Transcript

NEUERSCHEINUNG JULI 2014 Wichard v. Heyden Doketismus und Inkarnation Die Entstehung zweier gegensätzlicher Modelle von Christologie Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter, Vol. 58 2014, XIV, 567 Seiten, €[D] 88,00 / Sfr 112,00 ISBN 978-3-7720-8524-6 Doketismus und Inkarnation als diametral entgegengesetzte Positionen der frühen Christologie werden erstmals in ihrem Zusammenhang und von ihren Entstehungsmöglichkeiten her erklärt und analysiert. Der Erste Johannesbrief, der lange als Kronzeuge für doketistische Christologie galt, hat im Gegensatz zu den späteren Ignatiusschriften zwar mit Doketismus noch nichts zu tun, liefert aber Hinweise auf die Entstehung der Inkarnationschristologie, die wiederum Voraussetzung für spätere doketistische und gnostische Auffassungen ist. Für beide Positionen spielt die Orientierung an Engeln, frühjüdischer Mystik und Tempelkult eine herausragende Rolle. Die Entstehung der Christologie, das Zentrum christlicher Theologie, wird mit dieser Arbeit in neuer Weise erschlossen. JETZT BESTELLEN! BESTELLSCHEIN NEUERSCHEINUNG – JULI 2014 Hiermit bestelle ich über die Buchhandlung: Exemplare von: Wichard v. Heyden Doketismus und Inkarnation Bezahlmethode: €[D] 88,00 / Sfr 112,00 ISBN 978-3-7720-8524-6 Per Rechnung Per Kreditkarte: Eurocard/Mastercard Visa Name: Kartennr.: Adresse: gültig bis: E-Mail: Kartenprüfziffer: Datum, Unterschrift: Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen • Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • [email protected] • www.francke.de IX Inhaltsverzeichnis 0 Zielsetzung und Übersicht der Arbeit 1 A. Aufgabenstellung und Forschungsgeschichte Zielsetzung und Überblick 2 2 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 1.8 1.9 1.10 1.11 Einleitung Gegenstand und Fragestellung Der Zusammenhang von Inkarnation und Doketismus Bisherige Aporien und die Suche nach einem neuen Weg Definition des Begriffs Doketismus Bezeugungen des Phänomens Doketismus Doketisten oder Doketen Gnosis und Doketismus Gnostische Christologien ohne Doketismus Forschungsgeschichtlicher Überblick: »Doketismus« Auswertung des forschungsgeschichtlichen Überblicks Aufgabenbestimmung 3 3 3 5 7 8 8 9 12 20 45 47 B. »Im Fleisch ist er gekommen«: 1 Joh und seine Gegner Zielsetzung und Überblick. 49 49 2 Der sogenannte »Erste Johannesbrief« Zielsetzung und Übersicht Das Grundproblem der religionsgeschichtlichen Einordnung Das Vorgehen der Untersuchung Forschungsüberblick Gegneridentifizierung Ergebnisse der Einleitungsfragen und Schlussfolgerungen Erfahrungen des Verfassers und seiner Adressaten 49 49 50 54 55 78 80 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 3 3.1 3.2 3.3 Der Auftritt des erwarteten Messias Zielsetzung und Übersicht »Wir haben ihn gesehen! Und berührt!» 1 Joh 1,1-4 Lesesignale zum Schluss Die Rolle Jesu in den Rahmenstücken: Die bisherigen Ergebnisse 97 97 98 105 112 X 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 3.9 3.10 3.11 Klare Verhältnisse durch Bekenntnis | 1 Joh 2,18-27 Der Auftritt Jesu in 1 Joh 4 Der Textzusammenhang von 1 Joh 3,23-4,16 Gekommen in Welt und Fleisch: 1 Joh 4,2f Welt und Fleisch im neutestamentlichen Vergleich »Gekommen« Das Zelten Gottes in der Welt im Johannesevangelium Ergebnisse im Blick auf 1 Joh 4,2: Der Christus ist da gewesen! 113 125 126 142 150 155 175 178 4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 Weitere »Gegnertexte« in 1 Joh Zielsetzung und Übersicht Die Position der Gegner (1 Joh 1,5-10) Geist, Wasser, Blut - die Rolle der Taufe nach 1 Joh 5 Der ἱλασμός: Sühne und Fürsprache Fürsprecher im Himmel Liebe, Sünde, Tod 182 182 183 192 198 211 214 5 Ergebnisse zu Inkarnation und Doketismus in 1 Joh 215 C. Das »Fleisch des Messias« im frühen Christentum (ohne Ignatius) Zielsetzung und Übersicht. 217 217 6 Das »Fleisch Christi«: Neues Testament Zielsetzung und Übersicht Ausgangspunkt Der Messias im Fleisch Das Fleisch des Messias bei Johannes Christus wird Mensch bei Paulus »Das Fleisch des Christus« bei Paulus Römer 8,3 Kol 1,20-22 Eph 2,14f 1 Tim 3,16 Hebräerbrief 1 Petr 3,18; 4,1 217 217 219 219 220 221 223 227 237 238 238 239 241 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8 6.9 6.10 6.11 XI 7 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 Das »Fleisch Christi«: Apostolische Väter (ohne Ignatius) Zielsetzung und Übersicht Der Barnabasbrief Der Hirt des Hermas (Herm) Der Zweite Clemensbrief Thomasevangelium: EvThom 28.29 Die Testamente der zwölf Patriarchen (TestXII) 245 245 246 256 259 265 266 8 Ergebnisse: »Fleisch des Messias« im frühen Christentum 271 D. »Zum Schein hat er gelitten«: Ignatius und seine Gegner 274 9 Die Ignatiusbriefe Zielsetzung und Übersicht Forschungsüberblick und methodische Orientierung Das Martyrium des Ignatius Ignatius als Mystiker Gegner »Fleisch« bei Ignatius Durchgang durch IgnSm 1-7 Offenbarung des Verborgenen in IgnEph 19 Einer ist Arzt (IgnEph 7,2) Ergebnisse: Inkarnation und Doketismus in den Ignatianen 274 274 276 278 285 289 315 337 347 359 361 E. Religionsgeschichtliche Entwicklungslinien Zielsetzung und Übersicht. 363 363 10 Mystik Zielsetzung und Übersicht Inkarnation und Doketismus »In the Making« Was ist ein Pneumatiker? Erfahrungen von Ekstase und Enthusiasmus Orientierung an Engeln und himmlischen Mächten/Isangelie Gestalten von Engeln und Dämonen Engelshierarchien, Himmelsmächte und die Doketisten 364 364 365 365 367 369 370 373 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 9.6 9.7 9.8 9.9 10.1 10.2 10.3 10.4 10.5 10.6 XII 11 11.1 11.2 11.3 11.4 11.5 Entwicklungslinien von der Angelologie zur Christologie Zielsetzung und Übersicht Ansätze der Forschung Menschen erscheinen äußerlich wie Engel (Verklärung) Götter gehen unter Menschen umher Engel erscheinen äußerlich wie Menschen (Engeldoketismus) Metamorphosen und Polymorphie bei Engeln, Aposteln und Christus 373 373 375 376 383 384 11.6 11.7 11.8 11.9 11.10 11.11 11.12 11.13 11.14 11.15 11.16 11.17 Menschen werden »Engel« genannt Christus wird »Engel« genannt Christologie und Angelologie bei Justin und Tertullian Der »Engel des Herrn« und Jesus Christus in früher Exegese Der Erhöhte in engelhafter Gestalt Engel oder Gespenst? - Lk 24,37 und Mk 6,49 δοκεῖν zwischen dämonischer Mantik und göttlicher Offenbarung Das gnostische Täuschungsmotiv in NHC II,4 und 5 Logos und andere »Hypostasen« im Frühjudentum Lächeln im Angesicht des Todes (Märtyrer) Ausblick auf die weitere Entwicklung Ergebnisse: Doketisten, Engel und Judenchristen 392 398 399 403 404 404 405 406 409 410 411 413 419 12 Wie entstand die Vorstellung von der Menschwerdung Gottes? Übersicht und Zielsetzung Problemanzeige Messiaserwartung Problemanzeige Inkarnation eines Himmelswesens Christologische Kategorien und Inkarnation Wie konnte Inkarnation für frühjüdische Menschen denkbar werden? 420 420 422 424 427 430 Entstehung des Doketismus aus der Inkarnationsvorstellung Übersicht und Zielsetzung Verborgene Epiphanie im Körperkleid Von Ignatius zu Satornil Von 1 Joh und Ignatius zu Kerinth Ergebnis 463 463 464 466 468 469 Fazit zu Inkarnation und Doketismus Übersicht und Zielsetzung Fleisch, Leib, Seele und Geist Jesus Christus ist nicht ins Fleisch gekommen? 469 469 470 471 12.1 12.2 12.3 12.4 13 13.1 13.2 13.3 13.4 14 14.1 14.2 XIII 14.3 14.4 14.5 14.6 14.7 14.8 Monophysitismus/Dyophysitismus Engelchristologie oder Angelomorphologie? Gegner von 1 Joh und Ignatius Was also ist Doketismus? Was also ist Inkarnation? Zusammenfassung: Entwicklungslinien in Richtung Doketismus 471 473 474 474 475 476 F. Ertrag und Ausblick 479 15 Ertrag 479 16 Ausblick 480 G. ANHANG 483 17 17.1 17.2 17.3 17.4 17.5 17.6 Die ignatianische Frage Wer war Noët? Themenstellung bei Noët und den Ignatianen Die Lehre des Noët von Smyrna Christologisches Gedankengut Noëts in den Ignatianen? »Regula Fidei« Ausgangslage für die weitere Beschäftigung mit Ignatius 483 485 486 487 487 492 497 18 Mögliche Reiseroute des Ignatius durch Kleinasien 498 19 Wortfeldtabellen zum 1. Johannesbrief 498 20 20.1 20.2 20.3 20.4 20.5 20.6 20.7 20.8 Literatur- und Abkürzungsverzeichnis Abkürzungen Verwendete Software zur Erschließung von Quellentexten Bibelausgaben Textsammlungen/Textausgaben Grammatiken, Wörterbücher, Lexika Kommentare zu 1 Joh Weitere Literatur zu 1 Joh/zum Corpus Johanneum Ignatius von Antiochien 503 503 504 507 507 510 511 513 522 XIV 20.9 20.10 20.11 20.12 Antike Mystik, Engel und Engelchristologie Gnosis und Doketismus Weitere Literatur zu den Anfängen der Christologie Übrige Literatur 525 528 530 535 21 21.1 21.2 21.3 21.4 21.5 21.6 21.7 21.8 21.9 21.10 21.11 21.12 Register Altes Testament Alttestamentliche Apokryphen Neues Testament Judaica Frühes Christentum Kirchenväter Pagane Texte Koran Moderne Autoren Antike Personen Himmlisches Personal Begriffe 548 548 549 549 555 557 560 561 561 562 564 564 565 0. Zielsetzung und Übersicht der Abeit 0 1 Zielsetzung und Übersicht der Arbeit Die Anfänge der Christologie gelten weithin als ein Rätsel. Wie konnte es dazu kommen, dass ein Jude in christologischen Ausdrücken als »Sohn Gottes«, als »Menschensohn«, als »Herr« bezeichnet wurde? Die beiden gegensätzlichen Positionen »Doketismus« und »Inkarnation« werden weithin als in der Frühzeit des christlichen Glaubens gegeben akzeptiert. Wie aber konnten sie zustande kommen? Die Vorstellung, Jesus habe nur zum Schein existiert und gelitten (Doketismus), ist im frühen Christentum eine relativ späte Erscheinung und ist erstmals für die Gegner des Ignatius von Antiochien (ca. 110 n.Chr.) bezeugt. Doketistische Christologien knüpfen an ältere Vorstellungen vom Auftreten Christi als Mensch unter Menschen (Fleisch; Inkarnation) an und entwickeln diese weiter. Sie greifen dabei zusätzlich auf vulgärphilosophische Gedanken zurück, vor allem aber auf mystisches Allgemeingut des Frühjudentums und des frühen Christentums, insbesondere auf Vorstellungen von der Leidensfreiheit von Engeln (Engeldoketismus). Deutungen neutestamentlicher und anderer frühchristlicher Texte, die irgendeine Form von Doketismus voraussetzen, sind daher zu prüfen und zu revidieren. Eine Inaugenscheinnahme des Gegenstandsfeldes, der theoretischen Voraussetzungen und Untersuchungen der Auslegungs- und Forschungsgeschichte dienen als Einstieg (A.). Der erste Johannesbrief gilt als Kronzeuge für antidoketistische Polemik im frühen Christentum. Nicht nur die Kardinalstelle 1 Joh 4,2f, sondern der ganze 1 Joh wird in der Regel unter dieser Perspektive gelesen und verstanden. Nahezu alle Aussagen und Themen von 1 Joh sind - in unterschiedlicher Weise - in diesem Rahmen gedeutet worden. Diese intensive exegetische Deutungsarbeit verstärkt den Eindruck, dass trotz Zweifel im Einzelnen das Gesamtbild auf einen doketistisch-antidoketistischen Horizont hinweist. Es ist zu zeigen, wie 1 Joh auf dem Hintergrund der vorliegenden religionsgeschichtlichen Kenntnisse einfacher und mit geringerem hypothetischen Aufwand ohne doketistischen Hintergrund zu verstehen ist (B.). Die Arbeit hat sich dann um alle frühchristlichen Texte zu kümmern, in denen das »Fleisch Christi« thematisiert wird. Es zeigt sich: Nirgends ist Doketismus im Blick. Vielmehr wird deutlich, dass die Rede vom »Fleisch Christi« jeweils andere Hintergründe hat (C.). Erst Ignatius von Antiochien bezeugt Auseinandersetzungen mit doketistischen Auffassungen. Für die Darstellung der Entstehung des Doketismus sind die Argumente des Ignatius und die Wiedergabe der Position seiner Gegner von zentraler Bedeutung. Es ist zu zeigen, dass Ignatius von einer inkarnatorischen Christologie ausgeht und doch zugleich viele, wesentliche Positionen seiner Gegner teilt (D.). 2 A. Aufgabenstellung und Forschungsgeschichte So ergeben die Resultate der Teile B. -D. Ausgangspunkte für die weitere Herleitung doketistischer und inkarnatorischer Positionen: Die Entwicklung inkarnatorischer Vorstellungen in der Frühzeit war keine Reaktion auf doketistische Irrtümer. Das Fleisch-Christi-Motiv ist unter den gegebenen Voraussetzungen von Mystik und Kult schlüssig herzuleiten. Doketismus entwickelt sich erst dort, wo die im Hintergrund stehenden Konzepte nicht mehr verstanden und daher unter veränderten Blickwinkeln, wiederum mit Mitteln der Mystik, neu gedeutet werden (E.). Die Arbeit schließt mit einem zusammenfassenden Ertrag und systematischem Ausblick (F.). A. Aufgabenstellung und Forschungsgeschichte Zielsetzung und Überblick zu A. Die Einleitungsfragen dienen als Prolegomena und verorten die Arbeit forschungsgeschichtlich: a) Grundlegende theologische und historische Fragestellungen zum Thema Doketismus (1.1-1.3) sind zu klären. Dabei geht es nicht nur um den Gegenstand und die Fragestellung (1.1), sondern auch darum, dass der Zusammenhang von Inkarnation und Doketismus (1.2) über eine lange Zeit nur sehr einseitig in den Blick kommt, was an gut benennbaren Aporien der bisherigen Forschungsgeschichte liegt (1.3). b) Eine Definition des Gegenstandsfeldes Doketismus, so wie er in dieser Arbeit verstanden werden soll (1.4), sowie die Darstellung alter Bezeugungen von doketistischen Christologien (1.5-1.8), zeigen den Ausgangspunkt der Arbeit innerhalb der vielfältigen Text- und Gedankenwelten frühchristlicher Texte. c) Wie bedeutend der jeweilige konfessionelle oder philosophische Standpunkt der Forschenden für die religionsgeschichtliche Einordnung der Texte ist, zeigt der Überblick über die Forschungsgeschichte. Hier erweist sich, dass die jeweils eigenen philosophischen, ideologischen oder dogmatischen Konfliktlagen auf die Folie urchristlicher Konflikte aufgetragen wurden und dann in der Folgezeit die Darstellung der frühchristlichen Problemlagen entscheidend verändern (1.9). d) Ein Blick auf die zahlreichen Neuansätze sowohl in Detailfragen als auch in umfassenden theologiegeschichtlichen Modellen (1.9.2-1.9.6) zeigt gegenwärtig gangbare Wege des Herangehens und steckt den Rahmen der vorliegenden Arbeit ab. e) Mit einer Auswertung (1.10) und einer daraus abgeleiteten Aufgabenbestimmung (1.11) schließt der Einleitungsteil, indem er den Ertrag zusammenfasst und weiterführende Akzente setzt. B. »Im Fleisch ist er gekommen«: 1 Joh und seine Gegner Zielsetzung und Überblick zu B. 1 Joh kennt weder bei seinen Gegnern noch in den eigenen Reihen irgendeine Art von Doketismus. Nirgendwo begegnet eine Infragestellung des Leidens Christi. Nirgends wird sein Tod bestritten. Nirgends ist davon die Rede, dass irgendetwas von dem, was er als Mensch getan oder gesagt hat, in irgendeiner Weise mit Täuschung, Trug oder nur scheinbarer Realität zu tun gehabt hätte. Stattdessen geht es um die brisante Frage, ob der Christus gekommen ist und ob Jesus dieser Christus ist. Letzteres allerdings ist für den Verfasser von 1 Joh die Grundvoraussetzung. Drei Fragestellungen werden in den Kapiteln 2-4 behandelt: a) Die Einleitungsfragen über die religionsgeschichtliche Verortung und über die textpragmatische Struktur von 1 Joh führen ein in die von 1 Joh verwendete Szenerie. Ohne ein Verständnis für das von 1 Joh verwendete »Weltbild« ist ein Verständnis des Textes nicht möglich (2). b) Textanfang und Textende bieten in jedem Text Hinweise zur behandelten Thematik und die vom Verfasser gewünschten Effekte. Daher geht die inhaltliche Analyse von diesen Textstellen aus, um sich dann über die in 1 Joh 2 geschilderte Auseinandersetzung dem entscheidenden Abschnitt von 1 Joh 4,2f zu nähern (3). Es wird deutlich, dass Christus »im Fleisch« die notwendige Reaktion auf die falschen Propheten »in der Welt« ist. Um das so gewonnene Ergebnis zu sichern, werden die Begriffe »Welt«, »Fleisch« und »Gekommen« untersucht. Am Ende steht das Ergebnis fest: Für 1 Joh kommt alles darauf an, dass der Christus da gewesen ist. c) Die übrigen Gegnertexte sowie weitere Stellen werden untersucht (4), um sicherzustellen, dass auch der »Rest des Textes« zur gefundenen Lösung passt. Tatsächlich ist nirgendwo Doketismus festzustellen. Stattdessen wird der kultisch und mystisch orientierte Denkrahmen von 1 Joh deutlicher und bestätigt die schon bisher gemachten Beobachtungen. d) Die zusammenfassenden Ergebnisse (5) zeigen, dass weder Gnosis noch Doketismus im Hintergrund anzunehmen sind. Vielmehr präsentiert sich 1 Joh als Zeugnis eines Christentums, dass noch ganz in jüdischem Rahmen denkbar und wahrscheinlich ist. 2 Der sogenannte »Erste Johannesbrief« Zielsetzung und Übersicht zu 2 Der Erfahrungsraum des dualistischen Dramas, den 1 Joh voraussetzt, ist zu beschreiben. Die forschungsgeschichtlichen Einleitungsfragen sind zu prüfen und zu vergleichen. 50 B. 2 Der sogenannte »Erste Johannesbrief« Zum Vorgehen: a) Nachdem mit Hilfe zweier Übersichtsskizzen die Alternativen in den Einleitungsfragen deutlich gemacht sind (2.1.1 und 2.1.2), werden ebendiese forschungsgeschichtlich dargestellt (2.3). Dabei geht es über die diversen jeweils unterschiedlich mit zeitlichen und örtlichen Voraussetzungen verknüpften Gegner-Identifizierungen der Forschungsgeschichte (2.3.1-2.3.10) schließlich hin zum eigenen Ansatz (2.3.11). Wesentlich ist, dass trotz der Uneindeutigkeit des Textes eine konkrete Situation im Hintergrund steht, die zeitlich und räumlich vorstellbar sein muss. Eines der Ergebnisse ist, dass 1 Joh früher als gemeinhin üblich datiert werden kann. Damit sind einseitige Fixierungen überwunden und der religionsgeschichtliche Blick weitet sich. b) Die Untersuchung der den Gesamttext prägenden Wortfelder zeigt ein eigenes Geflecht an Beziehungen im Text, die wichtiger sind, als der Versuch, 1 Joh in systematischer Weise zu gliedern (2.5.3). Die Frage nach den Erfahrungen von Verfasser und Adressaten und die Frage nach der Pragmatik des Textes (2.5) zeigt eine lebendige, »echte« Kommunikation (2.5.4) sowie ein alles prägendes Weltbild, wonach »Welt« und »Fleisch« als Bühne des Geschehens zu betrachten sind, das »aus den Kulissen« hinter dem sichtbaren Teil des Stückes beeinflusst wird. Wichtig ist dabei die Frage, »woher« jemand stammt und wessen Bote oder Kind er somit ist. 2.1 Das Grundproblem der religionsgeschichtlichen Einordnung Die Frage, ob in 1 Joh 4,2f Doketismus angesprochen ist, gliedert sich ein in ein Gesamtverständnis des Textes, das in den verschiedensten »klassischen« Auslegungen erstaunlich konstant ist, da immer erklärungsbedürftige Textstellen von diesem allgemein angenommenen religionsgeschichtlichen Hintergrund her gedeutet werden. Auf diese Weise stützen sich einzelne Beobachtungen gegenseitig und machen es schwer, Beobachtungen, die »nicht hineinpassen«, angemessen zu würdigen oder gar zum Ausgangspunkt anderslaufender Bewertungen zu machen.206 Es reicht also nicht, zu zeigen, dass in 1 Joh 4,2f keine Doketisten oder doketistische Trennungschristologen im Blick sind. 1 Joh als ganzer gilt als Reaktion auf Doketisten. Daher werden traditionell alle wesentlichen Zusammenhänge innerhalb dieser kleinen Schrift auf die vermutete Auseinandersetzung mit den Doketisten bezogen. Streicht man die Doketisten für 1 Joh 4,2f, bleibt also immer noch die Frage, wie der Rest des Textes zu deuten ist. Wenn darauf keine Antwort gegeben werden kann, ist das Ergebnis schnell eine Rückkehr zu den vertrauten Pfaden doketistischer oder antidoketistischer Auseinan206 Ich danke an dieser Stelle HELMUT MERKEL, Osnabrück, der mich 1998 in Hannover im 1. Theologischen Examen darauf ansprach. Meine Beobachtungen zu 1 Joh 4,2f seien zwar interessant. Es stelle sich aber die Frage, wie das mit dem zusammenpasse, »was sonst noch im Brief steht«. Genau das möchte ich jetzt in den Blick nehmen, indem ich zunächst die klassischen Positionen aufrissartig darstelle. Dieser Gegenentwurf muss im Folgenden validiert, »gefüllt« und begründet werden. 3 Der Auftritt des erwarteten Messias 3 97 Der Auftritt des erwarteten Messias Zielsetzung und Übersicht zu 3 Weder in 1 Joh 4 noch in den signalgebenden Stellen am Anfang und Schluss des Textes gibt es Hinweise auf Doketismus. Auch die Auseinandersetzung in 1 Joh 2,18-27 weist auf anderes hin. a) Die in 1 Joh 1 behauptete Augenzeugenschaft des Verfassers ist ernstzunehmen. 1 Joh bezieht sich auf den epiphanialen Auftritt des göttlichen Lebens und Lichts im Menschen Jesus (3.1). b) Die Warnung, mit der 1 Joh schließt, nicht ins Heidentum abzufallen, ist innerhalb des Frühjudentums mehrfach belegt. Sie gilt auch für innerjüdische Abspaltungen vom »rechten Glauben«. Die Warnung macht deutlich, worum es hier geht: Wer ohne Jesus an Gott glauben will, ist längst (aus dem Judentum) ins Heidentum abgerutscht (3.2). c) Der grundlegende pneumatische Dualismus des 1 Joh wird, wie die Untersuchung von 1 Joh 2 zeigt, berührt, wenn es um das »Bekennen« des (mit Geist gesalbten) Messias geht. Entweder hat jemand das richtige Bekenntnis und damit den richtigen Geist, oder das falsche Bekenntnis zeigt auch den falschen Geist (3.4). d) Die Ergebnisse von 1 Joh 2 werden in 1 Joh 3,23-4,16 anhand der Verben des Erkennens und Bekennens fortgeführt und bestätigt. Es geht daher grundlegend um die Auseinandersetzung mit gegnerischen »Propheten« bzw. um falsches Bekenntnis, das als Falschprophetie gewertet wird. Im Rahmen des 1 Joh gedacht: Auf der Bühne der Welt agieren unterschiedliche Kräfte, deren Verhältnis zueinander pneumatisch geklärt wird (3.6). e) Der Auftritt Jesu Christi »im Fleisch« ist als Gegenvorstellung zu den »in der Welt« auftretenden Falschpropheten konstruiert. Diese verlieren dadurch an Gewicht, dass ihr Auftritt und ihre Leugnung des wahren Bekenntnisses im Rahmen eines apokalyptischen Szenarios erwartbar waren. Zudem ist der Auftritt Jesu »im Fleisch« zusätzlich noch einmal näher »am Menschen« als die Falschpropheten. Das, was Jesus betrifft, wird als wesentlicher und grundlegender empfunden als der »falsche Geist« der Gegner (3.7). f) Die Untersuchung der Vorstellungen von »Welt« und »Fleisch« sowie vom »Kommen« Gottes bzw. seines Gesandten sowie ein Blick auf die TempelChristologie des Johannesevangeliums zeigen abschließend den »Ort« der Inkarnationsvorstellung bei 1 Joh an (3.8-3.10). Es geht um die Wirksamkeit und die Legitimität Christi, die in Frage gestellt sind. Die Behauptung, Jesus sei »im Fleisch« gekommen, impliziert messianisches Wirken. Genau das ist umstritten. 1 Joh tritt in diesen Streit ein. Doketismus oder Antidoketismus begegnen dabei nirgends (3.11). 182 4 B. 4 Weitere »Gegnertexte« in 1 Joh Weitere »Gegnertexte« in 1 Joh Zielsetzung und Übersicht zu 4 Für die Doketismus-Verfechter in der Forschung zu 1 Joh steht in der Regel fest, dass nicht nur 1 Joh 4,2f für Doketismus spricht, sondern auch, dass eine ganze Reihe anderer Stellen Ausdruck des in 1 Joh gespiegelten anti-doketistischen Konfliktes seien. Damit schließt sich häufig ein argumentativer Zirkel. Es reicht daher nicht, nur darzulegen, dass 1 Joh 4,2f ohne Doketismus verstanden werden kann. Es muss ebenfalls dargestellt werden, dass dies für 1 Joh insgesamt gilt. Es lässt sich zeigen: a) Die Gegner haben offensichtlich ein Problem mit noch geschehender Sünde nach dem Auftritt dessen, der als Messias dieses Problem bewältigt haben sollte. Auch die weitere Existenz von Leid und gar zunehmender Verfolgung passen in dieses Wahrnehmungs-Schema (4.1). b) Die Taufe ist für 1 Joh von zentraler Bedeutung. Sie bietet eine den Adressaten noch gut präsente Erfahrungsebene, die sie stärkt und Gewissheit verschafft. Denn sie verbindet mit Leben und Tod Jesu, sowie mit dem Geist als wesentlichem Erfahrungsträger christlichen Selbstverständnisses (4.2). c) Das Problem der noch geschehenden Sünde wird von 1 Joh metaphorisch in Bildern des Jerusalemer Tempelkults gelöst. Wie beim Bundesschluss am Sinai ist die Gemeinde mit dem Leben (Blut) Jesu in Berührung gekommen und bildet dadurch eine Einheit. Nur so können ihr Sünden vergeben werden. Wer aus der Gemeinschaft ausbricht, bricht auch aus dem einzig hilfreichen Sühnegeschehen aus und hat dann erst Recht ein Sündenproblem (4.3.). d) Mit der Kultmetaphorik verwandt ist die Vorstellung des gerechten Fürsprechers im Himmel (4.4). Auch diese Vorstellung dient dazu, die von den »Gegnern« gestiftete Verwirrung zu beenden. Denn es kommt jetzt alles darauf an, mit diesem Fürsprecher, nämlich Jesus, verbunden zu sein. Zugleich erfährt das »messianische Fragment« eine Deutung: Die nichtvollendete messianische Tat, nämlich die Herbeiführung der messianischen Zeit (Endzeit), steht zwar noch aus. Dennoch ist das, was Christus wirklich getan hat, seine Lebenshingabe am Kreuz, für uns längst wirksam. e) Innerhalb des Konzepts von 1 Joh ist daher der Umgang mit unterschiedlichen Graden von Sünde konsequent: Liebe als Kraft der Einheit verbindet die metaphorisch als kultisch geeint wahrgenommene Gemeindeglieder untereinander und mit Christus. So können durch Fürbitte und Liebe Sünden vergeben werden. In der Folge wird der »Sünder« alles tun, um im Bereich der Liebe (d.h. auch: im Tun der Gebote) zu bleiben. Wer sich allerdings von der Gemeinschaft trennt, weil er das alles nicht für richtig oder authentisch hält, begeht die wahre Sünde, die ihn von Sühne und Vergebung abtrennt und somit in den Bereich des Todes stellt (4.5). 4.1 Die Position der Gegner (1 Joh 1,5-10) 183 f) Insgesamt ist zu sagen: Doketismus ist an keiner Stelle im Blick. Vielmehr zeigt sich eine innerhalb des frühjüdischen Spektrums gut vorstellbare messianische Gemeinde im Kampf um die Deutung des »messianischen Fragments« Jesu. Das »Fleisch Christi« ist vor diesem Hintergrund vor allem »Ort« des Auftritts des Messias bzw. seine »Kontaktfläche« zur Welt (5). 4.1 Die Position der Gegner (1 Joh 1,5-10) 1 Joh 1,5-10 wird in der Regel als Diskussion eines Konfliktes mit den Gegnern gelesen. Dem schließe ich mich an. Allerdings rekonstruiere ich Diskussionsbeiträge konträr zum herrschenden Konsens.623 4.1.1 Die Grundstruktur von 1 Joh 1,5-10 Zunächst betrachten wir die grundlegende Struktur: V 5 erläutert den Inhalt der Verkündigung, die im Brief in einem Satz entfaltet werden soll. Gott ist Licht und steht gegen alle Finsternis. Dieser bei Freunden und Gegnern des Verfassers allgemein zustimmungsfähige Satz wird in V 6-10 in fünf Bedingungssätzen auf seine Konsequenzen überprüft: Wer X tut, ist Y.624 Zwei einander ausschließende grundsätzliche Haltungen werden gegenübergestellt und jeweils dem Licht bzw. der Finsternis zugeordnet. Das Problem, das verhandelt wird, ist das der Sünde in der Gemeinschaft des Lichts. VV 7.9 bieten zwei Lösungen des Problems im Brief: - »Wandeln im Licht« als Bedingung für Gemeinschaft, was wiederum Bedingung für die an Jesu Blut geknüpfte Vergebung von Sünde ist. - Sündenbekenntnis, was Sündenvergebung bzw. Reinigung zufolge hat. 4.1.2 Verkennen die Gegner ihre Situation vor Gott? Allgemein werden VV. 6.8.10 den Gegnern zugeschrieben625. Dies ist möglich und hätte zur Folge, dass die Gegner behaupten, Gemeinschaft mit Gott zu haben (wie es auch der Verfasser des Briefes tut). Gleichzeitig aber würden sie mit oder ohne Absicht sündigen und dabei behaupten, sie täten es nicht. Die Gegner hätten dann ein unausgeprägtes ethisches Verständnis. Sie wären Enthusiasten, Libertinisten, Doketisten oder allgemeiner pneumatisch-spirituell orientierte Menschen, die sich auf dem Weg zur Gnosis befinden: Die reale Welt und reale Beziehungen in ihr wären ihnen unwichtig, wichtig wäre allein eine rein innerliche Beziehung zu Gott.626 Angesichts ihrer Gotteserkenntnis wären sie der Ansicht, nicht mehr sündigen zu können.627 Will man vermeiden, die Gegner gleich mit 623 Die Textanalyse schließt an Abschnitt 3.1 an, oben S. 98. Vgl. die Analysen von GRIFFITH (Idols), STREETT (Identity), BERGER (Kommentar), ERLEMANN (1Joh), WILCKENS (Gegner 2001). 624 Vgl. BERGER, K., Formgeschichte, 186-188. 625 So z.B. WENGST, Brief, 52ff. 626 Dieses Szenario ist weder nötig noch wahrscheinlich. Wahrscheinlich ist es deswegen nicht, weil es gar keine Belege für »Libertinismus« im frühen Christentum gibt; vielmehr ist der Vorwurf des Libertinismus m.E. ein gängiger Topos in der Polemik gegenüber Gegnern, denen man Tabu-Brüche im Sinne von Hostienschändung, Atheismus (»Asebeia«) oder eben ethischen Nihilismus vorwarf bzw. gerne auch heute noch vorwirft. 627 Ebd. - Vgl. in diesem Sinn zur Sündlosigkeit in 1 Joh: MILLS, Concept. Dagegen: GRIFFITH, Reading; HILL, Sin. Vgl. KRUSE, Sin; SMILIE, Sin; WARD, Sin. 4.3 Der ἱλασμός: Sühne und Fürsprache 207 allem, dass ein Mensch Zugang zu himmlischer Liturgie erhält, dabei mit der Repräsentanz Gottes verglichen oder gleichgesetzt werden kann und dann auch noch als Heiligtum selbst bezeichnet wird. Gewonnen für unsere Betrachtung zu 1 Joh ist vor allem, dass a) derartige Vergleiche oder Gleichsetzungen möglich waren und dass b) dabei die Metaphorik grundsätzlich »ins Schwimmen« gerät. Zudem ist c) zu beachten, dass himmlische Liturgie immer auch mit »Versöhnung« zusammenhängt, indem dort Fürbitte geleistet wird. Sollte d) mit dem Maskîl eine hohepriesterliche Figur im Blick sein und mit dem Heiligtum das Allerheiligste steht in diesem Zusammenhang direkt und unverstellt der Versöhnungstag (Jom Kippur) mit seinen Reinigungsriten (durch Blut=Leben) vor Augen. 4.3.5.4 Kultische Sühnemetaphorik im Römer- und Hebräerbrief Neutestamentlich begegnet ἱλασμός nur in 1 Joh 2,2; 4,10. Während ἱλασμός »Sühne, Sühnung, Sühnemittel, Versöhnung« bedeutet und auf den Akt des Versöhnens hin auszulegen ist, begegnet im Römer- und im Hebräerbrief auch der damit verwandte Begriff ἱλαστήριον, der den Sühneort (hebr. ‫ )כפרת‬im Allerheiligsten bezeichnet. Während in Röm 3,25 Jesus selber mit dem ἱλαστήριον identifiziert wird, das in einem jede Vorstellung sprengenden Akt mit dem eigenen Blut besprengt wird, hat Hebr 9,5 den realen Sühneort im Allerheiligsten vor Augen, der allerdings abgelöst wird durch das Heiligtum des Neuen Bundes, nämlich das Himmlische Heiligtum 9,23, das als Urbild des irdischen galt. Auch dort gibt es einen »Gnadenthron« (4,16; 8,1). Im Neuen Bund ist Christus als Hoherpriester tätig (8,1), um die Sünden des Volkes zu sühnen (2,17: εἰς τὸ ἱλάσκεσθαι τὰς ἁμαρτίας τοῦ λαοῦ). Auch in Hebr wird die Sühne mit dem Blut Christi in Verbindung gebracht: Das Blut Christi reinigt die Gewissen (Hebr 9,14; 10,22). Ausdrücklich wird in diesem Zusammenhang die Szene des großen Versöhnungstages (Ex 24,8) mit der Besprengung des Volkes zitiert (9,19). Aber auch im Heiligtum selbst wirkt Christus Sühne durch Blut, wie aus 9,21-25 zu schließen ist. Das Wesentliche aber ist sein »Opfer« (9,23.26; 10,11.12.26), womit wohl umfassend Jesu Lebenshingabe gemeint ist (vgl. dazu oben »Leben als Lösegeld« in 4Makk (S. 205). Ergebnisse 1. Während Röm 3 als Vergleich nicht viel erbringt, weil in 1 Joh eine Besprengung des Allerheiligsten nicht erwähnt wird, bietet die kultische Metaphorik des Hebräerbriefes interessante Vergleichsmöglichkeiten: Wie in 1 Joh und 1 Petr wird auf Ex 24 (Bundesschluss am Sinai) angespielt und auf die Besprengung der Gemeinde mit Blut. 2. Zudem wird der neue Kult ausdrücklich metaphorisiert oder spiritualisiert aufgefasst. D.h., dass ein echtes »Opfer« Jesu gar nicht im Blick ist, sondern wie in 4Makk und 1QS 8 die demütige, vollständige Lebenshingabe des Gerechten. 4.3.5.5 Die Szene des Versöhnungstages mit Christus Die Szenerie könnte so aussehen: 1. Das Blut Christi reinigt uns und wird wie bei der Kultinitiation in Ex 24 auf das Volk gesprengt - d.h. auf uns. Als reine Flüssigkeit hat es offensiv reinigende Kraft. 208 B. 4 Weitere »Gegnertexte« in 1 Joh 2. Anschließend wird durch die Priester Fürbitte gehalten. 3. Gemeinsam aus den Elementen 1 und 2 ergibt sich mit dem Handeln Gottes (der dies Gesehehen akzeptiert) die Versöhnung. 4.3.5.6 Drei Ebenen der Versöhnungs-Szene Die genannte Szene aus setzt zugleich drei unterschiedliche Ebenen voraus: - 1. Ebene: Jesus ist vor seinem Tod auf Golgatha Ort der Präsenz Gottes unter den Menschen.724 Dazu ist er gekommen, dass mitten unter den Menschen Gott präsent ist (wohnt). Der »Kultort Jesus« ist viel näher als ein Gebäude, das von Menschenhänden gemacht ist.725 - 2. Ebene: Jesus lässt sein Leben und vergießt dabei Blut. Dieses Blut dient als Reinigung von Sünden und bereitet Sühne vor. Die Reinigung kommt zustande, indem Blut appliziert an die Gemeinde, die damit Zugang zu Gott bekommt. - 3. Ebene: Jesus ist Fürsprecher vor Gottes Thron (1 Joh 2,1). Das kann »oben« sein; es kann auch wie bei Hiob schon irdisch so gesehen werden. 4.3.5.7 Einzelprobleme der Metaphorisierung Festzuhalten ist: a) Blut wird vergossen. b) Wir werden durch das Blut gereinigt. D.h.: Die Besprengung der Gemeinde ist vorausgesetzt. c) Dies ist jedenfalls eine kultische Handlung. d) Kultische Angelegenheiten regelt man am Heiligtum. e) Es spricht nichts dagegen, auch das Heiligtum durch das Blut zu reinigen.726 f) Über die Reinigung des Heiligtums wird aber nichts gesagt (wenn es sich um das himmlische handeln sollte, ist das genauso überflüssig, wie wenn es sich um den Leib Jesu handelt. Beide sind per se heilig). g) Auch über ein Verbrennungsopfer wird nichts gesagt. h) Jesu Fürsprache bei Gott könnte hier als Ersatz des Brandopfers stehen. i) Mit der Fürsprache ist die eher magische Ebene verlassen - Appell an das Erbarmen Gottes. j) Ort der Fürsprache ist entweder der Himmel als Heiligtum wo Jesus agiert. k) Oder Ort der Fürsprache ist die Gemeinde als geistliches Heiligtum hier (Fürbitte innerhalb der Gemeinde). l) Jesus bewirkt die Reinigung mittels seines Blutes und schließt damit die Gemeinde als solche zusammen. Vgl. die fast identische Metaphorik beim letzten Abendmahl. m) Er ist nicht nur Spender des Blutes, sondern auch Zelebrant der Sühnehandlung. 724 Vgl. dazu oben »Jesus als Tempel« S. 175ff. Vgl. STREETT, Identity, 328: »The Spirit that God gives provides knowledge and assurance that God/Jesus dwells in or among the author and his audience (έν ἡμῖν).« 725 Dem entspricht der Gedanke, dass die Gemeinde selbst das eigentliche Heiligtum bzw. der eigentliche, auf den Grundstein Jesus gebaute Tempel ist (s.o. S. 202). 726 So beispielsweise am großen Versöhnungstag: Da wird auch das Allerheiligste mit reinem Opferblut besprengt. Aber auch bei der Kultinitiation wird es mit Blut gereinigt. 4.3 Der ἱλασμός: Sühne und Fürsprache 209 Jesus ist aber weder im Tempelvorhof gestorben, noch wurde sein Blut an den Tempel oder an Menschen appliziert, noch hat er dies gar selber zelebriert. Bleibt die Frage: Wo und wie soll das ganze stattgefunden haben? n) Es handelt sich offensichtlich um eine metaphorisch bzw. geistlich zu nennende Handlung. Ort ist die »Gemeinde« bzw. die Herzen und Seelen (1 Petr 1,22).727 o) Offen bleibt in jedem Fall die Frage, wie das Blut zu den Menschen gelangt ist, um sie zu reinigen. Es bietet sich hierfür nur eine metaphorische Lösung an. Abgesehen von Taufe und Abendmahl werden keine Flüssigkeiten ausgegeben. Entweder wird auf eine dieser Handlungen angespielt (auf eine Salbung wohl gar nicht - da ist eine metaphorische Umformung nicht vorbereitet) - oder die Besprengung ist sowieso ganz unkörperlich erfolgt (so wie »Weihrauch und Widder sind dankbare Lieder« besingt, dass die Opfer nur rein metaphorisch vollzogen werden).728 p) Wenn wir aber schon eine nahezu rein metaphorische Ebene annehmen müssen - jedenfalls was den irdischen Jesus und sein Blut anlangt, können auch Heiligtum und Zelebrant metaphorisch sein. Das Heiligtum wäre der Himmel. Das Blut stammt von Jesus. Er selbst reinigt die Gemeinde damit (1 Joh 1,9). q) Eine himmlische Reinigung des Sühnortes wird in 1 Joh nicht erwähnt. r) Die Sühne für die Sünden, die in 1 Joh 2,2 und 4,10 erwähnt wird, ist durch 2,1 an die Fürsprache angeschlossen und kann daher auch als Lebenshingabe (»Opfer«) zugunsten der ihm Angehörenden verstanden werden. s) Die Inkarnation ist für uns der Ort der Gottesbegegnung. Als Mensch (»Fleisch«) ist Christus vergleichbar mit dem »Zelt der Begegnung« (Joh 1,14, vgl. 1 Joh 1,1-4) zwischen Gott und Mensch. t) Wenn vom »Blut« Jesu die Rede ist, ist Jesus nicht gleichzeitig als »Zelt der Begegnung« im Blick. D.h.: Die Perspektive springt zu einer neuen, ganz anders gestalteten Szenerie: Der Blick ist nur noch auf das »Blut«, d.h. die Lebenshingabe Jesu fokussiert. Die anschließende Deutung (»Reinigung« und »Sühne«) bezieht sich ausdrücklich auf das Blut Jesu bzw. auf die »Lebenshingabe« insgesamt. u) Das Besprengen mit Blut hat dabei nicht nur eine kultisch-reinigende Funktion, sondern schließt auch die Gemeinde als solche zusammen (Konstitution der Gemeinde). v) Das Ausbrechen aus der Gemeinde seitens der Gegner von 1 Joh ist daher - wie man z.B. in 1QS oder in Hebr sehen kann - der Kardinalfehler schlechthin; in Worten des 1 Joh: »Sünde zum Tode«. w) Damit ist eine Verknüpfung geleistet zwischen der Frage nach geschehender Sünde, ihrer Sühne, Einheit der Gemeinde und dem aus Sicht der Gegner möglicherweise problematischen Tod Jesu. 727 Das hat in 1 Petr 1,22 ebenso wie in 1 Joh 4,10 mit Wahrheit, Bruderliebe und Gehorsam zu tun. 1 Joh 2,2ff bietet Ähnliches: Beachten der Gebote ist Grundlage der erfolgenden Sühne, ganz ähnlich wie in PsSal 3 der treue Umgang mit den Geboten als Sühne für die »lässlichen Sünden« des Gerechten gewertet wird. 728 EG 449,3 (»Die güldne Sonne«). C. Das »Fleisch des Messias« im frühen Christentum (ohne Ignatius) Zielsetzung und Übersicht zu C. Nicht nur 1 Joh, sondern auch eine ganze Reihe der »Fleisch-Christi«-Stellen des frühen Christentums galten lange als Reaktionen auf doketistische Tendenzen. Sie wurden bzw. werden daher häufig antidoketistisch ausgelegt. Wären diese Auslegungen im Recht, würde dies zwar die bisherigen Beobachtungen und Schlussfolgerungen nicht umstoßen. Dennoch wäre die Frage nach dem Ursprung des Ausdrucks »Fleisch Christi« wiederum anders zu stellen. Möglicherweise wäre dann in 1 Joh und an anderen Stellen ein Sprachgebrauch aufgenommen, der seine Herkunft in einem weiter zurückliegenden doketistischen Streit hätte. Diesen Überlegungen kann im Folgenden nicht nur dezidiert, sondern vor allem detailliert mit allen in Frage kommenden Stellen begegnet werden. So unterschiedlich die Fleisch-Christi Stellen im frühen Christentum auch sind: Doketismus und Gnosis stehen nirgendwo im Raum. Das gilt sowohl für die Texte des Neuen Testaments (6) als auch für die Texte der sogenannten »Apostolischen Väter« (7). Stattdessen sehen wir vielfältige, unterschiedliche Konzepte, die aber alle auf eine gleiche Wurzel zurückgehen müssen. So wird im Abschnitt C. vorbereitet, was später im Abschnitt E. (insbesondere unter 12) religionsgeschichtlich weiter entfaltet werden soll. In Kapitel 8 wird eine zusammenfassende Gesamtschau geliefert, die einige Hinweise auf die Funktion und Zweck sowie Herkunft der Rede vom »Fleisch Christi« liefert. 6 Das »Fleisch Christi«: Neues Testament Zielsetzung und Übersicht zu 6 Doketismus ist nicht im Blick, wenn vom »Fleisch Christi« geredet wird. Was aber dann? Im Folgenden gewinnen wir einen Einblick in die unterschiedlichen Funktionen und Kontexte des »Fleisches Christi« im Neuen Testament. Es zeigt sich, dass die Erwähnung des Fleisches Christi folgende Funktionen haben kann: - Die Betonung der Wirksamkeit des Heils bei den Menschen (Soteriologie). - Die Betonung der Einheit der Gemeinde (Ekklesiologie). - Die Beschreibung der Sendung des Sohnes vom Vater (Christologie). - Die Darstellung des Zusammenspiels von Geist und Fleisch im Menschen (Pneumatologie). - Die Anwendung von Adam- und Abbildmotiv auf Christus: Christus ist in doppelter Weise »gleich«, nämlich Gott und den Menschen gegenüber. 218 C. 6 Das »Fleisch Christi«: Neues Testament - Die Übertragung tempeltheologischer bzw. kulttheologischer Vorstellungen auf Christus. Vor allem durch den zuletzt genannten Punkt ist deutlich: Es geht bei der Rede vom »Fleisch Christi« immer um die Anwesenheit des göttlichen Heils bei den Menschen. Die folgenden Analysen sind nicht inhaltlich, sondern nach den jeweiligen neutestamentlichen Schriften geordnet. Nach einer Beschreibung des Ausgangspunkts für 6 und 7 (6.1) und der Problemanzeige, dass der »Messias im Fleisch« vorchristlich nirgends begegnet (6.2), werden die neutestamentlichen Bezeugungen dieses Konzepts nacheinander erörtert. In Kürze vom johanneischen Konzept ausgehend, das schon in Teil B. ausgiebig erörtert ist (6.3), nehmen wir die Äußerungen des Paulus und seiner direkten Umgebung in Augenschein (6.4-6.9). Bei den Darstellungen der Menschwerdung Christi in Gal 4,4 und Phil 2,6-11 beginnend, wird insbesondere Römer 8,3, eine der Kardinalstellen späterer Inkarnationschristologie, untersucht (6.6). Die Frage, was hier mit »Gleichgestalt des sündigen Fleisches« gemeint ist, wird im größeren und näheren Kontext und im Vergleich der eruierbaren Wortfeldbeziehungen gezeigt. In Kol 1,20ff und Eph 2,14f fungiert das »Fleisch Christi« dann als Versöhnung und Frieden schaffendes Mittel der Verbindung (6.7 und 6.8). 1 Tim 3,16 verbindet auf der irdischen Ebene das Fleisch mit dem Geist aus der himmlischen Ebene (6.9). Dabei geht es nicht um Geistchristologie oder Doketismus, sondern um das Fleisch als notwendige »Bühne« für den Geist. Der Hebräerbrief bietet gleich drei Bezugnahmen auf das »Fleisch Christi«, von denen die ersten beiden den irdischen Jesus gegenüber dem später erhöhten meinen. Die dritte Stelle in Hebr 10 geht darüber hinaus, indem das Fleisch Christi mit dem Tempelvorhang gleichgesetzt wird als Ort des Durchgangs vom Allerheiligsten in die Welt und von der Welt ins Allerheiligste (6.10). In 1 Petr schließlich begegnet das Fleisch Christi in Kombination mit »Leiden«, doch auch hier ohne doketistischen Hintergrund, da das Leiden nicht in Frage steht, sondern also tröstender Hinweis auf die Geschickgemeinschaft Jesu mit den Angesprochenen fungiert (6.11). Insgesamt kann nachgewiesen werden: a) Eine ausdrückliche Thematisierung des »Fleisches Christi« ist nicht als »Antithese zur Leugnung der wahren Menschlichkeit Christi« zu verstehen.750 b) Positiv können die Funktionen des Begriffes »Fleisch Christi« im NT gezeigt werden. 750 So z.B. HENGEL, Frage, 185, über den Sprachgebrauch bei Johannes. 245 7 Das »Fleisch Christi«: Apostolische Väter (ohne Ignatius) Zielsetzung und Übersicht zu 7 In der frühchristlichen Literatur außerhalb des Neuen Testaments finden sich einige Stellen, die explizit auf Doketismus verweisen zu scheinen. Denn anders als in 1 Joh und den anderen neutestamentlichen Schriften bringt z.B. der Barnabasbrief das Thema »Fleisch« mit »Leiden« und »ins Fleisch-Kommen« zusammen. PHerm differenziert ganz im Sinne des späteren Doketismus zwischen dem »Fleisch« und dem »Geist« Christi. 2Clem schließlich spricht davon, dass Christus erst Geist und dann Fleisch war, EvThom spricht von der Offenbarung Jesu im Fleisch. Beides könnte wie in TestXII als nur scheinbares Fleischwerden aufgefasst werden. In den Patriarchentestamenten wird mehrfach davon gesprochen, dass Gott »wie ein Mensch«, »in Gestalt eines Menschen«, wie ein »Schauspieler, der einen Menschen darstellt« auftreten wird. Hier hätte man im Sinne des noch darzustellenden Engeldoketismus einen eindeutigen Beleg für frühchristlichen Doketismus. Im Folgenden geht es darum, die genannten Textstellen im jeweiligen Kontext zu verstehen: Barn nutzt das Motiv des Fleisches Christi, um einen Midrasch zu den Themen »Gelobtes Land« und »Tempel« zu liefern (7.1). PHerm differenziert zwar zwischen Fleisch und Geist, ist aber im wesentlichen pneumatologisch an dem Zusammenspiel dieser beiden Größen im Menschen interessiert (7.2). 2Clem nutzt die »Fleisch«-Terminologie für ekklesiologische und seelsorgliche Aussagen (7.3). EvThom spricht vom Kommen Jesu ins Fleisch, um sein Kommen in die Not der Menschen zu darzustellen (7.4). Die doketistisch wirkenden Stellen in TestXII sprechen nicht von Jesus, sondern von Gott. Sie werden kontrastiert von ganz und gar nicht doketistischen Bezugnahmen auf Jesus. Die besondere Theologie der TestXII zwischen Juden- und Christentum dürfte hier im Hintergrund stehen. Da die vorliegenden Fassungen der TestXII nicht vor Mitte des 2. Jahrhunderts anzusetzen sind, ist hier möglicherweise tatsächlich ein Hinweis auf Doketismus zu entdecken. Damit gehören die TestXII allerdings auch nicht mehr zu der ganz frühen frühchristlichen Literatur (7.5). Letztendlich ist nirgends von Doketismus die Rede. Auch die TestXII kennen nicht die Bestreitung des Leidens oder des Todes Jesu. Doketistisch erscheinende Aussagen werden immer wieder von ganz und gar nicht doketistischen kommentiert und weitergeführt. 246 C. 7 Das »Fleisch Christi«: Apostolische Väter (ohne Ignatius) Wesentlich bei allen folgenden Textauslegungen ist, dass der direkte Kontext Beachtung findet. In jedem einzelnen Fall ist die Nähe zu klassischen Positionen des Judentums näher als zu späterer Gnosis. Dies ist nicht nur im Großen und Ganzen zu behaupten, sondern wird im Einzelnen am Text belegt, so dass in manchen Fällen für bisher gängige Bewertungen und Einordnungen Alternativen angeboten werden können. Darüber hinaus bieten die dargebotenen Texte weitere Hinweise auf die Funktionen, die das Begriffspaar »Fleisch« und »Christus« einnehmen konnten, was für die spätere Betrachtung der Frage, wo die Vorstellungen von Inkarnation und Doketismus ihren Wurzelgrund haben, von Bedeutung ist (siehe im religionsgeschichtlichen Teil E.). 7.1 Der Barnabasbrief 846 7.1.1 Überblick über die kritischen Stellen Der Barnabasbrief bietet einige Stellen zum Thema »Fleisch« an, die für unsere Frage nach »Doketismus« besonders interessant erscheinen. Denn hier treffen die späteren Reiz-Worte und -Vorstellungen »Fleisch«, »leiden« und »Kreuz« aufeinander. Dazu kommen doketistisch klingende Formulierungen. Gleichzeitig ist theologiegeschichtlich eher ein frühes Stadium gegeben. Denn diverse judenchristliche Themen aus der Frühzeit des Christentums werden diskutiert. Man kann Barnabas gar als »einen dezidierten und äußerst interessanten Gegner des Paulus und Hebr« sehen.847 846 PROSTMEIER, Barnabasbrief; LINDEMANN/PAULSEN, Väter; GRILLMEIER, Jesus, 160f. PROSTMEIER datiert »sicher nach dem Jahr 70« und zwingend »vor 190« (a.a.O., 111), um dann (118) zu präzisieren: »Die Abfassung des Barn wäre also zwischen Frühjahr 130 und Februar/März 132 erfolgt.« Die von ihm angebotenen Datierungen orientieren sich am von Barn ausführlich behandelten Tempelmotiv, was die Frage aufwirft, welcher Untergang welches Tempels hier im Blick ist. PROSTMEIER, der von »antijüdischen Invektiven« in Barn ausgeht, sieht den Untergang des herodianischen Tempels in deutlich zurückliegender Vergangenheit - noch vor dem jüdischen Aufstand von 132-135 unter Bar Kochba. - Anders vermutet FASSBECK, Tempel, 123-125, aufgrund der an der entscheidenden Stelle in Barn 16 zitierten Jesaja-Weissagungen, dass die »historische Situation der frühen nachexilischen Zeit im Blick ist«. - Es ist also zu fragen, ob nicht die für Israel/das Frühjudentum liturgisch und theologisch immer präsente Katastrophe der Schleifung Jerusalems durch die Babylonier im 6. Jahrhundert vor Christus im Barnabasbrief die Folie zur Erklärung der eigenen Gegenwart darstellt, die dann durchaus im ersten Jahrhundert und sogar bzw. gerade vor dem Jahre 70 vorstellbar ist. Was »antijüdisch« ist, ist im Übrigen sicher auch eine Bewertungsfrage. Bezogen auf Frühjudentum und frühes Christentum kann man etwa bei Paulus ein Schwanken zwischen totaler Identifikation mit Israel und größtmöglicher Enttäuschung und Ablehnung feststellen. Warum sollte das bei einer Schrift, die nach dem »väterlichen Freund« und Reisebegleiter des Paulus benannt ist, anders sein? Aus methodischen Gründen ist es sinnvoll, Barn für unsere Fragestellung zunächst einmal für eine »frühe« Schrift zu halten. Denn wenn Barn eine späte Schrift aus der Mitte oder dem Ende des zweiten Jahrhunderts ist, ist Doketismus längst eine bekannte Größe und die in Frage kommenden Stellen werden dann in jedem Fall mit Blick auf doketistische Fragen verfasst worden sein. So im Wesentlichen PROSTMEIER. - Geht man dagegen, wie im Folgenden, von einer frühen Datierung und gar möglichen Verortung im Umfeld des Apostels Paulus aus (all die Schriftbeweise, die um das Verhältnis Israel/christliche Gemeinde kreisen, machen dies eher wahrscheinlich), dann ist die Frage zu stellen, wie entsprechende, »verdächtige« Passagen aus sich heraus anders verstanden werden können als durch Doketismus. 847 BERGER, K., Theologiegeschichte, 562. Siehe dort die entsprechende Argumentation. D. »Zum Schein hat er gelitten«: Ignatius und seine Gegner 9 Die Ignatiusbriefe Zielsetzung und Übersicht zu 9 Für unsere Fragestellung nach der Entstehung des Doketismus im frühen Christentum stoßen wir bei Ignatius923 das erste Mal auf wirklich festen Boden.924 Der Bischof von Antiochien hat tatsächlich Gegner, die an der real-menschlichen Wirklichkeit des Leidens Jesu zweifeln. Wenn man sich die Argumentation des Ignatius genau anschaut und auf die Reihenfolge seiner Begegnungen mit Gemeinden und aus diesen Gemeinden erwachsenden Gegnern achtet, fällt am Ende auf, dass die Gegner von der Leiblosigkeit Christi sprechen, Ignatius dagegen den Begriff des Fleisches Christi ins Feld führt. Das Thema »Fleisch des Messias« hat Ignatius daher offensichtlich schon vor dem Kontakt mit seinen Gegnern in Kleinasien beschäftigt. Es ist unabhängig von der Doketismusfrage vorgegeben. Ignatius bietet somit nicht nur als Erster Bezeugungen von Doketismus in seiner Umwelt (unter seinen Gegnern), sondern er ist auch der Erste, der den Begriff des »Fleisches Christi« gegen den doketistische Positionen ins Feld führt. Somit begegnet uns zu Beginn der für uns wirklich greifbaren Entwicklung des Doketismus auch zugleich dessen Bestreitung mit Hilfe inkarnationschristologischer Begrifflichkeit. Im Hintergrund steht eine veränderte theologische und anthropologische Grundkonzeption, die die Gegner des Ignatius von Ignatius und auch den früheren christlichen Texten unterscheidet. Um diese Kernthesen zeigen zu können, gehen wir wie folgt vor: a) Ein Forschungsüberblick und eine Reflexion der verwendeten Methoden sowie einer - im Anhang - ausführlichen Diskussion der Argumente über die Abfassungsverhältnisse führen zu dem Schluss, die mittlere Rezension der Ignatianen als »echt« anzusehen und sich somit auf die in den Briefen gebotenen Informationen einzulassen. Nur, wenn die Abfassungsverhältnisse als einigermaßen gesichert gelten können, kann man sie zur Grundlage weitergehender Beobachtungen machen (9.1 und unten 17) b) Zu fragen ist nach den erkennbaren oder zu vermutenden Gründen für das Märtyrerschicksal des Ignatius (9.2.1) und über seine eigene Bewertung und Begründung seiner Situation (9.2.2). 923 Ignatius von Antiochien und die Gemeinden Kleinasiens - Lit.: WEIJENBORG, Les lettres; BOMMES, Weizen; PAULSEN, Studien; DERS., Ignatius; JOLY, Le dossier; RIUS-CAMPS, Letters; WEHR, Arznei; JOLY, Ignatius; SCHOEDEL, Briefe; TREVETT, Study; HÜBNER, Thesen; LIGHTFOOT, The Apostolic Fathers; ZAHN, Ignatius; GÜNTHER, Einleitung, 10f.64-75.122f . 924 BOMMES, Weizen, 13: Die Ignatiusbriefe wurden »schon sehr bald gesammelt und weiterverbreitet (...) - der erste Zeuge hierfür ist Polykarp von Smyrna« (Polyk 13,2). LIGHTFOOT, The Apostolic Fathers II, 127-221, untersucht vielfältigen Bezeugungen für Ignatius in der Alten Kirche. Die wichtigsten sind: Iren.haer. 5,28,4; Or.hom. in Lk. 6,4; Eus.h.e. 3,36,7f.; Hier.vill.ill. 16. 9 Die Ignatiusbriefe 275 c) Die Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung als Pneumatiker bzw. Mystiker ist eng mit der Märtyrersituation verbunden und wird auch für den Konflikt mit den Doketisten entscheidend sein (9.3). Es geht neben dem Umgang mit der Schrift besonders um die Selbstbezeichnung »Gottesträger« und um den Bereich des Offenbarungsempfangs. d) Der folgende, längere Abschnitt (9.4) widmet sich den unterschiedlichen Gegnern des Ignatius, und zwar in der Reihenfolge ihres Auftauchens in den Briefen (9.4.4-9.4.10). Es wird deutlich, dass Ignatius nur in Philadelphia und in Smyrna direkten Kontakt mit Gegnern hatte. Diese Kontakte prägen die Darstellung von Gegnern auch in anderen Briefen. Es zeigt sich, dass die Briefe »Rundbriefcharakter« hatten und ausgehend von tatsächlichen Konflikten auch mögliche oder tatsächliche Gegner in anderen Gemeinden mit in den Blick nehmen (9.4.11). Schließlich wird zwischen Judaisten und Doketisten sowohl differenziert, als auch die Zugehörigkeit der Doketisten zum weiteren Kreis der Judaisten wahrscheinlich gemacht (9.4.12). e) Der Begriff »Fleisch« bei Ignatius ist im Gegensatz zu dem von den Gegnern offensichtlich bevorzugten »Leib« Thema des Abschnitts 9.5: »Fleisch« ist für Ignatius mehr als die Materie des Körpers. Es geht um die Sphäre menschlicher Gemeinschaft auch und gerade mit Christus. Daher können auch Glaube, Evangelium, Gebet usw. als »Fleisch Christi« gelten (9.5.2). Die Untersuchung der Begriffe »Leib« und »Fleisch« (9.5.3) bringt das schon genannte Ergebnis, dass Ignatius am »Fleisch«, die Gegner am »Leib« interessiert sind, was auf eine anders geartete anthropologische Grundkonzeption hinweist. Das heißt: Der Doketismus der Doketisten richtet sich zunächst möglicherweise gar nicht ausdrücklich gegen die Inkarnationsvorstellung. Die Doketisten haben hier möglicherweise »naiv« traditionelle Aussagen unter Einfluss von mystischen Erfahrungen und vulgärphilosophischen Einflüssen aus dem pagan-griechischen Bereich ihre Auffassungen weiterentwickelt und werden erst durch Ignatius mit Macht auf die Konsequenzen ihrer Vorstellungen hingewiesen. Die Theologie des Ignatius, so zeigt sich, lässt sich nicht in ein einfaches dogmatisches Raster pressen. Sie wächst aus lebendigen Erfahrungen heraus. Der intensive Durchgang durch IgnSm 1-7, IgnEph 19 und IgnEph 7 (9.6-9.8) zeigt, wie eng mystisches, martyriologisches, judenchristliches und dann auch doketistisches Gedankengut miteinander zusammenhängen: f) Der Durchgang durch IgnSm 1-7 (9.6) ergibt, dass die Gegner in einem Milieu frühjüdischer Mystik zuhause sind (9.6.8.1). »Leiblosigkeit« ist höchstwahrscheinlich ein für Ignatius neues Thema (9.6.8.2). Das Leiden Christi ist für sogenannte »Judaisten« aus anderen Gründen als für die »Doketisten« ein Problem. Dennoch sind die Doketisten wahrscheinlich innerhalb des Bereichs der Judaisten einzuordnen (9.6.8.3). Zwar hat Ignatius mit seinen doketistischen Gegnern das Interesse am Himmel gemeinsam; dennoch geht seine Theologie gerade im und durch das Martyrium weit darüber hinaus (9.6.8.4). 276 D. 9 Die Ignatiusbriefe g) Dieses Interesse am Himmel zeigt sich insbesondere im Sternenhymnus von IgnEph 19. Hier profiliert Ignatius seine These, dass durch den Auftritt Jesu, der astralprophetisch gedeutet wird, zugleich die himmlische Sphäre neu geordnet ist. Somit gibt es keine eigenständige himmlische Welt mehr, die an sich von Interesse wäre, sondern nur noch eine, die mit dem im Geheimnis verborgenen, Mensch gewordenen Gott zusammenhängt. So unterläuft Ignatius die Argumente seiner Gegner (9.7). h) Auch IgnEph 7,2 ist als grundsätzliche Antwort an die Doketisten zu verstehen, da Ignatius hier den Zusammenhang von Leiden Christi und grundsätzlichem Nicht-Leiden-Können beantwortet. Wer an himmlischem Geist interessiert ist, muss wissen, dass das »Fleisch« in dieser Welt der notwendige Offenbarungsort ist (9.8). i) Abschließend werden die herausgearbeiteten christologischen Positionen des Ignatius und seiner doketistischen Gegner noch einmal einander gegenübergestellt (9.9). 9.1 Forschungsüberblick und methodische Orientierung 9.1.1 Forschungsüberblick Nachdem ZAHN, LIGHTFOOT und FUNK Ende des 19. Jahrhunderts die bis dahin offene Frage, welche der drei Rezensionen der Ignatiusbriefe als echt anzuerkennen sei, zugunsten der sogenannten »mittleren Rezension« entschieden hatten,925 erschien eine ganze Reihe von Textausgaben, Kommentaren und Übersetzungen.926 Es folgten Untersuchungen zur Theologie und Christologie (V.D. GOLTZ, ELZE, RACKL)927 sowie verschiedene Versuche, den religionsgeschichtlichen Hintergrund der in den Ignatius-Briefen aufleuchtenden Auseinandersetzung zwischen Ignatius und seinen Gegnern in den kleinasiatischen Gemeinden näher zu bestimmen. H. SCHLIER positionierte dabei Ignatius und seine Theologie im Umfeld der aufkommenden Gnosis.928 Er verwendet als Vergleichsmaterial einerseits mandäische Texte, andererseits verweist er häufig auf die Oden Salomos, die Epistula Apostolorum und die Ascensio Jesajae. Zwar ist »Gnosis« für den Anfang des 2. Jahrhunderts aus heutiger Sicht eine noch nicht existente Kategorie. Das gilt allerdings auch für OdSal und AscJes, die so in der Tat trotzdem treffende Vergleiche bieten. So passen SCHLIERs religionsgeschichtliche Hinweise vielfach, nur dass man heute die beschriebenen Zusammenhänge nicht als gnostisch beschreiben würde. Die Hinweise auf die mandäische Literatur, die für SCHLIER wesentlich sind, um das gnostische Umfeld inklusive des vermuteten einheitlichen, gnostischen Erlösermodells zu zeigen, fallen allerdings zur Beschreibung der Texte aus, da diese Texte heute deutlich später angesetzt werden und auch der völlig andere Entstehungskontext die mandäische Literatur eher als einen Teil der Wirkungsgeschichte antiker Gnosis, denn als frühe Gnosis selbst erscheinen lässt. Ähnliches gilt für BARTSCH und die in der Folge immer wieder gerne wiederholten Hinweise in der Literatur auf gnostische oder auf Gnosis hinführende religionsgeschichtliche Kontexte.929 Vielfach wird in der Ignatius-Literatur des 20. Jahrhunderts von Texten gesprochen, die sich »auf dem Weg zur Gnosis« befinden. Das mag richtig sein, insofern spätere Gnostiker aus den Positionen des Ignatius oder seiner Gegner Honig zogen. Aber dass eine Schrift später von der einen oder anderen theologischen Richtung in Anspruch genommen wird, heißt nicht, dass man die entsprechende 925 FUNK, Patres Apostolici; LIGHTFOOT, The Apostolic Fathers; ZAHN, Epistulae. Vgl. BOMMES, Weizen, 14. 926 HILGENFELD, Epistulae; KRÜGER, Briefe; ZELLER, Die Apostolischen Väter; BAUER, Briefe; BIHLMEYER, Die apostolischen Väter; FISCHER, Die Apostolischen Väter; PAULSEN, Briefe; SCHOEDEL, Briefe; B/N. 927 V. D. GOLTZ, Ignatius; ELZE, Untersuchungen; RACKL, Christologie; NIEDERWIMMER, Grundriss. 928 SCHLIER, Untersuchungen. 929 BARTSCH, Gut. 9.9 Ergebnisse: Inkarnation und Doketismus in den Ignatianen 361 9.9 Ergebnisse: Inkarnation und Doketismus in den Ignatianen Ignatius war vor allem auch darin ein »apostolischer Vater«, dass er in dieser Gemengelage trotz eigener Bedrängnis in zwar manchmal sehr scharfer Form, aber immerhin klärend für eine theologisch sinnvolle Ordnung und damit auch für eine seelsorglich wichtige Grundorientierung in den Gemeinden Kleinasiens gesorgt hat: 9.9.1 Inkarnation in der Sicht des Ignatius 1. Inkarnation ist schon vor der Begegnung mit den Doketisten ein für Ignatius wichtiges Thema. 2. Der Begriff des »Fleisches« ist bei Ignatius gegenüber dem neutestamentlichen Gebrauch erweitert. Auch der Auferstandene hat Fleisch, aber auch Glaube, Evangelium und Gebet können als Fleisch Christi bezeichnet werden. Fleisch ist also die Bezeichnung für das Gemeinsame und Menschliche sowohl an Christus als auch in der Gemeinde, das selbst nach dem Tod existent ist. 3. »Geist« ist zwar auch bei Ignatius ein Gegenbegriff zu »Fleisch«, aber nicht in einem absolut gegengesetzten Sinn, sondern als die überbietende, stärkere Größe. 4. »Geist« im »Fleisch« bedeutet, dass das Fleisch schon Anteil bekommt an der Macht des Geistes. Das Fleisch ist dabei die notwendige Trägergröße für den Geist und hat - durch den Geist gewandelt - eine eigenständige Bedeutung. 5. Die Einheit von Geist und Fleisch bei Christus hat ihr Pendant in der Einheit der Gemeinde und in der Einheit der Christen mit Gott oder Jesus. 6. Jesus Christus ist der Garant der Einheit von Gott und Mensch, weil in ihm Geist und Fleisch eins sind. Die Einheit ist nicht als Verschmelzung oder Identifizierung zu denken, sondern als Symbiose. 7. Mit der Einheit von Fleisch und Geist in Christus ist für den Glaubenden der Fixpunkt gesetzt, von dem her das Heil auch für ihn seinen Lauf nimmt. 8. Lebensgeschichtlich wichtig ist dies für Ignatius, weil er sein Martyrium nicht nur für den Frieden seiner Gemeinde, sondern auch für die Einheit der Christen erleidet und weil er sich dabei als Nachahmer und Schüler in die Spuren Jesu begibt, um durch den Untergang des Fleisches hier den Aufgang dort bei Gott zu erleben und so letztgültige Einheit mit Gott zu erlangen. 9. Für die Frage nach dem »Fleisch des Christus« und seiner Funktion als Gegenbegriff zum Doketismus ist also auch hier, bei Ignatius, negativ festzustellen: »Fleisch« ist selbst für Ignatius in seinem antidoketistischen Kampf nicht (in erster Linie) ein Gegenbegriff zum Doketismus seiner Gegner, sondern wird dann nur dafür auch in den Dienst genommen. Allerdings ist das Stichwort seiner Gegner nicht »Fleisch«, sondern »Leib«. 9.9.2 Christologie in der Sicht seiner doketistischen Gegner 1. Wie Ignatius denken die doketistischen Gegner grundsätzlich in Begriffen einer apophatischen, »negativen« Theologie,1204 die über Gott vor allem aussagt, was ihn von der Welt der Menschen trennt: Er ist ungeworden, unveränderlich, damit auch ohne Leid und selbstverständlich ohne Tod. Er ist »reines Sein«, zu dem man mystisch Zugang bekommt. Mittel des Zugangs zum himmlischen Bereich können Kon1204 Vgl. zu den philosophischen Hintergründen SCHOEDEL, Briefe 118f.; 414-416. 362 2. 3. 4. 5. D. 9 Die Ignatiusbriefe takte oder das Wissen um die himmlischen Mächte sein. Anders als Ignatius setzen die doketistischen Gegner keine Priorität auf eine besondere Rolle Jesu, bzw. können mit dem Gedanken der Inkarnation nichts oder jedenfalls nicht viel anfangen. Ihr Problem mit der Inkarnation besteht in der Frage, ob Christus leiden kann. Dies verneinen sie. Um die Leidensfreiheit sicherzustellen, stellen sich die Gegner eine andere Leiblichkeit für Jesus vor. Die Schlagworte »körperlos« und »dämonisch« werden genannt und deuten sicher nicht auf eine absolute Körperlosigkeit, sondern auf eine geisterhafte, feinstoffliche Existenz hin. Im Gegensatz zu Ignatius ist das Hauptschlagwort dabei »Leib«. Der Begriff »Fleisch« taucht nur zur Erklärung der Leiblosigkeit auf, wenn Ignatius die Behauptung wiedergibt, Christus sei kein Fleischträger gewesen. Das aber kann auch auf Ignatius zurückgehen. Zur Klärung christologischer Fragen sind die Gegner zumindest auf alttestamentliche und jüdische Schriften hin ansprechbar. Höchstwahrscheinlich stellten sie eine besondere Gruppe innerhalb der größeren Schar von Menschen dar, die für judaisierende Tendenzen offen waren. 9.9.3 Offene Fragen Das Schlagwort »negative« oder »apophatische« Theologie in Bezug auf die Gegner beschreibt zwar, was man an Aussagen beobachten kann. Nicht geklärt ist aber, aus welchen Quellen die Inspiration für die Aussagen und Auffassungen der Gegner stammt. Die durch die Texte nahegelegte Vermutung, auch die Doketisten seien letztlich im »judaisierenden« Bereich der Gemeinde zu suchen, schließt pagangriechische Hintergründe nicht völlig aus, so wie auch Ignatius ganz offensichtlich über eine gute, pagan-griechische Bildung verfügt. Offene, in Teil E. zu lösende Fragen: Im Folgenden geht es darum, mögliche religionsgeschichtliche Hintergründe für die Entstehung des Doketismus zu eruieren aufgrund der in dieser Arbeit aufgezeigten Sach-Zusammenhänge (insbesondere in den Kapiteln 10 und 11, fortgeführt in Kapitel 13). Auch das für Ignatius selbst wichtige Thema »Fleisch« kann weitergeführt (12) und der Zusammenhang mit der Entstehung des Dokteismus deutlich gemacht werden (13 und 14). 363 E. Religionsgeschichtliche Entwicklungslinien Zielsetzung und Übersicht zu E. Nachdem alle bekannten frühchristlichen Stellen zum Thema »Fleisch Christi« erörtert sind, steht fest: Doketismus begegnet in den älteren Schriften nirgendwo. Erst Ignatius zeigt den offensichtlichen Gegensatz der Auffassungen seiner Gegner zur Vorstellung der wirklichen Menschwerdung Christi auf. a) Zwar sind auch zugleich bei Ignatius einige Hinweise dafür gefunden worden, wo die Ursprünge doketistischer Auffassungen liegen könnten (Orientierung am Himmel, Wertschätzung von Engeln, Prägung durch negative, apophatische Theologie); eine richtige Vorstellung davon, wie dies geschehen ist, haben wir bisher aber noch nicht. Fest steht, dass es sich um den Bereich der frühjüdischen »Mystik« handeln muss, deren Vielfalt hier nur angedeutet werden kann (10). b) Woher genau stammt der Impuls und woher das »Material« für den sich jetzt entwickelnden Doketismus (11)? Insbesondere die Angelologie und der vielfach zu beobachtende »Engeldoketismus« kommen dafür in Frage. Aber auch Verklärungsphänomene, Metamorphosen und Polymorphie stehen im Hintergrund. Engelchristologische Ansätze und Fragen nach Wahn oder Wirklichkeit begegnen in diesem Umfeld mehrfach. Was das Leiden betrifft, gibt es auch im Bereich des rein Menschlichen Phänomene, die das Leiden für unwirklich erklären, wie z.B. bei Märtyrern zu beobachten ist. Insgesamt steht somit eine Fülle von Beobachtungen bereit, die den Hintergrund für die Entstehung von Doketismus aus Frühjudentum und frühen Christentum schlüssig belegen. Entwickelte gnostische Systeme sind daher ebensowenig als Voraussetzung der Entstehung von Doketismus anzusehen wie ein rein philosophisch gedachter Platonismus. Wenn der sogenannte Mittelplatonismus hier gewirkt hat, was nicht zu bestreiten ist, dann doch über den Umweg frühchristlicher und frühjüdischer Mystik. c) Auch die Gegenfrage nach der Entstehung der Inkarnationsvorstellung ist nun in aller Deutlichkeit zu stellen. Bisher ist das Inkarnationsthema nur als Reaktion auf doketistische Fragestellungen untersucht worden - mit durchgängig negativem Ergebnis. Aber wenn Doketismus und Inkarnation in späterer Zeit als zerstrittenes Geschwisterpaar erscheinen, dann muss es, wie schon die bisherigen Untersuchungen andeuteten, gemeinsame Wurzeln geben. Dazu ist zunächst zu fragen, wie überhaupt die Vorstellung vom »Fleisch Christi«, d.h. von Inkarnation zustande kommen konnte (ohne Doketismus). Wie kann etwas, das offensichtlich nirgendwo direkt vorbereitet ist (die Rede vom »Fleisch des Messias« fehlt in den vorchristlichen jüdischen Schriften), ad hoc und in großem Radius als Kategorie zur Deutung der Person Jesu Verbreitung finden? Es gäbe genügend Argumente, die überhaupt gegen eine derartige Entwicklung sprächen, da einerseits die Messiaserwartungen allgemein unterschied- 364 E. 10 Mystik lich und teilweise unausgeprägt waren. Andererseits war die Inkarnation eines Himmelswesens vorher eigentlich nirgends vorgesehen. Die dazu naheliegende These ist: Verschiedene Bausteine der späteren Inkarnationsthematik müssen schon ganz am Anfang der Deutung Jesu bereitgelegen haben, vorbereitet durch entsprechende Motive des vorchristlichen Judentums. Jesus selbst wird Anteil gehabt haben an der Deutung seines Auftretens mit dem Stichwort »Fleisch«. Ob dies nur implizit oder wohl eher explizit der Fall war, ist am Ende nicht entscheidend. Sicher erscheint mir dagegen, dass Jesus selbst Erfahrungen gemacht hat, die unter dem Stichwort »Geist« nach einer Verortung (»Fleisch«) fragen lassen und die zugleich ihn selbst als Boten und Sohn Gottes in dieser Welt auftreten lassen (12): - Wahrscheinlich ist, dass Jesus selbst Ascensionserfahrungen gemacht hat, die er als starke Inspirationserfahrung gedeutet haben kann. - In jedem Fall kommt die irdische Inspirationserfahrung dazu. - Die Menschensohnvorstellung, die Orientierung an den Patriarchen der Vorzeit, an der Idealgestalt des beispiellos Gerechten, an dem himmlischen Adam und an mystischen Metamorphosen bieten gemeinsam mit der Kategorie »Kleidung als Repräsentanz und Schutz« Stoff zuhauf, um die Entstehung der Begriffskombination »Fleisch des Messias« einordnen zu können. d) Ausgehend von diesen Grundmustern und dem dabei gebotenen Material kann - spekulierend - dargestellt werden, wie aus der Inkarnationsvorstellung doketistische Konzepte entstehen konnten und welche Weichenstellungen dafür nötig waren (13). e) In einem abschließenden Fazit zu Inkarnation und Doketismus werden die so erarbeiteten Linien noch einmal zusammenfassend präsentiert (14). 10 Mystik1205 Zielsetzung und Übersicht zu 10 Eine der zentralen Thesen des Ignatiuskapitels besteht darin, dass Ignatius als Pneumatiker und Mystiker mit seinen doketistischen Gegnern mehr gemein hat, als man denken sollte. Dazu gehören das Interesse an den Mächten des Himmels, die Hoffnung, zu Gott zu gelangen, möglicherweise auch ekstatische und visionäre Phänomene sowie das, was man »Aufstiegserfahrungen« oder »apokalyptische Himmelsreisen« nennen könnte. Das Ziel des folgenden Abschnittes ist es, in Kürze den frühjüdischen und frühchristlichen Hintergrund dieser Erfahrungen und Vorstellungen darzustellen. 1205 Grundlegend: MEIER, Mystik; BERGER, Theologiegeschichte, Abschnitt »Mystik« (ebd., 45-49.50-56), RÖHSER, Mystik (NTAK), SCHÄFER, Ursprünge. FOSSUM, Image, 1 beschreibt frühjüdische Mystik als »vertical apocalyptism«. Ebd., S. 2: »Given the fact that early Christianity is far from avoid of mysticism, it is rather strange, that Jewish mysticism has not been the subject of more attention in modern New Testament Scholarship.« FOSSUM bietet einen ausführlichen Forschungsüberblick zum Thema. 10.1 Inkarnation und Doketismus »In the Making« 365 Die These dabei ist, dass die frühjüdische und frühchristliche Mystik sowohl den Kontext für die Entstehung der doketistischen Vorstellungen in der Christologie bietet als auch den Hintergrund für die inkarnatorische Rede vom Fleisch Christi stellt (10). Diese beiden Komplexe sollen dann aber in einzelnen Unterkapiteln (11 und 12) weiterentwickelt werden. Hier geht es zunächst aber um die Frage, in welchen Rahmen die PneumatikerExistenz des Ignatius und seiner Gegner einzuordnen ist (10.2) und was in diesem Zusammenhang »Ekstase« bedeutet (10.3). Die Orientierung an himmlischen Mächten, an Engeln und Dämonen (10.4) sowie das Interesse für die Hierarchie himmlischer Mächte (10.6) ist nicht nur für die Doketisten des Ignatius vorauszusetzen, sondern in gewissem Maße auch für ihn selbst. 10.1 Inkarnation und Doketismus »In the Making« Zwar ist im Bisherigen geklärt, dass weder 1 Joh noch seine Gegner, noch Ignatius noch irgendjemand sonst bis zu den Gegnern des Ignatius als Doketist identifiziert werden kann. Die Betonung der Menschlichkeit Jesu hat jedes Mal andere Ursachen; zumeist geht es einfach um Fragen des Heils, die geklärt werden sollen. Aber nicht geklärt ist die Frage, wieso die Vorstellung der Inkarnation überhaupt als etwas Neues aufkommen konnte. In vorneutestamentlichen Schriften begegnet sie nicht. Wo sind die religionsgeschichtlichen Wurzeln und Motivationen? Die andere Frage hängt damit zusammen: Wo sind die religionsgeschichtlichen Motivationen und Traditionen zu suchen, aus denen die Vorstellung des Doketismus entstand? Wir beginnen mit der Frage nach der Herkunft des Doketismus. Auszugehen ist dabei von den konkreten Beobachtungen anhand der Ignatianen. Folgende Elemente sind zu untersuchen: - Allgemeine mystische Vorstellungen: Was sind Pneumatiker? Ähnlichkeit mit den Engeln bei Mystikern. Visionen von Entrückung und himmlischem Beistand bei Märtyrern. Was versteht man zur Zeit des Ignatius unter himmlischen Mächten? Wie ist die Erscheinung von Dämonen und Engeln denkbar? Essen, Trinken und Anfassen als Beweis von realer Leiblichkeit bei Engeln und Dämonen. - Gott, Götter oder Engel als Menschen. 10.2 Was ist ein Pneumatiker? Über den Pneumatiker Ignatius und die Hintergründe seiner Selbstbezeichnung als »Gottesträger« und über sein Sprechen mit der »Stimme Gottes« ist oben schon einiges gesagt. Worin aber wird die pneumatische Existenz deutlich? 10.6 Engelshierarchien, Himmelsmächte und das Interesse der Doketisten 373 nicht!«).1253 Glanz und Herrlichkeit1254 gehen mit Engelserscheinungen einher (Sir 45,2).1255 Anders liegt der Fall, wo die Vision bzw. das Erleben eines Engels nicht nur in unsagbarer Herrlichkeit erschreckend wirkt, sondern massiv körperlich beeinflusst, wie z.B. in Gen 32 (Jakob kämpft am Flussübergang, der Landesgrenze, mit einem »Mann«, der sich als Personifizierung des Herrn herausstellt, und trägt eine »verrenkte Hüfte« davon.), in Jes 6,1-7 (Serafim-Engel brennen mit glühender Kohle alle Sünde von den Lippen Jesajas weg) oder in 2 Makk 3,25ff (der in den Tempel eindringende Heliodor wird von Engelsgestalten zurückgeschlagen und stirbt an den Folgen). 10.6 Engelshierarchien, Himmelsmächte und das Interesse der Doketisten Das ermittelte Interesse der Doketisten an Engeln und Himmelsmächten kann folgendermaßen motiviert sein: - Eigene Engel-Erlebnisse oder Interesse an Engelberichten von anderen; Bewusstsein, gemeinsam mit Engeln Gottesdienst zu feiern (Isangelie). Magisches Interesse (Heilung; Exorzismus von schädlichen Dämonen). Offenbarungserlebnis (Audition/Vision); Glossolalie, prophetische Rede mit Engelsmotiven. - Faszination durch apokalyptische Literatur; eigene Himmelsreisen?1256 - Interesse an den die Gegenwart bestimmenden Kräften (Frage der späteren Gnosis). - Herleitung der Christologie aus der Angelologie. 11 Entwicklungslinien von der Angelologie zur Christologie Zielsetzung und Übersicht zu 11 Ziel des folgenden Unterkapitels ist die Darstellung des religionsgeschichtlichen Entwicklungshintergundes des christologischen Doketismus Anfang bis Mitte des zweiten Jahrhunderts. Doketismus ist nicht Ergebnis einer unvermittelten Anwendung von Platonismus auf die Christologie. Zwar steht der Mittelplatonismus im Hintergrund 1253 Einen typischen Auftritt eines Engels zeigt Lk 2,9f: »Und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht!« 1254 Regelmäßig begegnet das Wortfeld Glanz, Weiß, Farbe, Purpur, wenn der Engel oder himmlische Hierarchien bzw. Geister Gottes geschaut werden. Beispielsweise 4Q405 (= 4QShirShabbf): XX,10 »wie Feuererscheinungen. Geister des Allerheiligsten ringsum, Erscheinungen von Feuerflammen (...) (11) [aus Strahleng]lanz, durchflochten mit Herrlichkeit von wunderbaren Farben, polierter reiner Glanz. (...) (8) inmitten von Herrlichkeit, Purpurerscheinungen, Licht-Farben, (...) Farben [der Reinheit (?)] inmitten weißer Erscheinungen und (als) ein Abbild von Herrlichkeits-Geist wie Ophirim-Gebilde leuchten[d von] (10) [Lic]ht. Und all ihre Kunstgebilde, glanzpoliert, kunstvoll gestaltet wie ein Gewebe, das sind die Häupter von Wunderbekleideten«. Vgl. auch ApkAbr 11,2: »Sein Leib glich einem Saphir, sein Antlitz einem Chrysolith und seines Hauptes Haar dem Schnee und seines Hauptes Diadem dem Regenbogen und sein Gewand dem Purpur« (ÜS MAYER). 1255 Vgl. JosAs 14 die Beschreibung des Erzengels Michael: Es »glich sein Antlitz einem Blitz und seine Augen waren wie der Sonnenglanz, sein Haupthaar wie ein Fackelfeuerbrand und seine Hände samt den Füßen glichen glühendem Eisen, wie denn auch Funken von den Händen und den Füßen fuhren« (AJS). 1256 Siehe unten S. 435f und 444f. 374 E. 11 Entwicklungslinien von der Angelologie zur Christologie Pate. Da aber schon die frühjüdische Engelspekulation sowie verschiedene mystische Erfahrungen im Frühjudentum und frühen Christentum die nächsten religionsgeschichtlichen Vergleichsmöglichkeiten bieten, ist von einem durch ebendiese Mystik vermittelten Zusammenhang auszugehen. Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang bei dem von mir so genannten »Engeldoketismus« (11.4). Dass auch pagangriechische Vorstellungen ähnlich gelagert waren (11.2-11.3), zeigt die Einbettung des frühjüdischen Zusammenhangs in den gemeinantiken Kontext. Dass dieser Zusammenhang bisher kaum in den Blick kam, hat etwas mit der Konfliktgeschichte innerhalb der Forschung zum Thema »Engelchristologie« im 20. Jahrhundert zu tun (11.1). Neben dem reinen »Engeldoketismus« sind auch die Phänomene von Polymorphie und Metamorphosen (11.5), die in manchen doketistischen Positionen begegnen, aus dem Hintergrund früher mystischer Erfahrung zu erklären. Mehrere Beispiele für die Interpretation der Figur Christi durch die Kategorie »Engel« zeigen, dass man über Jesus in dieser Weise explizit nachdenken konnte, ohne dabei in jedem Fall gleich »häretisch« zu sein (11.6-11.11). Das für den Doketismus wesentliche Täuschungsmotiv begegnet gerade und ausdrücklich im Zusammenhang von göttlichen, engelhaften und dämonischen Erscheinungen. Hier ist eine für die Gesamtdeutung des Doketismusphänomens wesentliche Hauptthese zu nennen, die in diesem Zusammenhang entwickelt wird: Der Doketismus verdankt sich einer gegenüber den biblischen Schriften veränderten Theologie und Anthropologie (11.12). Ausblicke in die Gnosis und in die frühjüdische Hypostasenspekulationen bestätigen die gemachten Beobachtungen (11.13-11.14). Martyriumserfahrungen kommen schließlich als weiterer Deutungshintergrund für die im Doketismus behauptete Leidensfreiheit in Frage (11.15). Von diesen Beobachtungen aus zeigt der Ausblick auf die weitere Entwicklung des Doketismus deutlich, dass keines der dort begegnenden Elemente nicht schon in der frühjüdischen und frühchristlichen angelegt war (11.16). Abschließend sind die Ergebnisse noch einmal zusammenzufassen und zu bündeln (11.17). Dabei führe ich die in 11.12 entwickelte Grundthese weiter, dass ein Umschwung in der theologischen und anthropologischen Grundanschauung die Ausbildung explizit doketistischen Denkens motiviert hat. 12 Wie entstand die Vorstellung von der Menschwerdung Gottes? 421 12 Wie entstand die Vorstellung von der Menschwerdung Gottes? Übersicht und Zielsetzung zu 12 Das »Fleisch des Messias« ist im vorchristlichen Judentum deshalb niemals thematisiert worden, weil man den Messias entweder als königliche, priesterliche oder prophetische Figur dachte, also als Mensch, der dann natürlich auch »Fleisch« ist, was aber ein banales Faktum ist, das keiner weiteren Reflexion bedarf (12.1). Oder man dachte sich den Messias als eine Figur des Himmels, wie etwa der Menschensohn bzw. entrückte und verwandelte Gestalten wie Henoch, Elia und in gewisser Weise auch Mose. In diesem Fall ist über »Fleisch« ebenfalls nicht nachzudenken, da die Substanz ihrer Körperlichkeit in jedem Fall himmlisch, geistlich und jedenfalls nicht menschlich-fleischern ist (12.2). Obwohl die begriffliche Kombination von »Fleisch« und »Messias« neu ist und damit eine Innovation des frühen Christentums darstellt, hat das Thema »Fleisch Christi« und dadurch die Inkarnationschristologie ihren Hintergrund in mystischen Vorstellungen des Frühjudentums. Wahrscheinlich ist dieses Motiv schon von Jesus selbst bzw. seinem engsten Umfeld rezipiert, aus anderen Vorstellungen kombiniert und auf die Person Jesu angewandt worden (12.3-12.4). Die Erfahrungen und Vorstellungen, die hierbei eine Rolle gespielt haben dürften, liegen höchstwahrscheinlich im Bereich der sogenannten Ascensionsvorstellungen und sind andererseits in Gestalt einer hochpotenten Inspirationserfahrung denkbar (12.4.1 und 12.4.2). Von dieser Hauptthese ausgehend findet sich im Umfeld der Henochtraditionen Material, dass diese These unterfüttert. Der Eindruck der »Gerechtigkeit Jesu« führt zur Figur des beispiellos Gerechten. Auch die Idee eines himmlischen Adam und die Gestalten der Patriarchen in Verbindung mit dem Menschensohnmotiv zeigen die Richtung an, in die man hier denken kann (12.4.3-12.4.6). Es lässt sich zeigen, dass offensichtlich auch andere Zeitgenossen des frühen Christentums, häufig selbst messianisch gedeutet, die von den Christen auch aus diesem Grund in der Regel als Häretiker wahrgenommen wurden, ähnliche Erfahrungen gemacht haben (12.4.7). Eine zweite Hauptthese schließt sich an: Für die Ascensionserfahrungen konnte gezeigt werden, dass eine Veränderung von Körperlichkeit mit ihnen einhergeht, die als »Kleiderwechsel« bezeichnet wurde. Die in den Ascensions- und Visionserfahrungen immer wieder benutzte Kleidermetaphorik gewinnt einen plastischen Hintergrund vor der Folie des realen Tempelkults und seiner Kleider sowie der Tempelvorhänge. Nun wird das Fleisch Christi mehrfach mit dem Tempel und speziell mit dem Tempelvorhang in eine enge Verbindung gebracht. Das Motiv des Fleisches Jesu hängt daher eng mit der Vorstellung zusammen, dass die Kleider der Priester und der Vorhang vor dem Allerheiligsten im Jerusalemer Tempel sowohl Kontaktfläche des Heiligen mit der Welt, als auch Schutz der Welt vor der Macht des Heiligen darstellen. Das Motiv des »Fleisches« Christi ist in dieser kultisch-tempeltheologischen Weise eingeordnet worden (12.4.8-12.4.9 und 12.4.11). Mit dem Bereich Tempel/Allerheiligstes/Priesterkleidung geht auch das Motiv einher, dass jemand (der Hohepriester) den Namen Gottes trägt. - Die Vorstellung, dass Jesus den Namen Gottes trägt, ist entweder unerträglich, oder sie erklärt seine 422 E. 12 Wie entstand die Vorstellung von der Menschwerdung Gottes? Hoheitsstellung. Zugleich würde eine solche Vorstellung die Frage aufwerfen, wie der Name Gottes, anders gesagt: das Schöpfungswort Gottes »in solche menschliche Armut« (EvThom) kommen konnte. Entweder ist der Logos wirklich nicht in die Welt gekommen oder man muss tatsächlich - in paulinischer Diktion - bekennen: »Jesus ist der Herr« (12.4.10). Beide Thesen zeigen so, wie Jesus als himmlischer und irdischer Messias Mittler zwischen dem Thron Gottes und der Welt der Menschen sein konnte. Die erste (Doppel-)These geht von der möglichen mystischen Erfahrung und Vorstellung Jesu und seiner Jünger aus. Die andere These geht von der Funktion des Fleisches bzw. des Menschseins aus und dient somit der Erklärung, wie Jesus als menschlicher Messias gleichzeitig (himmlischer) Menschensohn sein kann. In jedem Fall ist das, was hier beschrieben wird, die Aufnahme des Motivs der Vermittlung zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Hälfte der Wirklichkeit. Jesus ordnet sich dabei in vielerlei Hinsicht in die Kategorie der Mittlergestalten ein, deren Aufgabe es ist, fürbittend zwischen der Gemeinde und dem Thron Gottes zu vermitteln. Er steht so in einer Reihe mit den Fürbittengeln und mit dem Hohenpriester, die ebenfalls an der Schnittstelle zwischen Himmel (bzw. Allerheiligstes) und Welt (bzw. Tempelvorhof) agieren (12.4.12). Wir haben gesehen, dass die Vorstellungen des ersten Johannesbriefs vom Kommen Christi »im Fleisch« keinerlei Bezug zu der späteren Doketismusproblematik aufweist. Ebenso ist - bis auf Ignatius - an keiner anderen Stelle aus dem Neuen Testament oder den Apostolischen Vätern und anderer Literatur der frühesten Zeit im Christentum die Wortkombination »Fleisch des Messias« mit doketistischen oder antidoketistischen Motiven verbunden. Bei Ignatius ist geradezu zu sehen, dass das Wort »Fleisch« eher seinem eigenen Sprachgebrauch zuzurechnen ist, das Wort »Leib« oder »Leiblosigkeit« dem seiner Gegner. Die gängige Vermutung, vor Ignatius schon Doketismus in naiver oder offener Form oder eine Abwehr gegen Doketismus im Neuen Testament anzutreffen, hat sich damit als haltlos erwiesen und kann als widerlegt gelten. Was bleibt, ist die Frage, was der Anlass war, überhaupt die Wortkombination »Fleisch des Messias« so geballt und über sehr unterschiedliche theologische Ansätze hinweg immer wieder zu behandeln. Hängt das allein mit der soteriologischen Funktion des Fleisches Christi zusammen? Hätte man da nicht andere Sprachbilder wählen können? - Mit dem folgenden Versuch soll zugleich auf eine grundlegende Gemeinsamkeit zwischen den Vorstellungen der Inkarnation und des Doketismus hingewiesen werden, die dann später dafür sorgte, dass Vertreter beider Vorstellungszusammenhänge in einen erbitterten Streit miteinander gerieten. 12.1 Problemanzeige Messiaserwartung1462 »Messianische Gestalten, die den Namen ›Messias‹ tragen, begegnen erst um die Zeitenwende.«1463 1462 Lit.: SCHRÖTER, Jesus, 188-212 (Anbruch der Gottesherrschaft); ebd., 243-265 (Repräsentant Gottes oder Israels); KARRER, Jesus Christus, 132ff; BERGER, Theologiegeschichte, 57ff; ders., Messiastraditionen; ders., Hintergrund; FRANKEMÖLLE, Messiaserwartung; MARTÍNEZ, Erwartungen; HAACKER, Messias, OEGEMA, Der Gesalbte; DE JONGE, Christologie; DUNN, Christology; ERLEMANN, Christus; BOUSSET, Religion; CHARLESWORTH, Messiah. 1463 THEIßEN/MERZ, Jesus, 464. 12.4 Wie konnte »Inkarnation« für frühjüdische Menschen denkbar werden? 461 rum irdischem Auftritt. Die so erfolgte Isangelie muss dabei nicht nur funktional bleiben, sondern kann vielfach auch als Metamorphose wahrgenommen werden. Nimmt man noch einmal die kultische Bildwelt des Tempels zur Hilfe, dann ist der, der in der Mitte ist, der, der durch den Vorhang tritt oder sogar der, der sich zwischen den Vorhängen befindet (vgl. z.B. Philo spec. leg. 1,237). 12.4.13 Zusammenfassung und Fazit Eigen- und Fremderfahrungen Jesu, leibliche, bloß visionäre und auditive Erfahrungen, Inspirationserfahrungen, Kategorien zur Erfassung eigener Erfahrungen oder der Erfassung der Jesusbegegegnung: Vieles mischt sich in den unterschiedlichen Textzusammenhängen. Es ist unnötig, alle genannten Mittlergestalten und Mittlervorstellungen miteinander zu identifizieren. Auch wenn es kaum ein Zufall sein wird, dass einerseits über den himmlischen Menschen spekuliert wird, andererseits von menschenähnlichen Engeln, von menschlichen Erscheinungen Gottes und vom Menschensohn die Rede ist, der wiederum mit einem konkreten Menschen identifiziert werden kann, so ist hier nicht der Ort, daraus religionsgeschichtliche Konstrukte zu bauen.1637 Auch der Zusammenhang zwischen den »großen Engeln«, dem »Engel des Herrn«, der Entwicklungsgeschichte der jüdischen bzw. israelitischen Religion ist hier nicht zu lösen. Und das »Stehen im Rat«, das als Anspruch des Simon Magus berichtet wird, muss nicht notwendigerweise auf eine Himmelfahrtserfahrung deuten. Hier sind häufig Versuche eines großen Wurfes gemacht worden, die aber meist zu viele Dinge über größere zeitliche oder inhaltliche Distanzen hinweg miteinander verbinden. Ebenso deutet keinesfalls jegliche Kleidermetaphorik immer gleich in Richtung Tempel, so wie auch Allerheiligstes und Himmel bzw. Eden nicht automatisch identisch sein müssen. Es wird eher so sein, dass sich die verschiedenen Elemente gegenseitig interpretieren ohne in jedem Fall identisch oder mit einer vollständig gemeinsamen Wurzel versehen zu sein. Vielmehr reicht es, wenn man bemerkt, dass es hier viele Vorstellungen gab, die zu Zeit des entstehenden Christentums identifizierbar oder kombinierbar waren. Wie dies genau geschehen ist, wird man nie genau wissen können. Allenfalls sind Skizzen möglich.1638 Als Fazit lässt sich aber festhalten: 1. Inspiration bzw. »Einwohnung« des Geistes Gottes in Jesus konnte mit anderen Elementen zusammen gesehen werden. 1637 Wenn JOHANSSON, Parakletoi, 300, vom »Zusammenhang zwischen dem Menschensohn und dem weitverzweigten Mythos vom Urmenschen« spricht, so passt dies zwar zu den oben gemachten Beobachtungen im Umfeld von Mensch, himmlischem Adam, menschenähnlichen Engeln usw.. Dennoch ist es für unsere Zwecke unnötig, mehr zu konstruieren. Denn es geht hier nicht um weiter zurückliegende Zusammenhänge, sondern einfach um die Frage, auf welche Vorstellungen die frühe Christenheit zurückgriff, wenn sie Jesus als himmlische Mittlerfigur begriff. 1638 Der Skizzencharakter gilt in besonderem Maße für alles, was ich hier im religionsgeschichtlichen Teil der Arbeit darlege. In nahezu jedem Einzelpunkt gibt es größere und genauere Darstellungen. Das gilt auch für die großen Zusammenhänge von Engelchristologie und Inkarnation an sich. 462 E. 12 Wie entstand die Vorstellung von der Menschwerdung Gottes? 2. Insbesondere Erfahrungen der Ascensio und/oder der visionären Gottesschau dürften zu den Eigenerfahrungen Jesu gehört haben. 3. Das neue Sein Jesu konnte mit Kleidermetaphorik ausgedrückt werden. 4. Dabei konnte zum Ausdruck kommen, dass der Jude Jesus aus Nazareth in die Rolle und Funktion, d.h. in das Wesen eines vorgegebenen himmlischen Wesens »geschlüpft« ist. 5. Umgekehrt gesagt: Das himmlische Wesen, der neue Adam, der Sohn Gottes, der die Gottgleichheit nicht wie ein Besitztum festhielt, durchschritt den Grenzvorhang zur Welt und kleidete sich (wieder) mit dem Stoff der Welt (Fleisch). 6. Der Tempel als Kultort dient bei diesen mythischen Erfahrungen und Vorstellungen häufig als bildspendender Bereich. 7. In der fürbittenden Funktion entspricht der fürbittende Mensch dem fürbittenden Engel. Das kann einerseits zu einer geschichteten Wahrnehmung der Wirklichkeit führen, wonach der konkrete Mensch Spiegel- und Abbild seines himmlischen Doppelgängers ist. Andererseits kann es auch zu Rivalitäten zwischen himmlischen und irdischen Größen kommen. 8. Verklärungs- und Transformationserfahrungen machen den Übergang vom Menschlichen zum Göttlichen ebenso denkbar wie umgekehrt. 9. Dabei ist zumindest in den Henochberichten der gerechte Henoch derjenige, der wegen seiner Gerechtigkeit in den Himmel geholt und dort »verwandelt« wird. Ähnliches wird von Jesus spätestens ab dem Zeitpunkt von Auferstehung und Himmelfahrt angenommen. 10. Transformationserfahrungen sind aber schon vorher denkbar und wahrscheinlich, jedenfalls wenn man sich an den Patriarchen als Fürbitter und als Vorbilder Jesu orientiert. 11. »Dadurch, dass Jesus von Nazareth der alleinige Fürsprecher wurde,« wurden »die mythischen Fürsprechergestalten durch eine geschichtliche Person ersetzt.«1639 12. »Damit, dass Jesus von Nazareth der Fürsprecher wurde, wurden die Vorstellungen, die vorher an mehrere verschiedene Gestalten geknüpft waren, mit einer einzigen verbunden.«1640 13. Die Person Jesu selbst muss historisch gesehen Quelle starker mystischer Erfahrungen gewesen sein, die Jesus selbst gemacht hat und die andere an ihm gemacht haben. Wie genau aber das Selbstbewusstsein Jesu oder die ersten Kategorisierungen der ersten Jünger waren, lässt sich nicht vollständig klären. Die Vielzahl und Massivität früher Äußerungen gibt aber Linien vor, zu denen z.B. gehört, dass Jesus als »Sohn Gottes« (charismatische Figur mit engstem Gottesbezug) und als »Herr« (Träger des heiligen Gottesnamens) gesehen wurde. 1639 1640 JOHANSSON, Parakletoi, 305. JOHANSSON, Parakletoi, 306. 13 Entstehung des Doketismus aus der Inkarnationsvorstellung 463 13 Entstehung des Doketismus aus der Inkarnationsvorstellung Übersicht und Zielsetzung zu 13 Doketismus und Inkarnation liegen in ihren Ursprüngen nahe beieinander. Für beide Vorstellungen konnte der mystische frühjüdisch-frühchristliche Hintergrund deutlich gemacht werden. Darüberhinausgehend gibt es zwar nichts Sicheres. Wie genau diese beiden christologischen Grundvorstellungen entstanden sind, muss offen bleiben, weil wir für genauere Angaben Näheres über die handelnden Personen und die genauen Umstände wissen müssten. Dennoch lassen sich Entwicklungslinien zeigen. Sowohl die Entstehung eines an Satornil orientierten Doketismus als auch einer an Kerinth orientierten geschichteten Christologie (Unterscheidung von Jesus und Christus) lässt sich mit nur wenigen Zwischenschritten aus den genannten inkarnationschristologischen Zusammenhängen ableiten (13.1-13.3). Der Ausgangspunkt dieser Arbeit war die Frage nach der Entstehung des Doketismus. Nachdem für 1 Joh und für alle bekannten Texte des frühen Christentums, die vom »Fleisch Christi« sprechen, ein doketistischer oder antidoketistischer Hintergrund ausgeschlossen werden konnte, stellte sich selbst bei Ignatius von Antiochien heraus, dass die Rede vom »Fleisch Christi« eher auf ihn selbst als auf seine Gegner zurückging. Auch seine Gegner werden eher nicht gnostischgriechisch orientiert gewesen sein, sondern die Kristallisationspunkte ihrer veränderten christologischen Auffassung aus dem Frühjudentum bzw. dem frühen Christentum bezogen haben, um sie dann unter verschobenen anthropologischphilosophischen Vorzeichen neu zu deuten. Im ersten Teil der spezifisch religionsgeschichtlichen Frage nach den Hintergründen des Doketismus waren wir auf mystische Vorstellungen von Transformation, Engelmorphologie, Martyriumserfahrungen, auf visionäre Elemente und schließlich auf »Engeldoketismus« gestoßen. Als Gegenprobe haben wir noch einmal nach der Inkarnation gefragt, also nach dem Thema, das hinter der Frage nach dem »Fleisch des Messias« steht. Ich behaupte nicht, diese Frage gelöst zu haben. Es handelt sich vielmehr um eine Skizze, die versucht, überhaupt eine Vorstellung davon zu bekommen, wie die Vorstellung der Inkarnation für frühjüdische Menschen möglich werden konnte. Es geht also insgesamt eher um die Möglichkeiten und gedanklichen Alternativen, aus denen die frühen Christen geschöpft haben mögen, um in so vielen unterschiedlichen, voneinander unabhängigen, frühen Texten von der Menschwerdung Jesu zu sprechen. Holzschnittartig geht es nun abschließend weiter. Wir fragen, wie ausgehend von dem gezeigten Tableau erster christologischer Elemente, die in die unterschiedlichen christologischen Entwürfe eingeflossen sind, doketistische Formen von Christologie entwickelt werden konnten. All dies aber wiederum ist hypothe- 13.4 Ergebnis 469 Dennoch ist der Gottesträger Ignatius ein Mensch aus Fleisch und Blut. Sein eigenes Fleisch ist also gewissermaßen Gottesträger. Genauso wäre bei Christus zu denken, dass Christi Fleisch Christusträger war. Allerdings wäre die Konzeption jetzt so umgesetzt, dass es nicht »nur« um den Geist Christi ginge, sondern in ganzer Fülle um die Himmelsgestalt »Christus«. Diese hätte sich dann das Fleisch »angezogen«, wäre insofern (zwischenzeitlich) zum Fleischträger geworden, das Fleisch Christi (zwischenzeitlich) zum Christusträger. Von Leid und Emotion hätte sich der himmlische Christus dann ferngehalten und wäre ganz einfach rechtzeitig »gegangen«. Von 1 Joh her kommend: Wenn Christus ins Fleisch gekommen ist, dann kann er auch wieder gehen. Man muss auf die Fleisch-des-Messias-Vorstellungen und auf das, was HARNACK »Geistchristologie« genannt hat, nur die platonische Unvereinbarkeit von Geist und Fleisch anwenden, um zur Notwendigkeit zu gelangen, den offenkundigen Widerspruch durch eine Theorie des getrennten und nur vorübergehenden Miteinanders von Geist und Fleisch zu lösen. 13.4 Ergebnis Die hier genannten Entwicklungslinien sind hypothetisch und exemplarisch. Sie zeigen, wie es gewesen sein könnte. Das Ergebnis ist einfach zu beschreiben: 1 Joh und die Gegner von 1 Joh und Ignatius sind zwar selbst nicht Doketisten, ihre Vorstellungen, auch die vielfältigen Vorstellungen anderer frühchristlicher Schriften unter der Überschrift »Fleisch des Messias«, sind aber unter veränderten Rahmenbedingungen relativ einfach in doketistische Anschauungen zu überführen. Grundlage dafür ist die Anwendung platonischer Grundüberzeugungen; das Material dafür liegt im Frühjudentum und im frühen Christentum schon ausreichend parat. 14 Fazit zu Inkarnation und Doketismus Übersicht und Zielsetzung zu 14 Im Folgenden werden die Linien, die in dieser Arbeit gezogen werden, gebündelt und noch einmal zusammengeführt. Ausgehend vom Grundverständnis der Kategorien »Fleisch«, »Leib«, »Seele« und »Geist« (14.1) wird das Ergebnis dieser Arbeit hinsichtlich der Gegner des Ersten Johannesbriefes zusammengefasst (14.2-14.3). Die Bedeutung von Engelchristologie und Angelomorphie für die Entstehung des Doketismus wird gesichert (14.4). Die Positionen der Gegner von 1 Joh und Ignatius werden noch einmal in ihrer Unterschiedlichkeit gewürdigt (14.5). Es folgen kurzgefasste Stellungnahmen zu der Frage, was denn nun Inkarnation und Doketismus jeweils ist (14.6 und 14.7). Die Zusammenfassung der Entwicklungslinien von der Inkarnations- zur Doketismusvorstellung profiliert die Entwicklung der Inkarnationsvorstellung und die dabei erkennbare Offenheit auch für eine doketistische Weiterführung (14.8). 476 E. 14 Fazit zu Inkarnation und Doketismus 14.8 Zusammenfassung: Entwicklungslinien in Richtung Doketismus »Christology in the Making«, mit diesem griffigen Titel hat im englischsprachigen Raum J.D.G. DUNN für einen Neuansatz in der Bewertung der Anfänge der Christologie gesorgt. Sein Anliegen: Nicht mit den gestanzten und vorgeprägten Begriffen der später entwickelten Dogmatik die Anfänge beschreiben, sondern mit den Möglichkeiten der damaligen Zeit. Die Frage ist vor allem, wie und woher konnten sich die Vorstellungen entwickeln, die schließlich in die christliche Lehre von Christus inklusive Zwei-Naturen-Lehre mündete? Für den Ersten Johannesbrief ist der jüdische bzw. judenchristliche Hintergrund irgendwann im 1. Jahrhundert nach Christus meiner Meinung nach gesichert. Auch ist geklärt, dass das Bekenntnis, Jesus sei »im Fleisch« gekommen, innerhalb von 1 Joh sinnvoll ist. Es handelt sich um ein Bekenntnis dazu, dass Christus in dieser Welt - und zwar konkret: in der Wirklichkeit des Menschen Wirkung erzielte. Er war Mensch, d.h.: Er war da. Er war Fleisch, d.h.: »Wir haben ihn ja gesehen, gehört, angefasst, ihn erlebt: Natürlich ist der Messias da gewesen. Jesus ist der Messias, Jesus ist der Sohn Gottes, Jesus Christus ist der Name des Sohnes Gottes, wir haben Jesus erlebt. Wie kann man dann sagen, er sei nicht der Messias? Er hat doch unter uns gelebt!« So in etwa verknüpft 1 Joh die Begriffe und wehrt so die Bestreitung der Messianität Jesu ab. Bei unseren Untersuchungen zu 1 Joh wurde deutlich, dass der Begriff des Fleisches neben der textpragmatischen Funktion (»Kommen - wohin woher«/»Bühne«/»Auftritt«) vor allem soteriologische und dann auch ekklesiologische Bedeutung hat. Es geht um das Heil der Menschen innerhalb einer Welt, die des Teufels ist. »Im Fleisch gekommen« begründet die Hoffnung, »in uns« Gott, Geist, Same, Leben usw. »halten« zu können bzw. umgekehrt »in Gott, ...« bleiben zu können und so ewiges Leben zu haben. Die Untersuchungen zum »Fleisch des Messias« in den Belegstellen des Neuen Testaments und der sogenannten Apostolischen Väter (ohne Ignatius) bestätigte die soteriologische Funktion des »Fleisches« Christi. Es geht immer um das heilvolle Erscheinen Gottes oder seiner Macht bzw. seines Boten in der wirklichen Welt gegenwärtiger Heillosigkeit. Das kann dargestellt werden als »Auftritt« oder als tempelartiges »Wohnen unter« den Menschen oder auch als kultischer Zugang zum Heil Gottes. An keiner einzigen Stelle vor Ignatius fand sich ein begründbarer Hinweis auf eine antidoketistische Diskussion. Bei der Betonung des »Fleisches« bzw. der Menschheit Christi ist an keiner Stelle eine Haltung im Blick, die Jesus als Scheinwesen, als »nur scheinbar gelitten«, »nur scheinbar gestorben« oder Ähnliches in den Blick nimmt. An keiner Stelle ist ein gnostischer Hintergrund erweisbar. Dennoch blieb im Wesentlichen eine Frage offen: Wie ist der Topos vom »Fleisch des Messias«, der dogmengeschichtlich große Wirkungen hatte (bis hin zur Zwei-Naturen-Lehre einerseits, bis hin zu Doketismus, Gnosis und Mani- 14.8 Zusammenfassung: Entwicklungslinien in Richtung Doketismus 477 chäismus andererseits), entstanden? An welche Traditionen und Erfahrungen knüpfen hier die frühen Christen an? Das Dilemma besteht vor allem darin, dass es sich um eine vollständige begriffliche Neubildung handelt, die an vielen unterschiedlichen Stellen der frühchristlichen Literatur begegnet, so dass es sich um eine Grundüberzeugung der Christen von Anfang an handeln muss. Nur: Wie konnte diese entstehen? Entgegen einer oberflächlichen Grunderwartung, die davon ausgeht, es finde sich schon alles an messianischer Erwartung in den Schriften des Alten Testaments oder des Frühjudentums, muss man sagen: Ja, es findet sich vieles, vielleicht sogar alles, aber nicht in den Verknüpfungen, die das Christentum vornimmt. Die Genitivverbindung von »Fleisch« und »Messias« lässt sich gar nicht finden. Möglicherweise bieten unsere im Ersten Johannesbrief gemachten Beobachtungen eine Lösung: Die Argumentation des 1 Joh lebt von den Verknüpfungen, die er durchführt. Die Frage der Gegner wird gewesen sein, ob man Jesus nun wirklich als Messias bezeichnen könne. Vielleicht haben sie seine Wirksamkeit in Frage gestellt. Vielleicht haben sie das Ausbleiben des endzeitlichen Heils vermisst. Oder sie waren von anderen charismatischen, messianischen Gestalten beeindruckt. Es sind - insbesondere für Juden - mehrere Gründe denkbar, die Messianität Jesu zu bezweifeln. Vielleicht war mit der Bestreitung der Messianität auch schon eine Bestreitung der Gottessohnschaft verknüpft, aber das ist nicht so deutlich zu erkennen. Anstatt aber nur auf diese Frage der Messianität Jesu einzugehen, stellt der Verfasser von 1 Joh ein Junktim her zwischen den Elementen a) »Jesus« und »Christus«, b) »Jesus Christus« und »Name des Gottessohnes« und c) »Jesus Christus« und »Sohn« sowie d) zwischen »Sohn« und »Vater«. In dieser Kette unauflöslich zusammengehöriger Begriffe ist es unmöglich, einen Begriff (»Christus«) herauszunehmen. Man stellt damit zugleich Gott den Vater in Frage. Damit hängt für 1 Joh einerseits die Frage pneumatischer Beurteilung (Chrisma - Christus - Lehre usw.) zusammen (s.o.). Andererseits wird mit der Bestreitung der Messianität Jesu auch sein Sohn-Sein in Frage gestellt wird. Wie also sind die neuen Motivkombinationen im frühen Christentum zustande gekommen? Die Kombination »Fleisch des Messias« ist in vorchristlichen Schriften nicht belegt, weil zum Konzept des Messias normalerweise gehört, dass er Mensch ist (oder nur ein engelhaftes Wesen, dann aber ohne Menschheit). Wenn nun aber von einem »Kommen des Sohnes« aus dem Bereich Gottes in den Bereich »dieser Welt« die Rede ist, dann muss eine Lokalität der Gegenwart dieses Gottessohnes benannt werden. Der Vergleich mit dem Tempelkonzept zeigt: Wenn Gott in einem Tempel (Kultort) oder durch eine Person repräsentiert »unter den Menschen wohnt«, dann gewinnt diese »Wohnung« an Bedeutung. Das Neuartige ist, dass Jesus nicht nur als Messias erlebt wird, sondern als Ort der Präsenz Gottes. Diese Erfahrung wird dargestellt, indem in 1 Joh »Sohn« und 478 E. 14 Fazit zu Inkarnation und Doketismus »Messias« und »Name des Sohnes« miteinander verbunden werden. In den Evangelien sind die Verknüpfungen und Beziehungen häufig viel komplexer. Man kann das für den johanneischen Bereich gut am Johannesevangelium aufzeigen. Die Untersuchung von M. SASSE zum Begriff des Menschensohns im Johannesevangelium jedenfalls macht deutlich, dass dieser, obwohl nicht durch eine Masse an Belegen im Evangelium präsent, doch so eingesetzt wird, dass er die Christologie des Evangeliums entscheidend prägt.1652 Auch der Menschensohn ist eine Gestalt, die »vom Himmel kommt« und zum Himmel geht und deren menschliche Präsenz dann durch die Kombination und Verknüpfung mit anderen Vorstellungen dargestellt wird. Ähnliche Verknüpfungsleistungen lassen sich für die synoptischen Evangelien, für Paulus und sein Umfeld (ohne Menschensohnbegriff) und die weiteren neutestamentlichen Schriften gut zeigen. Das heißt: Die Verknüpfung unterschiedlicher Begriffe war für die frühen Christen nötig, um ihre Erfahrungen mit Jesus zu klären. Ihre Erfahrungen mit Jesus waren offensichtlich, mit einem Wort gesagt: umwerfend. Aber wie stellt man derartige Erfahrungen dar? Die Messiasbegrifflichkeit allein reicht nicht. Denn der Messias ist letztlich nur ein Gesalbter. Die Rede vom »Fleisch des Messias« zeigt: Hier geht es um epiphane Erlebnisse. In Anschluss an BERGER könnte man von einer Art »Superinspiration« sprechen. In jedem Fall fängt man an, den Menschen Jesus epiphanial wahrzunehmen und zu beschreiben. Wenn Jesus aber »Ort« himmlischer Epiphanie ist, dann wohnt oder zeltet in ihm Gott oder ein göttliches Wesen. Damit beginnt das Nachdenken über den Auftritt Gottes oder des Gottesboten in menschlicher Gestalt. Wie es im Kult auch ist, so auch bei Jesus: Der Ort der Gottespräsenz bekommt eine wesentliche Bedeutung und wird vielfach bedacht. Damit ist das »Fleisch« Jesu als »Wohnung« oder »Stiftshütte« Gottes in den Blickpunkt und in den Brennpunkt des Interesses gerückt. Nicht nur das, sondern auch das Fleisch der zu Jesus Gehörenden ist Objekt des Interesses: Denn im Menschen wohnt ab jetzt Gott, Gottes Geist. Bei den Menschen nicht in absoluter Dauerhaftigkeit - bei Jesus aber vollständig und ganz. Darum ist das »Fleisch des Messias« im frühen Christentum nahezu überall von Interesse. Solange der Mensch Jesus als solcher aktuell vor Augen ist, kann man bei aller epiphanialer Erfahrung nicht auf den Gedanken kommen, er sei wie ein Engel bloß zum Schein Mensch. In späterer Zeit, vor allem unter der Voraussetzung verschobener anthropologischer Grundauffassungen, kann die epiphaniale Erfahrung stärker engelhaft gedeutet (Doketismus) oder in einer doketistischen Trennungschristologie dargestellt werden. 1652 SASSE, Menschensohn, 265f. F. Ertrag und Ausblick 15 Ertrag 1. Im ersten Abschnitt wurde anhand der Forschungsgeschichte deutlich, welche eigenen Interessen und geistesgeschichtlichen Verankerungen dafür sorgen, fast schon im Sinne einer Ideologie an einem wie auch immer gearteten »Doketismus« als Hintergrund neutestamentlicher Schriften festzuhalten. Dagegen hilft zunächst eine konsequente Orientierung an den vorliegenden Texten und dann an den historisch nächstliegenden religiösen Kontexten aus hellenistischem Judentum und Mittelplatonismus. 2. Im zweiten Abschnitt wurde die grundsätzliche Dramaturgie des 1 Joh zwischen Licht und Finsternis, zwischen Gott und Götzen und zwischen Geist und Welt/Fleisch dargestellt. Wenn Jesus der Christus war, muss er in der Welt als Mensch wirksam gewesen sein. Wenn er nicht wirksam ist, ist er nicht der Christus. Dann ist Jesus Christus nicht als Mensch in der Welt aufgetreten, das heißt, er ist dann gar nicht aufgetreten. Da aber sein Auftritt gut verbürgt ist (Augenzeugen) und das Auftreten von Widersachern und von Unheil gut in den bekannten apokalyptischen Fahrplan passt (»letzte Stunde«), ist auch dank der eigenen Erfahrungen (Taufe, Geist, Salbung) die gegenwärtige Anfechtung eher eine Bestätigung als eine wirkliche Verunsicherung. Das grundlegende Problem, das sicher auch die Gegner haben, die noch existente Sünde, wird gelöst, indem Jesus in vielfacher Hinsicht kultisch und nichtkultisch als Überwinder von Sünde und Gottesferne dargestellt und die Gemeinde auf die »Liebe« verpflichtet wird. 3. Im dritten Abschnitt wurde gezeigt, dass das »Fleisch des Messias« immer eine Aussage über die Nähe Gottes und über das Heilswirken Christi in der Welt beinhaltet. Die Darstellung kann vom Wohnen unter den Menschen ausgehen, vom epiphanialen Auftritt des Gottesboten oder von kultischen Darstellungen der Überwindung des Unheils und der Gottesferne. 4. Im vierten Abschnitt wurde gezeigt, dass Ignatius ein eigenes Konzept von »Fleisch Christi« hat, das schon vor der Auseinandersetzung mit den Doketisten vorhanden gewesen sein muss. Bei Ignatius geht es um die gleiche »Sphäre« mit Christus, die auch im Glauben und im mündlichen Evangelium gegeben ist. Es wurde deutlich, dass die Doketisten in Smyrna und anderswo offensichtlich zu der größeren Gruppe der »judaistischen« Fragesteller gehören, nur unter schon verschobenen Grundauffassungen: Die zu guten Teilen von Ignatius geteilte negative, apophatische Theologie des Hellenismus, die auch vorher schon in jüdischen und christlichen Äußerungen gegeben war, bekam stärkeres Gewicht und bewirkte die Suche nach neuen Konzepten, die höchstwahrscheinlich in erster Linie dem hellenistischen Judentum entstammen (Engeldoketismus, frühjüdische Mystik). 5. Im fünften Abschnitt schließlich wurden zunächst Elemente frühjüdischer Mystik dargestellt, die mit doketistischen oder trennungschristologischen Vorstel- 480 F. 16 Ausblick lungen verwandt sind. Insbesondere im »Engeldoketismus« wurde ein Erklärungsmodell für den Doketismus der Ignatiusgegner gefunden. Die Inkarnationsvorstellung orientiert sich an mehrfach nicht-christologisch bezeugten mystischen Motiven wie Inspiration, Ascensio und Begabung mit dem Namen Gottes. Die verschiedenen Motive müssen nicht jeweils »vollständig« vorliegen. Sie zeigen nur die Richtung an, in die man denken konnte. Hinzu kommt eine durch kultische Kleider-Metaphorik geprägte Wahrnehmung. Wie der Hohepriester den mit kosmischen Motiven durchwirkten Tempelvorhang durchschreitet und dabei zum Mittler zwischen dem Unsichtbaren und dem Sichtbaren wird, wobei er sich jeweils in in entsprechende Gewänder hüllt, so nimmt der Gottessohn als Messias Fleisch an. Das Fleisch des Messias erweist sich als notwendiger Trägerstoff für seine Epiphanie. Nötig wird diese Kombination, weil der Messias hier als himmlisches Wesen gedacht ist und zugleich mit dem irdischen Jesus identifiziert wird. Jesus selbst ist Ort der Gottesbegegnung und kann mit dem himmlischen Messias identifiziert werden. Eine Trennung zwischen irdischem Jesus und geglaubtem Christus wird dabei unnötig. 16 Ausblick »Christophobie.«1653 Auf diese Kurzformel bringt MICHAEL WELKER die gegenwärtige geistliche und theologische Verfassung der Christenheit in den USA und Westeuropa. Von Christus sei in den Kirchen und in der Öffentlichkeit kaum die Rede. Man vermeide es tunlichst, sich auf Jesus zu beziehen, bzw. wenn, dann nur auf den »historischen«, was auch immer man jeweils darunter versteht. Meine Erfahrung ist entsprechend: Sobald Konfirmanden, Traupaare oder Taufeltern sich ein biblisches Leitwort selber aussuchen, wählen sie etwas »Unverfängliches« aus den Psalmen oder Mahnworte von Paulus. Möglich ist auch ein Wort Jesu aus den synoptischen Evangelien. Christologische Worte - etwa aus dem Johannesevangelium oder von Paulus - machen weniger als 10% der gewählten Losungsworte aus. Bei Taufen wünschen sich mittlerweile gut 50% meiner Taufeltern Psalm 91,11: »Denn er hat seinen Engeln befohlen ...«. Die »Tatsache«, dass Jesus nie gelebt hat, dass er aber gleichzeitig mit Maria Magdalena verheiratet war, ist auch nach anderthalb Jahren Konfirmandenunterricht bei den interessierteren Konfirmanden präsent. »Christophobie« bedeutet daher, dass Menschen unserer Zeit christologische Rede mit unglaubwürdigen christologischen Leerformeln verbinden, deren phrasenhafte Wiederholung ihre Inhaltslosigkeit nicht verdecken kann. Inhaltslos deswegen, weil es ja anerkanntermaßen Ergebnis der historischen Forschung sei, dass historisch gesehen nahezu nichts von den biblischen Berichten über Jesus und die Anfänge der Christenheit stimmt. Die Menschwerdung Gottes wird heute auch 1653 WELKER, Offenbarung, 28ff übernimmt mit diesem Leitwort die Diagnose des jüdisch-orthodoxen Juristen J.H.H. Weiler (vgl. ebd., 29., Anm. 3). Andere diagnostizieren »Herzrhythmusstörungen« im »Herzstück« christlicher Theologie: DANZ/MURRMANN-KAHL, Problemhorizont, 6. 16 Ausblick 481 deswegen als unplausibel empfunden, weil man längst eine Erklärung für diese Vorstellung hat: menschengemachte Divinisierung bzw. Vergöttlichung des an sich vermutlich ganz anderen - oder gar nicht existenten - Jesus.1654 Inhaltslos ist die christologische Rede aber auch deswegen für viele, weil wir in einer Zeit leben, in der die Oberfläche der Dinge eine immer größere Bedeutung bekommt, in der greifbare Erfolge das Maß aller Dinge sind und in der Geist und Seele nur noch medizinisch untergeordnete Funktionen des Körpers zu sein scheinen, die man entsprechend medikamentös in den Griff bekommen möchte. Wenn Oberfläche, Erfolg und Materialität (Fleisch) die Hauptbezugsgrößen menschlicher Wahrnehmung sind, dann rutscht die »unsichtbare Hälfte der Wirklichkeit« natürlich sehr in den Hintergrund. »Gott«? Was ist das? Mir scheint das die eigentliche Frage zu sein. Das heißt, gegenwärtig herrscht eine Art »umgekehrter Doketismus«. Wirklichkeit hat nur noch das Greifbare. Das Ungreifbare wird lieber vorsichtig halb-esoterisch ausgedrückt, in Ahnungen und Anspielungen. Christophobie herrscht schließlich deswegen, weil Christus das Gegenteil einer alles beherrschenden beziehungsfeindlichen Vorstellungswelt ist. In Christus ist die lebendige Gottesbeziehung derart manifest, dass in ihm Gott selber ansichtig wird. Dies alles ist natürlich unglaubwürdig, solange Jesus nur eine erdachte Kunstfigur ist. Es ist absolut einsichtig, die Rede von Christus dann zu meiden, da sie nur mit dogmatisierender, unglaubwürdiger Einengung des eigenen Glaubens und Denkens verbunden sein kann. Mit allen hermeneutischen und philosophisch gegenwartsorientierten Anstrengungen wird man unter diesen Bedingungen nicht für die Gegenwart »sprachfähig« werden, solange die Kernaufgaben nicht gelöst werden. Derartige zentrale Aufgaben der Theologie als Funktion der Kirche wären: - Jesus ist als menschliche Person in Raum und Zeit wahrzunehmen und historisch zu sichern. - Die Kategorie Gott/Himmel/Geist ist sowohl bildhaft als auch abstrakt und in andeutungsweiser Komplexität so zu beschreiben, dass eine immer mehr der Oberfläche und der Materie verhaftete Welt überhaupt eine Ahnung von den sie tragenden unsichtbaren Kräften und Mächten bekommt. - Die Kategorie Gott/Himmel/Geist ist so auf Jesus zu beziehen, dass diese Historisierung des vermeintlichen Abstraktums Gott befreiend wirkt. - Inkarnation ist als Wirkung und Quelle des Geistes darzustellen, die immer wieder Initialzündung für kirchliche und persönliche christliche Spiritualität war und ist. Da Menschen gerade und auch trotz herrschender materialistischer Orientierung nach glaubwürdiger spiritueller Erfahrung suchen, bietet die Darstellung der mystischen bzw. spirituellen Basis Jesu und der ersten Christen im Frühjuden1654 Die Trennung zwischen »historischem Jesus und dogmatischem Christus« (vgl. DANZ/MURRMANN-KAHL, Jesus) folgt einerseits dem grundsätzlich berechtigten Anliegen historischer Kritik gegenüber späterer Dogmatisierung oder Ideologisierung. Andererseits ist vieles von dem, was man für »dogmatisch« halten könnte, schon Bestandteil des frühesten Christentums, noch vor aller systematischen und dogmatischen Fassung. 482 F. 16 Ausblick tum/im frühen Christentum eine besondere Chance. Die Auffassung, dass Jesus der Christus, der Sohn Gottes, das menschgewordene Wort Gottes ist, ist nicht in erster Linie »dogmatisch«, sondern kann als Ausdruck persönlicher Erfahrung wahrgenommen werden, die ansatzweise auch heute spirituell »wiederholt« werden kann. Die Wiederentdeckung des »Heiligen Geistes« als »Erfahrungsträger« von christlicher Existenz kann dazu viel beitragen. Die Erfahrungen der Zeitgenossen Jesu mit »IHM« können insbesondere dann anschlussfähig werden, wenn die geistliche Welt Jesu und seiner Umwelt überhaupt wahrgenommen wird. Auch diese Welt ist »historisch«, auch diese Welt ist »real«. Zugleich ist es möglich, an einer entscheidenden Trennlinie zwischen Islam und Christentum, die exakt mit den Begriffen von Doketismus und Inkarnation zu beschreiben ist,1655 eine neue Sprachfähigkeit zu gewinnen. Nur in einer historischen Darstellung Jesu, die die geistlichen Hintergründe Jesu und seiner Anhänger als etwas Wesentliches berücksichtigt, kann Jesu Bedeutung für die damalige Zeit - und gegebenenfalls für die heutige - plausibel werden. Die vorgelegte Arbeit ist in diesem Horizont geschrieben worden. 1655 Vgl. Koran Sure 2,87.116.136; Sure 3,42f.45-49.51-55.59.62; Sure 4,157-159.171; Sure 112, 1. MOHAMMED stellt mit seinen Offenbarungsäußerungen die Einzigkeit Gottes gegen die Behauptung der Christen, Jesus sei Gottes »Sohn« und fordert einen strengen Monotheismus. Zudem ist für ihn das Leid Jesu nicht zusammenzubringen mit der Unverletzbarkeit Gottes. Beides sind Themen, die seit den Anfängen der doketistischen Christologie im 2. Jahrhundert immer wieder die Kirche beschäftigt haben.