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Der Morgenlandfahrer Und Der Tonale Abenteurer. Neues über Scelsi Und Tosatti

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Der Morgenlandfahrer und der tonale Abenteurer Neues über Scelsi und Tosatti Johannes Menke Zehn Jahre sind seit vergangen seit dem Scelsijahr 2005, in dem der hundertjährige Geburtstag des Künstlers begangen wurde. In diesen zehn Jahren hat sich in der Scelsiforschung viel getan. Einige Aspekte könnten die Sichtweise auf diesen nach wie vor faszinierenden Komponisten nachhaltig verändern. Ein entscheidendes Ereignis für die Forschung war die lang ersehnte Öffnung des Archivs der Fondazione Isabella Scelsi im Jahr 2009. Endlich waren die legendären Tonbänder zugänglich, und man konnte beginnen, den Entstehungsprozess von Scelsis Werken zu rekonstruieren. Inzwischen liegen erste Ergebnisse vor, die man schwerlich auf einen Nenner bringen kann. Vielleicht lässt sich aber eine gewisse Tendenz beobachten. Friedrich Jaecker kommt zu folgendem Fazit: »Aber schon die Auswahl, Begrenzung und Kürzung von improvisierten Aufnahmen stellen Entscheidungen dar, die über den Improvisationsvorgang hinausgehen. Umso mehr gilt das für die Übereinanderschichtung mehrerer Tonbandaufnahmen oder die Bildung von Palindromen oder Kanons. Wenn Komponieren heißt, etwas mit etwas anderem zusammenzufügen, dann ist das zusammenfügen von Klängen auf dem Tonband Komposition mit elektroakustischen Mitteln.«1 Sowohl die Produktion der Tonbänder von seiten Scelsis als auch die Produktion der Partituren von seiten der dafür beauftragten Komponisten weisen eine eigenständige handwerkliche Durchdringung auf: Scelsis Bänder sind nicht einfach Mitschnitte spontanen Improvisierens, sondern selbst kunstvoll zusammengefügt und teilweise geschichtet, so dass man recht eigentlich von Komposition sprechen müsste, auch wenn Scelsi selbst diesen Begriff zurückzuweisen pflegte. Die Partituren wiederum weisen oft ein hohes Maß spezifisch schriftlich-konstruktiver Momente auf, weshalb der Begriff »Transkription« nicht wirklich treffend ist. Man müsste eher von einem »reworking« der Tonband-Konstruktionen sprechen, bei dem die persönliche Handschrift des Bearbeiters nicht nur wörtlich, sondern auch im übertragenen Sinne eine große Rolle spielt. Die Endprodukte, d. h. die publizierten Partituren, sind also höchst artifizielle Gebilde, denen mehrere Verarbeitungsschichten zugrundeliegen. Noch einmal Friedrich Jaecker: »Je komplexer die Klangtexturen und je raffinierter und eigenständiger deren satztechnische Realisierungen sind, um so weniger tragfähig sind die Begriffe ›Improvisation‹ und ›Transkription‹, und jeder Versuch, durch ihre Verwendung die künstlerische Bedeutung sowohl Tosattis als auch Scelsis selbst zu marginalisieren, erweist sich als unhaltbar.«2 Ohne die in der Scelsiliteratur lange Zeit tabuisierten Begriffe »Komposition« und »Satztechnik« wird künftige Forschung demnach nicht mehr auskommen. Es bleibt aber die Frage nach der Autorschaft, die so seltsam arbeitsteilig verteilt zu sein scheint, wobei erschwerend die teils konträren ästhetischen Positionen und Motivationen der beteiligten Urheber hinzukommen. Die Werke, für die Scelsi bekannt ist, datieren größtenteils aus den 50er bis 70er Jahren. Zwei Drittel der unter seinem Namen veröffentlichten Partituren seit 1956 stammen aus der Feder von Vieri Tosatti, bis 1974 sind es sogar fast 80 Prozent.3 Er ist also Scelsis wichtigster »Ghostwriter«, und die kunstvolle satztechnische, instrumentatorische und auch formal1 Friedrich Jaecker, »Improvisation« und »Transkription« im Schaffen Scelsis, in: Federico Celestini/Elfriede Reissig (Hg.), Klang und Quelle, Wien 2014, S. 103. Dieser Band dokumentiert eine internationale Tagung, die im Januar 2012 in Graz stattfand. 2 A. a. O. 3 Sandro Marrocu, Il regista e il demiurgo, Diss. Rom 2014, S. 203. strukturelle Durcharbeitung der Partituren ist zum Großteil sein Verdienst. Obwohl mit Scelsi befreundet, vertrat Tosatti ästhetisch entgegengesetzte Positionen und erledigte seine Arbeit gegen Bezahlung. Tosatti4 war ein nicht unwichtiger italienischer Komponist der Nachkriegszeit und konnte in den 50er und 60er Jahren beachtliche Erfolge verbuchen. Er tat sich auch als Literat hervor und publizierte in den 70er und 80er Jahren im Selbstverlag Erzählungen, Essays einen Roman sowie Gedichte in deutscher Sprache. Der sich in Italien immer mehr etablierenden musikalischen Avantgarde stand er kritisch gegenüber. Tosatti war ein glühender Wagnerianer, und für ihn war der Höhepunkt der musikalischen Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erreicht worden, vor allem im Schaffen des Bayreuther Meisters. Weder die traditionalistischen noch die fortschrittlichen Strömungen, so Tosatti, stellten eine wirkliche Weiterentwicklung dar, man müsse vielmehr den »Faden des tonalen Abenteuers wiederaufnehmen« (»riprendere il filo dell'aventura tonale«).5 1989, ein Jahr nach Scelsis Tod, publizierte Tosatti seine berühmt-berüchtigte Offenlegung Scelsi c'est moi6, in der er die Autorschaft von Scelsis Partituren beanspruchte und noch weitere Ghostwriter nannte. Aus vielen nach Scelsis Tod datierenden Dokumenten geht hervor, wie sehr Tosatti sich von Scelsis Äshetik distanzierte, sich für seine Arbeit geradezu schämte und sie sogar als »Unmusik« und »Unkunst« denunzierte (so in der barschen Absage einer Einladung, 1992 in Hamburg an einer Konferenz teilzunehmen).7 Als Verfasser der wahrhaft innovativen Partituren Scelsis war Tosatti ein Avantgardist wider Willen. Es bleibt dennoch schwer vorstellbar, dass Tossati nur widerwillig solch gut ausgearbeitete und bestens funktionierende Partituren hergestellt hat, die bis heute maßgeblich zu Scelsis Erfolg beitragen. Sandro Marrocu beschreibt das Zusammenwirken der beiden in seiner kürzlich erschienenen Dissertation, indem er auf Metaphern aus der Filmproduktion und der Mythologie zurückgreift: Scelsi sei der »Regisseur« bzw. »Autor«, weil er die unter seinem Namen veröffentlichten Werke initiiert, ihre ästhetische und konzeptuelle Ausrichtung festgelegt und die Verantwortung für sie übernommen habe. Tosatti hingegen sei der »Demiurg«, der die handwerkliche Realisierung besorgt habe, d.h. für den schöpferischen Akt in einem nur materiellen, aber nicht ideellen Sinn verantwortlich ist.8 Diese Beschreibung ist sicherlich zutreffend und hilfreich, denn Tosatti hätte von sich aus nie vergleichbare Partituren produziert geschweige denn unter seinem Namen publiziert. Dennoch muss es ein verbindendes Element gegeben haben, eine Schnittmenge in Hinsicht auf Musikverständnis und -geschmack, sonst hätte Scelsi niemals Tosatti beauftragt und dieser sich niemals in Scelsis Musik hineinversetzen können. Sah Tosatti womöglich sogar eine Möglichkeit, sein »tonales Abenteuer« mit Mitteln fortzusetzen, zu denen er sich selbst nie durchgerungen hätte? Tonalität in den Werken Scelsis ist ein selten angesprochenes Thema, obwohl die Bezogenheit auf einen Zentralton und die vielen tonalen Allusionen doch eigentlich Grund dazu gäben.9 (Im November dieses Jahres soll in Rom eine Konferenz zum Verhältnis Scelsi-Tosatti stattfinden; man darf auf die Ergebnisse gespannt sein.) Die wohl einzigartige Werkgenese bleibt ein Kuriosum wie auch ein Faszinosum. Inzwischen fand sogar ein Projekt statt, bei dem zeitgenössische Komponisten angehalten waren, sich zu »Demiurgen« zu machen, also die Tonbänder Scelsis auf ihre Weise zu Papier zu bringen – freilich mit einer stärkeren schöpferischen Prise versehen.10 Solche Projekte indizieren, in 4 Mehr zu Tossati unter http://www.vieritosatti.org/. Vgl. Marrocu, Il regista e il demiurgo (Anm. 3), S. 245. 6 Vieri Tosatti, Giacinto Scelsi: c'est moi, in: Il Giornale della Musica, Januar 1989°, Nr. 35, S. 1. 7 Vgl. Marrocu, Il regista e il demiurgo (Anm. 3), S. 234 8 Vgl. a. a. O., S. 189-191. 9 Da ich selbst diese Frage für zentral erachte, habe ich sie verschiedentlich thematisiert: Johannes Menke, Pax, Hofheim 2004, S. 104-123, sowie La nuova concezione della tonalità di Scelsi, in: Daniela M. Tortora (Hg.), Giacinto Scelsi nel centenario della nascita, Rom 2009, S. 55-60. 10 http://www.internationales-musikinstitut.de/09-08-2014/926-scelsi-revisited-1.html. 5 welchem Maße Scelsi heute zum Klassiker avanciert ist. Ähnlich wie beim »In nomine«Projekt des ensemble recherche ein Cantus firmus aus dem 16. Jh. gleichsam als historischer Anker dient, wird hier das scheinbar flüchtige Material der scelsianischen Tonbänder ein wiederum historisches »fundamentum relationis« gegenwärtigen Komponierens. Nicht nur was die Werkgenese, sondern auch was die Biographie betrifft, hat sich in den letzten Jahren einiges getan. Bereits 2006 erschien im Verlag Actes Sud eine französische Gesamtausgabe der Texte Scelsis11, jedoch ohne die mit Spannung erwartete Autobiographie Il sogno 101, die erst 2010 publiziert wurde.12 Schon aus den zuvor zugänglichen Andeutungen wusste man, dass Scelsis Leben, das so seltsam zwischen mondänem Dandytum, Künstlerexistenz und spiritueller Sinnsuche oszilliert, das Zeug zum Roman hat. Dieser erschien 2012 in Form von Gabriel Josipovicis Infinity – The Story of a Moment.13 Dort gibt der Erzähler das Gespräch mit einem gewissen Mr. Pavone wieder, der über sein Leben und seine Musik erzählt und seine Lebensweisheiten zum Besten gibt. 2013 schließlich erschienen die Gesammelten Schriften Scelsis inclusive der Autobiographie in einer von Friedrich Jaecker besorgten Ausgabe auf deutsch.14 Im Vergleich zu Josipovici strotzt Scelsis Autobiographie, die selbstverständlich auch nicht selbst geschrieben, sondern diktiert ist, vor Witz und Selbstironie. Scelsi erweist als höchst unterhaltsamer und schelmischer Erzähler, der alle Bereiche des Lebens auslotet. Er berichtet ca. 50 Seiten lang und nicht ohne Komik über vergebliche Therapien, wobei unklar bleibt, um welche zu therapierende Krankheit es sich eigentlich handelt. Mit Vergnügen macht er pikante Andeutungen über allerlei Leute, schwadroniert über die Schickeria von Rom und Paris und plaudert nicht ohne Stolz über seine vielfältigen Bekanntschaften mit allerlei Prominenten. Natürlich darf man nicht alle Episoden für bare Münze nehmen; über seinen Erfahrungshorizont und seine Gesinnung gibt die Autobiographie aber gewiss Auskunft. In dieser Hinsicht sollte man dieses Dokument aufmerksam studieren. Mir scheint, dass einige gängige Vorurteile und Klischees, mit denen sich Scelsi leicht etikettieren lässt (der Mystiker, der Rätselhafte, der große Unbekannte, der Außenseiter, der Fernöstliche, der Buddhist etc.), bzw. ihm ein Sonderstatus15 zugeschrieben wird, nach der Lektüre in einem etwas anderen Licht erscheinen. Ich möchte mich im Folgenden auf vier Aspekte konzentrieren 1. Musikalische Bildung. Nicht nur seine Bibliothek, sondern auch die vielen Erwähnungen von Komponisten und Werken belegen, dass Scelsi über umfassende Kenntnisse des musikalischen Repertoires verfügte, insbesondere was die Musik des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts anbelangt. Scelsi kennt die Musikgeschichte (aus der früheren Zeit werden Palestrina und Monteverdi genannt), die musikalische Moderne mit all ihren Strömungen sowie die zeitgenössische Literatur und Kunst. Einige statistische Fakten indizieren, welche Komponisten Scelsi besonders beschäftigt haben könnten. In der Autobiographie werden neben vielen anderen am häufigsten Strawinsky, Boulez, Debussy und Johann Sebastian Bach genannt. Nimmt man die anderen Schriften dazu, so stechen (erstaunlicherweise) Richard Strauss, Richard Wagner und John Cage mit besonders vielen Erwähnungen hervor. 2. Zeitgenössische Musik. Scelsi schildert seine Lehrer geradezu liebevoll: Den »gütigen« Italiener Giacinto Sallustio, einen Liebhaber Debussys, den »schönen« Balten Egon Köhler, einen Bewunderer Skrjabins und den »intellektuellen« Juden Walther Klein, der ihn mit der Zwölftontechnik Schönbergs vertraut machte. Auch wenn Scelsi zu dem Fazit kommt, es sei 11 Giacinto Scelsi, Les anges sont aoilleurs und L'homme du son, hg. v. Sharon Kanach u. Luciano Martinis, Arles 2006. 12 Giacinto Scelsi, Il sogno 101, hg. v. Alessandra Carlotta Pellegrini, Macerata 2010. 13 Gabriel Josipovici, Infinity. The Story of a Moment, Carcanet 2012, dt. Ausgabe: Unendlichkeit. Die Geschichte eines Augenblicks, Salzburg 2012. 14 Giacinto Scelsi, Die Magie des Klangs. Gesammelte Schriften, 2 Bde., hg. v. Friedrich Jaecker, Köln 2013. 15 Dies kommt u. a. in der Ansicht zum Ausdruck, Scelsis Musik sei nicht analysierbar, die zuerst von Carl Dahlhaus geäußert wurde (Der Komponist Scelsi: Entdeckung, in: Die Zeit 46, 11. November 1983, Literaturbeilage, S. 12) und seitdem immer wieder heraufbeschworen wird. besser, nicht Komposition zu studieren (28), müssen die Studienjahre doch Spuren hinterlassen haben. Wenngleich er sich nicht als »normaler« Komponist versteht, bekennt sich Scelsi doch ganz klar zur musikalischen Avantgarde: Schönbergs Pierrot lunaire und Strawinskys Sacre du printemps hätten eine Musik begründet, »die einer anderen Ästhetik und einer anderen Auffassung von Musik gehorcht.« Später bezeichnet er in Zusammenhang mit dem Dirigenten Hermann Scherchen die zeitgenössische Musik ausdrücklich als »unsere Musik« (307) und bekennt damit mehr Gruppenzugehörigkeit als man ihm zutrauen würde. Er bewundert Olivier Messiaen (»ein höchst ernsthafter und tiefgründiger Komponist« [249]), findet John Cage »reizend, stets amüsant, begabt mit einem unnachahmlichen, äußerst intelligenten, geistreichen Humor« (291) und ist gespannt auf die weitere Entwicklung des jüngeren Luigi Nono16, dem er Talent bescheinigt, dessen politischen Ambitionen er aber ablehnt (269). 3. Werke. Scelsi schweigt sich über die genaue Entstehung seiner Partituren aus, es wird aber deutlich, wie wichtig sie ihm sind. Die Autobiographie entstand noch bevor Scelsi den französischen Verlag Salabert gewinnen konnte, und der Autor zeigt sich besorgt über »das Schicksal meiner Musik« (321). Außerdem wünscht er sich, seine Werke einmal hören zu können, »um Fehler zu korrigieren« (322). In diesem Zusammenhang ist auch eine Passage über Boulez aufschlussreich. Obwohl Scelsi dessen Interpretation von Schönbergs Pierrot lunaire kritisiert, weil er das Stück zu sehr »französisiert« hätte, schätzt er ihn als Dirigenten sowie offensichtlich auch als Komponisten, insbesondere was dessen Praxis anbelangt, seine Musik in immer neuen Versionen zu optimieren. Lassen wir Scelsi kurz selbst zu Wort kommen: »Und hier muss ich etwas sagen, das mich quält: dass ich es nicht genauso machen kann! Weder verfüge ich über seine Erfahrung als Dirigent noch über seine Meisterschaft in der Orchestrierung, und außerdem kann ich viele meiner Stücke nicht hören, weil sie nicht aufgeführt werden, und darum kann ich sie auch nicht korrigieren, vervollkommnen und, sagen wir so, meine Noten nicht so ordentlich hinterlassen, wie es jeder tun sollte, bevor er aus dieser schönen Welt scheidet.« (253) Hier wird deutlich, wie sehr Scelsi am traditionellen Ideal des in der Partitur fixierten vollkommenen Meisterwerks festhält und dabei ausgerechnet Boulez – scheinbar einen ästhetischen Antipoden – beneidet. 4. Christentum. Durch die gesamte Autobiographie zieht sich die spirituelle Sinnsuche wie ein roter Faden. Scelsi war ein Anhänger von Rudolf Steiner, den er an einer Stelle ganz nietzscheanisch als »Übermenschen« bezeichnet (72), er interessiert sich für Yoga und vertieft sich in den Buddhismus. All dies ist schon lange bekannt und wird regelmäßig thematisiert. Weitgehend ausgeklammert wurde aber die stärkste und tiefste spirituelle Verwurzelung Scelsis, nämlich das Christentum, oder genauer gesagt, der Katholizismus. Von Jesus Christus und seiner Botschaft ist immer wieder die Rede, und mehrmals macht Scelsi deutlich, dass er ihm in seinem spirituellen Kosmos den obersten Rang einräumt.17 Er bejaht ausdrücklich die Frage, ob er ein Christ sei (335). Die Heiligen der katholischen Tradition beschäftigen ihn zutiefst, angefangen von Maria, über Franz von Assisi, Johannes vom Kreuz, Ignatius von Loyola bis hin zu Padre Pio, dem er persönlich begegnet war. Scelsis Haltung ist somit zwar nicht synkretistisch, repräsentiert aber ein »offenes« Christentum, das vielleicht gar nicht so weit von der Anerkennung und Wertschätzung nichtchristlicher Religionen ist, wie sie im Dokument Nostra Aetate des II. Vatikanischen Konzils zum Ausdruck kommt.18 Führt man sich vor Augen, dass ja auch einige Werke Scelsis christlich geprägt sind, muss 16 Scelsis Autobiographie stammt aller Wahrscheinlichkeit nach aus den frühen 70er Jahren (vgl. 352 f.). Etwa auf 337, wo Scelsi sagt, die Geschichte von Buddha sei nach derjenigen von Jesus Christus die bedeutendste Geschichte der Welt. 18 http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_decl_19651028_nostraaetate_ge.html 17 dies alles nicht überraschen19, verwunderlich bleibt aber, warum dieser Aspekt bis heute so selten thematisiert wird. 5. Das Morgenland. Scelsi selbst sah sich als Grenzgänger zwischen Orient und Okzident, und die Rezeption nahm dieses Selbstbild freudig und unwidersprochen auf, ohne genauer nachzuhaken, woher er sein Wissen um »den Orient« bezogen haben könnte. Inzwischen hat man damit begonnen, dieser Frage etwas genauer nachzugehen.20 Nach ausführlichen Reiseschilderungen etwa einer Indienreise sucht man in der Autobiographie vergeblich. Am meisten Eindrücke scheinen die Schweiz und Ägypten hinterlassen zu haben, mit Griechenland konnte Scelsi schon weniger anfangen. Weit mehr als das tatsächliche Indien scheint das innere Indien eine Bedeutung zu haben: »Sicher ist es ein Privileg, nach Indien reisen zu können, an die heiligen Orte, zu den großen Meistern, und einige haben auch die Möglichkeit, das zu tun; aber vergessen wir nicht, dass Indien überall ist, in uns, denn Indien steht als das Symbol für etwas Hochgeistiges, das man suchen und finden muss.« (255) Solche Passagen erinnern an Hermann Hesses fiktiven Bund der Morgenlandfahrer. In der Erzählung Die Morgenlandfahrt heißt es: »…denn unser Ziel war ja nicht nur das Morgenland, oder vielmehr: unser Morgenland war ja nicht nur ein Land und etwas Geographisches, sondern es war die Heimat und Jugend der Seele, es war das Überall und Nirgends, war das Einswerden aller Zeiten.«21 Scelsi hatte Hesse in Ascona persönlich kennengelernt (306) und die zutiefst romantische Sehnsucht nach dem inneren Orient als der eigentlichen Heimat mögen beide Künstler geteilt haben. Indien ist indes nicht erst im 20. Jahrhundert ein spirituelles Eldorado der Europäer, schon der Romantiker Friedrich Schlegel machte sich mit seiner Schrift Über die Sprache und Weisheit der Inder von 1808 – geistig – dorthin auf den Weg. Doch Scelsis Morgenlandfahrt ist nicht einfach nur fortgesetzte Romantik. Sie ist – wie bei Hesse - eine Flucht aus dem Europa des mittleren 20 Jahrhunderts, das sich durch zwei Weltkriege auch geistig selbst zu zerstören drohte. Und Scelsi bringt von seiner Morgenlandfahrt eine Vision vom kosmischen Klang zurück, die er uns gleichsam als exotische Frucht präsentiert, obwohl sie doch auf abendländischem Boden gewachsen ist. Summary Der Morgenlandfahrer und der tonale Abenteurer. Neues über Scelsi und Tosatti – Forschungen und Editionen aus den letzten zehn Jahren ermöglichen es, die Genese von Scelsis Werken sowie sein Selbstverständnis in neuem Licht zu sehen. In Bezug auf die Werkentstehung steht die Figur Vieri Tosatti im Zentrum, der die meisten Partituren erstellt hat. Nachdem klar geworden ist, dass sowohl die Produktion der Tonbänder als auch die der Partituren ein hohes Maß an teils autonomer Konstruktivität aufwiesen, bleibt die Frage, wie es möglich war, dass Tosatti, der ganz andere ästhetische Ansichten vertrat als Scelsi, solch überzeugende und innovative Ergebnisse hervorbringen konnte. Die 2013 auf deutsch erschienene Autobiographie Scelsis indes gibt nicht nur Auskunft über sein Leben, sondern auch seine Gesinnung. Von besonderem Interesse sind seine Aussagen über seine musikalische Bildung, seine Stellung zur zeitgenössischen Musik, die Sorge um seine Werke, sein Christentum und der imaginäre Orient als spiritueller Sehnsuchtsort. 19 Hierzu Johannes Menke, Aspetti cristiani nelle opere di Scelsi, in: Tortora, Giacinto Scelsi nel centenario della nascita (Anm. 10), S. 285-295. 20 So etwa Ursula Baatz, Resonanz des »weißen Unbewegten«. Die Asien-Rezeption Scelsis, in: Celestini/Reissig, Klang und Quelle (Anm. 1), S.31-48. 21 Hermann Hesse, Die Morgenlandfahrt, publiziert 1932, Berlin 201317, S. 28.