Preview only show first 10 pages with watermark. For full document please download

Ein Türkischer Reformtheologe? Zekeriya Beyaz Zwischen Tradition Und Politik

   EMBED


Share

Transcript

74 lutz berger EIN TÜRKISCHER REFORMTHEOLOGE? ZEKERIYA BEYAZ ZWISCHEN TRADITION UND POLITIK VON LUTZ BERGER Tübingen Zekeriya Beyaz1 ist gegenwärtig in der Türkei einer der prominentesten Vertreter eines sich modern und aufgeschlossen gebenden Islam: Eine Internetrecherche mit seinem Namen führt zu über 1500 Treffern.2 In der öffentlichen Debatte, insbesondere im Ramadan eines jeden Jahres, vertritt er seit Jahren für viele konservative Muslime provokante Thesen wie die im übrigen nicht weiter begründete Ansicht, ein- oder zweimal im Leben einen pornographischen Film anzusehen, sei keine Sünde, wenn es dem Ziel diene, Lebenserfahrung zu sammeln.3 Vor allem die in der Türkei so heikle Kopftuchfrage hat ihn in den letzten Jahren 1 Seine Schriften sind im Folgenden ohne Autorennennung zitiert. Leider gibt es bis jetzt nur wenig Literatur über türkische Theologie im 20. Jh. Ein prägnanter Überblick über die vor allem im konservativen Segment der türkischen Gesellschaft verbreiteten Denkschemata findet sich in Günther Seufert: Politischer Islam in der Türkei, Istanbul/Stuttgart 1997. 2 Genau 1540; für Ya×ar Nuri Öztürk, den neben Beyaz sicher medial präsentesten Vertreter des prononciert „nichtislamistischen“ Islam ergeben sich dagegen nur 424 Treffer. Beyaz ist damit bei weitem nicht so allgegenwärtig wie Fethullah Gülen (9470), liegt aber auf einer Stufe mit dem Theologen Prof. Hayrettin Karaman (1500) oder dem Nak×ibendi-Scheich Mehmet Zahid Kotku (1270). Dessen Schüler Prof. Es’ad Co×an bringt es nur auf 107 Erwähnungen. Unter den islamistischen Denkern der gegenwärtigen Türkei kommt Ali Bulaç auf 2770 und Abdurrahman Dilipak auf 1650 Erwähnungen (google-Suche am 28.11.2003). Eine Internetrecherche sagt natürlich nur bedingt etwas über die Prominenz einer Figur in anderen Medien, auch muss man damit rechnen, dass nicht alle angegebenen Erwähnungen sich tatsächlich auf die entsprechende Person beziehen; es geht hier also nur um Größenordnungen. 3 Güleryüzlü ~slam, Istanbul 2000, S. 294. Seine Gegner nennen ihn wohl nicht zuletzt deshalb zuweilen „pornocu“; http://members.fortunecity.com/akademyayadogru/ makcoy libya.htm (abgerufen am 5.11.2003). Beyaz’ Ansichten zur Sexualität sind im Übrigen durchaus nicht immer revolutionär, vgl. unten Anm. 101. © Koninklijke Brill NV, Leiden, 2005 Also available online – www.brill.nl wdi45-1_berger.pmd 74 Die Welt des Islams 45, 1 3/10/2005, 11:37 AM ein türkischer reformtheologe? 75 umgetrieben. Wegen seines engagierten Eintretens für das Kopftuchverbot auch in der theologischen Fakultät der Marmara-Universität, deren Dekan er bis zu seiner jüngst erfolgten Pensionierung war, wurde er Opfer eines lebensgefährlichen Messerattentats eines wegen seiner Haltung in dieser Frage erbosten Islamisten. Beyaz, geboren 1938 in Gaziantep,4 fand nach einschlägiger Ausbildung 1969 eine Anstellung als Prediger (vaiz) der staatlichen Religionsverwaltung in Kærklareli.5 Politisch stand er spätestens seit dieser Zeit „Idealisten“ des Alparslan Türke× nahe, für die er auch in Veranstaltungen auftrat.6 Er schied 1976 aus dem Dienst des Präsidiums für Religionsangelegenheiten aus und wurde Journalist. Ab 1982 setzte er seine Studien im Fach Soziologie fort, bis er schließlich 1999 auf eine Professur für Religionssoziologie an der theologischen Fakultät der Marmara-Universität Istanbul berufen wurde. Beyaz kann als typischer Vertreter der Ideologie der TürkischIslamischen Synthese gelten. Gegenüber radikalen Säkularisten wie gegenüber antinationalen Muslimen verteidigen die Anhänger dieser Lehre, zu deren bekanntesten Vertretern Historiker wie ~brahim Kafeso¯lu und Osman Turan gehören, das unauflösliche Zusammengehören von Türkentum und Islam. Die Türken seien gleichsam von Natur aus Muslime, doch der Gedanke der Theokratie sei ihnen fremd. ~la-yæ kelimetullah und nizam-æ alem, göttliche und weltliche Ordnung, dürften nicht gegeneinander stehen, sie müssten sich ergänzen.7 Letztlich das gesamte publizistische Wirken Beyaz’ ist aus der Perspektive dieser Ideologie zu verstehen. Das gilt für den vor allem in den 70er Jahren, während einer Periode harter, vielfach von Gewalt überschatteter Auseinandersetzungen rechts- und linksorientierter junger Leute, von ihm geführten Kampf gegen den Kommunismus. Das gilt aber 4 Zu seiner Biographie vgl. etwa: http://www.millennium-tage.de/2003/presse/ Bios.RTF (abgerufen am 2.11.2003). 5 Türklük Kanæmæz, ~slâm Canæmæz 2. Auflage Istanbul 1995, S. 295ff. 6 Z.B. Türklük Kanæmæz, S. 68ff. 7 Gökhan Çetinsaya: “Rethinking Nationalism and Islam: Some Preliminary Remarks on the Roots of ‘Turkish-Islamic Synthesis’ in Modern Turkish Political Thought”, in: Muslim World (49) 1999, S. 350-376. Vgl. auch Hugh Poulton: Top Hat, Grey Wolf and Crescent. Turkish Nationalism and the Turkish Republic, New York 1997, vor allem S. 181ff. wdi45-1_berger.pmd 75 3/10/2005, 11:37 AM 76 lutz berger noch mehr für seine Auseinandersetzung mit den Vertretern eines zu einer internationalistischen politischen Ideologie mutierten Islam, wie er etwa von den türkischen Anhängern der Muslimbruderschaft oder Maud¢dºs propagiert wird. Ablehnung eines antikemalistischen, den Nationalstaat in seiner Absolutheit oder ganz verwerfenden Islam heißt freilich bei Beyaz nicht, einer religiösen Beliebigkeit das Wort zu reden. Gegen den orthopraxen Islam der Islamisten setzt er vielmehr seinen eigenen, der sich selbst als nicht minder orthoprax versteht, aber in einigen entscheidenden Einzelpunkten von den Rechtslösungen der Traditionalisten und Islamisten abweicht. Beyaz stellt seine Rechtsdeutung unter das Schlagwort vom freundlichen Islam. Religion soll die Gesellschaft zusammenführen und nicht spalten, sie soll den Menschen Ängste nehmen und nicht Ängste hervorrufen. Wirklich strittig ist dabei der Bereich dessen, was Seufert „geschlechtliche Codierung der Religion“ nennt,8 hier in Besonderen die Frage des offenen Zugangs von Frauen und Männern zu den gleichen sozialen Räumen. Indem Beyaz ohne Wenn und Aber Position auf Seiten des kemalistischen Staates bezieht, wird er für die Vertreter des politischen aber auch eines traditionell konservativen Islam zur Unperson und gewinnt gleichzeitig im liberalen Lager und im westlichen Ausland an Ansehen. I. Beyaz als Theologe Theologischen Fragen im engen Sinn hat sich Beyaz eher selten gewidmet. Einschlägig ist hier der kurze Traktat Allah’æn varlægE æna belgeler. Der Autor weist zu Beginn seiner Darlegungen darauf hin, dass er die islamische Glaubenslehre gemäß den Ansichten der ehl-i sünnet darstellen wolle, die er ohne Umschweife mit den kelamcælar gleichsetzt.9 Von unterschiedlichen Schulen unter diesen, oder davon, dass gerade in sunnitischen Kreisen der kal¸m, 8 9 wdi45-1_berger.pmd Seufert: Politischer Islam in der Türkei, S. 112ff. Allah’æn varlægE æna belgeler, Istanbul 1992, S. 5. 76 3/10/2005, 11:37 AM ein türkischer reformtheologe? 77 die spekulative Theologie, durchaus nicht nur Freunde hatte,10 erfährt der Leser nichts. Er soll davon auch nichts erfahren, denn nicht um einen Durchgang durch das theologische Denken der Sunna geht es Beyaz, sondern um eine argumentative Schulung seiner Zeitgenossen gerade in der Auseinandersetzung mit Anhängern von nichtislamischen Weltbildern. Seine Argumentation lehnt sich folglich vielfach mehr als an mittelalterliche Debatten an das an, was seit Ende des 19. Jh. in Kreisen des Reformislam Konsens ist. Beyaz handelt zunächst in Form eines Katechismus die in seiner Sicht unabdingbaren Grundwahrheiten des Eingottglaubens ab und weist dabei insbesondere die Irrtümer der Juden11 und Christen12 und der Anhänger des Seinsmonismus des Ibn al-{Arabº13 10 Zu der in konservativen sunnitischen Kreisen verbreiteten damm al-kal¸mLiteratur vgl. jetzt Mohammad al Hashash: Zwischen Tradition und Aufbruch. Die Ablehnung und Verleumdung der spekulativen Theologie – damm al-kal¸m wa-ahlihi – in der Frühzeit des Islam, Diss. Bonn 1999. 11 Hier der angebliche jüdische Glaube an die Gottessohnschaft des Esra ({Uzair) nach Koran 9, 30; Allah’æn varlægE æna belgeler S.26f. Zu {Uzair vgl. EI2, X, 960 Art. {Uzayr (Hava Lazarus-Yafeh). 12 Allah’æn varlæ¯æna belgeler, S. 27f. Hier kommt Beyaz ein wenig durcheinander. Er behauptet, die christliche Dreieinigkeit bestehe aus Jesus, Maria und Heiligem Geist. Im Koran wird zwar in V, al-M¸}ida, 116 darauf angespielt, dass die Christen behaupteten, Jesus und Maria seien Götter neben Gott, der heilige Geist jedoch bleibt unerwähnt. Auch die mittelalterliche muslimische Kommentarliteratur lässt den Gott der Christen in polemischer Absicht irrtümlich aus Gott, Jesus und Maria bestehen, ohne allerdings den heiligen Geist zu erwähnen. Bereits in al-Bai¤¸wºs Kommentar zum ebenfalls einschlägigen Vers an-Nis¸} IV, 169 wird die christliche Trinitätslehre allerdings korrekt dargelegt. (Vgl. dazu Art. Maryam in EI2 Vi, 628632). Woher Beyaz seine Kenntnis um die Irrlehren der Christen nimmt, bleibt folglich unklar. Eigentlich könnte man gerade von ihm bessere Informationen über christliche Lehren erwarten, denn sein Verhältnis zu den Vertretern des etablierten Christentums etwa in Deutschland ist erstaunlich gut entwickelt. Eine auf deutsche Seiten beschränkte Internetrecherche zeigt (24 Treffer auf deutschen Seiten bei google am 5.11.2003), dass er gern gesehener Gast bei den Tagungen der zur Evangelischen Landeskirche Kurhessen-Waldeck gehörenden Akademie Hofgeismar ist; auch der Landesbischof tritt mit ihm zusammen auf. Bei einer für Herbst 2003 in Kassel in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Akademie Hofgeismar geplanten Tagung der nordhessischen Wirtschaft sollte Beyaz als Vertreter des aufgeklärten Islam mit von der Partie sein. Aber auch ansonsten hat Beyaz in Deutschland gute Kontakte. Die Münchner Frauenverbände zählten 2003 auf ihn für den internationalen Frauentag am 8.3.2003 zum Thema „Die Frau im Islam“. Ebenfalls in München trat Beyaz bei von der Friedrich-Ebert Stiftung veranstalteten Kulturwochen auf. 13 Allah’æn varlægE æna belgeler, S. 14. wdi45-1_berger.pmd 77 3/10/2005, 11:37 AM 78 lutz berger sowie der sunnitischen Übertreiber, der Wahh¸biten, zurück14 und befasst sich in aller gebotenen Kürze mit der Lehre von den göttlichen Attributen.15 Die Hauptstoßrichtung des Werkes ist aber nicht die Widerlegung der Andersgläubigen, sondern die areligiöser „Materialisten“, die durch hieb- und stichfeste Argumente erst noch von der Existenz Gottes überzeugt werden müssen. Die Existenz Gottes beweist Beyaz in gut koranischer Vorgehensweise aus der Ordnung des Kosmos. Auch Aristoteles kommt ihm zu Hilfe, ohne freilich genannt zu werden: Alles Geschaffene habe einen Schöpfer, der selbst ungeschaffen sein muss, da der infinite Regress verboten sei.16 Über mehr als die Hälfte des Textes wird dieses Argument immer wieder hin und her gewendet. Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft über den gewaltigen Energieverbrauch der Sonne, die regelmäßige Drehung der Erde verbindet er mit einschlägigen Koranzitaten, die den Menschen auffordern, vom Wundercharakter des Geschaffenen auf die Existenz des Schöpfers zu schließen. Diese Hinwendung zur Naturwissenschaft, die als letzter Beweis der Richtigkeit islamischer Glaubensvorstellungen herhalten muss, steht in einem gewissen Spannungsverhältnis zu traditionellen Vorstellungen der mittelalterlichen islamischen Theologie, der sich Beyaz nach eigenen Aussagen doch verpflichtet fühlt. Beyaz nämlich sieht die ausnahmslose Geltung der Naturgesetze gerade als einen Gottesbeweis an,17 während doch die klassische aš{aritische Theologie diese als eine Einschränkung der göttlichen Allmacht leugnet.18 Auch bei Aš{arºs 14 Allah’æn varlægE æna belgeler, S. 28f. Allah’æn varlægE æna belgeler, S. 10ff. 16 Allah’æn varlægE æna belgeler, S. 9. 17 Allah’æn varlægE æna belgeler, S. 65f. „Kaldæki kainatta ilâhî kanunlarda – tabiat kanunlarænda – tesadüf diye bir ×ey yoktur! Ate× her zaman yakar, güne× her zaman dogE udan dogE ar, her agE aç ancak kendi meyvesini verir, her canlædan ancak kendi cinsi ürer…Kæsaca ifade etmek icâp ederse, kainattaki her varlæk ve ondan cereyan eden her olay yüce Tanræn varlægE ænæn kesin bir belgesidir diyebiliriz.“ 18 Zur Frage des Occasionalismus im islamischen Denken vgl. Dominik Perler und Ulrich Rudolph: Occasionalismus. Theorien der Kausaliät im arabisch-islamischen und im eurpäischen Denken, Göttingen 2000; Die unterschiedlichen Ansichten verschiedener theologischer Schulen im sunnitischen Islam i. B. zwischen den Anhängern von Aš{arº und M¸turºdº spielen bei Beyaz so gut wie keine Rolle. In ~slam’a göre Milliyetçilik, geht er auf S. 360 auf derartige Auseinandersetzungen ein und schließt sich im Einzelfall gegen „M¸turºdº, den Vertreter unserer Rechtsschule“ 15 wdi45-1_berger.pmd 78 3/10/2005, 11:37 AM ein türkischer reformtheologe? 79 Samarkander Kollegen M¸turºdº, dem „Haustheologen“ der Ýanafiten, findet sich diese einfache Gleichsetzung von Naturgesetz und göttlicher Schöpfungsordnung nicht. Nach M¸turºdº setzt Gott im Gegenteil die natürliche Neigung der Naturen, andere Naturen zu fliehen, außer Kraft. Indem er so an die Stelle des Gesetzes der Natur seine Schöpfungsordnung setzt, und die Welt der Körper ins Sein ruft, erweist er seine Existenz, – nicht mit, sondern gegen das Naturgesetz der Philosophen. Freilich entspricht Beyaz’ Kerngedanke durchaus einem Hauptanliegen M¸turºdºs. Genau wie andere Theologen sieht auch dieser schließlich in der durch Gottes stetes Eingreifen ins Sein gebrachten und gehaltenen Schöpfung einen Beweis für die Existenz des Schöpfers.19 Von den vielen durch die mutakallim¢n, die doch Beyaz in dem genannten Werk zu referieren vorgibt, im Zusammenhang mit dem Naturgesetz ausgefochtenen Debatten erfährt der Leser nichts. Für ihn bleiben Naturgesetz, die dieses Gesetz ergründende Naturwissenschaft und Gottes Wille auf einander bezogene Größen, die einander bestätigen und nicht im Widerspruch zueinander stehen können.20 Wo Koranisches mit der ansonsten zur Verteidigung des Glaubens nutzbar gemachten Naturwissenschaft im Widerspruch steht, muss eine Argumentationsweise wie die Beyaz’ in Schwierigkeiten geraten. Unser Autor (und nicht wenige andere islamische Apologeten der Gegenwart) löst diese Schwierigkeiten auf zwei Weisen auf: Die einfachste Lösung ist, den Widerspruch gar nicht zur Kenntnis zu nehmen: Dass es Engel, Teufel und Dschinnen als real existie(d.H. den Lehrer der ¥anafitischen Schule, die überwiegend den Ansichten des M¸turºdº folgt) Aš{arº an, der die Meinung vertritt, einem Volk sei ohne einen Propheten rechte Gotteserkenntis unmöglich. 19 Ulrich Rudolph: Al-M¸turºdº und die Sunnitische Theologie in Samarkand, Leiden 1997, S. 281ff. 20 In jüngerer Zeit hat Beyaz allerdings in einem Vortrag die seiner Ansicht nach problematische Auffassung al-Ûaz¸lºs von der Begrenztheit der Fähigkeiten des menschlichen Verstandes verurteilt: http://www.bozkurt.net/modules.php? name= News&file=article&sid=1784 (Artikel vom 16.11.2003, abgerufen am 2.5. 2004.) Anders als viele moderne Exegeten verwendet Beyaz die Methode des tafsºr {ilmº, des Versuchs, naturwissenschaftliche Wahrheiten im Koran zu erkennen, nicht explizit. Die enge Verknüpfung von naturwissenschaftlichen Aussagen mit Koranversen, in denen auf die Natur verwiesen wird, legt allerdings einschlägige Assoziationen nahe. wdi45-1_berger.pmd 79 3/10/2005, 11:37 AM 80 lutz berger rende Lebewesen gibt, beweist für Beyaz nicht allein der Koran, sondern auch die Naturwissenschaft: Atomenergie und Elektrizität seien immateriell, die moderne Psychologie erkenne die Wichtigkeit des Geistes ebenfalls an. Der Materialismus sei somit gescheitert und der Existenz der im Koran beschriebenen Geistwesen stehe folglich nichts im Wege.21 Die offenkundig der Naturwissenschaft widersprechende koranische Aussage, alle Lebewesen seien in Paaren (d.h. zweigeschlechtlich) geschaffen (XXX, ar-R¢m, 21) empfindet er nicht etwa als problematisch,22 sie gilt ihm vielmehr genauso als Gottesbeweis wie die regelmäßigen Bewegungen der Himmelskörper.23 Nun entzieht sich die Existenz von Geistwesen per definitionem naturwissenschaftlicher Untersuchung und ist mithin nicht zu widerlegen. Auch ist die Ungeschlechtlichkeit vieler Lebewesen eine in der breiteren Öffentlichkeit wenig bekannte Tatsache. Anders verhält es sich mit der Evolutionslehre. Hier hilft die Strategie des bloßen Ignorierens nicht weiter. Die im Vergleich mit der Bibel sehr viel weniger konkreten koranischen Berichte über die Schöpfung der Welt hätten den Muslimen dazu verhelfen können, in der Lehre von der Evolution nicht so sehr einen Angriff auf ihren Glauben zu sehen als eine erneute Bestätigung der Lehre vom ta¥rºf, womit gleichzeitig die Modernität des Islam erneut bewiesen wäre. Diesen naheliegenden Weg haben muslimische Apologeten jedoch von Anfang an nicht eingeschlagen. Während im Allgemeinen die moderne Naturwissenschaft als engste Verbündete islamischer Glaubenswahrheiten präsentiert wird, begibt man sich im Kampf für den creationism an der Seite christlicher Fundamentalisten in eine Schlacht, in der es nicht viel zu gewinnen gibt.24 Entsprechend dürftig müssen auch dem modernen Leser 21 Türklük Kanæmæz, S. 275f.; zum Problem der Dschinnen für die moderne Korandeutung vgl. Lutz Berger: “Esprits et microbes: L’interprétation des ¯inns dans quelques commentaires coraniques du XXe siècle”, in: Arabica, Bd. 47, 2000, S. 554-562. 22 Allah’æn varlægE æna belgeler, S. 92. 23 Allah’æn varlægE æna belgeler, S. 72. 24 Beyaz steht mit dieser Ansicht allerdings nicht allein. Die Evolutionslehre ist in der Türkei seit den 80er Jahren auch im Schulunterricht zurückgedrängt worden. 1984 wurde ihre Darstellung in Grund- und Mittelschulen durch den Unterrichtsminister verboten, vgl. dazu Hugh Poulton: Top Hat, S. 185. Zu Harun wdi45-1_berger.pmd 80 3/10/2005, 11:37 AM ein türkischer reformtheologe? 81 Beyaz’ Argumente vorkommen, die im übrigen von einer allenfalls oberflächlichen Kenntnis der in Bausch und Bogen verdammten modernen Biologie zeugen: Die These Darwins, der Mensch stamme vom Affen ab, sei längst widerlegt, kein vernünftiger Wissenschaftler glaube noch daran.25 Sie stelle eine Beleidigung für die Menschheit dar. Nachdem die Schlacht damit offenkundig in seinen Augen bereits erfolgreich geschlagen ist, bringt Beyaz als Beleg für die Absurdität der Evolutionslehre noch drei, wie er meint, wohl entscheidende Argumente vor: Löwe und Schakal seien einander auch ähnlich, niemand behaupte, der Löwe stamme vom Schakal ab. Im Übrigen sei der Mensch viel schöner als alle anderen Wesen.26 Auch könne die praktische Anordnung der Organe nicht auf evolutionärem Zufall beruhen: Wären etwa die Augen an den Fingern, würden wir rasch erblinden, so seien sie aber geschützt. Für all diese glücklichen Umstände müsse ein Schöpfer verantwortlich sein. Die Evolutionslehre ist ihm so als Irrweg demaskiert, dem nur Materialisten, Linke und Freimaurer27 folgten.28 Ein solcher Materialismus widerspreche dem Verstand und der Wissenschaft.29 Der wirkliche Ursprung der Menschheit liege, ganz wie es ein wörtliches Verständnis der geoffenbarten Religion lehrt, in der Schaffung des einen Menschen Adam durch Gott, der dafür die Elemente Erde und Wasser benutzt habe.30 Dieser Adam ist für Beyaz nicht etwa eine mythologische Gestalt, sondern offenkundig eine konkrete historische Person, über deren genaue LebensYahya (der Name ist ein Pseudonym), einem anderen türkischen Leugner der Evolutionslehre, vgl. Martin Riexinger: The Islamic Creationism of Harun Yahya in: International Institute for the Study of Islam in the Modern World Newsletter (11) 2002, S. 5. Ansonsten ist Yahya auch als Leugner des nationalsozialistischen Judenmordes hervorgetreten: Soykæræm yalanæ, Istanbul 1995. 25 Allah’æn varlægE æna belgeler, S. 86f. 26 Allah’æn varlægE æna belgeler, S. 88. 27 Den Freimaurern, neben den Juden sonst unvermeidliches Versatzstück rechter türkischer Phantasmagorie wird bei Beyaz nur vergleichsweise geringer Raum eingeräumt. Sie stellen bei ihm wie bei anderen Autoren aus der Türkei und arabischen Ländern das willige Werkzeug der Juden, bei der Verwirklichung ihrer sinistren Pläne dar: ~slâm’a göre Milliyetçilik, S. 381. Vgl. zu dieser Figur und der Rolle der Freimaurer als Feindbild im Nahen Osten: Jacob M. Landau: Muslim Opposition to Freemansonry, in: Welt des Islams 36 (1996), S. 186-203. 28 Allah’æn varlægE æna belgeler, S. 50f. 29 Allah’æn varlægE æna belgeler, S. 96, „Materiyalizm ilim ve akældæ×æ bugün“. 30 Allah’æn varlægE æna belgeler, S. 87. wdi45-1_berger.pmd 81 3/10/2005, 11:37 AM 82 lutz berger daten er sich allerdings nicht äußert. Doch steht für ihn fest, dass dieser Adam ein „zivilisierter“ Mensch war (medeni). Erst später sei die Menschheit von der im Ursprung bereits erreichten Höhe wieder abgesunken, was insbesondere in der Ausbreitung religiöser Irrtümer seinen Ausdruck gefunden habe.31 Von derartigen Verfehlungen seien allerdings die Türken, wie wir an anderer Stelle lesen, glücklicherweise im Vergleich mit den übrigen Völkern weitgehend frei geblieben.32 Wir nähern uns hier Fragen, die Beyaz Zeit seines Lebens offenkundig immer mehr am Herzen gelegen haben als die metaphysische Spekulation. Wenn für ihn der Erweis der Existenz Gottes so wichtig ist, dann deshalb, weil der Glaube an diese Existenz für ihn unverzichtbare Grundlage jedweder Moral und allen menschlichen Zusammenlebens ist.33 Als Religionssoziologe hat Beyaz hier seine Interessenschwerpunkte; genauso wie im theologischen Bereich im engeren Sinne liegt allerdings auch hier sein Hauptaugenmerk nicht auf der Beschreibung der Welt, wie sie ist, sondern auf dem Versuch türkisch-islamische Verhaltensnormen zu definieren.34 II. Eine Welt voller Feinde Gerade dafür bietet der islamische Eingottglaube wichtige Anhaltspunkte. Der tau¥ºd (türk. tevhid), der Glaube an den einen Gott, ist nicht allein ins Transzendente gerichtet. Er ist genauso Symbol und Voraussetzung nationaler Einheit.35 Gesellschaftlicher Pluralismus ist für Beyaz völlig unvorstellbar. Der türkische Staat kann wie jeder Staat seiner Ansicht nach nur existieren, wenn er auf einer einheitlichen religiösen wie ethnischen Grundlage beruht. 31 Türklük Kanæmæz, ~slâm Canæmæz, S. 123. ~slâm’a göre Milliyetçilik, Istanbul 1994 (1. Aufl. 1973) S. 358ff. 33 Türklük Kanæmæz, S.125f.; Allah’æn varlægE æna belgeler, S. 23 (ohne Gott gibt es kein Erlaubt und Verboten), das islamische Einheitsbekenntnis ist Grundlage des von ihm so wichtig genommenen Nationalstaats: Allah’æn varlægE æna belgeler. S. 42. 34 Vgl. die Beurteilung {Abduhs durch Rotraut Wielandt: Offenbarung und Geschichte im Denken moderner Muslime, Wiesbaden 1971, S. 70. 35 Auch hier kann sich Beyaz mit weiten Kreisen in der Türkei einig fühlen, Seufert: Politischer Islam in der Türkei, S. 300ff. 32 wdi45-1_berger.pmd 82 3/10/2005, 11:37 AM ein türkischer reformtheologe? 83 Abweichungen führen zur Zerstörung der Staatsnation, deren Erhaltung doch göttlicher Auftrag an die Menschen ist.36 Für weniger entwickelte Völker und Minderheiten gilt dieser göttliche Auftrag nicht. Im Gegenteil! Sie haben sich der Mehrheitsgesellschaft zu unterwerfen und ihre eigene Identität aufzugeben. Platz für andere Sprachen und Kulturen (das Kurdische ist soweit tabuisiert, dass Beyaz es hier nicht einmal beim Namen nennt) gibt es in der Türkei mithin nicht.37 Diese Anpassung sollte den Minderheiten in der Türkei umso leichter fallen, als das Türkische nach Beyaz eine der ältesten und wichtigsten Kultursprachen der Welt ist.38 Auch sonst scheint Konformismus Beyaz’ oberste Devise. Raum für einen offenen gesellschaftlichen Diskurs sieht er daher nur begrenzt. Kritik möchte er durchaus zulassen, doch soll es dabei nicht um das Vorbringen von Partikularinteressen gehen. Die Äußerung von Meinungen hat vielmehr die klare Funktion, die Gesellschaft voranzubringen und damit im Kampf gegen äußere Feinde zu stärken.39 Insoweit sie solche notwendige Kritik zulässt, ist die Demokratie auch die von ihm bevorzugte Staatsform. Zur Frage, welche politische Ordnung dem Islam angemessen ist, hat Beyaz bereits Mitte der 70er Jahre eine Schrift verfasst, in der er zunächst die Unvereinbarkeit von monarchischer Herrschaft – sei es in der theokratischen Form des Kalifats, sei es in der Gestalt des Sultanats – mit dem Islam zu erweisen sucht. Im Folgenden wendet er sich dann der durch Koran und Sunna seiner Ansicht nach vorgegebenen republikanischen Staatsform zu, wobei seine Argumentationsweise mutatis mutandis ganz der auch bei der sog. wissenschaftlichen Koranauslegung, dem tafsºr {ilmº, üblichen Vorgehen entspricht und dementsprechend oftmals einem historischen Textverständnis diametral zuwider läuft. Zwei Beispiele 36 Türklük Kanæmæz, S. 106ff., ~slâm’a göre Milliyetçilik, S. 246f. und passim. Türklük Kanæmæz, S. 101; S. 107f. 38 Türklük Kanæmæz, S. 21 u. 27f. 39 Die Grenzen der Pressefreiheit sind für ihn folglich überschritten, wenn „Aufwiegler“ und „fünfte Kolonnen des Auslandes“ sich diese zunutze machen, um den Staat zu unterminieren: ~slâm ve Siyasî Düzen, Istanbul 1991 (1. Aufl. 1976) S.218; zur Notwendigkeit der Uniformität im Inneren, zum Zwecke des Erfolgs nach außen wie zur Vermeidung moralischen Verfalls im Leben der Einzelnen vgl. auch: Türklük Kanæmæz, S. 48ff. 37 wdi45-1_berger.pmd 83 3/10/2005, 11:37 AM 84 lutz berger seiner Auslegung von Koranversen und Prophetenüberlieferung mögen das illustrieren: Zunächst seine Deutung des bekannten Verses IV, an-Nis¸}, 59. In der Übersetzung von Paret heißt es dort: „Ihr Gläubigen! Gehorchet Gott und dem Gesandten und denen unter euch, die zu befehlen haben (oder: zuständig sind)! Und wenn ihr über eine Sache streitet (und nicht einig werden könnt), dann bringt sie vor Gott und den Gesandten, wenn (anders) ihr an den jüngsten Tag glaubt! So ist es am besten für euch und nimmt am ehesten einen guten Ausgang.“ Beyaz deutet die Verse wie folgt: „Wie im vorhergehenden Vers (in dem es um die Rückgabe anvertrauter Güter, für Beyaz aber um Staatsämter und um das Schiedsrichteramt, das Amt des ¥akam, geht, L.B.) werden auch in diesem einige wichtige, grundsätzliche Besonderheiten des islamischen Systems der Republik, der Demokratie in prägnanter Weise (öz halinde) zum Ausdruck gebracht. Jeder Gerechte und Verständige, der diese Prinzipien untersucht, muss zugeben, dass der Islam ein republikanisches System im vollkommensten Sinne geschaffen, die noch heute von den Menschen gar nicht genug zu lobende Demokratie in ihren Grundprinzipien bereits vor 1400 Jahren hervorgebracht hat. Wir wollen die in diesen Versen vorliegenden Prinzipien kurz zusammenfassen: 1. Ulülemir: Im Koran wird den Regierenden der Titel „ulülemir“ gegeben. Das bedeutet „die mit Befehlsgewalt“. Die normale Bedeutung ist Regierender, Beamter, Verwaltungsbeamter. Es heißt nicht Kalif oder Sultan. Im ganzen Koran wird der Staatschef nie mit dem Titel eines Kalifen belegt. Vielmehr wird in diesem Vers den Regierenden einschließlich des Staatschefs eindeutig der Titel eines Befehlshabers gegeben.40 Was wir damit sagen wollen, ist, dass gemäß dem Islam weder dem Staatschef noch anderen Regierenden die Eigenschaft eines Kalifen zugeschrieben wird, ein Begriff, den man mit ungewöhnlicher Bedeutung auflädt und als Vertreter Gottes oder des Propheten begreift. Genauso wenig wird ihm die Eigenschaft eines Sultans zugeschrieben, worunter ein Gewaltherrscher verstanden wird. Er wird einfach als Regierender beschrieben. 2. Es handelt sich nicht um eine einzige Person: In diesem Vers werden die Befehlshaber, denen man gehorsam sein soll, nicht im Singular genannt, sondern im Plural: ulülemir, d.h. Befehlshaber. Daraus folgt, dass der Islam nicht für die Herrschaft einer einzigen Person ist. Der Befehlshaber ist nicht einer, sondern sind mehrere. Es handelt sich um die mit der Regierung Betrauten, die sich durchweg als eine sich durch ihre Eignung auszeichnende Elite darstellen. 40 Dass amºr al-mu}minºn der eigentliche Kalifentitel ist, übersieht Beyaz hier geflissentlich. wdi45-1_berger.pmd 84 3/10/2005, 11:37 AM ein türkischer reformtheologe? 85 3. Herrschaft des Rechts: In diesem Vers wird befohlen, Gott und seinem Propheten gehorsam zu sein. Gemeint sind zweifellos die Befehle und Verbote Gottes und des Propheten. Das heißt Gesetze und Vorschriften (kanun ve nizamlardær). Der Gehorsam gegen „die Regierenden unter euch“ meint nun die von den Regierenden auf Grund der durch Zeit und Umstände gemäß den generellen Prinzipien erlassenen Befehle und Verbote, d.h. also ebenfalls die Gesetze und Vorschriften. Diese Feinheit kann man wiederum aus dem Wort „emir“ –Befehl- , das Bestandteil des „ulülemir“ ist, herauslesen. Also muss man den Koranvers so verstehen, dass die unter den Muslimen herrschenden Grundsätze die Grundsätze des Rechts sein müssen. Folglich kann vom Sultanat und der Diktatur einer einzelnen Person nicht die Rede sein. Die Herrschaft gehört den Gesetzen. 4. Unabhängigkeit: Dass es in dem Vers heißt „Gehorcht denjenigen von euch, die Befehlsgewalt haben“, verweist auf einen sehr wichtigen Punkt. „Denjenigen von euch“, d.h. gehorcht den Befehlshabern, die Muslime sind. Daher dürft ihr nicht unter die Herrschaft einer nichtmuslimischen Nation geraten. D.h.: gehorcht nicht den Feinden, geratet nicht in die Abhängigkeit (esirlik) der Feinde oder unter ihre Kolonialherrschaft; unterwerft euch ihnen nicht; seid frei und unabhängig; ihr sollt euch selbst regieren; gewinnt und bewahrt eure Unabhängigkeit! Genauso wenig wie unter der Herrschaft (esirlik) der Feinde viele (andere) islamische Vorschriften verwirklicht werden können, kann unter ihr ein republikanisches System verwirklicht werden. 5. Verfassungsgerichtshof: In dem Vers wird gesagt, dass, wenn in einer die Staatsgeschäfte, den Gehorsam betreffenden Frage „unter euch Streit aufkommt, dann übergebt diese Frage an Gott und den Propheten“, d.h. an Koran und Sunna. D.h. wendet euch an das Grundgesetz, die Verfassung. Das bedeutet, geht nicht gleich zu Aufstand und Aufruhr über. Wer entscheidet, ob eine Streitfrage mit der Verfassung übereinstimmt? ... Diese Institution nennt man nach heutigem Sprachgebrauch passenderweise Verfassungsgericht. Das Verfassungsgericht ist als Institution sehr schön und islamisch... All dies sind sowohl die Grundlagen einer islamischen Republik als auch die Grundprinzipien dessen, was heute in der ganzen Welt als Demokratie bezeichnet wird und worauf man so stolz ist. Dass der Islam diese Prinzipien vor 1400 Jahren dargelegt hat, ist ein weiterer Beweis für die Wahrheit des Islam.“41 Die Eigentümlichkeit und Ahistorizität der Beyaz’schen Korandeutung, die freilich typisch für die islamische Apologetik seit dem 19. Jh. ist,42 fällt sofort ins Auge. Indem die Moderne im 41 42 wdi45-1_berger.pmd ~slâm ve siyasi düzen, S. 201ff. Vgl. Rotraud Wielandt: Offenbarung, S. 49ff. und passim. 85 3/10/2005, 11:37 AM 86 lutz berger heiligen Text wiedergefunden wird, kann zum einen dieser heilige Text mit einer Bedeutung auch für die heutige Lebenswelt aufgeladen werden, über die er bei historisch-kritischer Interpretation nicht verfügt, zum anderen gelingt es, dieser Moderne, indem man sie in heilige Zusammenhänge integriert, religiöse Legitimität zu verschaffen.43 Bemerkenswert bei Beyaz’ Interpretation der vorliegenden Verse ist darüber hinaus, dass für ihn ein religionsneutraler Staat, in dem Muslime und Nichtmuslime zusammenleben und in dem trotz muslimischer Mehrheitsbevölkerung auch ein Nichtmuslim in hohe Ämter kommen kann, offenkundig undenkbar ist, andernfalls wäre für ihn das angeblich koranische Prinzip der politischen Unabhängigkeit der Muslime verletzt. Die Legitimität des türkischen Staates, das legt Beyaz auch an anderer Stelle ausführlich dar, beruht für ihn auf dem Umstand, dass es sich um einen Staat der türkischen Muslime handelt.44 Unter den nach Beyaz bereits vor 1400 Jahren durch den Islam verbindlich gemachten Prinzipien war von der Wahl der Amtsträger in dem oben zitierten Textabschnitt nicht die Rede. Um dieses als islamisch zu erweisen, nimmt Beyaz Zuflucht zur Prophetenüberlieferung. Die Interpretationsmethode entspricht dabei der, die wir schon bei seiner Deutung der Koranverse haben beobachten können: „Jemand der den Gehorsam gegen die ulülemir aufkündigt, wird am Tag der Auferstehung vor Gott ohne jede Rechtfertigung dastehen. Wer stirbt, ohne den Treueid geschworen zu haben, 43 Derartige Deutungen heiliger Texte sind natürlich nicht auf die muslimische Welt beschränkt, sondern finden sich in ähnlicher Weise auch in seelsorgerischen Äußerungen etwa des modernen Protestantismus. So kann als Kernbotschaft der Geschichte von der Heilung des Kranken am Teich von Bethesda (Joh. 5) herausgelesen werden: „Heilwerden aus biblischer Sicht bedeutet für mich: ich möchte mir helfen lassen – denn vielleicht bin ich ja so ähnlich beziehungsgestört (!, L.B.) wie der Kranke am Teich Betsada. Ich möchte erfahren, dass Christus nach mir sucht, und seine Hand ergreifen.“ (Aus einem Vortrag der Pastorin Franziska Müller-Rosenau, der Leiterin des Frauenwerkes in der Ev.–Lutherischen Landeskirche Hannover, Bericht des im Landkreis Osterode erscheinenden HarzKurier vom 17.11.2003). 44 ~slam ve giyim ku×am, Istanbul 1999, S. 93ff. Vgl. zu diesem im politischen Denken in der Türkei weitverbreiteten Muster 16 „Die Muslime – Besitzer des Staates“, in: Seufert: Politischer Islam in der Türkei, S. 207ff. wdi45-1_berger.pmd 86 3/10/2005, 11:37 AM ein türkischer reformtheologe? 87 stirbt gleichsam den Tod eines Heiden (bir çe×it cahiliyet üzere ölmü× olur).“45 Zur Deutung dieser und einer Reihe von ähnlichen Überlieferungen führt Beyaz aus: “Indem es von jemandem, der stirbt, ohne einem Staatspräsidenten – Imam – den Treueid geschworen zu haben, heißt, er sterbe den Tod eines Heiden, zeigt sich, welche ungeheure Bedeutung der Islam in seiner politischen Ordnung dem Wahlsystem gibt. Ohne sich selbst einen Führer zu wählen, ohne sich einer Staatsordnung zu unterwerfen, in Anarchie (ba×æ bo× olarak) zu leben passt zur Heidenzeit. In islamischer Zeit ist dergleichen unmöglich. Die Muslime müssen ihre Regierenden wählen, ihnen den Treueid leisten, dem Gewählten gehorsam sein und, wenn nötig, zum Schutz ihres Führers die größten Opfer bringen.“46 Die Echtheit des von Beyaz angeführten ¥adºt im Sinne einer Rückführbarkeit auf einen tatsächlichen Ausspruch des Propheten erscheint äußerst fraglich. Man darf annehmen, dass hinter dieser Überlieferung die Forderung des frühislamischen Herrschertums, insbesondere der Omayyaden, nach unbedingtem Gehorsam der Untertanen steht. Das omayyadische Kalifat wurde von seinen Trägern als Gottes Wille verstanden, gegen den sich aufzulehnen dem Unglauben gleichkam.47 Im übrigen hatte die bai{a, der Treueschwur gegen den Herrscher in der Zeit der Sammlung des ¥adºt, mit einem Wahlverfahren nicht viel mehr zu tun als der Huldigungseid europäischer Untertanen. Bereits in der Zeit der rechtgeleiteten Kalifen48 ist beim eigentlichen Wahlakt (soweit überhaupt eine Wahl stattfindet und der neue Kalif nicht wie {Umar durch Ab¢ Bakr designiert wurde) die Entscheidung nur wenigen vorbehalten; die bai{a hat mehr deklaratorischen Charakter, als dass sie zur Bestätigung der Entscheidung der Wahlmänner wirklich notwendig gewesen wäre. Die Eidesleistung diente der Anerkennung der Wahl durch die zu dieser Anerkennung 45 Wensinck, I, S. 255. ~slâm ve Siyasî Düzen, S. 177f. 47 Zum Herrschaftsverständnis der Omayyaden vgl. P. Crone u. M. Hinds: God’s Caliph. Religious Authority in the first Centuries of Islam, Cambridge etc. 1986. 48 Über diese Dinge historisch sichere Aussagen zu treffen ist natürlich auf Grund der Quellenlage außerordentlich schwierig; die muslimische historische Tradition ist aber relativ eindeutig. 46 wdi45-1_berger.pmd 87 3/10/2005, 11:37 AM 88 lutz berger Verpflichteten. Genau diese Vorstellung spricht aus dem von Beyaz hier so ganz anders interpretierten ¥adºt.49 Auch wenn wie hier durch ahistorische Interpretation heiliger Texte die Demokratie islamisch legitimiert wird, werden immer wieder Beyaz’ von autoritärem Denken geprägten politischen Grundüberzeugungen erkennbar: Der Gehorsam gegen die Führer und der von den Untertanen zu zeigende Opfermut sind allemal wichtiger als eine kritische Kontrolle des Regierungshandelns. Im Übrigen, darauf verweist er anderer Stelle, ist die demokratische Verfasstheit eines Staatswesens für ihn nicht Selbstzweck. Jede Staatsform, jede Ideologie sei vielmehr nur ein Mittel der Machtentfaltung der Nation.50 Beyaz nämlich ist zwar ein Feind der Darwin’schen Evolutionslehre, nicht aber des Sozialdarwinismus. Für ihn sind die Grundeinheiten der sozialen Ordnung die Nationen, die in einem fortwährenden Wettbewerb miteinander stehen. Jede Nation versucht ihre Kultur dabei auf Kosten ihrer Nachbarn auszubreiten. Der Kampf der Nationen miteinander ist ein Naturgesetz, dem sich niemand entziehen kann.51 Die Nationen gruppieren sich dabei je nach religiöser Zugehörigkeit in Solidargemeinschaften: Die Muslime sind als Individuen wie als Staaten gehalten, zusammenzuhalten und gegenüber Angehörigen anderer Religionen auf Abstand zu gehen. Ein rechter Muslim hat mit ihnen so wenig wie möglich zu schaffen. So will es, behauptet Beyaz, der Kern der koranischen Botschaft, der eigentliche Geist des Islam (islâm’æn özü, temel esprisi). Diesen Kern 49 Zum Institut der bai{a, vgl. etwa Emile Tyan : Institutions de droit public Musulman, Paris 1954, Bd. I, S. 166ff. und passim. 50 Türklük Kanæmæz, S. 34. Zur Dominanz eines autoritären und auf persönlichen Loyalitätsbeziehungen fußenden Denkens im türkischen politischen Diskurs vgl. Seufert: Politischer Islam, S. 164ff. („Der Staat als personifizierte Autorität“) und 88ff. („A¯abeyler und Hocalar: Die Gültigkeit personaler Rollen“). 51 Türklük Kanæmæz, S. 19 und passim. Beyaz gebraucht vergleichsweise harmlose Worte wie yaræ× und rekabet (beide Wettbewerb) aber auch mücadele (Kampf) und ×ava× (Krieg) um das Verhältnis der Nationen zueinander zu beschreiben. Auch wenn Beyaz die Auseinandersetzung zwischen den Nationen gern in kriegerischen Metaphern beschreibt, und immer wieder darauf hinweist, man müsse dem Feinde gegenüber sur le qui vive sein, plädiert er doch für die Gegenwart nie für eine offen militärische Expansionspolitik. Für vergangene Jahrhunderte sieht das freilich anders aus. wdi45-1_berger.pmd 88 3/10/2005, 11:37 AM ein türkischer reformtheologe? 89 findet Beyaz in elf Versen des im Ganzen über 6000 Verse enthaltenden heiligen Buches. Die von ihm ausgewählten Verse mahnen zum Eingottglauben, zu verantwortlichem Verhalten, zu Gerechtigkeit und Ehrlichkeit. Sie warnen vor Alkohol und Glücksspiel. Zu den elf wichtigsten Koranversen gehört für Beyaz aber eben auch V, al-M¸}ida, Vers 51: „Ihr Gläubigen, nehmt Euch nicht die Juden und Christen zu Freunden! Sie sind untereinander Freunde. Wer von euch sie sich (tatsächlich) zu Freunden erwählt, gehört zu ihnen. Gott wird die, welche sich selbst schaden, indem sie mit dem Feind Freundschaft schließen, nicht auf den rechten Weg führen.“52 Was hier zunächst einmal nur für den individuellen Bereich zu gelten scheint, gilt auch in der Politik. Alle nichtmuslimischen Staaten sind nach Beyaz ohne Unterschied Feinde des Türkentums und seiner berechtigten nationalen Forderungen.53 Auch hätten natürlich die Christen in Europa zu den Serben gehalten, als diese die bosnischen Muslime abschlachteten, natürlich hielten die Muslime der Welt zu den Palästinensern.54 Letztlich aber ist Blut für Beyaz dicker als Wasser: Nicht die Religion, die Nation ist die entscheidende Einheit im unablässigen weltweiten Ringen. Die Solidarität der Angehörigen einer Religion ist zwar auch ein feststehendes Gesetz, doch spielt im Zusammenleben der Völker, wie es von Gott gewollt ist, die Religion eine im Vergleich mit der Nation untergeordnete Rolle, zumal die religiöse Solidarität nicht so verlässlich ist, wie die sowohl religiös als auch ethnisch begründete Solidarität etwa der Turkvölker untereinander. Die Feinde der Türken sind eben nicht allein nicht nichtmuslimischen Staaten, sondern genauso auch alle nichttürkischen muslimischen Nachbarstaaten.55 Auf die panislamische Solidarität der 52 Türklük Kanæmæz, ~slâm canæmæz, Istanbul 1995, S. 262ff. Koranübersetzung nach Beyaz. Man beachte die Übersetzung von Inna Ll¸ha l¸ yahdi l-qauma ¬-¬¸limºna mit Allah...nefsine (!) zulm edenleri hak yoluna eri×tirmez. „Christianisierungsfeldzüge“ von Missionaren in der Türkei widersprechen nach Beyaz dem Geist des Dialogs der Religionen (Hessisch-Niedersächsische Allgemeine, 18.9.2003). Zu seiner ganz anderen Haltung zur Verbreitung des Islams in Europa vgl. unten Anm. 64. Gutwilligen Christen soll man allerdings mit Toleranz begegnen, Güleryüzlü ~slam, Istanbul 2000, S. 40f. 53 ~slâm’a göre milliyetçilik, S. 379. 54 Türklük Kanæmæz, S. 86, S. 132; vgl. das Muster 1 Seuferts, „Wir und Ihr. Muslime und Christliche Welt“, Seufert: Politischer Islam, S. 66f. 55 ~slâm’a göre milliyetçilik, S. 379. wdi45-1_berger.pmd 89 3/10/2005, 11:37 AM 90 lutz berger Araber könne man nicht zählen. Wie zu Zeiten der omayyadischen Kalifen könne man noch heute am Verhalten der syrischen Regierung und ihrer Unterstützung des kurdischen Terrorismus in der Türkei sehen, dass für die Araber der Islam nur ein Vorwand für nationalistische Interessenpolitik war und ist.56 Beyaz schlägt daher vor, dass die Türken zunächst einen Zusammenschluss der Turkstaaten nach dem Muster der EU anstreben sollen, in zweiter Linie denkt er – trotz des Verrats der Araber – an eine islamische NATO.57 Eine Integration der Türkei in europäische Strukturen kann für ihn nicht in Frage kommen, ja liefe der eigentlichen Aufgabe des Türkentums zuwider: Seit ihrer Islamisierung, die ja wie Beyaz und andere Vertreter der Lehre von der türkisch-islamischen Synthese meinen, durch die Eigentümlichkeiten der türkischen Zivilisation gewissermaßen als Naturnotwendigkeit zu gelten hat, haben sie wie kein anderes Volk sich in den Dienst des Islam gestellt.58 Das war bitter nötig, hatten doch die Araber inzwischen völlig versagt.59 Die Ablösung der Araber durch die Türken als Kernnation des Islam werde dabei bereits im Koran vorausgesagt: Beyaz verweist auf V, alM¸}ida, Vers 54. Paret übersetzt diesen wie folgt: „Ihr Gläubigen! Wenn sich jemand von euch von seiner Religion abbringen lässt (und ungläubig wird, hat das nichts zu sagen). Gott wird (zum Ersatz dafür) Leute auf eure Seite bringen, die er liebt und die ihn lieben, (Leute), die den Gläubigen gegenüber bescheiden sind, jedoch die Ungläubigen ihre Macht fühlen lassen und die um Gottes willen kämpfen.“ Um seine These, dass hier von den Türken die Rede ist, zu belegen, nimmt Beyaz zu einer recht freien Übersetzung des Verses Zuflucht: „Eg[ er siz ~slâm’a gereg[ i gibi bag[ lanmaz, ona layækæ ile hizmet etmez iseniz, yerinize bir baªka millet getiririm, onlar Allah’æ sever Allah da onlaræ sever, onlar Allah yolunda hizmet ederler.“ (Wenn ihr dem Islam nicht wie es sich gehört anhängt, euch nicht auf gebührende Weise in seinen Dienst stellt, werde ich an eurer statt eine andere Nation herbeibringen, 56 Türklük Kanæmæz, S. 81f. und S. 87; vgl. auch ~slâm’a göre Milliyetçilik, S. 383ff. Türklük Kanæmæz, S. 257, ~slâm’a göre Milliyetçilik, S. 286. 58 U.a. ~slâm’a göre Milliyetçilik, S. 357ff. 59 U.a. ~slâm’a göre Milliyetçilik, S. 361ff. 57 wdi45-1_berger.pmd 90 3/10/2005, 11:37 AM ein türkischer reformtheologe? 91 [deren Angehörige] Gott lieben und von ihm geliebt werden und auf dem Pfade Gottes Dienst leisten.) 60 Ein Vergleich mit dem arabischen Korantext lässt einige signifikante Unterschiede zu Tage treten: Aus dem man yartadda minkum (wenn sich jemand von euch von seiner Religion abbringen lässt) des Korans, das die Zahl der Apostaten offen lässt, werden die Gläubigen als Ganze: „wenn ihr…“. Der Vers kann so auf die Araber als Volk bezogen werden, die folglich als Gruppe durch die Türken ersetzt werden müssen. Im Koranvers ist allerdings von irtid¸d, Apostasie, die Rede. Auch Beyaz kann solches nicht glaubwürdigerweise den Arabern als Ganzes unterstellen. Nachdem er also in Bezug auf die Zahl der Fehlgehenden übertrieben hat, mildert er in der Folge den koranischen Wortsinn ab. Aus Leuten, die vom Glauben abgefallen sind, werden bei ihm Menschen, deren Bindung an den Glauben locker geworden ist und die sich für den Glauben nicht mehr ausreichend einsetzen. Davon steht zwar nichts im Koran, es passt aber genau in das Bild von den Arabern, das Beyaz auch sonst verbreitet. Warum er endlich die Worte adillatin {ala l-mu}minºna wa-a{izzatin {ala l-k¸firºna, „(Leute), die den Gläubigen gegenüber bescheiden sind, jedoch die Ungläubigen ihre Macht fühlen lassen“, in seiner Übersetzung einfach sans mot dire weggelassen hat, lässt sich nicht weiter erklären. Dass die Türken sich durch Freundlichkeit gegenüber den Gläubigen auszeichnen und auf der anderen Seite zahllose Ungläubige der Herrschaft des Islams unterworfen haben, zählt für ihn in anderen Kontexten gerade zu den Ruhmestaten der Türken, wie wir gleich noch sehen werden. Die Großtaten der Türken werden also bereits im heiligen Buch vorausgesagt. Die bei Beyaz’ ahistorischem Textverständnis an sich naheliegende These, dass auch die koranische Rede von ya¯¢¯ und ma¯¢¯ (Gog und Magog) auf die Vorväter der Türken zu beziehen sei, lehnt er dagegen entrüstet ab. Einschlägige Prophetenüberlieferungen erkennt Beyaz leicht als gefälscht.61 Der Koran selbst biete keinen sicheren Anhaltspunkt für die Identifizierung 60 Türklük Kanæmæz, S. 74f.; ~slâm’a göre Milliyetçilik, S. 361ff. mit einer Reihe weiterer angeblich einschlägiger Verse. 61 ~slâm’a göre Milliyetçilik, S. 370ff. wdi45-1_berger.pmd 91 3/10/2005, 11:37 AM 92 lutz berger dieser Völker. Endlich sei auch die Gleichsetzung des Du l-Qarnain mit Alexander d. Gr., wie sie von den meisten arabischen Deutern des Mittelalters vorgenommen wurde, historisch unhaltbar. Jener Alexander sei doch schließlich gar kein Prophet gewesen. Es müsse sich also um eine andere Figur handeln, womöglich gar um mehrere. An der durch die heiligen Schriften bestätigten positiven Rolle der Türken kann mithin kein Zweifel bestehen. Weniger der in den Anfängen des türkischen Islam so wichtige Kampf gegen schiitische Ketzer macht für Beyaz allerdings die Führungsrolle der Türken aus (religiöse Konflikte innerhalb des Islam werden von ihm gerne heruntergespielt) als die dynamische Verbreitung des Islam nach außen. 16 große Reiche hätten die Türken im Verlauf ihrer Geschichte gegründet und dabei das Banner des Islam weit in das nichtislamische Gebiet hineingetragen und so dem Islam große Dienste geleistet. Als leuchtendes Beispiel wird dem Leser dabei Ma¥m¢d von Ûazna vor Augen gestellt.62 Dass zwischen dessen Handeln bei der Plünderung indischer Tempel63 und der angeblich immer gewahrten Toleranz der Türken sowie heute generell anerkannten Maßstäben ein Widerspruch besteht, fällt Beyaz dabei nicht weiter auf. Die seit jenen Tagen den Türken zukommende Rolle erfüllten sie für ihn im Rahmen ihrer andauernden Westwanderung noch heute: Die Türken in Europa sind ihm die Speerspitze einer Islamisierung des Kontinents.64 Doch bis dieses Ziel erreicht ist, gilt es noch manches Hindernis aus dem Weg zu räumen, das die Feinde der Türken und des Islam dort platziert haben, und Feinde haben beide mehr als genug: letztlich die ganze Welt, wenn auch in unterschiedlicher Intensität. Zu diesen Feinden zählt Beyaz zunächst einmal pauschal alle Nichtmuslime, dann aber auch alle nichttürkischen Muslime. Auf die sinistre Rolle der Araber wurde bereits verwiesen. Immer wieder lässt Beyaz auch erkennen, dass die vollkommen unbe- 62 Türklük Kanæmæz, S. 201. Vgl. den Art. “S¢man¸t” (C.E. Bosworth) in EI2, IX, 868f. 64 Türklük Kanæmæz, S. 75, vgl. auch ebenda S. 21 und seine Äußerungen über christliche Missionsbestrebungen in der Türkei, oben Anm. 52. 63 wdi45-1_berger.pmd 92 3/10/2005, 11:37 AM ein türkischer reformtheologe? 93 rechtigte Feindschaft der halben Welt gegen die friedliebende Türkei das Werk finsterer Machtzentren ist.65 Da wären zunächst „die Juden“. Die traditionelle, eher von Verachtung als von Dämonisierung geprägte Haltung gegenüber den Juden66 ist im Laufe des 20. Jh. sowohl in nationalistischen als auch in konservativ-religiösen Kreisen den ideologischen Versatzstücken des europäischen Antisemitismus gewichen. Der ungelöste Nahostkonflikt spielte dabei genauso eine Rolle wie das auch in Europa verbreitete Stereotyp vom „Juden“ als Sinnbild einer als bedrohlich empfundenen Modernisierung. Hauptquellen des modernen muslimischen Antisemitismus sind dabei weniger eine Verabsolutierung bestimmter koranischer Aussagen über die Juden als vielmehr Schriften wie die sog. „Protokolle der Weisen von Zion“, in eher nationalistisch als islamistisch geprägten Kreisen auch Werke des deutschsprachigen Antisemitismus wie Hitlers „Mein Kampf“.67 Die bekannten antisemitischen Stereotypen, die in islamistisch orientierten Publikationen und in Schriften aus dem Umkreis der Grauen Wölfe regelmäßig anzutreffen sind, werden in jüngerer Zeit von islamistischen Intellektuellen wie Ali Bulaç oder Abdurrahman Dilipak allerdings durchaus kritisch hinterfragt.68 Beyaz’ Sache ist Differenzierung in dieser Frage nicht. „Die Juden“ werden von ihm mit einem unbändigem Hass verfolgt, der an einigen Stellen der Propaganda eines Julius Streicher in nichts nachsteht: „Über die Verbrechen und Untaten, die der Jude an den muslimischen Türken, der ganzen islamischen Welt und der Menschheit insgesamt zu verantworten hat, ist bereits viel geschrieben worden und es wird und muss darüber auch ferner geschrieben werden. In dem Maße in dem es irgendwo den Juden gibt, wird man auf auch die von ihm verschuldete 65 Vgl. dazu Seuferts Muster 19 und 20 „Der Feind schläft nicht“ und „Der Fremde als Eindringling“, Seufert: Politischer Islam, S. 225ff. 66 Rifat N. Bali: Stéréotypes du juif dans le folklore turc, in ders.: Les relations entre Turcs et Juifs dans la Turquie moderne Istanbul, 2001, S. 25-28. 67 Esther Debus: Sebilürre×ad, Frankfurt 1991, S. 233f.; Rifat N. Bali: “L’antisémitisme en Turquie de 1923 à nos jours”, in ders.: Les relations S. 39-74, zu den Verbindungen eines führenden Vertreters des türkischen Antisemitismus zum Nationalsozialismus vgl. ders.: Cevat Rifat Atilhan, a.a.O., S. 75-106, hier S. 79ff. und passim. 68 Bali: “L’antisémitisme en Turquie”, S. 58. wdi45-1_berger.pmd 93 3/10/2005, 11:37 AM 94 lutz berger Verderbnis und seine feindselige Haltung (den anderen Menschen gegenüber) treffen (onun fesat ve dü×manlæ¯æ da var olacaktær).“ Voller Verbitterung berichtet Beyaz von seiner Zeit als hoca in Kærklareli. „Die Juden“ hätten die städtischen Honoratioren gekauft, indem sie diese mit Hilfe von Frauen, Alkohol und Glücksspiel moralisch vernichteten, und hätten dann ungestraft ihren dunklen Geschäften nachgehen können: der Steuerhinterziehung und dem illegalem Geldtransfer nach Israel. Als Beyaz mit Hilfe eines Judenboykotts gegen diese angeblichen Machenschaften vorgehen möchte, werden ihm von staatlicher Seite auch noch Knüppel zwischen die Beine geworfen, so dass seine Bemühungen im Sande verlaufen.69 Generell versuchten die Juden, einen Aufstieg der Türkei zu verhindern, da ein solcher der Verwirklichung ihrer finsteren Weltherrschaftspläne zuwider liefe.70 Trotz seiner heftigen verbalen Ausfälle ist aber wohl auch Beyaz klar, dass in der Realität der jüdische Einfluss auf die Probleme der Türkei eher gering zu veranschlagen ist.71 Es sind folglich in den 70er Jahren die Kommunisten, denen ein großer Teil seiner Polemik gegen die Feinde der Türkei gilt. Im Weltbild des Zekeriya Beyaz handelt es sich bei den Kommunisten freilich nicht allein um die Agenten einer totalitären Ideologie, sondern der Kommunismus ist ein Werkzeug des russischen Nationalismus und seines geopolitisch wie ein Naturgesetz festgelegten Dranges zu den warmen Meeren.72 Glücklicherweise, meint Beyaz, habe sich in der Gefahr der bürgerkriegsähnlichen Zustände der 70er Jahre die „idealistische“ türkische Jugend, d.h. die Anhänger der Grauen Wölfe, der kommunistischen Flut entgegengestellt. Die in den Auseinandersetzungen ums Leben Gekommenen seien Märtyrer des Islam.73 69 Türklük Kanæmæz, S. 295ff. Das Zitat auf S. 295. ~slâm’a göre Milliyeçilik, S. 381f. 71 Die bei islamistischen Türken häufig anzutreffende Argumentation, die aus Saloniki stammenden Kemalisten seien dönme (d.h. zum Islam bekehrte Anhänger des jüdischen Messias Sabbatai Zvi) gewesen, weshalb man „den Juden“ den Kemalismus und in der Folge alles Schlechte in der modernen Türkei in die Schuhe schieben kann, bleibt Beyaz als überzeugtem Kemalisten natürlich verschlossen. 72 Türklük Kanæmæz , S. 61f. Nach dem Ende des Kommunismus übernimmt Wladimir Zhirinovski zeitweilig die Rolle des Vertreters des gefährlichen Russland. 73 Türklük Kanæmæz, S. 181 70 wdi45-1_berger.pmd 94 3/10/2005, 11:37 AM ein türkischer reformtheologe? 95 Da ab den 90er Jahren eine kommunistische Gefahr für die Türkei nicht mehr ernsthaft behauptet werden konnte, tritt nun ein anderer Feind in den Mittelpunkt der Betrachtung: die Islamisten. Auch sie erscheinen Beyaz als Agenten fremder Mächte, die die Türkei schwächen wollen, nämlich der Araber. Diese machen den Türken weis, dass vieles von dem, was in Wahrheit nur heidnische arabische Sitte sei, zum Kernbestand des Islam gehöre – eine Politik, mit der arabische Nationalisten bereits in der Omayyadenzeit den Islam verfälscht hätten.74 Von Arabern verfasste Bücher seien mitverantwortlich dafür, dass der Islam, die Religion der Mitte zwischen den Bereichen des Sprituellen und des Materiellen, diese Mitte verloren habe und so im weltweiten Ringen ins Hintertreffen geraten sei.75 Wenn türkische Islamisten im Namen einer illusorischen islamischen Einheit ihr Türkentum verleugneten, sei das ein gewaltiger Fehler, ein Verrat nicht nur an der Sache des Islam – wie durch den Verweis auf die „unislamischen“ Omayyaden deutlich wird, sondern auch an der türkischen Nation. Diese zu stärken liege doch im Interesse aller Muslime. Darüber hinaus verstoße solches Verhalten gegen die Pflicht einer jeden Ethnie, ihre eigenen Sitten und Traditionen zu wahren.76 Man darf allerdings nicht meinen, dass nur die Araber den Türken ihren Nationalstolz neiden. Propagandisten eines Islamverständnis, das den türkischen Nationalismus leugnet, sind nach Beyaz auch noch andere Feindmächte, nicht zuletzt Kurden und die „griechischen Ungläubigen“.77 Der Kampf, den Beyaz gegen die islamischen Gegner des türkischen Nationalismus führt, ist dabei zunächst ein Streit um Worte. 74 Türklük Kanæmæz, S. 78f. Türklük Kanæmæz, S. 126f, S. 156f., ebd. 266ff., daneben verweist Beyaz auch auf einen anderen Topos des Reformislam (vgl. dazu G.H.A. Juynboll: The Authenticity of the Tradition Literature. Discussions in Modern Egypt, Leiden 1969, S. 121ff.), den verderblichen Einfluss der isr¸}ºlºy¸t (Güleryüzlü ~slam, S. 22). Wem damit die Schuld in die Schuhe geschoben werden soll, liegt auf der Hand. Zum schlechten Einfluss der Araber auf den Islam im Allgemeinen u.a. Islam’ göre milliyetçilik, S. 361ff. 76 In Türklük Kanæmæz, S. 106 ff. erfährt der Leser, dass der fromme Türke nach seinem Tode vom himmlischen Richter auch nach seinem Einsatz für das Türkentum gefragt werden wird. Dass das für die Kurden und andere kleineren Völker nach Meinung Beyaz’ nicht gilt, versteht sich, s.o. 77 ~slâm’a göre Milliyetçilik, S. 390ff.; von „Yunan gâvuru“ ist ebd. S. 392 die Rede. 75 wdi45-1_berger.pmd 95 3/10/2005, 11:37 AM 96 lutz berger Letztlich sind die Angehörigen des gesamten islamischen und islamistischen Spektrums in der Türkei, vom offiziellen Islam des D~B bis hin zu Millî Görü× und randständigen Gruppen vom Schlage des Kaplan’schen Kalifatsstaates, auf ihre jeweils eigene Weise Vertreter des türkischen Nationalismus.78 Der Türkei wird die Funktion eines lider ülke zugeschrieben. Die übrigen Muslime sind aufgerufen, den Türken als den Rettern des Islam zu folgen.79 Die Konflikte liegen in der Frage des Nationalismus folglich weniger in sachlichen Differenzen begründet, als in formalen Fragen wie der, ob tanræ eine adäquate Wiedergabe des Wortes Allah ist – eine Frage, die außerhalb der Türkei kaum auf Interesse stoßen dürfte.80 Beyaz verbindet mit seiner Verteidigung des Türkentums anders als die Anhänger etwa des Millî Görü× Erbakans allerdings auch die Ablehnung einer Reihe von Bestimmungen des islamischen Rechts, die er für eine Frucht des arabischen {urf (türk. örf) hält und deren unmittelbare Gültigkeit für türkische Muslime er in Zweifel zieht.81 In der Idee des örf liegt auch eine zentrale Quelle für seine Versuche, türkisches staatliches Recht und ×eriat in Einklang zu bringen. III. Die Mechanismen und Grenzen des freundlichen Islam Beyaz hat in seinen jüngsten Schriften eine Schwerpunktverlagerung vollzogen, ohne allerdings von seinen früheren Positionen 78 Die Kaplangruppe gibt sich selbst durchaus internationalistisch. Dies wird auch als einer der Hauptstreitpunkte zwischen dieser Bewegung und Millî Görü× wahrgenommen (Vgl. Werner Schiffauer: Die Gottesmänner. Türkische Islamisten in Deutschland, Frankfurt 2000, S. 124ff.). In der Praxis allerdings ist für die Anhänger Kaplans die Wiedererrichtung des internationalistischen Kalifats die Aufgabe der türkischen Muslime. 79 Vgl. etwa Necmettin Erbakan: ~slam ve ilim, Istanbul 1993, S. 57 und passim. 80 Zur Diskussion über den Gottesnamen vgl. etwa Türklük Kanæmæz, S.113ff. Im persischen Sprachraum bereitet der Gebrauch des eigenen Wortes für Gott keine vergleichbaren Schwierigkeiten. 81 ~slam ve giyim ku×am, S. 329ff, vgl. auch Türklük Kanæmæz, S. 76ff.; die Idee einer Unterscheidung zwischen dem Islam als Religion und Sitte hat spätestens seit Ziya Gökalp einen prominenten Platz im türkischen politischen Denken, zu ihm vgl. Uriel Heyd: Foundations of Turkish Nationalism. The Life and Teachings of Ziya Gökalp, London 1950, zum Problem des örf im Besonderen ebd.: S. 85ff. wdi45-1_berger.pmd 96 3/10/2005, 11:37 AM ein türkischer reformtheologe? 97 abzurücken. Nicht mehr der Kampf gegen den „Kommunismus“ oder die islamische Rechtfertigung des türkischen Nationalstaates steht für ihn nunmehr im Mittelpunkt seiner Überlegungen, sondern die Auseinandersetzung mit Menschen, die in der skrupulösen Erfüllung der Einzelbestimmungen des Gesetzes ihre Lebensmitte finden und dabei, wie Beyaz meint, das eigentliche Zentrum der islamischen Botschaft aus dem Auge verlieren. Diese nämlich sei dazu angetan, den Menschen bereits in dieser Welt zu einem seiner Natur entsprechenden Leben zu führen82 und zu dieser Natur gehört auch das (erlaubte) Vergnügen und die Freude an schönen Dingen. Wer sich dagegen von allzu großer Anhänglichkeit an falsch verstandene Einzelbestimmungen führen lässt, ist in zweierlei Hinsicht in großer Gefahr. Er begibt sich zum einen in Widerspruch zum türkischen Staat, der doch ein Staat der Muslime ist und gegen den man sich folglich keinesfalls auflehnen darf.83 Zum zweiten droht sein psychisches Gleichgewicht aus dem Ruder zu geraten. Für Betroffene hält Beyaz gleich die Telefonnummer eines ihm bekannten Psychiaters bereit.84 Auf Grund der politischen Relevanz des Problems und da seine Argumentationsweise hier seinem Vorgehen auch bei anderen Problemen entspricht, erscheint es sinnvoll, seine Haltung in der Kopftuchfrage näher zu beleuchten. Beyaz nutzt für seine Argumentation Rechtsgrundsätze der traditionellen islamischen Jurisprudenz. Im Einklang mit dem auch im traditionellen islamischen Recht herrschenden Prinzip der ib¸¥a aªlºya, der grundsätzlichen Erlaubtheit aller Dinge, ist er bemüht, den Bereich des Erlaubten möglichst weit zu fassen. So untersucht er in der Kopftuchfrage den genauen Inhalt der einschlägigen Suren und kommt zu dem Ergebnis, dass sie mitnichten die Bedeckung des Haupthaares allen Musliminnen zur Pflicht machen.85 Auch hier kann er sich wieder auf klassische Rechtprinzipien berufen, wenn er etwa darauf verweist, dass die vollständige Bedeckung auch in der traditionellen Jurisprudenz nur von den freien Frauen, nicht aber von den 82 83 84 85 wdi45-1_berger.pmd Z.B. ~slam’a göre milliyetçilik, S. 163. ~slam ve giyim ku×am, S. 83ff. Güleryüzlü ~slam, S. 116. ~slam ve giyim ku×am, S. 259ff. 97 3/10/2005, 11:37 AM 98 lutz berger Sklavinnen gefordert wurde, gleich welcher Religion sie waren.86 Die Bedeckung des Haupthaares, gleichviel ob von Männern oder Frauen, wird als arabische Sitte (örf, arab. {urf) qualifiziert, die für die Nichtaraber nicht verbindlich sei. Das muss nicht unbedingt als das antiarabische Verdikt eines türkischen Nationalisten aufgefasst werden, sondern findet sich als Prinzip (wenn auch nicht auf diesen Fall angewandt) bereits in der klassischen Jurisprudenz.87 Die Häufigkeit mit der Beyaz allerdings gemeinislamische Rechtstraditionen und Verhaltensnormen als arabische Sitte deklariert, die der Islam nicht angetastet habe, die die Nichtaraber aber nicht binde, geht weit über das hinaus, was früher gängig war. Auch der sprichwörtliche Rechtssatz, dass Handlungen nach der mit ihnen verbundenen Absicht zu bewerten sind (al-a{m¸l bin-nºy¸t), kommt ihm in der Auseinandersetzung um das Kopftuch entgegen: Die Befürworter einer strengen Geschlechtertrennung wie sie im Kopftuch und bestimmten anderen Verhaltensregeln wie etwa dem Verbot des Händeschüttelns von Männern und Frauen zum Ausdruck kommt, beachten seiner Meinung nach diesen Grundsatz nicht, sondern versehen alle denkbaren Alltagssituationen mit sexuellen Konnotationen. Anständigen Muslimen werde so sündiges Denken unterstellt, was seinerseits eine Sünde ist und zu fitne (arab. fitna, Versuchung und Zwietracht) führe.88 Die Angst vor Zwietracht und das Prinzip, durch Gehorsam gegen die Obrigkeit, soweit es geht auch unter Hintanstellung von Bedenken die Eintracht der Gemeinde zu wahren, sind eherne Grundsätze des mainstream des sunnitischen Islam. Neben diese Gehorsamsverpflichtung tritt im konservativ-islamischen Spektrum der Türkei die Vorstellung der Heilsverantwortung der Herrscher 86 Dieses Beispiel muss nicht nur wegen der von Beyaz in ~slam ve giyim ku×am; S. 9, und S. 250f. beigefügten Zeichnungen einer barbusigen Sklavin schockierend wirken, sondern weil im allgemeinen Bewusstsein der heutigen Muslime der Islam die Sklaverei ablehnt. 87 ~slam ve giyim ku×am, S. 329ff. Zum örf auch Islam’ göre milliyetçilik, S. 195ff. Der örf-Begriff von Beyaz scheint in Rechtsfragen im Wesentlichen mit dem der Mecelle deckungsgleich, ebd. S.213 ff. Zur Stellung des {urf im tradierten sunnitischen Recht in der Gegenwart vgl. Birgit Krawietz: Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitschen Islam, Berlin 2002, S.291ff. und die dort verzeichnete Literatur. 88 ~slam ve giyim ku×am, S. 190ff. wdi45-1_berger.pmd 98 3/10/2005, 11:37 AM ein türkischer reformtheologe? 99 für ihre Untertanen. So vertrat die Zeitschrift Sebilürre×ad in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Ansicht, die Regierenden müssten vor Gott dafür einstehen, dass sie die Einhaltung der islamischen Gebote durch die Untertanen durchgesetzt haben, und hätten dabei in Sonderheit auch auf die ordnungsgemäß islamische Bekleidung der Frauen zu achten.89 Bei Beyaz wird diese Heilsverantwortung der Herrscher zum Argument gegen eine Bedeckung der Frau gewendet. Wenn die Obrigkeit, vertreten durch die Regierung und den nationalen Sicherheitsrat, das Tragen des Kopftuches in staatlichen Einrichtungen nicht etwa vorschreibe, sondern verbiete, sei der einzelne seiner Heilsverantwortung in dieser Hinsicht dadurch enthoben und könne dereinst vor dem himmlischen Richterstuhl eine ihn treffende Schuld auf die staatlichen Instanzen abwälzen.90 Eine Frage lässt unser Autor bei seiner Diskussion des Themas völlig unberücksichtigt: Inwieweit besteht die von ihm postulierte Gehorsamsverpflichtung auch, wenn der Betreffende etwas tun soll, was mit seinen religiösen Grundpflichten im Widerspruch steht? Immerhin ist ja auch in dem hier herangezogenen einschlägigen Koranvers (IV, an-Nis¸}, 59) nicht allein vom Gehorsam gegen die Regierenden, sondern genauso gegen Gott und den Propheten die Rede. Beyaz löst das Problem nicht, braucht es aber auch wohl seiner Meinung nach nicht zu lösen, da für ihn im offenen Tragen des Haares kein Bruch eines göttlichen Gebots vorliegt. 89 Vgl. dazu Debus: Sebilürre×ad, S. 54ff. Zur Rolle des Staates im politischen Diskurs in der Türkei vgl. auch die Muster 10, 11 und 12 Seuferts: „Die Gesellschaft des Staates“, „Die Gemeinschaft des ideologischen Staates“, „Der Staat als legitimer Vermittler der Religion“, Seufert: Politischer Islam, S. 154ff.; zu ähnlichen Vorstellungen im arabischen Islam des 20. Jh. vgl. Tilman Nagel: Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. 2, Zürich u.a. 1981, S. 239f. 90 ~slam ve giyim ku×am, S. 82f. und passim. Der obrigkeitsstaatliche Charakter der Beyaz’schen Ausführungen in dieser Frage wird in der Türkei von liberaler Seite wahrgenommen und kritisiert: http://www.liberal-dt.org.tr/guncel/Faruk Ozgur/ afo_laiklik.htm (abgerufen am 2.5.2004). Nicht unerwähnt bleiben soll allerdings, dass ein friedlicher Einsatz für die Änderung der einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen dem Gläubigen nach Beyaz unbenommen bleibt. Bis es dazu kommt, muss er sich jedoch in jedem Fall an obrigkeitliche Anordnungen halten (~slam ve giyim ku×am, S. 96f.). wdi45-1_berger.pmd 99 3/10/2005, 11:37 AM 100 lutz berger Auffällig ist, dass der Gehorsam gegenüber dem Propheten oder besser dem ¥adºt, in dem das überzeitliche Bild des Propheten fixiert ist, für Beyaz im Vergleich mit dem Koran eine recht geringe Rolle spielt. Ähnlich wie sein Kollege Ya×ar Nuri Öztürk91 möchte er für die Rechtsfindung nur die mutaw¸tir überlieferten, also die vielfach sicher bezeugten ¥adºte anerkennen und scheidet in der Folge den größten Teil der über die Jahrhunderte normsetzenden Überlieferungen aus.92 Dass die als Einzelüberlieferung tradierten ¥adºte (die ¸¥¸d) für die Rechtsfindung nicht taugen sollen, widerspricht dem jahrhundertealten Konsens der meisten Sunniten, die sie für dogmatische Lehrsätze in der Theologie nicht zulassen wollten, im Recht aber durchaus anwendeten. Ganz neu ist eine solche Position allerdings nicht. Auch Ab¢ Ýanºfa hatte sich, anders als seine späteren Anhänger, den Einzelüberlieferungen gegenüber skeptisch gezeigt, wenn sie nicht in die Kategorie mašh¢r fielen, d.h., wenn sie nicht in der Generation nach den Genossen bereits allgemeine Anerkennung gefunden hatten und in der Folgezeit vielfach überliefert worden waren.93 Der Leser mag berechtigte Zweifel haben, ob alle ¥adºte, die Beyaz anführt, wenn sie seine Argumentation stützen, seinen eigenen strengen Kriterien genügen. Mehr aber noch ist man überrascht, wie knapp angesichts der Bedeutung des Themas die Frage bei Beyaz abgehandelt wird:94 Als Hauptargument gegen die Zuverlässigkeit und damit die Brauchbarkeit des ¥adºt im Recht wird die mangelnde frühe Verschriftlichung angeführt. Der Prophet hätte, argumentiert Beyaz, wenn das ¥adºt wirklich die zweite Hauptquelle des Islam hätte sein sollen, kaum verbieten können, dass es schriftlich gefasst werde. Bis zur Zeit der großen Sammlungen sei es mündlich tradiert worden und damit in Teilen verloren, in Teilen verfälscht worden. Die isn¸d-Kritik stelle kein sinnvolles Mittel zur Prüfung der Echtheit einer Überlieferung dar, weil man nach hundert, zweihundert Jahren kaum mehr Sicheres über die ersten Tradenten habe sagen können. Die Frage nach dem Maß der 91 92 93 94 wdi45-1_berger.pmd Ya×ar Nuri Öztürk: 500 soruda ~slam, 2. Aufl. 1990, S. 142. Güleryüzlü ~slam, S. 161ff. Krawietz: Hierarchie, S. 62ff. und S. 141ff. Vor allem ~slam ve giyim ku×am, S. 353ff. 100 3/10/2005, 11:37 AM ein türkischer reformtheologe? 101 Authentie der islamischen Prophetenüberlieferung ist ohne Zweifel schwer zu beantworten und kann hier nicht diskutiert werden.95 Beyaz’ Argumente sind zum guten Teil durchaus nicht von der Hand zu weisen. Überrascht ist der Leser aber doch, wenn gerade ein türkischer Autor die fehlende Schriftlichkeit der frühen Überlieferung zum Kernargument seiner Ablehung des ¥adºt macht, ohne sich mit einer Silbe mit Sezgins These von der sehr frühen Verschriftlichung der Prophetenüberlieferung auseinanderzusetzen. Informierte Gegner werden sich so von der Richtigkeit der Beyaz’schen Position kaum überzeugen lassen.96 Zu Beyaz’ Gunsten bleibt allerdings anzumerken, dass er selbst darauf hinweist, dass eine umfassende Diskussion der Frage sehr viel mehr Raum beanspruchen würde, als er ihr im Rahmen der Diskussion der Kopftuchfrage widmet. Soweit zur Methode. Doch wie sieht es mit dem Inhalt der von Beyaz vertretenen Rechtspositionen aus? Sein Islam ist zweifellos nicht wahh¸bitisch oder von der Übersteigerung des wara{-Gedankens (der religiösen Skrupelhaftigkeit) gekennzeichnet, wie sie in manchen Kreisen im islamischen Mittelalter üblich war und bis heute ist.97 Die Rechtslösungen, die er seinen Lesern anbietet, haben vor allem das für sich, dass sie Ängste nehmen und dem Frommen ein Leben frei von als drückend empfundenen Zwängen nehmen sollen. Selten weichen sie aber radikal von dem 95 Einen Überblick über die Debatten zur Echtheit des ¥adºt erhält man bei Harald Motzki: Die Anfänge der islamischen Jurisprudenz. Ihre Entwicklung in Mekka bis zur Mitte des 2./8. Jahrhunderts, Stuttgart 1991, S.7-49. Vgl. zu den Diskussionen in Bezug auf unsere Kenntnis vom Leben des Propheten vgl. Gregor Schoeler: Charakter und Authentie der muslimischen Überlieferung über das Leben Muhammads, Berlin u.a. 1996. 96 Fuat Sezgin: Buhârî’nin Kaynaklaræ hakkænda ara×tærmalar, Istanbul 1956. Unabhängig davon, wie man die Frage nach dem Beginn der Verschriftlichung der Prophetenüberlieferung beantwortet, erscheint Beyaz’ pauschales Postulat einer Geringschätzung des Mündlichen im Vergleich mit dem Schriftlichen auch in der Frühzeit des Islam allerdings problematisch. Gregor Schoeler hat der sehr komplexen Frage nach Bedeutung und Formen von Schriftlichkeit und Mündlichkeit in frühislamischer Überlieferung eine ganze Reihe von Aufsätzen gewidmet, von denen stellvertretend “Die Frage nach der schriftlichen oder mündlichen Überlieferung der Wissenschaften im frühen Islam”, in: Der Islam (62) 1985, S. 201-230 genannt sei. 97 Vgl. zum wara{ in š¸fi{itischen Kreisen des 5. Jahrhunderts der Hedschra die hübschen Beispiele bei Tilman Nagel: Die Festung des Glaubens, München 1991, S. 83ff. wdi45-1_berger.pmd 101 3/10/2005, 11:37 AM 102 lutz berger ab, was seit Jahrzehnten in reformerisch orientierten Kreisen üblich ist. Ein großer Teil der in Güleryüzlü ~slam behandelten Probleme betrifft das Ritualrecht. Die praktische Funktion von Ritualvorschriften im diesseitigen Leben wird betont. Insbesondere der soziale Aspekt steht dabei immer wieder im Mittelpunkt. Bei Opfer und Almosen, etwa Ende des Ramadan (fi«ra, türk. fitre), wird immer wieder auf die islamische Forderung nach einem Ausgleich zwischen arm und reich verwiesen.98 Dieser ist ihm wichtiger als eine Übererfüllung der Ritualvorschriften: Statt eine zweite Pilgerfahrt zu unternehmen, soll der Gläubige sich um arme Mitbürger kümmern.99 Ein zweites Hauptanliegen des Autors ist es, seinen Lesern Ängste zu nehmen, die etwa durch die Einnahme von Medikamenten oder das Tragen von Kontaktlinsen im Ramadan verursacht werden.100 Auch wenn er die Zivilehe verteidigt oder harmlose Vergnügungen101 wie das Hören türkischer Volksmusik102 für unbedenklich erklärt, geht es letztlich darum, zu verhindern, dass den Muslimen Notwendigkeiten und Gewohnheiten eines normalen Lebens unter 98 Etwa Güleryüzlü ~slam, S. 97ff. Güleryüzlü ~slam, S. 109ff. 100 So in den Antworten auf Leseranfragen im zweiten Teil von Güleryüzlü ~slam, S. 239-416 passim. 101 Nicht für harmlos hält Beyaz (sehen wir von den bereits erwähnten pronographischen Filmen ab) selbstverständlich den Bereich der Sexualität. Homosexuelle möchte er dauerhaft in Besserungsanstalten sperren, Güleryüzlü ~slam, S. 399. Auf die Frage eines besorgten Mitbürgers, ob Oralverkehr eine Sünde sei, antwortet Beyaz in für ihn passender Weise: „Derartiger Verkehr ist pervers und religionsgesetzlich verboten. Analverkehr oder Oralverkehr sind aus dem Westen übernommene (batædan yansæyan) perverse, hässliche, widerliche Taten. Es ist hässlich, wenn Muslime, insbesondere türkische Muslime (! L.B.), an so etwas auch nur denken. Höchstens wenige Perverse machen so etwas.“ Güleryüzlü ~slam, S. 390. Die historische Realität der Sexualität im Nahen Osten blendet Beyaz in gewohnter Manier aus, das Unheil kommt aus dem Westen, die Türken sind unter den Muslimen in besonderer Weise als rechtschaffen ausgezeichnet. In nuce findet man hier einen großen Teil der Versatzstücke, mit denen Beyaz durchgängig arbeitet. Ins Bild vom freundlichen Islam passt dagegen wieder seine Ansicht, nicht Prostituierte seien zu verurteilen, sondern die Männer, die sie in diese Lage gebracht hätten: Güleryüzlü ~slam, S.371. 102 Güleryüzlü ~slam, S. 168ff. Die patriotischen Klänge türkischer Militär- und Volksmusik hätten nicht nur türkische Truppen in alle Welt begleitet und stachelten noch heute zum Kampf auf (Güleryüzlü ~slam, S.174f.), sie rühren den Verfasser oftmals auch zu Tränen, Güleryüzlü ~slam, S. 173. 99 wdi45-1_berger.pmd 102 3/10/2005, 11:37 AM ein türkischer reformtheologe? 103 den Bedingungen der heutigen Türkei als mit ihrer Religion im Widerspruch erscheinen. Dies könne sonst zu einer Entfremdung von der Religion führen. Um das zu vermeiden, darf auch keinesfalls versucht werden, mit Drohungen und hell-fire preaching die Menschen zum Glauben zu bewegen. Nicht Angst und Zwänge,103 sondern das gute Vorbild der Gläubigen104 soll für den Islam werben. Diese „freundliche“ Einstellung gegenüber in Glaubensdingen unsicheren Kantonisten dient natürlich auch der gesellschaftlichen Integration in der Türkei, die für Beyaz eine zentrale Funktion des islamischen Eingottglaubens darstellt. So wendet er sich gegen eine Ausgrenzung der Aleviten, die er ausdrücklich auch zur muslimischen Bevölkerung zählt105 und warnt vor Vorurteilen gegen die türkischen Zigeuner: Die gesamte türkische Gesellschaft sei verantwortlich für die Besserung der sozialen Lage dieser Bevölkerungsgruppe.106 Wenn Beyaz gegen die alle anderen ausgrenzenden Frömmler die integrative Funktion des Glaubens betont, steht er im Einklang mit der sunnitischen Tradition. Genauso wie bei seinem Rekurs auf alte Prinzipien des islamischen Rechts, um die Probleme der Anpassung desselben an die kemalistische Staats- und Gesellschaftsordnung zu lösen, kann er sich hier auf das Grundprinzip des sunnitischen Islam berufen, den Unfrieden stiftenden takfºr so weit wie möglich zu vermeiden. Nicht nie dagewesene Ideen, sondern neu zu entdeckende alte Prinzipien des islamischen Rechts und die praktische Lebensklugheit des Muslim sind es, mit denen Beyaz seinen Lesern den Weg zum rechten Islamverständnis weisen will. IV. Ein Erneuerer des Islam? Zekeriya Beyaz’ Weltbild ist ein geschlossenes, letztlich auf autoritativer Satzung beruhendes. Das zeigt sich, wenn er durch den Verweis auf den Gehorsam, den man den Regierenden schuldet, die Frage des Kopftuches aus der Welt zu schaffen hofft. Deutlich 103 104 105 106 wdi45-1_berger.pmd Etwa Güleryüzlü ~slam, S. 28ff. Güleryüzlü ~slam, S. 374. Güleryüzlü ~slam, S. 404f. Güleryüzlü ~slam, S. 134. 103 3/10/2005, 11:37 AM 104 lutz berger wird es aber auch jenseits des Politischen. Ganz in der Manier der antiken und mittelalterlichen dogmatischen Philosophie und Theologie meint er, Gott einfach dadurch beweisen zu können, dass er den infiniten Regress des Immer-Weiter-Fragens für absurd und deshalb verboten erklärt und eine erste Ursache willkürlich setzt; ein Vorgehen, das bereits die antiken Skeptiker als genauso sinnlos für das Erreichen absoluter, endgültiger Wahrheit erkannt haben wie den von Beyaz in der Nachfolge von Aristoteles und seinen Schülern in Christentum und Islam strikt abgelehnten infiniten Regress.107 Der Gedanke der Vorläufigkeit allen Wissens oder des hermeneutischen Zirkels, die Offenheit eines neuzeitlichen wissenschaftlichen Weltbildes bleiben ihm fremd. Zekeriya Beyaz steht in der Traditionslinie des Reformislam des 19. Jh. Seine Vorgehensweise unterscheidet sich im Grundsatz kaum von der Sir Saiyid A¥mad Ù¸ns und Mu¥ammad {Abduhs.108 Er geht davon aus, dass es einen richtigen Islam gibt, den man kennen kann und der von Gott dem Propheten Mu¥ammad offenbart worden ist. Der Koran und die Figur des Propheten sind für ihn überzeitliche Entitäten, nicht Ergebnis historischer Bedingungsfaktoren. Für den Koran gilt dies absolut, für die Prophetenüberlieferung nur insofern eingeschränkt, als er, wenn es ihm opportun erscheint, zu besonderer Vorsicht im Umgang mit womöglich gefälschten Überlieferungen warnt. Derartige Skepsis gegenüber Teilen des überlieferten ¥adºt-Korpus, namentlich den Einzelüberlieferungen, findet sich allerdings wie erwähnt schon bei Ab¢ Ýanºfa und genauso (und mit ähnlich unklaren Konsequenzen wie bei Beyaz) bei Mu¥ammad {Abduh und Rašºd Ri¤¸.109 Auf Anleihen bei den Reformern der Wende zum 20. Jh. stößt man auch, wenn es um seine Sicht von der Stellung des Islam in 107 Zur Ablehnung bloßer Setzung durch die Skepsis vgl. etwa Friedo Ricken: Antike Skeptiker, München 1994, besonders S. 90f. Zu Aristoteles: Ottfried Höffe: Aristoteles, München 1999, S. 82f. 108 Zu diesen vgl. J.M.S. Baljon: Modern Muslim Koran Interpretation, Leiden 1961 und J.J.G. Jansen: The Interpretation of the Koran in Modern Egypt, Leiden 1974; zu Parallelen zwischen Beyaz und den ägyptischen Reformern bei der Beurteilung der Rolle der Religion für die Entwicklung einer Gesellschaft vgl. etwa Wielandt: Offenbarung, S. 73. 109 Juynboll: The Authenticity of the Tradition Literature, S. 15ff. wdi45-1_berger.pmd 104 3/10/2005, 11:37 AM ein türkischer reformtheologe? 105 der Welt geht. Der wahre Islam ist die Religion der Mitte, die sowohl Körper als auch Geist, sowohl Naturwissenschaft als auch Spiritualität zu ihrem Recht kommen lässt. Die Muslime haben diese Grundtatsachen über die Jahrhunderte vernachlässigt und sind so von der Höhe wieder abgesunken, zu der ihnen in den ersten Jahrhunderten des Islam die Beachtung der Grundsätze ihrer Religion verholfen hat. Alles, was in der modernen Welt gut und erstrebenswert ist, vor allem Demokratie und Naturwissenschaft, ist im Koran (und in sehr viel geringerem Maße in der Sunna) bereits vorweggenommen. Wenn die Muslime es sich jetzt wieder aneignen, holen sie sich im Grunde nur zurück, was eigentlich Wesenskern ihrer eigenen Identität ist, eine Denkfigur, die in der Ethnologie mit dem Begriff des Cargokults belegt wird.110 Um diese Grundlegung etwa der Demokratie in den Quellen zu erweisen, ist Beyaz nicht weniger als andere vor ihm zu einigen Verrenkungen gezwungen. In einem Milieu, in dem derartige Behauptungen zum herrschenden Diskurs gehören, wird er dennoch leichthin Glauben finden. Islamisch begründete Gegnerschaft zur modernen Naturwissenschaft etwa wird von Beyaz nicht als solche wahrgenommen (in der Frage der Evolutionslehre, in der Frage der Endlichkeit des Wissens). Unter den muslimischen Gegnern der republikanischen Staatsform setzt er sich nur mit den allerkonservativsten, den Neo-osmanen und den Anhängern eines Islams à la Saudi-Arabien auseinander. Die kreativeren gesellschaftstheoretischen Ansätze türkischer Islamisten wie etwa der von Ali Bulaç111 werden von ihm dagegen nicht diskutiert. Was Beyaz mit seinen innermuslimischen Gegnern, die von Außenstehenden gerne als konservativer wahrgenommen werden, gemein hat, ist jedoch die feste Überzeugung, dass die Frage eines richtig oder falsch verstandenen Islams entscheidend für den gesellschaftlichen Fortschritt ist. Wenn die Europäer es soweit gebracht haben, dann nur, weil sie nach langen Umwegen sich von ihrer verfälschten Religion freigemacht haben und unter Mühen zu den Erkenntnissen vorgestoßen sind, die der Islam 110 111 wdi45-1_berger.pmd Wilhelm Mühlmann: Chiliasmus und Nativismus, Berlin 1964, S. 165ff. Vgl. etwa dessen ~slam ve Demokrasi. Teokrasi, Totaliterizm, Istanbul 1993. 105 3/10/2005, 11:37 AM 106 lutz berger seinen Gläubigen von Anfang an nahe gebracht habe. Dabei freilich, und auch dieser Topos verbindet Beyaz mit der großen Mehrheit der islamischen Denker der Gegenwart, bleibe den Europäern doch in ihrem unbändigen Materialismus die spirituellen Seite der menschlichen Existenz verschlossen. Dass die richtige (oder falsche) Religion für die Ordnung der Regierung und die Erkenntnis der Natur unerheblich sein könnten, da sie zu einer anderen Sphäre des menschlichen Lebens gehören, ist ihm vollkommen fremd. Die Religion ist für ihn genauso wie für die gern als Islamisten Bezeichneten die Lösung aller Probleme: „Da der Islam eine der menschlichen Natur entsprechende (fætrî arab. fi«rº) und die Fragen des Gemeinschaftslebens berücksichtigende Religion ist, nimmt er jedwedes durch das soziale Leben oder die natürliche Anlage des Menschen aufgeworfene Problem in den Blick und fällt das diesen Notwendigkeiten entsprechende Urteil.“112 Religion als bloße Privatsache erscheint in einem solchen Denken kaum möglich. Wenn Beyaz, der, soweit er nicht gerade die Ideen der großen Reformer des 19. Jh. darlegt, ohne sie freilich beim Namen zu nennen, ganz den trockenen Ton mamlukenzeitlicher oder osmanischer Glaubensbekenntnisse anschlagen kann,113 in der Türkei so umstritten ist, wenn er auch in Deutschland als Vertreter eines modernen Islam wahrgenommen werden kann, dann verdankt er das offensichtlich nicht seiner theologischen oder juristischen Originalität. Ursächlich hierfür ist einzig seine ganz an den Erfordernissen eines konservativen Kemalismus orientierte Behandlung einiger tafarru{¸t des islamischen Rechts, namentlich der Kopftuchfrage. Die enge Bindung von Beyaz’ Schriften an aktuelle Erfordernisse des politischen Tagesgeschäfts in der Türkei bringt es mit sich, dass die geistigen Debatten anderer Länder der islamischen Welt kaum, jedenfalls nicht aus der Innenperspektive muslimischer Intellektueller dieser Länder wahrgenommen werden. Ein {Abdolkarºm Sor¢š etwa taucht bei Beyaz nicht auf; Iranisches kommt allein gespiegelt durch die kemalistische Presse vor.114 112 113 114 wdi45-1_berger.pmd ~slam’a göre milliyetçilik, S. 163. Etwa in Allah’æn varlægE a belgeler, S. 18ff. Etwa ~slam ve giyim ku×am, S. 224, ein Bild verhüllter iranischer Frauen aus 106 3/10/2005, 11:37 AM ein türkischer reformtheologe? 107 Das gleiche gilt für aktuelle Diskussionen in den arabischen Ländern, auch wenn offenkundig ein großer Teil der Ideologeme, derer sich Beyaz bedient, direkt oder indirekt dem Denken älterer arabischer (und durch diese vermittelt sicher auch indischer) muslimischer Reformer und Apologeten entnommen sind.115 Wie kann man sich diese Abgeschlossenheit und Beschränktheit des Beyaz’schen Denkens erklären? Anders als vielleicht bei manchen Autoren der arabischen Welt kann die Ursache dafür nicht in gesellschaftlichen Denkverboten ausgemacht werden. Die intellektuelle Landschaft der modernen Türkei ist pluralistisch genug. Ohnedies fehlt es Beyaz ja auch nicht an Mut, unter einem beträchtlichen persönlichen Risiko zu seinen Ideen zu stehen. Weniger als einer mehr theoretisch existenten Repression wird man die Zahmheit seines dennoch von seinen islamistischen Gegnern als weltumstürzend wahrgenommenen Denkens116 also dem allgemein im türkischen offiziellen Islam vorherrschenden Konformismus zuzuschreiben haben. Ob dieser nun unter veränderten Umständen einer größeren Offenheit weicht, bleibt abzuwarten.117 Sabah. Der Leser erfährt in der Unterschrift, dass Frauen in Iran von ihren Männern wie Gefangene gehalten werden. 115 Zur Rezeption dieser Ideen in der türkischsprachigen Presse des Osmanischen Reiches vgl. etwa Debus: Sebilürre×ad, S. 108ff. 116 Vgl. etwa die Hasstiraden, denen sich Beyaz auf islamistischen Seiten im Internet ausgesetzt sieht. 117 Bislang hat sich Beyaz, soweit ich sehe, zur Politik der gegenwärtigen Regierung und etwa den Perspektiven einer Integration der Türkei in Europa noch nicht geäußert. Seine nach wie vor große Nähe zur MHP, in der er zeitweilig wohl auf eine Führungsrolle gehofft hat (http://www.yeniasya.com.tr/2003/10/12/yazarlar/ kazimgulecyuz.htm, abgerufen 2.5.2004), zeigt sich auch daran, dass er im Mai 2003 in Gegenwart des Parteivorsitzenden Devlet Bahçeli das Totengebet für den führenden ülkücü „Komando“ Mustafa Ok leitete (http://www.yenisafak.com /arsiv/2003/ mayis/05/politika.html, abgerufen am 2.5.2004). wdi45-1_berger.pmd 107 3/10/2005, 11:37 AM