszyklus des Haushalts bei knapp zwei Dritteln aller Haushalte beobachtet werden. Dieses Haushaltssystem gibt einen bestimmten Rahmen vor, in dem reproduktive und ökonomische Entscheidungen getroffen werden. In den meisten Fällen lebt das junge Paare zunächst für einige Zeit in einer unión libre im Haushalt der Eltern des Mannes. 1 Der Beginn der Beziehung, markiert durch den Wohnortwechsel der Frau vom elterlichen in den schwiegerelterlichen Haushalt, und die Geburt des ersten Kindes liegen sehr nah beieinander. Wie der Kohortenvergleich in Kapitel 6 gezeigt hat, variieren Heiratsalter/Beginn der Beziehung und Alter bei erster Geburt nur unwesentlich zwischen den Kohorten. Die meisten Frauen leben ab ihrem 19. Lebensjahr mit einem Mann zusammen und bekommen mit ungefähr 20 Jahren ihr erstes Kind. Die Verwendung von Verhütungsmitteln vor der Geburt mindestens eines Kindes ist in Pueblo Nuevo praktisch nicht existent. Das erklärt sich zum einen damit, daß sich viele Bewohner Pueblo Nuevos vor Nebenwirkungen von Verhütungsmitteln fürchten, insbesondere vor einer möglichen Unfruchtbarkeit. Hat das Paar jedoch schon ein oder zwei Kinder, wird die Gefahr als weniger groß wahrgenommen. Zum anderen steht die junge, ins Haus ihrer Schwiegereltern kommende Frau unter einem sozialen Druck, ihre Fruchtbarkeit unter Beweis zu stellen. Ähnlich beschreiben auch Hollerbach (1981) und Shedlin und Hollerbach (1980) die Situation junger Frauen in der von ihnen untersuchten zentralmexikanischen Gemeinde. Kapitel 5 hat gezeigt, welche Implikationen das Leben mit der Schwiegermutter für die reproduktiven Entscheidungen 1 Eine vergleichbare Situation beschreibt Robichaux (1997) für eine Gemeinde im Bundesstaat Tlaxcala. 336 DAS GEPLANTE KIND der jungen Frau hat. Das soziale Umfeld dieser Frauen ist limitierter als das von unverheirateten oder in einem eigenen Haushalt lebenden Frauen. Häufig haben sie aufgrund von Verboten des Ehemanns und der Schwiegermutter keine Freundinnen mehr und auch noch keine comadres. In Kapitel 5 ist deutlich geworden, daß diese Frauen aufgrund ihrer sozialen Isolation selbst ein großes Interesse daran haben, ein Kind zu bekommen. Die Verwendung von Verhütungsmitteln beginnt erst nach der Geburt eines, häufig sogar zweier Kinder und geht meist damit einher, daß das Paar den Haushalt der Eltern des Mannes verläßt und sich eigenständig etabliert. Die Verlängerung der Geburtenintervalle und ein früheres Alter bei letzter Geburt sind die Folgen dieser reproduktiven Strategie, die einen Großteil des fertilen Wandels in Pueblo Nuevo erklärt. Kapitel 6 und 7 haben sich intensiv mit der Diffusion und Anwendung von Verhütungsmitteln beschäftigt. Je egalitärer die Beziehung zwischen Mann und Frau ist, desto wahrscheinlich ist es, daß ein Paar erfolgreich verhütet. Das materielle und physische Wohl der schon geborenen und der geplanten Kinder wird zu einer ausschlaggebenden Entscheidungsgröße. Die Frage, ob sich ein Paar weitere Kinder leisten kann, ist dabei ein wichtiger Grund für die Verwendung von Verhütungsmitteln. Die Planung von Kindern beginnt in dieser sozialen Konstellation also erst, nachdem schon mindestens ein Kind geboren worden ist. Das Alter bei erster Geburt hingegen verändert sich nicht. Ein unverändertes Alter bei erster Geburt findet sich in vielen Studien zum fertilen Wandel in Mexiko, weitergefaßt sogar in ganz Lateinamerika (Mier y Terán 1996, Rosero-Bixby 1996). Die Schlußfolgerung, die Rosero-Bixby aus diesen Ergebnissen zieht, ist beispielhaft für die meisten demographischen Arbeiten zu dem Thema: „Given that Latin America has undergone an important process of urbanization and modernization, the pattern of a more or less constant age at marriage suggests that the entry into unions depends more on cultural factors than on socioeconomic change.” (Rosero-Bixby 1996: 148). Wie auch die Forscher des Princeton European Fertility Projects (Coale und Watkins 1986, vgl. Kapitel 2) verweist Rosero-Bixby auf kulturelle Faktoren, nachdem er festgestellt hat, daß die untersuchten Faktoren für eine Erklärung nicht ausreichen. Was er genau unter kulturellen Faktoren versteht, wird allerdings nicht genannt. Die Untersuchung Pueblo Nuevos hat gezeigt, daß der Entwicklungszyklus des Haushalts eine wichtige kulturelle Rahmenbedingung dafür ist, daß das Alter bei erster Geburt nicht variiert. Dieses Ergebnis scheint sich jedoch nicht mit allen ethnodemographischen Untersuchungen des ländlichen Mexikos zu decken. Robichaux zeigt in seiner Unter- KAPITEL 8. ZUSAMMENFASSENDE DISKUSSION 337 suchung der Gemeinde Acxotla, Tlaxcala, daß sich das Alter bei erster Geburt dort verändert hat (1997: 155). Dies erklärt er folgendermaßen: „Apparently this change (ein früheres Heiratsalter und Alter bei erster Geburt; Anm. der Verf.) indicates that wage labor enables an earlier construction of an independent dwelling.“ (1997: 155; vgl. auch Robichaux 1992). In Acxotla ist die patrilokale Residenz weiterhin sehr verbreitet. Aufgrund des Zugangs zu neuen Einkommensmöglichkeiten in der nahegelegenen Großstadt Puebla heiraten Paare heute aber früher, bekommen früher ihr erstes Kind und leben für eine kürzere Zeit im Haushalt der Eltern des Mannes. Das Bedürfnis, nur kurze Zeit in einem erweiterten Haushalt zu leben und möglichst schnell wirtschaftlich unabhängig zu sein (1997: 155), kann heute durch die Lohnarbeit schneller erreicht werden. Der Zusammenhang von Haushaltsstruktur und Einkommensmöglichkeiten hat folglich einen wichtigen Einfluß auf das Heiratsalter und das Alter bei erster Geburt (vgl. auch Skinner 1997). Hier sind Studien zur ökonomischen und demographischen Entwicklung Europas aufschlußreich. Hinsichtlich des fertilen Wandels in Europa, dem wohl am häufigsten untersuchten demographischen Wandel, ist mehrfach festgestellt worden, daß die eigenständige Bildung eines Haushalts ein entscheidender Parameter für das Heiratsalter und das Alter bei erster Geburt gewesen ist: „As a host of local studies have shown, the formation of a new household through marriage was countenanced by society only if and when the potential members of that new household could establish independent and sufficient means to support themselves. In such circumstances, potential grooms and brides remained within their families of origin for a long time (...).” (Lesthaeghe und Wilson 1980: 263; vgl. auch Watkins 1986b und Netting 1981: 169-185). Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Segalen in ihrer Untersuchung der Entwicklung der europäischen Familie: „Das Europa des 17. und 18. Jahrhunderts bietet sogar ein im Spektrum der Kulturen einzigartig erscheinendes Modell, das sich durch ein hohes Heiratsalter auszeichnet, was zusammenhing mit der Notwendigkeit einer unabhängigen Stellung.“ (1990: 149). Da sich aber durch die Industrialisierung und eine zunehmende Arbeitsmigration in die Städte im 19. Jahrhundert neue wirtschaftliche Möglichkeiten boten, kam es zu einer früheren Etablierung eines eigenen Haushalts und zu einem früheren Heiratsalter und Alter bei erster Geburt. Segalen beschreibt diesen Prozeß wie folgt: „Bei den Land- und Industriearbeitern dagegen, die lohnabhängig sind, kann das Sinken des Heiratsalters ein Zeichen des Erreichens ihrer Unabhängigkeit von den Eltern sein: Sie sind in der Lage, sich selbst zu versorgen und durch ihre Ersparnisse frühzeitig einen eigenen Haushalt zu gründen. Sie müssen nicht ‚ihren Vater 338 DAS GEPLANTE KIND töten‘, um seinen Platz einnehmen zu können.“ (1990: 152). Diese Entwicklung hat auch den Effekt, daß sich die hierarchische Ordnung der Gesellschaft verändert, wie Lesthaeghe und Wilson anmerken: „Unmarried children became less pressured by parents to conform to traditional patterns of behavior, not because they were more likely to be more educated than their parents, but because the father was no longer the manager of the familial unit of production and was loosing economic control over wage-earning sons and daughters.“ (1986: 269). Robichaux’ Analyse der tlaxcaltekischen Gemeinde und Segalens, Lesthaeghes und Wilsons Beschreibung der europäischen Entwicklung sind Variationen eines Themas, die ein wesentliches Element gemeinsam haben. In der tlaxcaltekischen Gemeinde bieten die neuen Einkommensmöglichkeiten die Chance, schneller den Haushalt der Eltern des Mannes zu verlassen und deshalb eher zu heiraten. In den europäischen Fällen geht es von vornherein um eine neolokale Residenz, die mit Hilfe der neuen Berufsmöglichkeiten schneller zu erreichen ist. In beiden Konstellationen hat dies ein früheres Heiratsalter, ein früheres Alter bei erster Geburt und eine schnellere ökonomische Unabhängigkeit der jüngeren Generation zur Folge. Die Entwicklung Pueblo Nuevos stellt eine weitere Variante dieses Modells dar. Ungefähr seit den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts begannen immer mehr Haushalte in Pueblo Nuevo damit, von der von mir als ‚traditionell‘ bezeichneten Strategie zu einer von mir als ‚gemischt‘ bezeichneten Strategie überzugehen. Vor allem Söhne migrierten und trugen mit ihrem Einkommen zum Überleben des Haushalts bei. Ihre Ehefrauen lebten währenddessen im erweiterten Haushalt bei ihren Schwiegereltern. Die Etablierung eines eigenen Haushalts ging zwar unter Umständen schneller als bei der traditionellen Haushaltsstrategie, dauerte aber immer noch relativ lange, da die Söhne einen großen Teil ihres Einkommens an den erweiterten Haushalt abgaben. Am Entwicklungszyklus des Haushalts änderte sich folglich zunächst wenig. Mehr und mehr erkannte aber die jüngere Generation ihr vom erweiterten Haushalt unabhängiges ökonomisches Potential. Die Erkenntnis der eigenen ökonomischen Kapazitäten und Möglichkeiten, unabhängig vom erweiterten Haushalt, hat in Pueblo Nuevo aber nicht zur Folge gehabt, daß es zu einem früheren Heiratsalter und Alter bei erster Geburt gekommen ist. Anders als in dem von Robichaux (1992, 1996, 1997) beschriebenen Fall ist es ganz im Gegenteil für eine bestimmte Gruppe von Paaren sogar zu einem späteren Heiratsalter, späterem Alter bei erster Geburt und einer veränderten postnuptialen Residenzform gekommen. KAPITEL 8. ZUSAMMENFASSENDE DISKUSSION 339 Der Kohortenvergleich in Kapitel 6 hat gezeigt, daß es in Pueblo Nuevo keine Unterschiede des Heiratsalters und Alters bei erster Geburt zwischen den Kohorten gibt. Heiratsalter und Alter bei erster Geburt sind bei allen Kohorten ähnlich. Eine Erklärung hierfür ist die beschriebene Haushaltsstruktur. Die Analyse der einzelnen Kohorten in Kapitel 7 hat aber in einem zweiten Schritt erbracht, daß es starke Variationen innerhalb der Kohorten gibt. Eine über mehrere Kohorten verteilte Gruppe von Paaren hat ein späteres Heiratsalter und Alter bei erster Geburt. Demnach erklären auch ein späteres Heiratsalter und Alter bei erster Geburt den fertilen Wandel in Pueblo Nuevo. Diese Variationen konnten durch einen Kohortenvergleich nicht erfaßt werden. Anders als die Benutzung von Verhütung, die eindeutig in jüngeren Kohorten zugenommen hat und sich deshalb auch in den veränderten Mittelwerten zeigt, ist die Gruppe von Paaren, die ein späteres Alter bei erster Geburt hat, über mehrere Kohorten verteilt. Das diese Paare verbindende Element ist nicht ihr Alter (erfaßt durch die Kohorte), sondern ihre wirtschaftliche, reproduktive und soziale Strategie. Paare mit einem späteren Heiratsalter und Alter bei erster Geburt sind in Pueblo Nuevo wirtschaftlich besser gestellt als Paare, die früh eine Familie gegründet haben. Anders als die früh heiratenden Paare wohnen diese Paare nicht bei den Eltern des Mannes, sondern können es sich leisten, von Anfang an in einem eigenen Haus zu leben. Die Frau muß folglich auch nicht mit ihrer Schwiegermutter zusammenleben. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Gemeinde haben sich in den letzten Jahrzehnten so stark gewandelt, daß es seitdem einigen Paaren möglich ist, unabhängig von ihren Eltern eigenes Kapital für ihren Haushalt zu akkumulieren. Eine Gruppe von Paaren nutzt vor der Heirat diese neuen Möglichkeiten. Im Gegensatz zu den früh heiratenden Paaren, die wirtschaftlich von den Eltern des Mannes abhängig sind und die die Kosten der Erziehung von Kindern tragen müssen, ist es den spät heiratenden Paaren eher möglich, sozial und wirtschaftlich aufzusteigen. Allerdings hat sich auch gezeigt, daß das Verhältnis zur Herkunftsfamilie hierbei eine wichtige Rolle spielt. Nur wenn sich Mann und Frau mit ihren Eltern gut verstehen und bis zu einer Heirat im elterlichen Haushalt leben können, ist der Mann in der Lage, das nötige Kapital für einen eigenen Haushalt zu akkumulieren. Prinzipiell ist es auch für Pueblo Nuevo denkbar, daß ein Paar früh heiratet und durch die Verwendung von Verhütungsmitteln die Geburt des ersten Kindes verzögert. Das würde dem Paar die Möglichkeit geben, sich wirtschaftlich zu etablieren, ohne schon die Kosten eines oder mehrerer Kinder tragen zu müssen. Generell werden aber vor der Geburt eines Kindes in Pueblo Nuevo keine Verhütungsmittel benutzt, da zum einen Nebenwirkungen und Unfruchtbarkeit befürchtet werden und 340 DAS GEPLANTE KIND zum anderen ein sozialer Druck auf einer jungen Ehe lastet, möglichst schnell Nachkommen zu zeugen. Diese Situation weist einige Parallelen zu der von Lesthaeghe, Wilson (1986) und Segalen (1990) beschriebenen vorindustriellen europäischen Situation auf. Mann und Frau leben im elterlichen Haushalt, bis sie ausreichend Geld für einen eigenen Haushalt akkumuliert haben. Das führt zu einem späteren Heiratsalter und Alter bei erster Geburt. Ein wichtiger Unterschied besteht jedoch in den ökonomischen Möglichkeiten, eigenes Kapital zu akkumulieren. Im Gegensatz zu den europäischen Fällen ist es in Pueblo Nuevo gerade der jüngeren Generation durch Migration möglich, relativ schnell für Dorfverhältnisse viel Kapital zu erwirtschaften. Die internationale Migration hat diesen Prozeß noch beschleunigt. Lagen das durchschnittliche Heiratsalter und das Alter bei erster Geburt bei den europäischen Fällen bei Mitte zwanzig oder sogar noch höher (vgl. Livi-Bacci 1997: 126, Segalen 1990: 149-151), so hat sich das Heiratsalter und Alter bei erster Geburt für diese neue Gruppe in Pueblo Nuevo nur um etwa drei bis vier Jahre auf ungefähr 22 Jahre verschoben. Bei einer erfolgreichen Migration hat der Mann bis dahin so viel Kapital erwirtschaftet, daß er es sich leisten kann, ein eigenes Haus zu bauen und zu heiraten. Bei dem hier beschriebenen neuen Haushaltstypus und der damit einhergehenden Haushaltsstrategie handelt es sich um keine Randerscheinung. Zwar lassen sich gut zwei Drittel der Haushalte weiterhin dem von Robichaux (1997) entwickelten mesoamerikanischen Haushaltsformierungssystem zuordnen, aber immerhin 23% der Haushalte verfolgen eine davon abweichende wirtschaftliche und reproduktive Strategie. 2 Diese neue Strategie kennzeichnet ein späteres Heiratsalter und Alter bei erster Geburt, neolokale Residenz und wirtschaftliche Unabhängigkeit von der erweiterten Familie. Der Übergang von der traditionellen zur gemischten Haushaltsstrategie hat für einige Haushalte somit auch die Konsequenz gehabt, daß es zu einem Wandel der hierarchischen Ordnung innerhalb der Haushalte gekommen ist (Lesthaeghe und Wilson 1986). Die Söhne erkannten ihr eigenes ökonomisches Potential und begannen, nicht mehr in den erweiterten Haushalt, sondern in ihre eigene Kernfamilie zu investieren. Teilweise ist die jüngere Generation heute wirtschaftlich erheblich besser gestellt als die ihrer Eltern. 2 Die verbleibenden 12% wohnen nicht bei den Eltern des Mannes, sondern bei den Eltern der Frau. Wie auch Robichaux (1997) feststellt, entspricht die Entwicklung dieser Haushalte weitgehend der der Haushalte mit patrilokaler Residenzform. KAPITEL 8. ZUSAMMENFASSENDE DISKUSSION 341 Es hat sich aber auch das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern verändert. Hier hilft Caldwells (1980, 1982) These des intergenerational wealth flow weiter. Caldwell geht davon aus, daß sich vor allem aufgrund der Verbreitung von Schulbildung ein neues Konzept des Werts von Kindern entwickelt, und es zu einer Umkehrung des Güter- und Ressourcenflusses zwischen Eltern und Kindern kommt. In der traditionellen Haushaltsstrategie profitieren die Eltern früh von der Arbeit ihrer Kinder. Die Erziehung der Kinder wird von einem verwandtschaftlichen Kollektiv geleistet und verursacht nur geringe Kosten. In der gemischten Haushaltsstrategie verändert sich diese Konstellation. Zumindest für einen Teil der Kinder steigen die Erziehungskosten. Aufgrund der besseren Ausbildung ist es den Kindern dann aber auch möglich, sicherere und besser bezahlte Berufe auszuüben, wovon auch die Eltern profitieren können. Haben bereits die Eltern eine gute Schulbildung und einen gut bezahlten Beruf, wird es immer wahrscheinlicher, daß sie die von mir als ‚modern‘ bezeichnete Strategie verfolgen. Kapitel 7 hat gezeigt, daß vor allem die Schulbildung der Frau und der Beruf des Mannes dazu führen, daß die Eltern wenige Kinder bekommen, die eine gute Ausbildung erhalten. Wie läßt sich nun die bisherige demographische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Gemeinde abschließend beurteilen? Generell kann angemerkt werden, daß die enorme Flexibilität des Haushalts und der Familie nicht der Suche nach einem scheinbar generellen Modell zum Opfer fallen darf. Es gilt, das Prozeßhafte des Haushaltes zu berücksichtigen, wie Netting, Wilk und Arnould zu Recht feststellen: „(...) the household as remarkably fluid in structure and boundaries (Wheaton 1975), a ‚process‘ rather than an institution (Hammel 1972), a taskgroup rather than just a product of cultural rules (Carter and Merrill 1979: iii), with a history of adaptive consolidation and nuclearization (...).“ (1984: xviii). Das im Kontext des mesoamerikanischen Haushaltszyklus überraschende Ergebnis einer neolokalen Residenz und eines späteren Alters bei erster Geburt sollte nicht als die Ausnahme von der Regel betrachtet werden. Eine solche Betrachtungsweise ignoriert das Wandelpotential des Haushaltes und negiert die de facto existierende demographische, wirtschaftliche und soziale Heterogenität innerhalb der Gemeinde. Ohne Frage ist die postnuptiale patrilokale Residenz und ein frühes Alter bei erster Geburt die heute in der Gemeinde verbreitetste Haushaltsform. Damit einher geht die Verwendung von Verhütung erst nach der Geburt mindestens eines Kindes und häufig auch erst nach dem Auszug aus dem Haushalt der Eltern des Mannes. Diese soziale und wirtschaftliche Konstellation erklärt einen großen Teil des fertilen Wandels, den vor allem eine Verlängerung der Geburtenintervalle und ein früheres Alter bei letzter Geburt kennzeichnen. 342 DAS GEPLANTE KIND Die 23% an Paaren, die nicht diesem Muster folgen, sind aber eventuell ein Hinweis darauf, welche demographischen, wirtschaftlichen und sozialen Transformationsprozesse in Zukunft in Pueblo Nuevo stattfinden könnten. Es zeigt sich deutlich, daß die neolokal wohnenden Paare wirtschaftlich besser gestellt sind als diejenigen Paare, die den traditionellen Haushaltszyklus durchlaufen. Außerdem bekommen diese Paare später ihr erstes Kind und haben generell weniger Kinder, die sie besser ausbilden lassen. Meistens leben sie nicht mehr von der Landwirtschaft. Die Berufsmöglichkeiten in Pueblo Nuevo und generell im Tal von Solís sind aber begrenzt. Denkbar ist, daß sich das Berufsspektrum lokal noch mehr erweitert und diese Paare - sowie ihre Kinder - Vorreiter einer solchen Entwicklung werden. In diesem Szenario ist es sehr wahrscheinlich, daß sich die heute schon vorhandene Stratifizierung noch weiter manifestiert. Ebenfalls denkbar ist aber auch, daß es zu einer dauerhaften Migration in die mexikanischen Metropolen und sogar in die USA kommt, und diese die momentan dominierende temporäre Arbeitsmigration ablöst. Bei einem erneuten Besuch der Gemeinde im Frühjahr 2000 konnten beide Entwicklungen beobachtet werden. Sicherlich wird sich das Leben in Pueblo Nuevo weiter verändern – definitiv werden dabei demographische Prozesse von großer Relevanz sein. Das gilt nicht nur für den hier untersuchten Fall. Noch berücksichtigen allerdings zu wenige ethnologische Studien die grundlegende Bedeutung demographischer Transformationen bei der Untersuchung kulturellen Wandels. Gerade die Ethnologie mit ihrer holistischen Perspektive ist hierfür besonders geeignet und sollte sich dieser Thematik verstärkt widmen. Anhang 9.1 9.1.1 Fragebögen Zensus und erster Fragebogen 1 # Cuestionario: día y hora: # de la casa: # del hogar: längere Interviews? Introducción: Me llamo Julia Pauli y soy antropóloga de la Universidad de Colonia en Alemania. Estoy viviendo acá en el Valle de Solis por un año para hacer un estudio sobre las vidas de la gente de la comunidad. Hay muchas personas en Alemania que estan interesadas en la vida de la gente de las comunidades rurales en México. Especialmente estoy muy interesada en la vida y la salud de las mujeres y de los niños. El propósito de la investigación es entender mejor la cultura y la vida de las familias en la comunidad. Tengo unas preguntas para Ud. Vamos a platicar como media hora. Ud. no está obligada a placticar conmigo sobre estos asuntos, pero estaría muy agradecida por su ayuda. Parte I El Censo 1. Cómo se llama Ud? a) Apellido paterno b) Apellido materno c) Nombre (s) Numero de Identificación: 2. El sexo: m f 3. Cuál es la fecha de nacimiento de Ud.? 4. Dónde nació? Estado Municipio Comunidad 5. Cuál es su estado civil? 01 soltera 02 casada 03 unión libre 04 viuda 6. (Si aplica) Hace cuánto tiempo es casada? 7. (Si aplica) Se casó por la iglesia? sí no 8. (Si aplica) Por lo civil? sí no 9. (Si aplica) Con quienes vivieron cuando eran recien casados? 10. (Si aplica) Por cuánto tiempo vivieron con ellos? 11. (Si aplica) Este es su primer matrimonio o el segundo? 12. (Si aplica) Cuánto tiempo duró el otro matrimonio? 13. (Si aplica) Por qué terminó ese otro matrimonio? 14. Quién es el jefe de familia? 15. Cuál es la posición familiar de Ud? (ejemplos) 16. Vive su padre? sí no 17. Vive su madre? sí no 18. Dónde viven sus padres? 19. Hasta que año de la escuela llegó Ud? analfabeta 01 primaria incompleta 02 1 Um Platz zu sparen, ist die ursprüngliche Formatierung der Fragebögen geändert worden. 343 344 DAS GEPLANTE KIND primaria completa 03 secundaria 04 preparatoria 05 universidad 06 20. Trabaja usted para ganar dinero? (como vender tortillas, queso) sí 21. (si aplica) En que trabaja? 19. Dónde? 22. (si aplica) Quién decide como va a gastar el dinero que Ud. gana? 23. Quién decide como va a gastar el dinero en general? 24. Cuál es la ocupación de Ud.? no trabaja 01 estudiante 02 ama de casa 03 comerciante 04 que forma? profesionista 05 cuál profesion? campesina 06 otros 25. Su esposo trabaja todo el tiempo aquí? sí no 26. Dónde trabaja? 27. Por cuánto tiempo? 28. Hay otras personas de la casa que viven en alguna otra parte? 29. Dónde? 30. Desde cuándo? 31. Por qué? 32. Desde cuándo vive Ud. en Pueblo Nuevo? 33. Dónde vivió Ud. anteriormente? 34. Por cuánto tiempo? 35. Por qué regresó a Pueblo Nuevo ? Parte II La Familia 36. Tener una familia es importante para Ud.? 37. Por qué? 38. Cree que es importante (también) para su esposo? 39. Por qué? 40. Cuántos hijos cree usted que sea una familia de buen tamaño? 41. Por qué? 42. (si aplica) Quiere tener más hijos? 43. (si aplica) Cuántos? 44. (si aplica) Por qué? 45. Prefiere hijos o hijas? 46. Por qué? 47. Cuáles son los beneficios de tener hijos varones? 48. Cuáles son los beneficios de tener hijas? 49. Su esposo le ayuda en casa? 50. En que forma? (por ejemplo con los niños) 51. Ud. ayuda a su esposo con su trabajo? 52. En que forma? 53. Tuvo un parto en el ultimo año? 54. Por qué? 55. Y tiene Ud. amigas? 56. Por qué tener amigas es importante para Ud.? 57. Quienes son? 58. Dónde viven? 59. Son parientes suyos (vecinas, comadres, otras)? no ANHANG 345 Parte III: Quienes son todas las otras personas que viven con usted en esta casa (=Haushaltdef.)? 2 Fecha Lugar Pos. P. M. Años Est. Nom# Ocup. Dónde Sexo ApP ApM naci. naci. Fam vivo viva esco. civil bre ID Parte IV Las Mujeres Aplica solo a mujeres mayores de 12 años Nombre de la mujer: Nr. WZ: Numero de Identificación: Ahora, vamos a hablar sobre todos sus embarazos, incluyendo los hijos muertos. # edad Todavía Hijo vive con Nombre Fecha de Nacio Por qué Sexo del madre al vive, si no, madre? (no: del hijo/a nacimien. vivo? se murio hijo parto fecha dónde? Por qué?) Muchas gracias por su ayuda! Kommentar: Wer war alles bei dem Gespräch anwesend? Hat die Anwesenheit bestimmter Personen das Gespräch (negativ) beeinflußt? Eindruck über den Gesprächsverlauf: Offenheit der Informantin: 9.1.2 Fecha: Der zweite Fragebogen No. de hogar: No. ID: NOMBRE: INTRODUCCIÓN Ud. probablemente me conoce ahora. Estoy viviendo en el pueblo desde junio del año pasado. Aparte de mi trabajo como antropóloga también doy clases de danza a las niñas del pueblo. Quiero invitarla a Ud. y su familia a un festival, una comida y un baile el 21 del junio de este año. (da la hoja!). Va a ser mi despedida y mi forma de agradecer una vez más a la gente del pueblo por su ayuda y participación en mi proyecto! Esta entrevista va a ser mi ultima entrevista que voy a hacer aquí. Sera Ud. muy amable si me ayuda una vez más. Esta entrevista NO es un examen. No hay respuestas falsas. Todo lo que Ud. piensa es muy interesante y correcto. Muchas Gracias por su participación y la espero a la fiesta! 1. Migración 1. Su esposo estuvo en EU/Canada por un tiempo? sí no 1b. Cuántas veces y por cuánto tiempo? 1. hasta 2. hasta 3. hasta 4. hasta 1c. En que trabajó allá? 2. Tiene terreno? sí no 2b. (cuándo aplica) Quién trabaja su terreno cuándo está allá? 3. Su esposo estuvo en Mexico por un tiempo? sí no 3b. Cuántas veces y por cuánto tiempo? 1. hasta 2. hasta 3. hasta 4. hasta 5. Más que 4 veces 3c. En que trabajó? 4. Dónde está ahora? Desde cuando? 2 Beide Tabellen (III und IV) sind im Original im Querformat und haben mehr Zeilen. Um sie hier aber abzubilden, wurde dieses Format geändert. 346 DAS GEPLANTE KIND 5. Ud. vivió en México por un tiempo? sí no 5b. Ud. vivió en EU. por un tiempo? sí no 5c. Dónde ha vivido Ud. y por cuánto tiempo? Más de una vez? 1. dónde desde hasta 2. dónde desde hasta 3. dónde desde hasta 4. dónde desde hasta 5d. Todos las veces trabajó en casa? 5e. En que otro trabajo? 6. Ud. trabaja en Mexico ahorita? Desde cuándo? 6b. Alguno de sus hijos trabajaron o trabajan en Mexico o EU? Quién, dónde y por cuánto tiempo? 1. dónde desde hasta 2. dónde desde hasta 3. dónde desde hasta 4. dónde desde hasta 6c. Ellos la ayudan a Ud. económicamente? todos me ayudan no me ayudan solamente me ayuda 2. Dilemmata 7. Imagínese que su papá o su mamá está gravemente enfermo y puede morir. Está en un hospital en México. Ud. quiere visitarlo pero su esposo/su suegra no le deja. Que va a hacer? a) Me voy b) No me voy c) Voy a pedir permiso otra vez 8. Hay una posibilidad de ir otra vez a una escuela o un curso (por ejemplo Ud. tiene la posibilidad de aprender a tejer). Ud. tiene muchas ganas de ir pero su esposo no le da permiso. Que va a pasar? a) Voy a pedir permiso otra vez b) Voy a ir al curso c) No voy a ir al curso 9. Imagínese que su esposo quiere ir a Estados Unidos pero Ud. no quiere que se vaya. Que va a pasar? a) No le importa lo que yo diga. Él se va b) Él no se va c) Él va a hablar conmigo otra vez, pero sí se va 10. Imagínese que Ud. y su esposo estan viviendo juntos con su suegra. A Ud. no le gusta y quiere cambiarse de lugar. Pero a su esposo si le gusta vivir allí. Que va a hacer? a) A mi esposo no le importa como me siento. Vamos a quedarnos con mi suegra b) Nosotros vamos a cambiarnos de lugar c) Nosotros vamos a vivir con mi mamá (o mis parientes) 11. Imagínese que su esposo quiere otro bebé pero Ud no quiere. Cómo le haría? a) No vamos a tener otro bebé b) Él va a platicar conmigo otra vez y espera que yo entienda c) A él no le importa lo que digo. Vamos a tener otro bebé 12. Imagínese que tiene una cantidad de dinero que solo le alcanza para una cosa - Ud. quiere comprar una licuadora pero su esposo quiere comprar herramientas. Que pasa? a) Él va a comprar sus herramientas b) Vamos a comprar la licuadora 13. Platica su esposo con Ud. para tomar las decisiones de la casa o más bien es él el que manda? 3. Niños 14. Habló Ud. con su esposo de cuántos niños él quería? sí no 15. Cuántos hijos cree Ud. que le gustaría a tener a su esposo? 16. Es importante que el primer hijo sea varón? sí no 17. Es importante que un hombre tenga hijos varones? sí no ANHANG 347 18. Es importante que una mujer tenga hijas? sí no 19. Puede decirme algunas ventajas de tener niños en comparación a parejas que no tienen niños? 1. 4. 2. 5. 3. 6. 20. Cuántos hijos es una familia grande para Ud.? 21. Cuántos una familia pequeña? 22. Quién educa más a sus niños - su esposo o Ud.? 23. Cree Ud. que sus hijos van a ayudarle cuándo esten grandes? sí no 24. Ud. cree que sus hijas van a ayudarle más? Por qué? 25. Ud. cree que sus hijos varones van a ayudarle más? Por qué? 4. Niños en la escuela (EN ESTE AÑO! Todos los niños de 4-20 años) 3 NOMBRE En la ESCUELA? Sí=1; No=0 EDAD GRADO DÓNDE? CUÁNDO terminó? 1 2 26. Cuántos años de escuela cree Ud. que sea bueno para sus hijos varones? 27. Cuántos años de la escuela cree Ud. que sea bueno para sus hijas? 5. Anticonceptivos 28. Sabe Ud. si hay cosas para no tener hijos o embarazarse? sí no 29. Cuáles métodos anticonceptivos conoce Ud.? (freelist) 1. 4. 2. 5. 3. 6. 30. Cómo funcionan esos métodos que ha mencionado? 1. 4. 2. 5. 3. 6. 31. Quién le dijo como funcionan? 32. Ud. usa algo ahorita para no embarazarse (también pueden ser cosas „naturales“ como el calendario o „él me cuide“ o la operacion de la mujer)? sí no el método: 33. Cómo funciona el método que Ud. usa ahorita? 33b. Desde cuándo Ud. usa este método? año 34. Ud. ha usado otros métodos antes? sí no Cuáles y cuándo? 35. Por qué Ud. dejo de usar este método? 36. Cuándo fue la primera vez que Ud. uso un método? año 36c. Cuántos años Ud. tenía cuándo empezó a usar anticonceptivos? 36d. Cuántos niños Ud. tenía cuándo empezó a usar anticonceptivos o fue antes del primer niño? 37. Su esposo está de acuerdo en que Ud. use este método? 38. Ud. habla con su hija/hijo de eso? 39.(Procreación) Ud. sabe como se forma un niño? Cómo? 39b. Cuáles son las substancias importantes para que se forme un niño? 6. Stillen/Dar el pecho 40. Le dio Ud. pecho a su ultimo niño? 40b. Cuándo es no - Por qué? 3 sí Auch diese Tabelle hat im Original mehr Zeilen. no 348 DAS GEPLANTE KIND 41. Ud. le dio el pecho siempre que el niño quiso/quiere o en un horario? Por qué? 41b.(cuándo se aplica) En cuál horario (cuándo?) 42. Aparte de darle pecho también le dio otros alimentos? Cuáles? 42b. Cuándo empezó Ud. a darle otros alimentos aparte del pecho? 43. Cuándo Ud. dejo de darle pecho? 43b. Por qué? 44. Cómo terminó Ud. de darle pecho (un día al otro; poco a poco; chile al chupon; con una palet a?) 45. Ud. le dio pecho a todos sus niños? 46. Con sus otros niños Ud. lo hizo en la misma forma o era diferente? 47. Ud. usa „darle pecho“ como método anticonceptivo? 48. Ud. sabe como funciona este método? 7. Medizinische Versorgung/Clínica de Solís 49. A dónde va Ud. cuándo alguien de la famila está enfermo? 50. Dónde y con quién nacieron sus niños? 50b. Por qué en este(os) lugar(es)? 51. Ud. tiene confianza en la clínica de Solís? 52. (cuándo se aplica) Por qué no? 8. Otras Preguntas 53. Cree Ud. que su vida es mejor, igual o peor que la vida de su mamá? mejor lo mismo peor 54. En que año se casó por la iglesia? 2b. Por lo civil? 55. Ud. vivió con su esposo en unión libre antes? 55b. Cuánto tiempo? 56. Por qué no se casó (por la iglesia/por lo civil)? 57. Para Ud. es posible guardar dinero o Ud. gasta el dinero imediatamente? 58. Imagínese que tienen hijas pero no hijo varón. Ud. va a seguir teniendo bebes hasta que un hijo varón nazca o Ud. va a terminar después de cuántas hijas? a Vamos a seguir hasta que un hijo varón nazca. b Vamos a terminar después de hijas. 59. (für die Statements): Cree Ud. que tiene muchos hijos? sí no 59b. Cuántos hijos tiene? 9. Wirtschaftliche Indiaktoren La CASA tiene: (√ significa que sí; 0 significa que no) Coche: Refrigador : Estufa de Gas : Baño : Television: Cuántos Cuartos? Cocina seperada? Material del piso: Material del las paredes: Material del techo: Mujeres que son parte de esta CASA Letrina : 10. Statements (pros; contras ) PRO: Ud. sabe que hablé con muchas señoras en el pueblo y ellas me dijeron muchas cosas sobre la cuestión de por que muchas mujeres en Pueblo Nuevo tienen muchos hijos. Ahora yo quiero saber si estas cosas también tienen relación con Ud. Ud. tiene hijos ahora. Por qué tiene este numero de hijos? En su decisión de tener este numero de hijos las siguientes declaraciones son o eran importantes o no importantes para Ud.? ANHANG 349 Para mi es importante STATEMENT Para mi no es importante 1. Porque mi esposo no me deja usar métodos anticonceptivos. 2. Porque me gusta tener niños chiquitos. Son muy cariñosos. 3. Porque todas mis amigas, hermanas y cuñadas tienen muchos hijos. 4. Porque no conozco métodos anticonceptivos. 5. Para que no esté tan sola y tenga compañía. 6. Porque tengo miedo de usar los métodos anticonceptivos. 7. Porque no tengo nada más que hacer en el pueblo. 8. Porque mi mamá hizo lo mismo. 9. Para que mi novio/mi esposo se case conmigo. 10. Porque mi esposo es muy macho y quiere muchos hijos. 11. Para mi es mejor tener muchos niños porque pueden morir y nosotros vamos a estar solos o con muy pocos hijos. 12. Porque algunos parientes piensan que es mejor que yo tenga muchos hijos. 13. Para estar segura de que cuándo esté grande tenga alguien que me ayude. 14. Porque es mi obligación religiosa tener muchos niños. 15. Para ayudarme en la casa y a mi esposo en el campo. 16. Porque mi esposo no sabe que yo sufro por tener hijos y por eso quiere muchos. 17. Porque mis niños confirman mi matrimonio. CONTRAS: Y aquí siguen algunas explicaciones de las mujeres que en el pueblo tienen pocos niños. Esas explicaciones son o eran importantes o no importantes en su decisión de tener el numero de hijos que tiene? Para mi es importante STATEMENT Para mi no es importante 1. Porque cuándo tengo muchos niños van a sufrir mucho. 2. Con muchos niños no puedo darles estudio. 3. Porque tener muchos niños es mucho trabajo para mi. 4. No tenemos el dinero para tener muchos niños. 5. Porque conozco los métodos anticonceptivos y los uso. 6. Porque no quiero ver a mis niños sufrir como yo sufrí. Muchas gracias! Wie lief das Interview/wer war anwesend? 9.1.3 Fragebogen für die männlichen Dorfbewohner No. DE HOGAR NOMBRE FECHA Introducción Buenas Tardes! Soy el asistente de Julia Pauli de Alemania quién está viviendo acá en el Valle de Solis para hacer un estudio sobre la vida de la gente de Peublo Nuevo. La Señora Julia Pauli está platicando directamente con las señoras. A mi me toca hacer las platicas con los hombres del pueblo. Tengo unas preguntas para Ud..Va a ser rápido y fácil. Muchas gracias para su participación! 350 DAS GEPLANTE KIND PREGUNTAS: 1. Qué le gusta a Ud. del pueblo? 2. La vida es difícil ahora? Por qué? (cuándo aplica; cuándo el señor está casado) 3. Platica Ud. con su esposa para tomar las decisiones de la casa o más bien Ud. es él que manda? 1. Cuántos hijos cree Ud. que debe tener una familia de buen tamaño? 1a. Por qué? (cuándo aplica) 1b. Cuántos hijos cree Ud. que le gustaría tener a su esposa? 2. Prefiere hijos varones o mujeres? 2a. Por qué? (cuándo aplica) 3. Ud quiere tener mas hijos? Sí No 4. Es importante que el primer hijo sea varón? Sí No 5. Es importante que un hombre tenga hijos varones? Sí No (cuándo aplica) 6. Ud. ayuda a su esposa en la casa? Sí No 6a. En que forma? (cuándo aplica) 7. Su esposa le ayuda en su trabajo? Sí No 8. Puede decirme algunas ventajas de tener niños en comparación a parejas que no tienen niños? 1. 4. 2. 5. 3. 6. 9. Con cuántos hijos es una familia grande para Ud.? 9b. Cuántos una familia pequeña ? Dilemmata (cuándo aplica) 10. Imagínese que quiere ir a Estados Unidos pero su esposa no quiere que se vaya. Que va a hacer? a) Me voy b) No me voy c) Voy a hablar con ella otra vez y espero que ella entienda, pero me voy (cuándo aplica) 11. Imaginese que su esposa y Ud. estan viviendo juntos con la mamá de Ud. A su esposa no le gusta y ella quiere cambiarse de lugar. Pero a Ud. si le gusta vivir alli. Qué va a hacer? a) No me importa lo que diga mi esposa. Nosotros vamos a quedarnos con mi mama. b) Nosotros vamos a cambiarnos de lugar c) Nosotros vamos a vivir con la mama de ella (o parientes de ella ) (cuándo aplica) 12. Imaginese que Ud. quiere otro bebé pero su esposa no quiere. Cómo le haría? a) No me importa lo que dice ella. Yo soy él que manda . b) No vamos a tener otro bebé c) Voy a platicar con ella otra vez y espero que entienda (cuándo aplica) 13. Imaginese que tiene una cantidad de dinero que solo le alcanza para una cosa Ud. quiere comprar herramientas pero su esposa quiere comprar una licuadora. Que pasa? a) Voy a comprar mis herramientas b) Vamos a comprar la licuadora (cuándo aplica) 14. Quién educa mas a sus niños - su esposa o Ud. ? 15. Ud tiene amigos? (cuándo aplica) 15b. Más amigos que su esposa? 16. Cree Ud. que sus hijos van a ayudarle cuándo esten grandes? sí no Muchas gracias para su participacion! Impresión de la entrevista: Fue difícil? El Señor/Joven quiso hablar? ANHANG 9.1.4 351 Netzwerkfragebogen No. de hogar: FECHA: NOMBRE: Introducción Esta entrevista mi universidad la va a aplicar en 7 paises diferentes. Nosotros estamos interesados en las similitudes y diferencias que hay entre los paises. Todas las preguntas tratan diferentes aspectos sobre las relaciones sociales que nosotros tenemos. Es muy improtante que la gente responda sola para no tener las mismas respuestas para 2 personas. Muchas gracias para su participación! 1. Las relaciones sociales 4 1. Imagínate que necesitas algo para el hogar, como un alimento (chile, cebolla) o una herramienta. A quién vas a pedir prestado esos tipos de cosas? (Nehmen wir an, Sie bräuchten Zucker oder etwas in dieser Art und die Läden sind geschlossen, oder Sie bräuchten ein Werkzeug. Wen würden Sie fragen, um diese Dinge auszuleihen?) 2. Imagínate que necesitas ayuda dentro o fuera de tu casa, como arreglar algo en la casa. A quién vas a pedir ese tipo de ayuda? (Nehmen wir an, Sie bräuchten Hilfe bei Arbeiten im oder am Haus, z.B. eine Leiter halten oder Möbel verschieben. Wen würden Sie um diese Art von Hilfe bitten?) 3. Imagínate que tienes problemas con algunos documentos, como un papel para vender o comprar terreno. A quién vas a pedir ayuda con estos problemas? (Nehmen wir an, Sie hätten Probleme damit, ein Formular auszufüllen, z.B. die Steuererklärung. Wen würden Sie bei dieser Art von Problemen um Hilfe bitten?) 4. Muchas personas a veces hablan de cosas importantes con otras. En los ultimos seis meses, quienes son las personas con las que hablaste de cosas importantes para ti? (Die meisten Menschen besprechen von Zeit zu Zeit wichtige Dinge mit anderen. Im Rückblick auf die letzten sechs Monate, wer sind die Leute, mit denen Sie wichtige Dinge besprochen haben?) 5. Imagínate que necesitas un consejo sobre un cambio importante en tu vida, por ejemplo cambiar del trabajo o migrar a Mexico o E.U.. A quién vas a pedir un consejo cuándo un cambio importante va a pasar en tu vida? (Nehmen wir an, Sie bräuchten Rat vor einer größeren Veränderung in Ihrem Leben, z.B. dem Wechsel des Arbeitsplatzes oder bei einem Umzug in einen anderen Ort. Wen würden Sie um Rat fragen, wenn eine solche Entscheidung ansteht?) 6. Imagínate que tienes gripe y no puedes salir de tu cama por algunos días. A quién vas a pedir que te cuide o te ayude en la casa? (Nehmen wir an, Sie hätten Grippe und müßten ein paar Tage das Bett hüten. Wen würden Sie darum bitten, Sie zu versorgen oder etwas einzukaufen?) 7. Imagínate que necesitas alguien que pueda prestarte una gran cantidad de dinero. A quién vas a pedir prestado? (Nehmen wir an, Sie müßten eine größere Summe Geld leihen. Wen würden Sie fragen?) 8. Imagínate que tienes problemas graves con tu esposo/esposa y no puedes discutir con él/ella. Con quién vas a hablar de estos problemas? (Nehmen wir an, Sie hätten ernste Probleme mit Ihrem/r Partner/in, die sie nicht mit ihm oder ihr besprechen können. Mit wem würden Sie über diese Probleme sprechen?) 9. Imagínate que estas triste y quieres hablar con alguien de esto. Con quién vas a hablar de estos problemas? (Nehmen wir an, Sie fühlen sich niedergeschlagen („depressed“) und Sie möchten mit jemandem darüber reden. Mit wem würden Sie über diese Probleme reden?) 10. Con quién disfrutas, por ejemplo ir a Temascalcingo para comprar algo o hacer una comida en el campo o tener una platica? 4 Die deutsche Übersetzung, die die Grundlage der Konzeption des Fragebogens im LeibnizProjekt war, wurde von Schweizer (1996: 246) und seiner Costa Mesa Studie übernommen. Allerdings wurden im Rahmen des Leibniz-Projektes noch zwei Fragen (12 und 14) hinzugefügt. Die Übersetzungen aller Fragen sind von der Verfasserin. DAS GEPLANTE KIND 352 (Mit wem gehen Sie hin und wieder aus, zum Beispiel zum Einkaufen, Spazierengehen, ins Restaurant oder ins Kino?) 11. Con quién te reunes al menos una vez al mes para visitarlos o para comer juntos? (Mit wem haben Sie mindestens einmal im Monat Kontakt, indem Sie sich gegenseitig besuchen, um zu reden, eine Tasse Kaffee oder etwas anderes zu trinken oder Karten zu spielen?) 12. Imagínate que estas buscando una posibilidad de trabajar. Quienes son las personas que tienen más conocidos y te podrían recomendar? (Nehmen wir an, Sie sind auf Arbeitsuche. Welche Leute kennen Sie, die mehr Kontakte als Sie selber haben und Sie empfehlen könnten?) 12.1. Por qué (estas personas)? 13. Hay alguien más importante para ti que no has mencionado en esta entrevista? (como familia, gente con quién trabajas) (Gibt es sonst noch jemanden, der für Sie wichtig ist, aber den Sie noch nicht erwähnt haben? Angeheiratete oder andere Verwandten oder Arbeitskollegen, die wichtig für Sie sind?) 13.1. Por qué (estas personas?) 14. Hay personas cerca de ti, cómo las de tu familia o vecinas, que prefieres evitar? (Gibt es Personen, mit denen Sie zu tun haben müssen, die Sie aber lieber vermeiden würden?) 14.1. Por qué (estas personas?) 2. Informaciones de EGO 1. Desde cuándo estas viviendo en Pueblo Nuevo? 2. Estado civil (casado/a, soltero/a, viudo/a, divorciado/a ) (vgl. el censo!) 3. Cuántas personas viven en tu casa? 4. Cuántos años tienes? 5. Cuántos años fuiste a la escuela? 6. A que te dedicas? 7. Cuál es tu origen? (Mestizo, indigena? - cuáles son las diferencias?) 3. Informaciones de los alteri 5 NOMBRE EDAD SEXO RELACION DESDE CUÁNDO DÓNDE VIVE OCUPAORIGIN CION FRECUENCIA 1. 2. 4. Dichte: Quién se lleva bien? Matrix zur Erfassung der Dichte des persönlichen Netzwerkes Nombres 1 2 9.1.5 1 2 X X Fragebogen zu Land- und Viehbesitz Pueblo Nuevo; Dezember, Januar u. Februar 1996/97 Numero de hogar: Nombre del jefe de hogar: 1. Propiedad del terreno: a) Cuántas hectáreas del terreno tiene el campesino? Hectáreas Cuántas hectáreas el ejido? ; Cuántas hectáreas la propiedad? b) Dónde las tiene? (usa el mapa) c) Que cultiva el campesino en su tierra? Hectáreas de Hectáreas de 5 Beide Tabellen haben im Original mehr Zeilen und die ‚Dichte-Tabelle’ hat auch mehr Spalten. ANHANG 353 Hectáreas de Hectáreas de d) De quién obtuvo la tierra? 1. Herencia (quién? - su papá, su mamá, su tío etc.) 2. Lo Compró (a quién se lo compró y cuándo/el año) 3. Donación (quién se lo donó? - familia, amigos o la comisión agraria?) 4. Cambió el terreno (de quién y cuándo) 2. Propiedad de los animales: Cuántos de estos animales tiene el campesino? Vacas: Caballos: Borregas: Pollos: Conejos: Puercos : Güajolotes: Burros: Patos: 3. Otros ingresos Cuáles? (como una tienda; maestro en una escuela; albañil ...) 9.1.6 Netzwerkfragebogen ‘Frauenthemen’ und Fill-in-the-blank Entrevista „relaciones sociales“ (Fragebogen mit 14 Frauen) Este método es un método para entender mejor la vida de las mujeres - durante nuestras vidas nosotros conocemos a muchas personas - algunas son más importantes que otras. Para entender cuáles son las personas importantes yo voy a hacerle las siguientes preguntas: NOMBRE: ID: 1. Con quién hablas de tus problemas? Nombre(s): 1. 2. 3. Tipo de Relación: 1. 2. 3. Dónde vive(n)?: 1. 2. 3. 2. Con quién hablas de tus ilusiónes? (Platz für Alteri wie unter 1, gilt für alle folgenden Fragen) 3. Con quién hablas cuándo tienes problemas con tus hijos? 4. Con quién hablas cuándo tienes problemas con tu esposo? 5. Con quién hablas (o hablaste) cuándo tienes (tuviste) problemas con tu suegra? 6. Con quién hablaste cuándo tuviste tu primera menstruación? 7. Con quién hablaste de las problemas del parto? 8. Quién te atendió con tu primer parto? 9. Con quién hablas de los métodos anticonceptivos (naturales y artificales)? 10. Con quién hablas cuándo tu esposo te golpea? 11. Quién te ayuda cuándo tienes problemas con tu gasto? 12. Con quién hablaste cuándo tuviste tu primer novio? 13. Con quién hablas cuándo discutes con tu esposo? 14. Con quién hablas cuándo tu hijo está enfermo? 2. Fill-in-the blank 1. Me gustaría poder ser... 2. Tengo miedo de... 3. Mi mayor error fue... 4. Necesito saber como hago para... 5. Lo peor que he hecho es... Gracias por tu ayuda!!! 9.2 Beobachtungsbogen Stillen Stillbeobachtung Pueblo Nuevo; Juni 1997 DAS GEPLANTE KIND 354 Für jede Frau 2 Fragebögen - 1 Erinnerungstag, 1 Beobachtungstag TAG (Beobachtungstag oder Erinnerung): Datum: Name der Mutter: ID der Mutter: Nr. HH: Name des Kindes: Geburtsdatum Kind: Beginn der Beobachtung: Ende: UHRZEIT STILLSITZUNG 6 von – bis ALIMENTO von – bis ID des Kindes: Tipo Alimento Motivación 24.00 1.00 2.00 Jede Stunde 23.00 9.3. Leitfäden 9.3.1 Leitfaden Lebensgeschichten Conceptos y Preguntas; Entrevista de la vida; 12 mujeres 1. Niñez -Cuál es tu primer recuerdo? -Puedes describirme como era tu vida cuándo eras niña? -Viviste en una familia grande? *Cómo te llevaste con tus papás, tus hermanos/as (diferencia entre hermanos/hermanas?)? -Tenías muchas responsabilidades (como ayudar a la mamá) o jugabas mucho? -Te gustó la escuela? (Cuándo terminaste? Por qué?) 2. Señorita - Cuál fue la diferencia entre ser niña y ser señorita? *Te gustó ser señorita? - Que pasó cuándo tenías quince años? *Tuviste fiesta de quinceaños? - Tenías amigas? - Ayudaste a tus papás? - Cuándo tuviste novio y como te sentiste? 3. La Vida de Casada - Por qué te casaste? *Cómo es/fue tu vida de casada? - Planeaste el matrimonio? - Tomaste anticonceptivos? *Cuándo empezaste (antes de tu primero hijo? después de tu ultimo hijo?) *Que dijo tu esposo/tu mamá/suegra? - Viviste con tu suegra? *Cómo era? - Cómo te llevaste al principio de casada con tu esposo? *Tomaba alcohol? Te pegaba? Ahora? - Cómo fue ser madre/dar a luz? *Supiste antes del parto que iba pasar? (quién te lo explicó?) - La gente te respeto diferente cuándo fuiste madre? - Fue/es mucho trabajo con los niños? - Quién te ayudó/te ayuda? - Cómo te llevas/llevaste con tus niños? - La educación de tus hijos es importante para ti? *(tus hijos terminaron la escuela?; hasta cuándo los papas tienen derecho sobre los hijos 6 Auch wenn das Kind für einige Sekunden/Minuten das Stillen unterbricht, wird das nicht extra notiert, sondern als eine Stillsitzung erhoben. Während einer Stillsitzung hat das Kind die Brust in unmittelbarer Reichweite. ANHANG 355 para decirles que hacer o que no hacer?) - Cuál es la diferencia entre tener un niño y una niña? - Qué significa la iglesia, la religion en tu vida? - Saliste de tu pueblo? Cuándo y por qué? - Viviste algun tiempo sola? Por qué? Cómo fue? - Piensas en el futuro (que tus hijos van a ayudarte, que vas a tener dinero)? - Tu situación economica? (siempre difícil? - en que forma?) 4. Viuda - Que pasó con tu esposo? *Te casarías otra vez? - Ahora quién te ayuda (económicamente)? *Cómo te sientes? 9.3.2 Leitfäden Gruppeninterviews 1. Vier Sitzungen: zwei am 24.10.96 und zwei am 25.10.96 Zwei Gruppen: 1. Gruppe (8 Frauen) 19-25 Jahre; 2. Gruppe (7 Frauen) 26-49 Jahre Preguntas: (ersten beiden Sitzungen) Hay algunas cosas en el pueblo que no entiendo; probablemente Uds. pueden ayudarme: 1. Durante mis entrevistas fué evidente que algunas mujeres tienen muchisimos hijos (como 20 hijos) y que algunas mujeres tienen menos hijos (como solamente 2 hijos); Por qué? 2. Cuántos hijos Uds. piensan son suficiente para una mujer? Por qué? 3. Por qué hay tanta diferencia entre el numero de los hijos que las mujeres piensan es un buen tamaño para una familia y los hijos que las mujeres actualmente tienen (muchas mujeres me dijeron que ellas pasaron la cuenta)? 4. Por qué las mujeres tienen hijos aquí? 5. Con quién hablan Uds. de esos temas? 6. Qué quieren Uds. para sus hijos? Andere Themen: (dritte und vierte Sitzung) 1. Qué cosas del pueblo no les gustan? Es posible cambiar esas cosas? Que cosas del pueblo les gustan? 2. Cómo funciona el compadrazgo? Cuáles son las relaciones más importantes? 3. Quién es la persona mas importante en sus vidas? 4. Con quién hablan Uds. de sus problemas? 5. La Familia es más importante que los amigos? 6. Ir a la escuela es importante para las mujeres? 7. Por qué las mujeres terminan la escuela muy temprano aquí? 2. Zwei Sitzungen, beide am 18.11.96; gleiche Gruppen Preguntas: (fünfte und sechste Sitzung) Como Uds. saben nosotros ya hablamos mucho de sus hijos. Ahora quiero entender más de la relación entre esposo y esposa. 1. Qué es un buen esposo? Qué es un mal esposo? 2. El esposo es la persona más importante en sus vidas? 3. Cuándo no - quién es la persona más importante en sus vidas? 4. Qué hacen Uds. cuándo sus maridos las golpean? 5. Uds. hablan con sus esposos de los métodos anticonceptivos? 6. Uds. conocen métodos naturales? Los usan? Quién en el pueblo sabe de los métodos naturales? DAS GEPLANTE KIND 356 9.4. Beschreibung der Indizes und der erklärenden Variablen LAND in Hektar gemessen von 0 Hektar bis 15 Hektar VON KINDERN ERWARTETE HILFE wie in Kapitel 7 angegeben BERUF DES MANNES Skala von sieben genannten Berufen: 1 landloser Lohnarbeiter, 2 Landwirt, 3 Bauarbeiter, 4 Taxifahrer, 5 Rentner, 6 Handwerker oder Händler (in einer Anstellung) und 7 Lehrer; die Berufe wurden danach geordnet, wie sicher und wie gut bezahlt sie sind. BERUF DER FRAU wie angegeben ANZAHL VERSTORBENER KINDER Prozentualer Anteil an verstorbenen Kindern in Verhältnis zur bisherigen Länge der reproduktiven Phase einer Frau (in Monaten) INDEX ART DES HAUSES Bezieht sich nur auf das Material der Wände und der Decke, denn der Boden von 95% der Häuser besteht aus Zement. Wie in der Ethnographie beschrieben, gibt es drei Arten an Häusern: 1. Traditionelle Häuser (adobe und teja), 2. Häuser mit gemischten Materialien, 3. Moderne Häuser (Ytong und Zement). Die preisgünstigste Option ist 1, 2 eine mittlere Investition und 3 das teuerste Haus. Besitz von Konsumgütern wurde nicht als erklärende Variable verwendet, da der Index hoch mit dem Hausindex korreliert. INDEX MIGRATION Migration nach Mexiko-Stadt und/oder USA von Mann und/oder Frau; Index von 0-4: 1 Mann oder Frau Mexiko-Stadt/USA; 2 Mann und Frau Mexiko-Stadt/USA; 3 Mann und Frau Mexiko-Stadt/USA und Mann oder Frau USA/Mexiko-Stadt; 4 Mann und Frau Mexiko-Stadt und Mann und Frau USA SCHULBILDUNG FRAU 1 Analphabetin, 2 unvollständige primaria; 3 primaria; 4 secundaria; 5 preparatoria; 6 universidad SCHULBILDUNG MANN Wie Schulbildung der Frau INDEX ZUR EGALITÄT DER BEZIEHUNG Dieser Index ist aus 6 dichotomen Variablen zusammengesetzt. 0-6 Punkte. Je höher er ist, desto seltener trifft das Paar gemeinsam Entscheidungen. Die Entscheidungen im einzelnen: 1. Umzug aus dem Haus der Schwiegereltern der Frau bei Konflikten: 0 Mann und Frau entscheiden sich gemeinsam für Auszug; 1 Mann entscheidet sich alleine für seine Eltern; 2. Entscheidungen generell: 0 Mann und Frau entscheiden gemeinsam; 1 nur der Mann entscheidet; 3. Hilfe des Mannes im Haushalt: 0 der Mann hilft, 1 Mann hilft nicht; 4. Gespräch über gewünschte Kinderzahl: 0 Mann und Frau haben darüber gesprochen; 1 keine Kommunikation; 5. Mann ist ein Macho und will viele Kinder: 0 Frau stimmt der Aussage nicht zu; 1 Frau stimmt zu; 6. Mann weiß nicht, wie die Frau bei der Geburt gelitten hat und es ist ihm auch gleichgültig: 0 Frau stimmt der Aussage nicht zu; 1 Frau stimmt zu. DIFFERENZ WUNSCH/REALITÄT Wie angegeben LEBEN MIT DER SCHWIEGERMUTTER Wie angegeben FREUNDIN Wie angegeben LEBEN IN UNIÓN LIBRE Wie angegeben ALTERSDIFFERENZ ZW. EHEPARTNERN Wie angegeben Bibliographie Agar, M. H. 1980: The Professional Stranger. An Informal Introduction to Ethnography. New York. 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