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Diskursverstrickung Und Diskursive Kämpfe – Nationalsozialismus Und Erwachsenenbildung. Methodologische Fragen Zur Analyse Diskursiver Praktiken

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Diskursverstrickung und diskursive Kämpfe – Nationalsozialismus und Erwachsenenbildung. Methodologische Fragen zur Analyse diskursiver Praktiken Überarbeiteter Vortrag auf dem Workshop „Praxis: Diskursanalyse“ an der Universität Augsburg (15.07.2005) Fragestellung Im Forschungsprojekt „DIVERS – Diskursverstrickung und diskursive Kämpfe – Erwachsenenbildung und Nationalsozialismus“ sind wir von der Beobachtung ausgegangen, dass 1933 viele Akteure der Weimarer Volksbildung die so genannte Machtergreifung durch die Nationalsozialisten begrüßt haben und einige den Nationalsozialismus als adäquaten Rahmen für ihre pädagogische Arbeit betrachteten. Dass sich in den Volksbildungszeitschriften einige Artikel mit solchen Aussagen finden, ist in der Disziplin zwar bekannt, wurde aber noch nicht systematisch und textanalytisch untersucht. Wir haben folgende Frage gestellt: Wie ist es zu dieser Zustimmung, zum Kooperationsangebot und damit zur Nähe von Nationalsozialismus und Volksbildung gekommen – und inwiefern ist es nicht oder nur scheinbar dazu gekommen? Sind die Positionierungen von 1933 aus dem in der Weimarer Republik geführten Diskurs über Volksbildung erklärbar? Inwiefern wird dieser Diskurs weiter geführt oder gebrochen? Dabei ging es uns nicht darum, Faschisten von Nicht-Faschisten zu differenzieren und auch nicht darum, die Frage nach „Kontinuität“ oder „Bruch“ der Pädagogik zu entscheiden. Wir wollten vielmehr in den Blick nehmen, was 1933 tatsächlich gesagt worden ist – in aller Vielschichtigkeit – und dabei nicht den „großen“ Bruch, sondern die vielfachen Brüche in den Auseinandersetzungen aufzeigen. Dazu schien uns die Diskursanalyse ein angemessenes Verfahren, da sie das Gesagte genau seziert und das Sprechen zugleich als eine soziale Praxis versteht, die auf gesellschaftliche Machtverhältnisse bezogen ist. DIVERS ist ein Lehrforschungsprojekt, in dem Studierende und Promovierende der Professur für Weiterbildung in Gießen zusammen gearbeitet haben. Die Analysen sind im Wechsel von arbeitsteiligem Vorgehen und von Interpretationswerkstätten entstanden. 1 Korpusauswahl Zur Beantwortung der genannten stellung Artikel Frage- haben aus Zeitschriften wir sechs aus- gewählt und zwar von 1933 zurück gehend bis 1929. Die Zeitschriftenstränge ent- sprechen den Fraktionen in Abbildung 1: Abbildung 1: Fraktionen der Volksbildung der bürgerlich-libera- len Volksbildung mit der „alten“ Richtung und der Zeitschrift Volksbildung sowie der „neuen Richtung“ mit den Zeitschriften Freie Volksbildung und Bücherei und Bildungswesen, dann – exemplarisch für die religiös orientierten Gruppierungen – der katholischen Volksbildung mit der Zeitschrift Volkstum und Volksbildung, sowie – exemplarisch für die sozialistisch orientierten Gruppierungen – der SPD-nahen Sozialistischen Bildung und zuletzt der von den Protagonisten der geisteswissenschaftlichen Pädagogik herausgegebenen Die Erziehung. Es handelt sich bei den Zeitschriften durchweg um Organe, die den Organisationen der jeweiligen Fraktionen sehr nahe stehen, auch wenn die Organisationsformen von der stark institutionalisierten „Gesellschaft für Volksbildung“ bis zum stark personalisierten „Hohenrodter Bund“ sehr verschieden sind. Diese Anbindung an eine Fraktion ist für die auf Volks- und Erwachsenenbildung spezialisierten Zeitschriften der Weimarer Republik typisch. Zunächst sind wir von einer formalen Korpusdefinition ausgegangen, wie sie bei Zeitschriftenanalysen üblich ist, aber es hat sich gezeigt, dass diese formale Sichtweise dem Gegenstand nicht angemessen ist. Die Zeitschriften als Medien sind selbst ein Teil des diskursiven Kampfes, sie sind einerseits der Ort des Diskurses, das Territorium, auf dem er geführt wird, aber sie sind auch ein Mittel in diesem Kampf und schließlich sind sie ein umkämpftes Gut (wer über sie verfügt oder Zugang erhält, hat die Möglichkeit zu sprechen). Es braucht eine größere Referenz, von der aus erst die diskursive Praxis in den Zeitschriften in ihren Relationen begreifbar wird. Denn die Akteure – Autoren und Herausgeber – stehen nicht außerhalb eines sozialen und institutionalisierten Machtfeldes. 2 Wenn man so vorgeht, kommt man zu einer anderen Begründung der Korpusauswahl. Die Referenz ist dann das Feld der Volks- und Erwachsenenbildung bzw. das mögliche, im Entstehen befindliche Feld, die Zeitschriften bilden als diskursive Arena eine Ebene der weit heterogeneren Feldstrukturen.1 Außerdem sind die der Feinanalyse unterzogenen Zeitschriftenartikel dann Anhaltspunkte, Eisbergspitzen, deren Deutung und deren Einordnung auf einer breiteren Materialbasis fußt. Die Zeitschrift Erziehung bildet insofern eine Ausnahme, als sie zum wissenschaftlichen Feld gehört und eine beobachtende Haltung zur Volks- und Erwachsenenbildung einnimmt. Gerade deshalb aber sind die Artikel zur Volksbildung aus dieser Zeitschrift interessant, da man zumindest vermuten kann, dass das Feld von einer gewissen Distanz aus in den Blick genommen wird. Außerdem wurden die Artikel von Spranger und Flitner in den Erziehungswissenschaften bereits eingehend diskutiert, womit ein Vergleich möglich wird (vgl. ausführlich Langer/Schotte/Schreck/Wrana 2001). Ergebnisse Wir möchten zunächst einige Ergebnisse aus dem Projekt darstellen, um anschließend das methodische Vorgehen zu skizzieren. Zunächst ist festzuhalten, dass man bezüglich der Stellungnahmen zum Nationalsozialismus nicht von „der Volksbildung“ sprechen kann, sondern verschiedene Fraktionen und ihre Positionierung unterscheiden muss. Mit anderen Worten: Man muss die Streuung des Feldes in Betracht ziehen, um die Situation von 1933 zu verstehen. Wie bereits angedeutet, folgen die diskursiven Linien in den Artikeln den Strukturen des Feldes. Aber die Konturen dieses Feldes der Volksbildung beginnen sich während der Weimarer Republik erst abzeichnen und zu institutionalisieren, denn in den Texten lässt sich beobachten, dass die Fraktionen und Akteure sich in eben diesem Feld positionieren, versuchen, Anerkennung zu bekommen bzw. ihren Platz zu bewahren. Sie nehmen dabei einerseits aufeinander Bezug und orientieren sich aneinander, aber sie bekämpfen einander auch, wie etwa die neue und die alte Richtung. Als wichtiges Ziel gibt die bürgerliche Volksbildung an, die Einheit des Volkes wieder herzustellen, wofür der Slogan „Volkbildung durch Volksbildung“ steht. Darüber hinaus geht es der bürgerlichen Volksbildung aber auch darum, die Autonomie der Volksbildung herzustellen, d. h. die Unabhängigkeit der Volksbildung von ihr selbst heteronomen Bestimmungen – dazu zählt der Topos der „Neutralität der Volksbildung“ und die Abgrenzung von der „Weltanschaulichen Bildung“. Dem Einsatz der Autonomie zu folgen heißt aber zweierlei: einerseits die Schließung der Feldgrenzen, also die Bestimmung 1 Zum Feldbegriff in Bezug auf die Weiterbildung vgl. Forneck/Wrana 2005: 87ff 3 dessen, was legitimerweise als Volksbildung zu gelten hat und was nicht, und andererseits, untrennbar damit verbunden, die kulturelle Hegemonie einer bestimmten Logik innerhalb des Feldes. Die Autonomie des Feldes erfordert eine spezifische Hegemonie und einen Ausschluss. In diesem Sinn sind die diskursiven Kämpfe der „neuen Richtung“ zu verstehen, die eine Autonomie der Volksbildung über die didaktischen Praktiken und über eine bestimmte damit verbundene Subjektivität herzustellen verspricht. Demgegenüber wird von Seiten der „alten Richtung“ die Institution der „Gesellschaft (für Volksbildung)“ in Anschlag gebracht, also eine Autonomie der Volksbildung über die Einheitlichkeit der Organisation und der Unterordnung unter dieselbe. Die Katholiken hingegen setzen auf die Heteronomie der Volksbildung, sie hat allem voran den Zielen des Katholizismus zu folgen – wie auch immer man diese fasst – und so verdoppelt sich der Streit zwischen alter und neuer Richtung innerhalb des Katholizismus. Nichts aber wäre unangemessener als die Kategorie „Katholizismus“ aufzulösen und die jeweiligen Akteure den Fraktionen der alten und neuen Richtung zuordnen, denn katholische Volksbildung ist vor allem katholische und damit weltanschauliche Volksbildung. Diese bürgerlichen Gruppen unterscheiden sich zwar in den Einsätzen, denen Volksbildung zu folgen hat und in den Formen, die ihrer herzustellende Einheit annehmen soll, aber sie teilen wesentliche Metaphoriken und basale Differenzen wie mechanisch vs. organisch oder eins vs. viele etc. Die sozialistische Bildung führt dazu einen Gegendiskurs, sie hat ein ganz anderes Vokabular, ganz andere Differenzen, andere Metaphern als die bürgerliche Volksbildung und ist dieser nicht anschlussfähig. Sie ist – das hat sie mit den Katholiken gemeinsam – auch weit davon entfernt, um die Autonomie der Volksbildung zu kämpfen, ihr Kampf geht vielmehr um die Macht der gesellschaftlichen Gruppe, für die die sozialistische Fraktion des Feldes steht. Im Positionierungskampf geht es aber nicht nur um die relativen Feldpositionen in der Volks- und Erwachsenenbildung, sondern auch um eine Positionierung gegenüber ihrem staatlich-organisatorischen Rahmen, der Weimarer Republik. In den bürgerlichen und katholischen Fraktionen der Volksbildung lässt sich eine Abgrenzung beobachten, die sich im Laufe der Zeit bis 1933 verstärkt. In den Texten der bürgerlichen Volksbildung steht Weimar für die industrielle Moderne, und dies zieht die aus der „konservativen Revolution“ bekannten Abgrenzungen mit sich. Aber die Distanz geht darüber hinaus. Die Protagonisten distanzieren sich von Weimar auch, weil sie der Auffassung sind, dass es nicht brauchbar für die Ziele der Volksbildung ist. Man erwartet sich eine andere staatliche Unterstützung und eine andere Zusammenarbeit. An die dadurch entstehende Leerstelle tritt 1933 für die bürgerlichen Fraktionen und die Katholiken der Nationalsozialismus, der 4 als Unterstützer der Volksbildung erscheint, weil beide gemeinsame Ziele haben. Insofern wird der Nationalsozialismus als „brauchbar“ betrachtet und als möglicher Rahmen für eine Autonomie der Volksbildung. Unseres Erachtens deutet alles darauf hin, dass die öffentlich agierenden Akteure der Volksbildung weder im engeren Sinn faschistische Auffassungen geteilt haben, noch dass sie vom Faschismus besonders begeistert gewesen wären. Sie versuchen vielmehr, ihre eigenen Projekte von „Volksbildung“ – die sich gemäß den Feldstrukturen differenzieren – voranzutreiben. In der „diskursiven Welt“ der bürgerlichen Gruppen bildet der Humanismus der Demokratie keinen positiven Wert. Die möglichen Freiheitsgewinne der Moderne und des Liberalismus werden am Ende der 1920er Jahre nur noch negativ und in Begriffen des Verfalls eingeschätzt, die Schuld „Weimar“ zugeschoben. Zwischen dem Nationalsozialismus und dem eigenen Projekt Volksbildung werden dann Parallelen gesehen, auch wenn sie unterschiedlichen Akteuren verschieden stark erscheinen. In der zwar humanistischen aber gänzlich apolitischen Konstellation, die der Diskurs annimmt, wird der Nationalsozialismus als der bessere Rahmen eingeschätzt, in dem man glaubt, mit dem eigenen Projekt überleben zu können, wenn man zustimmt und Unabhängigkeit fordert. Nur die sozialistische Bildung bezieht eine eindeutige Gegenposition. Die Katholische Volksbildung ist zwischen apologetischer Abgrenzung gegen alles NichtKatholische und dem verzweifelten Versuch, ihre gesellschaftliche Relevanz zu beweisen, hin und her gerissen und setzt schließlich fast am Radikalsten auf das Völkische. Was die bürgerlichen und katholischen Fraktionen der Volksbildung angeht, handelt es sich bei dieser diskursiven Positionierung um eine gefährliche Mischung aus Formen der diskursiven Verstrickung („man“ ist erstens im eigenen Projekt gefangen, kann dem Nationalsozialismus etwas abgewinnen, verwechselt die eigenen Begriffe mit deren Begriffen und nimmt durch die Abgrenzung von anderen Fraktionen fast automatisch Positionen ein, die dem Nationalsozialismus häher stehen) und Formen des diskursiven Kampfes („man“ versucht, den Anderen für die eigenen Zwecke zu vereinnahmen und radikalisiert die eigenen Positionen in dessen Richtung). Korpusauswahl II So ungefähr lassen sich die Ergebnisse sehr grob skizzieren, wir müssten und könnten dies natürlich viel ausführlicher tun und zahlreiche Belegstellen für die einzelnen Aussagen einfügen. Wir möchten aber in diesem Vortrag transparent machen, wie die diskursanalytische Methodologie funktioniert, mit der wir diese Ergebnisse erarbeitet haben und zu dieser Einschätzung der Lage gekommen sind. In diesem Kontext werden 5 wir auch weiteres Material und Details zeigen. Da sich in den Zeitschriften in den Jahren vor 1933 kein expliziter Diskurs über den Nationalsozialismus finden lässt, stellte sich die Frage nach den Auswahlkriterien. Wir haben beobachtet, dass die Artikel vom Frühjahr 1933, in denen der Nationalsozialismus diskutiert wird, die Frage aufwerfen, was Erwachsenenbildung/Volksbildung „kann, soll oder will“. Wir haben daher von 1933 rückwärts bis 1929 jene Artikel ausgewählt, in denen ebenfalls diese Frage gestellt wird, also Grundsatzartikel. Auf diese Weise haben wir 35 Artikel aus dem Zeitschriftenkorpus ausgewählt. Textuelle Strukturen Aufgrund der Feinanalyse der Artikel ist für jeden Text ein Strukturbild angefertigt worden, das die wesentlichen im Text artikulierten Strukturen zeigt. Gemäß unserem Diskursverständnis ist der Diskurs aber nicht eine Summe von Texten, sondern eine soziale Praxis. Die Bilder zeigen also nicht die Strukturen des Textes, sondern die Strukturen der Äußerungspraktiken, die die Texte produzieren. Das ist ein im Strukturbild nicht sichtbarer, aber entscheidender Unterschied.2 Einige dieser Strukturen möchten wir jetzt explizieren, und dazu haben wir einen Artikel ausgewählt, den Erich Reisch im Frühjahr 1933 in der katholischen Zeitschrift Volkstum und Volksbildung veröffentlicht hat (vgl. Strukturbild, Abbildung 2). Zunächst zu den narrativen Strukturen: Hier untersuchen wir die aktantielle Ebene, also jene Ebene, auf der sich abstrakte Handlungspositionen erkennen lassen. Wir möchten die aktantielle Ebene mit drei Achsen explizieren. Einmal die Achse zwischen Subjekt (SUB) und Objekt (OBJ). Hier richtet sich ein Subjekt als Handlungsträger auf ein Objekt des Tuns oder des Wünschens. In diesem Fall „wollen“ die „deutschen Katholiken“ die „Gestaltung einer neuen Zeit“. Die ganze Narration „handelt davon“, wie dieser Wunsch erreicht wird, oder – und das ist in unseren Texten in der Regel der Fall – wie er erreicht werden sollte. Die zweite narrative Achse steht quer dazu: Es ist die Achse von Opponent (OPP) und Adjuvant (ADJ). Es gibt in Narrationen immer etwas, das die Erreichung des Objekts 2 Hier kann nur angedeutet werden, dass wir narrative und differenzielle Schemata in Anlehnung an Algirdas Julien Greimas verwenden. Sie sind gewissermaßen die Werkzeuge, die aber im Rahmen einer Diskurstheorie wie sie von Louis Althusser, Judith Butler, Umberto Eco, Jean-Francois Lyotard und Michel Foucault entworfen worden ist, theoretisch eingebettet werden. Der Gegenstand einer solchen Diskursanalyse sind nicht die Strukturen der Texte, sondern die Strukturen der diskursiven sozialen Praxis. Für die Narrationsschema von Greimas (Greimas 1971) sind es die Arbeiten von Eco (1990), Genette (1998) und v. a. Lyotard (1989), die eine Reformulierung des Schemas als Praxisstruktur und nicht als Textstruktur möglich machen. 6 Abbildung 2: Strukturbild des Artikels von Erich Reisch behindert (der Opponent) und etwas, das die Narration unterstützt (der Adjuvant). In Fall des Textes aus dem katholischen Strang sind auf der Seite der Opponenten einerseits „andere“ Gruppen und andererseits Strömungen wie „Liberalismus“, „Materialismus“, „Aufklärung“. Diese Mehrfachbesetzung der Opponenten ist für alle Stränge typisch und zeichnet auch die Besetzung des Opponenten mit Weimar aus. Auf die Seite des Adjuvanten tritt nun der Nationalsozialismus und zwar in einer eigentümlich gedoppelten Figur: einerseits ist der Nationalsozialismus Adjuvant für die Volksbildung, weil sie gemeinsame Ziele haben, aber zugleich ist die Volksbildung Adjuvant für den Nationalsozialismus, sie wird zum Helfer der nationalsozialistischen Sache und sollte daher ein weiteres Existenzrecht haben (s. Nebennarration, Abbildung 2). Die dritte Achse ist die von Adressant (ADNT) zu Adressat (ADST), die Beziehung von dem, der erzählt zu dem, der die Geschichte hört oder liest. Der Adressat soll die Geschichte als die eigene begreifen und weitererzählen. Ein entscheidende diskursive Figur ist hier die permanente Wir-Deixis, die die Identität der drei Aktanten Subjekt, Adressat und Adressant in ein und demselben Akteur, dem „Wir“ beschwört. Je nach 7 Fraktion der Volks- oder Erwachsenenbildung kann dieses „Wir“ eine religiös definierte soziale Gruppe („wir, die Katholiken“), eine Organisation („wir, die Gesellschaft für Volksbildung“) oder eine soziale Bewegung („wir, die pädagogische Bewegung“) sein. Die Narration lässt sich mit den Mitteln der Erzählanalyse im Text herausarbeiten. Aber verstehen sie nicht als eine „Geschichte“, sie ist für uns weder als „Story“ noch als „Plot“ relevant, sondern als diskursive Strategie der Positionierung, die im Diskurs die Identitäten und Differenzen sozialer Akteure herstellt, weil sie über die Achse von Adressat und Adressant auf die Dimension der Akteure zurück verwiesen ist. Es sind nicht irgendwelche Geschichten, sondern „unsere“ Geschichten: Die Adressaten sind aufgefordert, sich als Teil der Narration zu konstituieren, indem sie sich in das „Wir“ einordnen. Sie sollen die Geschichte als wahre Geschichte anerkennen, aber darüber hinaus und viel weiter gehend, auch als ihre eigene Geschichte. Dass dieses beschwörende Moment in den Texten so stark ist, verweist auf ihre rhetorische Funktion in der diskursiven Arena. Sie sind in Verbands- und Organisationszeitschriften erschienen und realisieren deren InnenAußen-Unterscheidungen. Das Beschwören ist hier immer auch ein Einschwören. Eine weitere diskursive Strategie ist die Verwendung von Differenzen. Durch die Verknüpfung und Wiederholung von bestimmten Wörtern oder auch Eigenschaften wird ebenfalls im Text Wahrheit – verstanden als Performanz im Leser – konstituiert. Viele Differenzen werden so stark expliziert und markiert, dass sie die diskursive Welt nicht nur basal strukturieren, sondern zu einer Entscheidung für die eine Seite der Differenz auffordern. Dieser Effekt entsteht also nicht nur auf der narrativen Ebene (durch die Aufforderung, die Geschichte als eigene anzuerkennen und weiter zu erzählen), sondern auch auf der Ebene der Differenzen (durch die wiederholte Anwendung bestimmter Trennungen und Verknüpfungen).3 Die Differenzen im Text sind meistens allgemein gehalten. Im Strukturbild (Abbildung 2) kann man die Differenzen Weimar vs. Nationalsozialismus, lebendig vs. tot usw. finden. Häufig sind die Differenzen an Metaphern gekoppelt, die Konnotationen ermöglichen. Auf diese Weise entstehen Konnotationsketten. Oft sind die Differenzen auch zu den Narrationen parallel geführt, dann werden den Adjuvanten bzw. den Opponenten der Narration über die zentralen Differenzen Eigenschaften zugeschrieben. Hier etwa wird Weimar als unecht und der Nationalsozialismus als echt konnotiert. Für uns sind wiederum 3 Für die Differenzen gilt Ähnliches wie in Fußnote 2 für die Narrationen. Die Grundlagen für die Differenzanalyse haben Saussure (1967) und Jakobson/Halle (1960) gelegt, den wichtigsten Beitrag zur Weiterentwicklung der Differenztheorie hat Jacques Derrida geleistet (Derrida 1998, vgl. ausführlich Wrana 2002: 146; Höhne 2003: 408) 8 nicht die Differenzen und Konnotationsketten an sich interessant, sondern die Praxis der Differenzierung, also wie diskursiv mit solchen Differenzketten Unterschiede zwischen den Gegenständen – im weitesten Sinn hergestellt – werden. Die Differenzen werden nämlich nicht starr gebraucht, sondern ganz unterschiedlich, teilweise trickreich, um sich im Feld zu positionieren. Beispielsweise spielen die Texte damit, dass man die Terme „alt“ und „neu“ auf unterschiedliche und manchmal überraschende Weise den Gegenständen zuordnen kann. Intertextuelle Strukturen Die Forscher/-innengruppe DIVERS – außer uns sind das noch Julia Franz und Charlotte Köller – hat von allen 35 Texten solche Strukturbilder arbeitsteilig erstellt, mehrfach kommunikativ validiert und ausführliche schriftliche Analysen erarbeitet. Pointiert gestellt ist die Frage nun folgende: Das sind die also Analysen der Texte, aber was ist der Diskurs? Welchen Charakter haben die diskursiven Strukturen, die die Beziehungen zwischen den Texten ausmachen? Zwei Vorstellungen des Diskurses möchten wir ausschließen: (1) Dass der Diskurs die Summe der textuellen Strukturen sei, was auch bedeuten würde, dass jeder Text und jedes Sprechen eine irreduzible Singularität ist. (2) Dass sich die Strukturen der Texte – also der Stapel der Strukturbilder – so reduzieren und auf einen Diskurs proijezieren lässt, dass sich das Ergebnis ebenso klar und deutlich wie jedes der Strukturbilder der Texte darstellen lässt und man im Grunde genommen sagen kann: „Alle Akteure der Erwachsenenbildung/Volksbildung erzählen ein und dieselbe Geschichte“. Beides ist unseres Erachtens nicht der Fall, aber auch nichts dazwischen, wie z. B. „Es gibt fünf Idealtypen von Narrationen“. Man könnte in Versuchung geraten, für jede Fraktion eine Narration zu identifizieren, das würde forschungstechnisch einigermaßen funktionieren, aber wir denken, dass die diskursiven Strukturen einen anderen Charakter haben, dem solche idealtypischen Konstruktionen nicht angemessen sind und diesen möchten wir im Folgenden explizieren. Wir haben ausgehend von elementaren Schemata wie den drei narrativen Achsen oder den Differenz- und Konnotationsketten in den Texten diskursive Figuren formalisiert. Darunter verstehen wir konkrete Konstellationen, eine bestimmte Weise, in der eine Reihe von Dingen in Beziehung gesetzt wird. Diese Figuren sind diskursive Praktiken, die eine Aussagefunktion haben. Sie besteht darin, dass durch das wiederholte Zusammenbringen ein und derselben verschiedenen Elemente auf ein und dieselbe Weise Wirklichkeit konstruiert und stabilisiert wird. Eine Figur hat in der Regel einen schematischen Aspekt, 9 eine „inneres Funktionieren“: die differenziellen Figuren haben als Schema Differenz und Konnotation, die narrativen Figuren haben das Aktantenschema, metaphorische Figuren funktionieren durch Bedeutungsübertragung. Diese Schemata haben den Vorteil, dass sich Figuren über sie formalisieren und visualisieren lassen, sie sind daher ein wichtiges Werkzeug in der Analyse. Sie sind aber nicht schon die Figur. In Figuren sind formale und inhaltliche Aspekte immer miteinander verwoben und lassen sich auch nicht sauber unterscheiden: Es gibt keinen Nullpunkt der Figur, etwa die reine Differenz unter Absehung aller differenzierter Inhalte. Um nun textuellen von den zu den intertextuellen Strukturen zu kommen, ist es entscheidend, sich die Weisen dieses Wiederholens von Figuren klar zu machen, also die Weise, in der sie als Praktiken „funktionieren“. So unterscheiden wir mindestens drei Typen Abbildung 2: Die Weisen der Wiederholung von Figuren von Wiederholungen (s. Abbildung 3). (1) Mehrere Figuren sind sich ähnlich, so dass man von einer Klasse von Figuren sprechen kann. Etwas flapsig formuliert, es findet sich immer ein und dieselbe Figur in den Texten. Ein Beispiel dafür ist, dass in allen bürgerlichen Fraktionen der Nationalsozialismus zum Adjuvant der eigenen Narration wird. (2) Der zweite Wiederholungstypus ist eine Serie von Figuren in der Zeit, die durch die Transformationen beschreibbar sind, d. h. die sich sukzessive verändern. Wenn man eine solche Serie verfolgt, schreibt man eine Genealogie. Ein Beispiel dafür ist die Analyse der Leerstelle, die sich nach und nach bildet und an die der Nationalsozialismus 1933 treten kann. Die Genealogie dieser Leerstelle lässt sich in den Fraktionen nachzeichnen und ist je verschieden. (3) Die dritte Form der Wiederholung ist die Verteilung von Figuren in ein und demselben Korpus zur selben Zeit als Streuung. Es kann unterschiedliche Gründe für solche Streuungen geben. Wir haben die Streuung im Wesentlichen auf die Struktur des Feldes bezogen. (4) Die vierte Form der Wiederholung sind gegeneinander gesetzte Figuren als Oppositionen. Denn noch die Figur, die gegen eine andere gerichtet ist, 10 wiederholt diese andere implizit. Solche Oppositionen sind ein wesentliches Mittel im diskursiven Kampf. Ein Beispiel ist der unterschiedliche Gebrauch der Alt-Neu-Differenz, um sich abzugrenzen. Auch bei den Narrationen gibt es oppositionelle Figuren, etwa in der Auseinandersetzung von Flitner und Freyer in der Zeitschrift Erziehung von 1933. In konkreten Texten und Figuren sind die vier Typen der Wiederholung in der Regel verschränkt. Die „große Differenz“ von organisch vs. mechanisch beispielsweise wird (1) in vielen bürgerlichen Texten ähnlich wiederholt und spielt dort eine entscheidende Rolle. Sie unterliegt (3) einer Genealogie, also einer sukzessiven Veränderung, die zwar im Zeitraum von 1929 bis 1933 weniger deutlich, im Zeitraum vom „Deutschen Idealismus“ bis zur „konservativen Revolution“ aber sehr wohl zu beobachten ist. Sie ist (4) Moment einer Streuung, insofern sie in den verschiedenen Texten unterschiedlich gebraucht wird und indem je nach Feldfraktion des Autors und Thema der Äußerungen unterschiedliche Inhaltsfelder mit dieser Differenz geordnet werden. Der Diskurs ist also keine unterschiedslose Menge von diskursiven Praktiken und auch kein unterschiedsloses Reservoire, aus dem die Sprechenden ihre Aussagen schöpfen, sondern ein Konglomerat von Wiederholungen verschiedener Art. Er bildet keinen glatten und einheitlichen Raum, sondern einen gekerbten und verstreuten Raum, der immer wieder von Kontingenzen und Heterogenitäten geprägt ist. Dieser diskursive Raum hat zwar kein Zentrum und keinen Punkt, von dem er zu überblicken wäre, aber es handelt sich doch um das ein und das selbe Territorium diskursiver Kämpfe und Verstrickungen. Diskussion der Methodologie Wir haben also diskursive Figuren in den Texten isoliert und anschließend die intertextuellen Verweise anhand von Klassen, Genealogien, Streuungen und Oppositionen von Figuren verfolgt, aufgrund derer sich die Karte eines Verweisfeldes verschiedener diskursive Kämpfe und Verstrickungen erstellen lässt. Die Stärke des strukturalen Ansatzes ist es dabei, aufgrund der Formalisierungen einen epistemologischen Bruch (Bachelard 1974: 175ff; vgl. Diaz-Bone 2002: 184) mit dem Vorverständnis durchzuführen. Die damit verbundenen Irritationen und unerwarteten Kombinationen führen dazu, den Texten auf eine andere Weise zu begegnen, als wenn man sich von Vorverständnis und traditionellen Interpretationen leiten lässt. Die disziplinierende Wirkung der Formalisierung auf die forschende Subjektivität lässt sich leichter operationalisieren und kontrollieren als der Versuch, aus freien Stücken das „Vorverständnis beiseite zu lassen“ oder „unvoreingenommen“ zu sein. Dennoch benötigt 11 auch ein solches Verfahren starke interpretative Momente. Damit die Ergebnisse auf jeder Stufe (textuelle und intertextuelle Strukturen) sinnvoll werden und das bereits erreichte Reflexionsniveau historischer Forschung nicht unterschreiten, müssen sie vor dem Hintergrund eines Kontextwissens interpretiert werden. Dies gilt einerseits für den Bezug des analysierten Korpus zum Gesamtkorpus. Der faktisch analysierte Korpus ist nur ein kontrollierterer Ausschnitt aus einem unkontrollierteren Geflecht intertextueller Verweise, das vollständig zu untersuchen sowohl theoretisch als auch forschungspraktisch unmöglich ist. Dennoch müssen die Analysen vor dem Horizont dieses Gesamtkorpus gedeutet werden. Es gilt auch für den Bezug zu externen Daten der Geschichtswissenschaften, die ihrerseits formalisiert sind: z. B. die Serien politischer Ereignisse, die Kräfteentwicklung von Parteien, die Veränderung von Gesetzen und finanziellen Rahmenbedingungen oder die Entwicklung von Einrichtungen und Institutionen etc. Nicht zuletzt gilt sie aber für den Bezug der Analysen zu den etablierten Deutungen in der eigenen Disziplin. Im Fall der Historiographie der Erwachsenenbildung stellt sich hier die Frage, wie das historische Wissen über die eigene Disziplin produziert wird und welche Funktion diese Wissensproduktion hat. Die Literaturlage ist sehr heterogen. Wenn man die historiografischen Dokumente etwa über die Geschichte der Volkshochschulen oder der katholischen Erwachsenenbildung ansieht, so reicht die Palette meist von historischen Studien nach geschichtswissenschaftlichen Kriterien bis hin zu narrativen Vergegenwärtigungen der eigenen Geschichte, die ihrerseits eine rhetorische Funktion kollektiver Identitätsbildung haben. Im Verhältnis von Formalisierung und Interpretation stellt sich ein ähnliches Problem wie bei der quantitativen Forschung: Die Formalisierung muss präzise durchgeführt werden, damit die Arbeit überhaupt gültig ist, aber der Wert der Ergebnisse hängt von der angemessenen Komplexität ihrer Interpretation ab. Die Vermittlung zwischen Formalisierung und Ergebnisinterpretation unter Einbeziehung von Kontextwissen bleibt damit eine entscheidende Aufgabe der Diskursanalyse. Diese Selektionen, Formalisierungen und Interpretationen erfordern die Orientierung durch eine Fragestellung. Wenn man einen Diskurs auf die von uns vorgestellte Weise untersucht, begrenzt dieser die Analyse nicht. Im Gegenteil: Von jeder diskursiven Figur aus gibt es fast unendlich anmutende Anschlussmöglichkeiten zu weiteren diskursiven Strukturen und Problemen. Bis zu einem gewissen Punkt ist diese Ausweitung auch notwendig. So erklären wir die Texte von 1933 nicht immanent, sondern aufgrund eines Modells der Weimarer Volksbildung und der Frage, wie diese aufgrund ihrer internen Problematisierungen zu bestimmten Äußerungen kommt. Aber dabei entstehen nun 12 Fragen wie: Wie tief geht man in die Diskursstränge im bürgerlichen Feld, wie nahe „zoomt“ man ran? Die Fülle der Verweise muss schon in der textuellen Analyse, mehr noch aber in der intertextuellen Analyse von der Fragestellung geleitet und selektiert werden. Daher kann man die Problemdefinition auch umgekehren: Wie muss eine Fragestellung angelegt werden, damit sie die angemessene Komplexität aufweist? Literatur: Bachelard, Gaston: Epistemologie. Ausgewählte Texte. Frankfurt a. M.: Ullstein, 1974 Diaz-Bone, Rainer: Kulturwelt, Diskurs und Lebensstil. Eine diskurstheoretische Erweiterung der bourdieuschen Distinktionstheorie. Opladen: Leske & Budrich, 2002 Eco, Umberto: Lector in fabula. die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. München: DTV, 1990 Forneck, Hermann J.; Wrana, Daniel: Ein parzelliertes Feld. Bielefeld: wbv, 2005 Greimas, Algirdas: Strukturale Semantik. Braunschweig: Viehweg, 1971 Genette, Gerard: Die Erzählung. München: Fink, 1998 Höhne, Thomas: Thematische Diskursanalyse. In: Keller, Reiner; Hirseland, Andreas; Schneider, Werner; Viehöver, Willy (Hg.): Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse (Band 2). Opladen: Leske & Budrich, 2003 Jakobson, Roman; Halle, Morris: Grundlagen der Sprache. Berlin: Akademie Verlag 1960 Langer, Antje; Schotte, Julia; Schreck, Bruno; Wrana, Daniel: Verstrickungen: Volk - Bildung – Faschismus. Entwurf einer diskursanalytischen Studie. Gießen: GEB, 2001 [Adresse: http://nbnresolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:0003-0027] Lyotard, Jean-François: Der Widerstreit. München: Fink, 1989 Saussure, Ferdinand de: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin: de Gruyter, 1967 Wrana, Daniel: Formen der Individualität. Eine Analyse der diskursiven Formation von Gesellschaftsbeschreibungen bei Kusleiter/-innen der Erwachsenenbildung. In: Forneck, Hermann J.; Lippitz, Wilfried (Hg.): Literalität und Bildung. Marburg: Tectum, 2002, S. 115-176 Autor/-innen: [email protected] [email protected] http://www.wb-giessen.de/divers Webadresse des pdf: http://www.wb-giessen.de/dokumente/langerwrana_verstrickungenkaempfe.pdf 13