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Der Fall Erdoğan – Die Türkei Auf Dem Weg In Einen Superpräsidentialismus?

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Der Fall Erdoğan – Die Türkei auf dem Weg in einen Superpräsidentialismus? Hausarbeit in Systemanalyse und Vergleichende Politikwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Abgabe: 04.10.2015 1 Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung............................................................................................................................1 2 Vergleichende Regierungsforschung...................................................................................2 2.1 Typologisierung von Regierungssystemen in der klassische Regierungslehre...........4 2.2 Das semi-präsidentielle System...................................................................................6 2.2.1 Sonderfall Superpräsidentialismus.......................................................................7 2.3 Vetospieleransatz nach George Tsebelis......................................................................8 3 Der Präsident in der Türkei.................................................................................................9 3.1 Das Amt des Präsidenten in der türkischen Verfassung ..............................................9 3.3 Mögliche Vetospieler in der Türkei...........................................................................11 3.3.1 Militär ...............................................................................................................12 3.3.2 Parteien..............................................................................................................13 3.3.3 Verfassungsgericht.............................................................................................14 4 Fazit...................................................................................................................................15 5 Literaturverzeichnis ..........................................................................................................17 2 1 Einleitung Am 10. August 2014 wurde Recep Tayyip Erdoğan zum 12. Präsidenten der Türkei gewählt. Nach 11 Jahren1 als Ministerpräsident der Türkei und dreizehn Jahren als Vorsitzender der seit 2002 regierenden AKP (Adalet ve Kalkinma Partisi) trat er damit als erster vom Volk gewählter Präsident eine fünfjährige Amtszeit in seiner neuen Funktion an. Schon im Wahlkampf hatte er angekündigt die Befugnisse, die dem Präsidenten laut Verfassung zustehen, in vollem Umfang nutzen zu wollen. 2 Des Weiteren wolle er in der Verfassungsänderung, die im Jahre 2010 per Volksabstimmung beschlossen wurde, das Amt des Präsidenten mit mehr Macht ausstatten3. Nicht erst seit diesen Entwicklungen wird Erdoğan von seinen Gegnern vorgeworfen, dass er zu viel Macht inne habe und sich wie ein „Sultan“ (Axiarlis 2014: 256) verhalte. Gerade seit den Gezi-Protesten im Juni 2013, wo eine Protestbewegung, die sich nicht zuletzt gegen Erdoğan selbst richtete, mit aller Härte zerschlagen wurde, ist offensichtlich, dass er keinen besonders großen Wert darauf legt, die gesamte türkische Bevölkerung zu repräsentieren. Es gehe ihm mehr, so der Soziologe und Politikwissenschaftler Çiğdem, um die Durchsetzung der Ideale eines Teiles der türkischen Bevölkerung (2014: 103ff): „die Bildung einer islamisch-konservativen Gesellschaft“ 4. Um dies zu erreichen, so lassen seine Kritiker verlauten, wolle er seine Macht weiter ausbauen. Reinhard Baumgarten, der Korrespondent des SWR in Istanbul, äußert diesbezüglich in einem Kommentar: „[Erdoğan] strebt ein Präsidialsytem an, dass nicht die USA mit ihrer ausgeklügelten politischen Ordnung und den Machtzentren Kongress und Senat als Korrektiv zum Vorbild hat, sondern eher das Russland des Wladimir Putin.“5 Dieses Russland kann nach Rüb als superpräsidentielles System bezeichnet werden (Rüb 2007: 250 zitiert nach: Lauth 2013: 124). Die vorliegende Hausarbeit will daher überprüfen, inwiefern sich die Türkei in Richtung eines superpräsidentiellen Systems bewegt. Da im wissenschaftlichen Diskurs innerhalb der Türkei bisher als Systemtypen vor allem das parlamen1 2 3 4 5 http://www.munzinger.de/search/portrait/Recep+Tayyip+Erdogan/0/22729.html Stand: 2014-09-30 http://www.tagesschau.de/ausland/wahl-tuerkei-115.html Stand: 2014-09-03 Verschiedene Versionen der Verfassungsänderung scheiterten seit diesem Beschluss, so dass noch keine Verfassungsänderung vorgenommen wurde. http://www.tagesschau.de/ausland/erdogan-109.html Stand: 2014-10-01 http://meta.tagesschau.de/id/88450/kommentar-erdogan-will-eine-tuerkei-wie-putins-russland Stand: 2014-10-01 tarische, das semi-präsidentielle und das präsidentielle System diskutiert werden, wird auch diese Arbeit zunächst von der Unterscheidung dieser drei Systemtypen im politikwissenschaftlichen Regierungssystemvergleich ausgehen.6 Da aber für die Kategorisierung von politischen Systemen nicht nur die formal in der Verfassung formulierten Institutionen von Belang sind, sondern gerade auch das Verhältnis von formalen Institutionen und Verfassungskonventionen (Hartmann 2011: 16f) eine Rolle spielt, sollen auch Ansätze der neueren Regierungsforschung mit einbezogen werden, insbesondere der Vetospieler Ansatz nach George Tsebelis. Um Aussagen bezüglich des Superpräsidentialismus treffen zu können, soll dabei der Fokus vor allem auf der Rolle und den Befugnissen des Präsidenten liegen. Dabei soll aufgeführt werden, welche möglichen Vetospieler dem Präsident gegenüber stehen, wie sie auf das Handeln des Präsidenten einwirken können und inwiefern sich deren Positionen, seitdem die AKP in der Türkei regiert, verändert haben. Die Frage, ob sich die Türkei in Richtung eines Superpräsidentialismus bewegt, wird wohl im Rahmen dieser Arbeit nicht abschließend zu beantworten sein. Trotzdem soll ein erster Überblick über die möglichen Anknüpfungspunkte für eine tiefergehende Beschäftigung mit dem türkischen Regierungssystem gegeben werden. Ganz explizit möchte ich mit dieser Arbeit aber keine normative Aussagen treffen über den Grad an Modernisierung oder Demokratisierung in der Türkei.7 2 Vergleichende Regierungsforschung Das Regierungssystem umfasst im Anschluss an die Definition von Jürgen Hartmann in seinem Lehrbuch „Westliche Regierungssysteme“ die „Gesamtheit aller Institutionen der 6 7 Dies soll in dem Bewusstsein geschehen, dass diese Kategorien der westlichen Forschungstradition ent stammen. Diese Kategorien stellen den Ausgangspunkt meiner Beschäftigung mit dieser Materie dar. Gleichzeitig werden sie aber unter dem Anspruch der Reflexivität und Selbst-Kritik (Vgl.„r eflexivity and criticality“ in Behr; Roesch, 2010: 87) gegenüber dem eigenen Forschungshandeln angewendet, sodass die Offenheit besteht, die Kategorien im Forschungsprozess, wenn notwendig, auf den besonderen Fall Türkei anzupassen. In meiner Recherche bin ich leider viel zu oft, vor allem auch im Diskurs über eine mögliche Aufnahme der Türkei in die Europäische Union, auf wertende Aussagen in der politikwissenschaftlichen Literatur gestoßen. Meines Erachtens wird in diesem Diskurs der Anspruch, dass bei der Betrachtung nicht genuin westlicher Systeme die historische Gewachsenheit und die eigenen kulturelle Prozesse der jeweiligen Kultur beachtet werden sollen (Behr; Roesch 2010: 76f), nicht immr entsprochen. Das erscheint verständlich, da ja über die Aufnahme in die westliche Wertegemeinschaft entschieden werden muss. Gleichzeitig beinhaltet dies aber in manchen Fällen meines Erachtens auch eine gewisse Arroganz, da dies oft einher geht mit einer normativen Aussage bezüglich des größeren Wertes von echten Demokratien. politischen Willensbildung (Wahlen, Abstimmungen), der politischen Entscheidung (Gesetzgebung, Regierung) und der Vorbereitung und Anwendung solcher Entscheidungen (Verwaltung, Gerichtsbarkeit)“ (2011: 16). Unterscheiden lässt sich dabei nach Steffani das 'enge' und das 'weite' Regierungssystem. Ersteres umfasst die „exekutiven und legislativen Staatsfunktionen: Staatsoberhaupt, Regierung und Parlament“ (Steffani 1997 zitiert nach Croissant 2010: S.118). Das 'weite' Regierungssystem beinhalte außerdem die Gerichte, die Verwaltung, das Wahlsystem, die Parteien, Interessengruppen und Medien. (Ebd.) Die klassische Regierungsforschung unterscheidet aufbauend auf die Typologisierung von Steffani das parlamentarische und das präsidentielle Regierungssystem. Als prototypisch für die beiden Systeme stehen Großbritannien (parlamentarisch) und die USA (präsidentiell). Als dritter Systemtypus tritt dazu noch das semi-präsidentielle System (V. Republik Frankreich). Beim Vergleich verschiedener Regierungssysteme, so fordert Croissant, darf die Politikwissenschaft aber nicht bei der Betrachtung der Institutionen als „isolierte Faktoren“ (2010: S.136) stehen bleiben, sondern müsse diese in Beziehung setzen mit „Akteurskonstellationen, Handlungspräferenzen und Handlungsoptionen der Akteure“. (Ebd.) Dieser Ansatz Croissants lässt sich dem neuen Institutionalismus zuordnen. Dabei deckt er sich mit der Forderung von Lauth, der in seinem Beitrag „Regierungssysteme und Demokratietypen“ im „Handbuch für Regierungsforschung“ von Korte und Grunden fordert, auch „informelle Faktoren“ (2013: 115) in die Analyse von Regierungssystemen einzubeziehen. Dazu gehören bei ihm sowohl „informelle Institutionen“ 8 (Ebd.) als auch „Handlungspraktiken“9 (Ebd.) im politischen Tagesgeschehen. Im Folgenden werden Regierungssystemen aus daher der sowohl klassischen die entscheidenden Regierungslehre Merkmale aufgeführt, als von auch Möglichkeiten vorgestellt, um informelle Institutionen und Handlungspraktiken in die Analyse zu integrieren – insbesondere der Vetospieleransatz nach George Tsebelis. 10 Die 8 9 10 Institutionen definiert er im Rückgriff auf Douglass North als „verbindliche Regeln [...] die Verhalten prägen und Erwartungen strukturieren“ die damit „Handlung ermöglichen“ aber auch sanktionieren. (Lauth: 2013: 115) „Praktiken sind routinisierte Handlungsmuster, die sich auf allen Ebenen politischen Handelns finden und maßgeblich den Handlungskorridor prägen, den die institutionelle Regelwelt offen lässt.“ Allerdings herrschen bezüglich der Praktiken keine Sanktionsmechanismen und sie sind „formloser“(Lauth 2013: 115). Die Unterscheidung von Mehrheits- und Konsensusdemokratie nach Lijphart wird dabei nicht einbezogen, da die Kürze der Zeit eine ausreichende Beschäftigung mit der an Lijpharts Ansatz geäußerter klassischen und die neuen Ansätze eint dabei, so Croissant, die Grundannahme, dass „Handlungspräferenzen der politischen Akteure nur verstanden werden können im Kontext institutionell generierter Anreize und institutionell, verfügbarer Optionen, die die Wahlhandlungen der relevanten Akteure strukturieren“. (2010: 118) 2.1 Typologisierung von Regierungssystemen in der klassische Regierungslehre Grundlegendes Kriterium für die Unterscheidung von Regierungssystemen ist die Ausgestaltung der Gewaltenteilung in einem Regierungssystem, die sich, so Hartmann, in der Verfassung11 des jeweiligen Landes niederschlägt.(Hartmann 2011: 17f) Insbesondere das Verhältnis zwischen der Legislative (Parlament) und der Exekutive (Regierung), also die horizontale Gewaltenteilung, ist für die Bewertung ein grundlegendes Kriterium. 12 (Hartmann 2011: 43) Im präsidentiellen System herrscht dabei das Prinzip der „Gewaltentrennung“ (Hartmann 2011: 18): die beiden Gewalten stehen auf der selben Legitimationsbasis (direkte Wahl) und müssen einen Konsens erreichen, um sich nicht gegenseitig zu blockieren. Im parlamentarischen System hingegen, wird von „Gewaltenverschränkung“ (Hartmann 2011: 18) gesprochen: Die Gewalten sind so eng miteinander verknüpft, dass ein Teil der Legislative (Regierungsmehrheit) verbindlich mit der Exekutive kooperiert. Damit solle, so Hartmann „Machtmissbrauch und Machthäufung bei einem Staatsorgan“ (Hartmann 2011: 43) verhindert werden. Der Fraktionsdisziplin kommt hier eine entscheidende Rolle zu. Die Handlungsfähigkeit der Regierung wird durch das Votum der Wähler hergestellt. (Hartmann 2011: 43) Das semi-präsidentielle Regierungssystem stellt eine Mischform zwischen den beiden anderen Systemen dar. Seine Besonderheiten sollen daher im Anschluss an die Ausführungen zu den Unterscheidungsmerkmalen parlamentarischer Das und präsidentieller Systeme dargestellt werden. primäre Merkmal zur Unterscheidung ist nach Steffani die „Abberufbarkeit der Regierung“. (Steffani 1979: 39) Wenn die Regierung vom Parlament abberufen werden 11 12 Kritik (Croissant 2010: 130ff) nicht zulassen würde. Dies umfasst in seinem Verständnis die „formelle“ und die „materielle“ Verfassung, sowie die unterschiedlichen „Verfassungskonventionen“ also die „politischen Bräuche“, die das alltägliche politische Handeln mitgestalten. (Vgl. Hartmann 2011: 16f) Die institutionelle Grundsstruktur, so Steffani, beeinflusse maßgeblich das Verhalten der Parteien, die „im Zentrum des politischen Prozesses stehen“. (Steffani 1979: 37) kann, so ist diese existenziell vom Parlament abhängig. Dann handelt es sich um ein parlamentarisches System. Kann die Exekutive nicht vom Parlament abberufen werden, handelt es sich, so Steffani, um ein präsidentielles Regierungssystem. 13 (Steffani 1979: 39) Weitere sogenannte „supplementäre Merkmale“ (Steffani 1979: 45) sind das „Recht der Parlamentsauflösung“ (Ebd.), das „Kompatibilitätsverbot“ (Croissant 2010: S.120), die „Rücktrittsverpflichtung der gesamten Regierung“ (Ebd.) und die „Fraktionsdisziplin“ (Ebd.). Das Recht der Parlamentsauflösung bedeutet, dass nicht nur die Legislative die Exekutive abberufen kann, sondern das umgekehrt auch die Regierung das Recht besitzt, das Parlament aufzulösen. Dieses Recht ist in präsidentiellen Systemen nicht gegeben, aber auch nicht in allen parlamentarischen Systemen vorhanden. (Hartmann 2011: 23) Das Kompatibilitätsverbot besagt, dass ein Regierungsamt und das Parlamentsmandat nicht miteinander kompatibel sind. Dies ist im präsidentiellen System der Fall. 14 Im parlamentarischen System kann sich die Mitgliedschaft in Legislative und Exekutive überschneiden, es ist sogar politisch notwendig. (Hartmann 2011: 24) Die Fraktionsdisziplin ist in dem Sinne keine verfassungsrechtlich festgeschriebene Verpflichtung. Jedoch bedarf es ihrer als informelle Institution, damit sich die Regierung in einem parlamentarischen System ihrer Mehrheit sicher sein kann. Sobald die Fraktionsdisziplin so stark erschüttert ist, dass die Fraktion der Regierung ihre Gefolgschaft versagt, steht die Legitimation der Regierung an sich in Frage. Im präsidentiellen System herrscht keine Fraktionsdisziplin. Hier wird eher mittels ad hoc Mehrheiten regiert. (Hartmann 2011:22) Auch die Beschaffenheit der Exekutive ist von Belang, wenn auch nicht definitorisch entscheidend. Hier werden die doppelte und geschlossene Exekutive unterschieden. In der geschlossenen Exekutive werden Regierungs- und Repräsentativfunktionen in einer Person vereint, so zum Beispiel im Präsident von Amerika. Die Legislative hat hier „keinen oder nur bestätigenden Einfluss auf die Zusammensetzung der Regierung“. (Steffani 1997 zitiert nach Croissant 2010: 119) In der doppelten Exekutive übernimmt ein „Kollegialorgan“ (Hartmann 2011: 21) die Regierungsfunktion, während die Repräsentativfunktion von dem Staatsoberhaupt übernommen wird. Dadurch ist dieses, so Hartmann, von „der Alltagspolitik recht weit 13 14 Bei Steffani ist diese dichotome Unterscheidung sehr strikt festgelegt. Mehr und weniger harte Kriterien finden sich bei Beyme. (Hartmann 2011: 20) Die Unvereinbarkeit bedeute, so Hartmann, ein „Karriererisiko“ für die Mitglieder, wenn die Regierung nicht erfolgreich ist. Sie zahlen ihr Parlamentmandat als „Preis“. (Hartmann 2011: 24) entrückt“ (Ebd.) Unterscheidungsmerkmale, die zwar einen Einfluss haben können auf die Machtverteilung in einem Regierungssystem aber, so Hartmann, für die Unterscheidung von präsidentiellen und parlamentarischen Systemen nicht von Belang sind (Hartmann 2011: 24) sind die Kammeranzahl des Parlaments (Ein- oder Zweikammer Parlament), der Staatsaufbau (zentralistisch/föderal) und ob es ein Verfassungsgericht gibt oder nicht. (Hartmann 2011: 24). Keine Beachtung findet bei Steffani, so Croissant, der Aspekt der „Regierungsbestellung“ (Croissant 2010: 121), also die Frage, wer die Exekutive bestimmt und wie sie in ihr Amt gelangt. Hier lassen sich die Direktwahl und die Bestimmung durch das Parlament unterscheiden. Der Direktwahl wird dabei eine höhere Legitimationsbasis durch das Volk zugesprochen. Systeme, die bezüglich dieses Kriteriums zwei unterschiedliche Ausprägungen in sich vereinen - also wo „ein (direkt gewählter) Staatspräsident exekutive und legislative Kompetenzen besitzt, diese aber mit einem vom Vertrauen des Parlaments abhängigen Regierungschef“ (Croissant 2010: 121) teilt - lassen sich in die Typologisierung von Steffani besonders schwer einordnen, weswegen die Unterscheidung eines weiteren Systemtypus durchaus Sinn macht. 2.2 Das semi-präsidentielle15 System Im semi-präsidentiellen System, das auch als „parlamentarisches System mit Präsidialdominanz“ (Steffani 1997 zitiert nach Hartmann 2011: 21) bezeichnet wird, besetzt der Präsident die oberste Stelle in der Exekutive. Er wird direkt gewählt (Direktwahl des Präsidenten) und hat dadurch gegenüber der restlichen Regierung eine „originäre Machtposition“ (Holtmann 2000 zitiert nach Hartmann 2011: 21), da sein Amt als „Ausdruck der Volkssouveränität“ (Ebd.) gilt. Das Präsidentenamt hat außenpolitisch „weitreichende Kompetenzen“ (Steffani 1997 zitiert nach Hartmann 2011: 21) und hat auch innenpolitisch an „Regierungsbildung und Gesetzgebung“ (Ebd.) teil. („quite considerable powers“ (Duverger 1980 zitiert nach Croissant 2010: 121)) Regierungsaufgaben liegen also Die in diesem Systemtypus zum Teil in der Hand des Regierungschefs, zum Teil beim Präsidenten. (Ebd.) Die Regierung, bestehend aus Premierminister und die Ministerregierung, steht dem Präsidenten gegenüber und ist 15 Als Begriff eingeführt von Maurice Duverger (Vgl. Croissant 2010: 121) sowohl von ihm als auch vom Parlament abhängig. (Premierminister und Ministerregierung vs. Präsident) Wenn diese zwei Akteure widersprüchliche Positionen vertreten, ist eine Blockade der Regierung sehr wahrscheinlich. (Ebd.) Die Regierungsmehrheit im Parlament muss nicht zwangsläufig hinter dem Präsidenten stehen, eine Unterstützung seiner Politik stärkt aber die Position das Präsidenten gegenüber dem Regierungschef. Hartmann führt diesbezüglich den Begriff der „Präsidentenpartei“ (Hartmann 2011: 23) ein: „Der Präsident braucht eine Partei, die sich ihm unterordnet. Steht diese Partei in der Opposition, verflüchtigt sich die Besonderheit des semipräsidentiellen Systems.“ (Ebd.) Um das sehr wenig ausdifferenzierte Kriterium quite considerable powers besser bemessen zu können, stellten Shugart und Carey zwei Kriterien zur Differenzierung unterschiedlicher Arten von semi-präsidentiellen Systeme auf: „(1) die Autorität des Präsidenten über das Kabinett sowie (2) die Trennung von Parlament und Kabinett“ (Croissant 2010: 122). Unter diesen Kriterien entwickeln sie fünf Kategorien von semi-präsidentiellen Systemen Hier sollen nur das „präsident-parlamentarische“ (Croissant 2010: 123) System Erwähnung finden, da in diese Kategorie das russische System eingeordnet wird. Merkmale sind nach Croissant eine „duale Exekutive mit (quasi-)direkt gewähltem Staatspräsidenten sowie einem vom Präsidenten nach eigenem Gutdünken ernannten Premierminister. Regierungschef und Kabinett sind vom Vertrauen des Präsidenten und der Legislative abhängig. Sie kann den Premier (auch gegen den Willen des Staatspräsidenten) abberufen.“ (Ebd.) Die Kompetenzen16 der Präsidenten in diesem System seien, so Croissant, oft umfassender als in präsidentiellen Systemen. 2.2.1 Sonderfall Superpräsidentialismus Viele der heutigen politischen Systeme lassen sich als semi-präsidentielle Systeme einordnen. Vor allem in der Nachfolgestaaten der UdSSR hat er Anwendung gefunden. Eine 16 Als Kompetenzen zählen nach Shugart und Carey in Bezug auf das Parlament „(1) das Vetorecht gegen verabschiedete Gesetze als Ganzes oder (2) gegen einzelne Bestimmungen; (3) das Gesetzesinitiativrecht; (4) das Recht zur Einbringung des Haushaltsentwurfs; (5) die Referendumsinitative; (6) die Dekretautorität. Die Vollmachten des Präsidenten über das Kabinett umfassen (1) das Recht der Regierungsbildung und (2) zur Abberufung der Regierung; (3) das Recht zur Parlamentsauflösung sowie (4) das Fehlen oder die Einschränkung des parlamentarischen Misstrauensvotums.“ (Croissant 2010: 123) besondere Ausprägung habe er dabei in Russland, der Ukraine (bis 2005) und Weißrussland gefunden, so Lauth. (2013: 124) Die Kompetenzen der Präsidenten wurden hier soweit ausgebaut, dass die Legislative nicht mehr als gewaltbeschränkender Faktor gelten kann. Es handele sich hierbei nach Rüb um die „autoritäre Form [eines] exzessiven Exekutionalismus“. (Rüb 2007 zitiert nach Lauth 2013: 124) Dies sei vor allem der Fall, wenn der Präsident auch die wichtigen Stellen in einflussreichen politischen Institutionen (Justiz, Verfassungsgericht, Zentralbank) besetze. (Rüb 2007 zitiert nach Lauth 2013: 124 ) Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass Präsidenten exzessiv Befugnisse in ihrer Hand bündeln, sind umso höher, „je schwächer strukturiert das Parteiensystem und je unterentwickelter das System verbandlich organisierter Interessengruppen ist“. Sind diese beiden Gruppen wenig einflussreich, entsteht ein Machtvakuum, „das populistische Bestrebungen gewählter Präsidenten fördert“. Die Bewertung dieses Phänomens hänge von der jeweiligen (Zivil-)Gesellschaft sowie ihrer politischen Kultur ab“ (Merkel; Croissant 2000 zitiert nach Croissant 2010: 126) Gerade im Falle Russlands, so Lauth, habe sich aber gezeigt, dass vor allem auch informelle Institutionen eine große Rolle spielen: Die Macht Putins hing nicht an seinem Präsidentenamt, sondern war auch in der Regierungszeit von Medvedev ungebrochen. (Lauth 2013: 125) 2.3 Vetospieleransatz nach George Tsebelis Vetospieler sind nach George Tsebelis die „individuellen und kollektiven Akteure in einem politischen System, deren aktive Zustimmung notwendig ist für einen Politikwechsel, d. h. für die Veränderung des policy-Status quo“. (Croissant 2010: 132) Sie entscheiden also darüber, ob in einem politischen System Wandel stattfindet oder nicht. Die Wahrscheinlichkeit für Veränderung steigt, so Croissant, „(1) je geringer die Zahl der Spieler; (2) je größer die programmatische Nähe der Vetospieler und (3) je kohäsiver oder homogener sie sind“. (Croissant 2010: ??) Im Anschluss an Tsebelis werden dabei „institutionelle“ und „parteipolitische Vetospieler“ (Tsebelis 1995 zitiert nach Croissant 2010: 132) unterschieden. Erstere seien durch die Verfassung festgelegt, zweitere „konstituieren sich im politischen Prozess“. (Croissant 2010: 132) Über die institutionellen Vetospieler entscheide dabei „der Typ des Regierungssystems (präsidentiell oder parlamentarisch), der Parlamentstyp (Ein- oder Zweikammersystem), die verfassungsrechtliche Kompetenzausstattung von Präsidenten, das Gerichtswesen und die Formen der judicial review sowie der Staatsaufbau (föderal oder unitarisch)“. (Croissant 2010: 133) Als strukturelle Variablen lassen sich das „Wahlsystem, Regierungssystem, Regeln zum Ablauf des Gesetzgebungsprozesses (Agendasetzungsprivileg!), [die] cleavage-Struktur einer Gesellschaft [und] die Einbindung des politischen Regimes in regionale und internationale Entscheidungsstrukturen“ (Ebd.) identifizieren. Zusätzlich zu den Vetospielern sollte, so Tsebelis, in die Analyse einbezogen werden, wer die Macht im politischen Agendasetzungsprozess inne hat, wie groß die „Distanz zwischen wechselnden Regierungen“ und wie lang die jeweilige Regierung im Amt ist. (Tsebelis 2009 zitiert nach Croissant 2010: 133) Wenn die Standpunkte von zwei Vetospielern übereinstimmen, sind sie nur als ein Vetospieler zu zählen („Absorptionsregel“), da sie sich ja nicht mehr gegenseitig hemmen.17 3 Der Präsident in der Türkei 3.1 Das Amt des Präsidenten in der türkischen Verfassung Die Kompetenzen des türkischen Präsidenten sind in Artikel 104 der Verfassung geregelt. Der Präsident gilt als unparteiisch und darf daher nicht Mitglied des Parlamentes oder einer Partei sein. Seit einer Verfassungsänderung im Jahr 2007 wird er in einer Direktwahl für eine Amtszeit von fünf Jahren bestimmt. Als legislative Kompetenz hält er ein „suspensives Vetorecht“. (Rumpf; Steinbach 2010: 1060) Er kann also prüfen, ob Gesetze verfassungsgemäß sind und diese, wenn er an der Verfassungsmäßigkeit zweifelt, zurückweisen. Das Parlament kann das Gesetz trotzdem unverändert beschließen, der Präsident hat aber die Möglichkeit einer Anfechtungsklage vor dem Verfassungsgericht. (Ebd.) Im Ministerrat kann er den Vorsitz einnehmen, kann aber dessen Tagesordnung nicht festlegen. „Rechtsverordnungen mit Gesetzeskraft“ werden gemeinsam von Präsident und Ministerrat beschlossen. Sonst hat er die Handlungsoption durch Beschlüsse, unterstützt vom „Präsidialamt und dem Generalsekretariat“ (Rumpf; Steinbach 2010: 1061). Rumpf und Steinbach betonen diesbezüglich auch die Wichtigkeit einer weiteren 17 Vgl. „Absorptionsregel“ (Croissant 2010: 133) Institution: des „Staatskontrollrates“ (Ebd.), der die Arbeit aller Behörden, der Exekutive sowie der mit der Exekutive verbundenen „Körperschaften“ (Ebd.) (z.B. Universitäten, Wirtschaftsunternehmen). Er ermögliche dem Präsidenten den Zugang zu „Informationen aus der Exekutive“ ohne darauf auf die Bürokratie zurückgreifen zu müssen. Der Rechtsweg gegen „Anordnungen und Beschlüsse des Präsidenten“ ist ausgeschlossen. Er kann aber mit einem Beschluss von 75% der Abgeordneten des Landesverrats angeklagt werden. Der Präsident ernennt den Ministerpräsidenten und auf Vorschlag dessen auch die Minister. Der Ministerrat bedarf des Vertrauens der Nationalversammlung. Wenn diese dem Ministerrat das Vertrauen entzieht und innerhalb von 45 Tagen keine Aufstellung eines neuen Ministerrates gelingt, kann der Präsident die Nationalversammlung auflösen. Der Präsident bestimmt 14 der 17 Verfassungsrichter. Vier davon vollkommen unabhängig, die anderen aus Kandidatenlisten, die von verschiedenen Institutionen (z.B. oberste Gerichtshöfe, Hochschulrat) vorgegeben werden. Die restlichen drei werden vom Parlament gewählt. Der Präsident hat den Oberbefehl über die Streitkräfte im Namen der Nationalversammlung inne und ernennt auf Vorschlag des Ministerrates den Generalstabschef (Art.117). Für Auslandseinsätze bedarf er der Zustimmung des Parlamentes. Außerdem hat er das Recht Referenden für die Änderung der Verfassung durchzuführen. Durch die umfangreichen Kompetenzen des türkischen Präsidenten wurde in der türkischen Verfassungsrechtslehre teilweise auch diskutiert, ob es sich bei der Türkei um ein Präsidialsystem handele. (Rumpf; Steinbach 2010: 1059) Schon in älteren Quellen über das politische System der Türkei heißt es zum Amt des Präsidenten: „Charakteristisch für die Verfassung ist die starke Stellung des Staatspräsidenten. In seiner Hand konzentriert sich die Macht – symbolisch und tatsächlich. […] [Ihm wird] umfangreiche legislative und exekutive Gewalt eingeräumt. Als Teil seiner exekutiven Funktion kann er Neuwahlen ansetzen, den Ministerpräsidenten ernennen und den Ministerrat sowie den Nationalen Sicherheitsrat einberufen.“ (Steinbach 1994: 287) Der Kompetenzkatalog des Präsidenten wurde allerdings von den letzten Amtsinhabern nicht vollkommen ausgenutzt. Die doppelte Exekutive wurde eher, wie auf Seite 5 beschrieben, in dem Sinne wahrgenommen, dass der Präsident die Repräsentativfunktion und der Regierungschef die Regierungsfunktion übernahmen. Der Präsident, so Rumpf und Steinbach, wurde hier nicht als „eigene politische Kraft mit eigenem gewichtigen Anteil an der Ausübung von Herrschaftsgewalt begriffen, sondern als ein Faktor des Ausgleichs im Spiel der Gewalten.“ (Rumpf; Steinbach 2010: 1060) 3.3 Mögliche Vetospieler in der Türkei Im institutionellen System der Türkei kommen als Vetospieler vor allem das Verfassungsgericht und das Parlament in Frage. Da im Parlament derzeit die AKP die absolute Mehrheit stellt und der aktuelle Präsident Erdoğan bis zu seinem Wechsel in das Präsidialamt der Vorsitzende der AKP war, soll das Parlament im Folgenden vor allem unter dem Stichwort „Parteien“ betrachtet werden. Der „maßgebliche[...] Vetospieler“, der die politischen Entscheidungen mit beeinflusst, ist nach Hasan Kaygısız (Kaygısız 2010: 104) im türkischen System aber das Militär. Als weiteren großen Einflussfaktor bezeichnet Kaygısız den sunnitischen Islam. (Kaygısız 2010: 99) Da das Programm von Erdoğan aber erklärt islamisch-konservativ ist, soll die Religion nicht als mögliche Vetomacht gewertet werden.18 Die Zivilgesellschaft habe, so Kaygısız, nach Ansicht der „Staatselite nicht den gesellschaftlichen Auftrag, Forderungen der Gesellschaft an den Staat zu übermitteln, sondern sie sollen umgekehrt lediglich die Forderungen des Staates an die Gesellschaft umsetzen“. (Kaygısız 2010: 178) Sie sei in der Türkei sehr schwach und wenig organisiert.19 Auch die Zivilgesellschaft soll daher als Vetospieler nicht einbezogen werden. Die die öffentliche Meinung prägenden Medien sollen außerdem von der Analyse ausgeschlossen werden. Durch die mangelnde Pressefreiheit und die finanzielle Abhängigkeit der Medien-Mischkonzerne von der Regierungspartei AKP, ist von ihnen kaum eine kritische Berichterstattung zu erwarten. 18 19 Die Betrachtung der unterschiedlichen religiösen Strömungen, insbesondere die Fokussierung der Gülen Bewegung, könnten zwar durchaus interessante Ergebnisse liefern, würden aber den Umfang dieser Hausarbeit sprengen. Eine vertiefte Betrachtung insbesondere der Gezi-Protestbewegung könnte hier womöglich weitere Erkenntnisse bringen. Da diese den Erfolg der AKP letztendlich aber keinen Abbruch getan haben, sollen sie hier nicht als Vetospieler behandelt werden. 3.3.1 Militär Das Militär spielt traditionell eine entscheidende Rolle im Machtgefüge der Türkei. Es sieht sich selbst als die Instanz, die die Grundsätze des Kemalismus - „türkischer Nationalismus, restriktiver Laizismus und eine Orientierung am westlichen Lebensstil“ (Akbulut 2013: 202) verteidigt und deren Umsetzung im türkischen Staat überwacht. Zur Sicherung dieser Grundsätze und Wiederherstellung der 'richtigen' Ordnung putschte das Militär mehrere Male in der türkischen Geschichte. In den letzten vierzehn Jahren hat das Militär im Rahmen des Reformprozesses beträchtlich an Macht verloren. So wurden von 2001 - 2004 „strukturelle Reformen“ (Akbulut 2013: 218) durchgeführt. Seitdem sind zum Beispiel im Millî Güvenlik Kurulu (dem Nationalen Sicherheitsrat) die zivilen Mitglieder in der Überzahl, seine Entscheidungen sind nicht mehr bindend, er setzt den Ministerrat lediglich davon in Kenntnis. Auch mit der Überwachung der Durchsetzung der Beschlüsse ist er nicht mehr betraut und er hat keinen „automatischen [...] Zugriff mehr auf Dokumente staatlicher und ziviler Institutionen“. (Akbulut 2013: 207). In den folgenden Jahren kam es durch „Enthüllungen, Ermittlungen und Gerichtsfälle“(Akbulut 2013: 218) zu einem „Macht-, Einfluss- und Imageverlust“ (Ebd.) des Militärs. Bis 2010 ware es aber nicht möglich, die Militärs vor einem Zivilgericht zu verklagen. Mit einem Referendum zur Verfassungsänderung wurde aber deren Immunität aufgehoben, was zu mehreren Prozessen führte.20 (Ebd.) Das Militär selbst sieht sich aber weiterhin als „Teil eines türkischen Modells von Checks and Balances“ (Akbulut 2013: 218), dessen Entmachtung zur Abkehr von der kemalistischen Tradition führen würde. Dies werde von einem Teil der Bevölkerung durchaus kritisch gesehen, da das kemalistische Staats- und Gesellschaftsverständnis immer noch eine wichtige Rolle spielt. Das Militär, so Kaygısız, wird von einem Teil der Staatselite (Justiz und Sicherheitsapparat) gestützt. So gibt es im türkischen Staatsapparat „Geheimstrukturen“, die die traditionellen Machtstrukturen schützen und beibehalten wollen, im Türkischen „tiefer Staat“21 (Przewieslik 2005 zitiert nach Kaygısız 2010: 99) genannt. Die Entmachtung dieser alten Eliten und die Auflösung der Dominanz 20 21 Besonders prominent ist dabei der Fall der mutmaßlichen Organisation Ergenekon, in dessen Rahmen auch der ehemalige Generalstabschef Başbuğ angeklagt ist. Ergenekon wird dabei verdächtigt mehrere Anschläge ausgeführt und einen Putschversuch geplant zu haben. (Akbulut 2013: 210ff) „derin devlet“ des Militärs hat Erdoğan schon seit Gründung der AKP unter dem Stichwort der Demokratisierung zu seinem Ziel erklärt22. Da einer der Grundsätze des Kemalismus der Laizismus, also die strikte Trennung von Staat und Religion, ist, sehen die alten Eliten aber wiederum die erklärt religiöse AKP kritisch. Im Dezember 2013 kam es zu einem Schlagabtausch dieser beiden divergierenden Teile der Staatselite23: Gegen mehrere Söhne von Ministern der Erdoğan Regierung wurde mit dem Verdacht der Korruption ermittelt und diese in Untersuchungshaft genommen. Erdoğan wertete dies als Angriff auf seine Regierung. In der Folge kam es zu Amtsenthebungen und Versetzungen innerhalb der Polizei und einer Umbildung des Ministerrates. Wie die sich die „zivil-militärischen Beziehungen“ in Zukunft gestalten und wer dabei die Oberhand gewinne, sei aber nicht zuletzt davon abhängig, wie die neue Verfassung gestaltet sein wird.(Akbulut 2013: 218) 3.3.2 Parteien Die Türkei war bis ins Jahr 1946 ein Einparteiensystem und wurde dann zu einem Zweiparteiensystem. Erst seit 1960 lässt es sich als Mehrparteiensystem bezeichnen. Durch die Zehn-Prozent-Hürde zum Eintritt in das Parlament ist es aber immer wieder zu Parlamenten gekommen, die nur aus zwei Parteien bestehen.24 Besonders mächtig sind in den türkischen Parteien die Parteiführer. Ihnen steht beispielsweise das Recht zu, die Abgeordnetenlisten für die Wahlen aufzustellen. Dadurch bleibt die Macht in ihren Händen und junge, vielleicht manchmal kritische, Politiker kommen nicht zum Zug, was zu innerparteilichen Konflikten führt. (Yoldaş 2013: 231) Das „Gesetz über die politischen Parteien“ bindet die Mitglieder der Parteien stark an die jeweiligen Parteiführer. Es umfasst eine „unbegrenzte Amtszeit des Generalsekretärs der Partei“, der Parteimitglieder willkürlich ausschließen, hohe Provinz- und Bezirksverwalter absetzen und die Abgeordneten Listen bestimmen kann. 22 23 24 (Sarlak; Giannakopoulos 2013: 247f) „Dieses Dafür steht auch der Name der Partei, die im türkischen auch 'ak parti' gennant wird. 'Ak' bedeutet 'rein, weiß', ist also frei von den Verstrickungen, die sonst im Staatsapparat herrschen. http://www.tagesschau.de/ausland/chronologie-tuerkei100.html Stand: 2014-09-08 Zuletzt im Jahr 2002, wo die AKP mit einem Überraschungssieg fast zwei Drittel der Plätze im Parlament besetzen konnte. Yoldaş spricht diesbezüglich von einer „intensive Polarisierung“ (2013: 228) Schema, bekannt als „Führer Oligarchie“, betrifft alle politischen Parteien“ (Sarlak; Giannakopoulos 2013: 248) Die Parteien haben insgesamt wenige Mitglieder und Parteimitglieder und Abgeordnete wenig Einfluss auf die Inhalte. „Die Funktion der Abgeordneten bleibt in dieser Konstellation beschränkt und besteht hauptsächlich darin, den Finger zu heben, wenn der Vorsitzende zur Abstimmung auffordert und dann nach Wunsch des Vorsitzenden mit „Ja“ oder „Nein“ zu stimmen.“ (Sarlak; Giannakopoulos 2013: 248) Dabei würden die Abgeordneten manchmal noch nicht einmal die Inhalte kennen. Die parlamentarisch Ordnung stütze dies noch, indem „Abwägungszeiträume für Gesetze“ verkürzt wurden, die Anzahl der Redner zu einem Gesetzesentwurf verringert und die Zeit zur Formulierung von Vorschlägen verkürzt wurde. Die Führungsrige der Parteien die „politischen Eliten“ versuchen mit aller Macht, so Yoldaş im Anschluss an Heper, im Amt zu bleiben „auch wenn ihre Amtszeit bereits überschritten ist“ (Heper 2008 zitiert nach Yoldaş 2013: 230) So sei es auch bei Erdoğan der Fall gewesen: damit er noch ein drittes Mal als Parteivorsitzender kandidieren konnte, wurde zum Beispiel eigens §24 der Parteisatzung der AKP geändert, die nun eine dreimalige Wahl erlaubt. (Yoldaş 2013: 231) Dies dazu, dass Wandel innerhalb der Parteien nur sehr langsam stattfinde. 3.3.3 Verfassungsgericht In der Türkei gibt erst seit 1962 (Platter; Çalışkan 2008: 833) ein Verfassungsgericht, das zunächst vor allem „seine[..] Stellung im Verfassungsgefüge“ festigen musste. Noch heute leite Kritik an den Entscheidungen des Verfassungsgerichtes immer zur „Infragestellung der Existenzberechtigung des Gerichts“. (Göztepe 2010: 699) In der Folge sah das Gericht seine Aufgabe darin, das „Rechtsstaatsprinzip zu stärken“ (Platter; Çalışkan 2008: 833) und wurde dabei manchmal zum Richter zwischen den konkurrierenden Positionen der Parteien im Parlament. (Platter; Çalışkan 2008: 833) So auch bei der Präsidentschaftswahl 2007, wo zunächst ein Eingreifen der Armee befürchtet wurde. Die Entscheidung des Verfassungsgerichtes wurde hier von allen Seiten akzeptiert und es sei bemerkenswert, so Platter und Çalışkan, dass in der konkreten politischen Krise das Verfassungsgericht zur Entscheidung angerufen wurde und ihm damit „die Rolle des Hüters der Verfassung“ (Platter; Çalışkan 2008: 833) zugesprochen wurde. Kritik wird immer wieder im Hinblick auf die Zusammensetzung des Gerichtes laut. Hier sei, so Göztepe in einer Analyse der Verfassungsreform 2010, die Unabhängigkeit der Justiz gefährdet (2010: 700). Auch nach der Reform sei „der Staatspräsident der hauptsächliche Akteur“ (Göztepe 2010: 699) in der Festlegung der Verfassungsrichter.25 Auch die Wahl der drei Verfassungsrichter im Parlament sei kritisch zu bewerten: Wenn die ersten zwei Wahlgänge scheitern, wird im dritten Wahlgang derjenige bestimmt, der „die meisten Stimmen erhält“. (Göztepe 2010: 692) Die Mehrheitspartei kann somit faktisch die Verfassungsrichter bestimmen. Die „Unparteilichkeit der Richter“ (Göztepe 2010: 699) gilt daher als gefährdet. 4 Fazit Das türkische Regierungssystem lässt sich meines Erachtens seit der Direktwahl des Präsidenten als semi-präsidentielles System einordnen. Ein Teil der doppelten Exekutive, also Ministerrat und Premierminister, kann abberufen werden, indem ihm das Vertrauen des Parlaments entzogen wird. Der Präsident ist nicht abberufbar. Er hat aber das Recht das Parlament aufzulösen, wenn die Neubildung einer Regierung mehr als 45 Tage dauert. Sein Amt ist nicht kompatibel mit einer Parteimitgliedschaft oder einem Mandat im Parlament. Die restliche Exekutive stammt aus den Reihen des Parlaments. Vertikale Gewaltenteilung ist, durch den zentralistischen Staatsaufbau und das Einkammer-System im türkischen System kaum vorhanden. Trotzdem, so der Rechtswissenschaftler Gönenç in einer Analyse des türkischen Regierungssystems, habe der türkische Präsident weniger Befugnisse als zum Beispiel der französische.26 (Gönenç 2011: 4) Wenn man nur die in der Verfassung verbrieften Befugnisse des Präsidenten betrachtet, erscheint der Fall des Superpräsidentialismus daher nicht gegeben. Bei der Betrachtung der Vetospieler des derzeitigen Präsidenten stellt sich die Situation meines Erachtens anders dar. So ist der 25 26 Siehe auch 3.1 Er kommt zu dem Schluss, dass es sich bei der Türkei um ein 'parlamentarisches System mit Präsident' (Gönenç 2011: 4) handele. Die hohe Sprengkraft dieses Systems, sei dadurch gegeben, dass der Präsident ein eigenes politisches Programm verfolge, obwohl er von der Grundstruktur des, in der türkischen Verfassung angelegten parlamentarischen Systems, als Teil der doppelten Exekutive eigentlich eher repräsentative Aufgaben übernehmen müsste. (Vgl. Gönenç 2011: 4f) Wenn die politischen Programme von Parlament und Präsident sich widersprechen, könne dies zu einer Krise führen, in der die Frage danach laut würde, wer sich mehr als Vertreter der Meinung des türkischen Volkes fühlen dürfte. Der Präsident halte dabei eigentlich weniger Kompetenzen zur tatsächlichen Umsetzung seines Programm als das Parlament, sein Amt hat allerdings durch die Direktwahl eine hohe Symbolkraft. Superpräsidentialismus gegeben, wenn die Legislative keinen gewaltbeschränkenden Faktor darstellt und der Präsident auch die wichtigen Stellen in Justiz, Verfassungsgericht und Zentralbank besetzt.27 Die Legislative besteht derzeit mehrheitlich aus der AKP. Bis zu seinem Übergang ins Präsidentenamt, war deren Parteiführer Erdoğan selbst. Durch die starke Bindung an die Parteiführer im türkischen Parteiensystem, kann davon ausgegangen werden, dass die derzeitigen Parlamentarier ihm noch sehr hörig sind. Die Bestimmung des Verfassungsgerichtes liegt zu weiten Teilen in den Händen des Präsidenten. Die Kandidaten, die vom Parlament besetzt werden, könnten im Zweifel von der Mehrheitspartei (AKP) festgelegt werden. Der Vetospieler Militär und mit ihm der tiefe Staat hat in den letzten Jahren stark an Macht verloren. Hier ist aber, gerade auch wegen der erklärten Geheimstrukturen, eine Einschätzung der Einflussmöglichkeiten als Vetospieler äußerst schwierig und bedürfte einer vertieften Betrachtung.28 Seit seinem Amtsantritt hat Erdoğan eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass er sich in seinem Amt als Präsident nicht auf die Repräsentationsfunktion beschränken und von der Alltagspolitik fernhalten wird.29 Um die Befugnisse des Präsidenten in der Verfassung zu ändern, fehlt ihm derzeit noch die notwendige Zweidrittel-Mehrheit im Parlament. Selbst wenn man derzeit in der Türkei nicht von einem 'reinen' Superpräsidentialismus sprechen kann, scheint es derzeit wenige Vetospieler zu geben, die dem türkischen Präsidenten etwas entgegensetzen können. Für eine endgültige Einordnung des Regierungssystems ist es aber von Nöten, die weiteren Entwicklungen sowohl in der Verfassungsdebatte als auch im tagespolitischen Geschehen zu beobachten. Als Ansatzpunkt zur Bewertung und Einordnung der Fortentwicklungen mag diese Arbeit dienen. 27 28 29 Teil dieser Analyse war dabei vor allem das Verfassungsgericht. Die Prüfung bzgl. der Zentralbank und der Justiz, sowie der Überprüfung weiterer Kriterien, könnten sicher zu weiterführenden Ergebnissen führen. Kaum in den Blick genommen, wurde in dieser Arbeit auch der Premierminister und der Ministerrat selbst. Dadurch, dass dieser aber erst seit etwa einem Monaten im Amt ist, war eine Aussage diesbezüglich schwierig. Die Ankündigung, dass die Türkei gegen den IS vorgehen werde, traf Erdoğan ohne dafür ein Parlamentsmandat zu haben. Er lies sich dies zwar nachträglich vom Parlament bestätigen, zur Zeit der Ankündigung hatte er diese aber nicht. 5 Literaturverzeichnis Akbulut, Hakan (2013): Zur Normalisierung in den zivil-militärischen Beziehungen in der Türkei. In: Olaf Leiße (Hg.): Die Türkei im Wandel. Innen- und außenpolitische Dynamiken. Baden-Baden. S. 199–221. 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