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Eine Geschlechtsumwandlung Bei Moorleichen – Untersuchungen Am Paar Von Weerdinge. In: A. Wieczorek & W. Rosendahl (eds.), Mumien - Der Traum Vom Ewigen Leben, (2nd Edition) Zabern, Darmstadt (2015), 312-317. [title In English: Gender Reassignment On Bog Bodies; Research On The Weerdinge-couple]

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MUMIEN Der Traum vom ewigen Leben Publikationen der Reiss-Engelhorn-Museen Band 24 Begleitband zur Sonderausstellung „MUMIEN – Der Traum vom ewigen Leben“ der Reiss-Engelhorn-Museen Herausgegeben von Alfried Wieczorek und Wilfried Rosendahl VERLAG PHILIPP VON ZABERN MUMIEN Der Traum vom ewigen Leben Herausgegeben von Alfried Wieczorek und Wilfried Rosendahl MUMIEN Der Traum vom ewigen Leben Publikationen der Reiss-Engelhorn-Museen Band 24 376 Seiten mit 297 Farb- und 40 Schwarzweißabbildungen Herausgeber: Alfried Wieczorek Wilfried Rosendahl Inhaltliche Konzeption des Katalogs: Wilfried Rosendahl Wissenschaftliche Redaktion und Lektorat: Eva-Maria Günther unter Mitarbeit von Luisa Reiblich und Tobias Wüstenbecker sowie Stephanie Zesch unter Mitarbeit von Sarah Nelly Friedland Bildredaktion: Eva-Maria Günther Stephanie Zesch Photographien der Ausstellungsobjekte: Sollte es vorgekommen sein, dass Rechteinhaber nicht genannt sind oder nicht ausfindig gemacht werden konnten, bitten wir um entsprechende Nachweise die beteiligten Urheberrechte betreffend, um diese in künftigen Auflagen zu berücksichtigen oder /und im Rahmen der üblichen Vereinbarungen für den Bereich wissenschaftlicher Publikationen abgelten zu können. Übersetzer und Übersetzungsredaktion: aus dem Französischen: Gaëlle Rosendahl aus dem Englischen: Übersetzungsagentur Ratajski Saarbrücken, Eva-Maria Günther Umschlag (vorne): Südamerikanische Mumiengruppe M1 aus den Sammlungen der Reis-Engelhorn-Museen. (Photo: Jean Christen, Reiss-Engelhorn-Museen, Mannheim) Vorsatz vorne: Wüstenregion Wadi Araba, Jordanien. (Photo: Wilfried Rosendahl, Reiss-Engelhorn-Museen, Mannheim) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Der Verlag Philipp von Zabern ist ein Imprint der WBG. (2. teilweise überarbeitete Auflage) © 2015 by rem gGmbH und WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Vorsatz hinten: Mumienbündel mit falschen Köpfen aus der Nekropole von Ancon in Peru. (Zeichnung: nach Reiss / Stübel [1880–1887] 1998, Taf. 19) Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Frontispiz: Memento mori aus Birnbaumholz, monochrom gefasst, B 24,8 cm; L 24,8 cm, Mannheim, um 1720/25, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Inv.-Nr. Pl.O.3211. Der kurpfälzische Hofbildhauer Paul Egell schnitzte diese Darstellung eines halbverwesten Schädels, des traditionellen Symbols der Endlichkeit des Menschen. Derartige Meditationsobjekte zeigen ungeschönt die Vergänglichkeit des Lebens und dienten als Schaubild für die Übung in Gelassenheit, der Bequemlichkeit der Welt zu entsagen und sein Leben auf das Wesentliche, das Jüngste Gericht Gottes und die Ewigkeit hin auszurichten. (Photo: Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg) Satz: Melanie Jungels, scancomp GmbH, Wiesbaden Einbandabbildung: Südamerikanische Mumiengruppe M1 aus den Sammlungen der Reiss-Engelhorn-Museen Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8035-4939-0 (Buchhandelsausgabe) ISBN 978-3-8053-4941-3 (Museumsausgabe) Inhalt 12 Vorwort der Herausgeber REGINE SCHULZ 13 Den Tod überwinden lernen: Gedanken zur Ausstellung von Mumien in Museen WILFRIED ROSENDAHL 17 Mumia, Mumien und Mumifizierung – eine Einführung MUMIEN – WELTWEIT UND NATÜRLICH 19 BURKHARD MADEA, JOHANNA PREUSS UND FRANK MUSSHOFF 21 Vom blühenden Leben zu Staub – der natürliche Kreislauf von Werden und Vergehen WILFRIED ROSENDAHL 39 Natürliche Mumifizierung – selten, aber vielfältig ANGELIKA FLECKINGER 51 Menschen aus dem Eis MICHAEL GEBÜHR UND SABINE EISENBEISS 69 Moorleichen – Funde, Deutung und Bedeutung MUMIEN – EIN GANG DURCH DIE KULTUREN TANJA POMMERENING 87 Mumien, Mumifizierungstechnik und Totenkult im Alten Ägypten – eine chronologische Übersicht HEIMO HOHNECK 105 Tiermumien und Tierkult im Alten Ägypten VIRGINIA UND MICHAEL TELLENBACH 111 Mumien im Andenraum – Präsenz der Verstorbenen 85 CHRISTINE SCHLOTT 129 Mumifizierung in Ozeanien CORINNA ERCKENBRECHT UND HEINZ H. KLAATSCH † 135 Mumien in Australien – eine Sonderform der Bestattungssitten bei den australischen Aborigines JEANETTE WERNING 141 Mumien in China BARBARA KERNECK 155 Die Altaische Lady und ihre Gefährten – Mumien aus der skythischen Pazyryk-Kultur SARAH NELLY FRIEDLAND 159 Buddhistische Mumien in Asien INA WUNN 165 Mumien in Klöstern und Kirchen – Mönche, Päpste und Fürsten LUISA REIBLICH 175 Ein Tod, länger als das Leben – Lenin, Mao, Evita ANGELA GRÄFEN UND KURT W. ALT 183 Mumifizierung heute – eine ganz moderne Angelegenheit MUMIA UND MUMIEN IN MEDIZIN UND KUNST 191 TANJA POMMERENING 193 Mumia – vom Erdwachs zum Allheilmittel SABINE BERNSCHNEIDER-REIF 203 Mumia vera Aegyptiaca – Heilmittel in den Apotheken des Abendlandes KLAUS JÜRGEN-FISCHER 213 „Mumie” und Asphalt in der Malerei MUMIEN ERZÄHLEN – METHODEN DER MODERNEN MUMIENFORSCHUNG KURT W. ALT UND FRANK J. RÜHLI 221 Mumieneinblicke – Röntgenanalytik und Computertomographie 219 CHRISTINA RÜTZE, PETER FORSTER UND JOACHIM BURGER 231 Molekulargenetische Herkunftsbestimmung von Mumien ALBERT ZINK UND SANDRA LÖSCH 237 Paläoepidemiologie und Mumienforschung HERVÉ BOCHERENS 245 Keratinisotopie – Antworten zu Lebensraum und Ernährung FRANK MUSSHOFF, BURKHARD MADEA, WILFRIED ROSENDAHL UND DARIO PIOMBINO-MASCALI 249 Chemisch-toxikologische Untersuchungen an Haarproben – Nachweis von Rauschmitteln auch bei Mumien JENS KLOCKE UND KARIN PETERSEN 261 Befallen, Belastet und Verflucht – mikrobielle und chemische Kontamination an Mumien JENS KLOCKE 267 Mumienrestaurierung – eine Knochenarbeit DORIS DÖPPES UND WILFRIED ROSENDAHL 271 3D-Scan und 3D-Druck – Einsatzmöglichkeiten in der Mumienforschung MUMIEN UND MEDIEN 277 DIANA WENZEL 279 Tot oder lebendig? Menschlich oder unmenschlich? – Mumien im Film DIANA WENZEL 287 „Wie grausig ist die Entdeckung einer Mumie?“ – Mumiensachbücher für Kinder und Jugendliche Mumien aus aller Welt 297 BERND HERKNER 1 | Die Frankfurter Dinosauriermumie 299 STEPHAN KEMPE UND AHMAD AL-MALABEH 2 | Tiermumien aus Lavahöhlen der jordanischen Wüste 301 MATTHIAS FEUERSENGER 3 | Tiermumien aus der Sammlung Eve-Maria Zimmermann, Teneriffa 305 MATTHIAS FEUERSENGER 4 | Die Salzmumie eines Masken-Drückerfisches (Sufflamen fraenatum) aus dem Oman 308 DORIS DÖPPES, WILFRIED ROSENDAHL 5 | Eiszeitliche Tiermumien aus dem zirkumpolarem Permafrostboden – zwei Beispiele 310 VINCENT T. VAN VILSTEREN 6 | Eine Geschlechtsumwandlung bei Moorleichen Untersuchungen am Paar von Weerdinge und weitere Moorleichenfunde aus dem Drents Museum Assen, Niederlande 314 STEPHANIE ZESCH 7 | Zwischen Diesseits und Jenseits Objekte altägyptischer Grabausstattung und Tiermumien aus dem Roemer- und Pelizaeus-Museum Hildesheim 320 GERHARD HOTZ, HEATHER GILL-FRERKING, TANJA POMMERENING UND WILFRIED ROSENDAHL 8 | Ägyptische Mumien aus dem Naturhistorischen Museum Basel 328 WILFRIED ROSENDAHL, KURT W. ALT, STEPHAN MEIER UND FRANK J. RÜHLI 9 | Ägyptische Mumien aus den Sammlungen der Reiss-Engelhorn-Museen 332 WILFRIED ROSENDAHL, KURT W. ALT, STEPHAN MEIER UND FRANK RÜHLI 10 | Eine asiatische Mumie aus den Sammlungen der Reiss-Engelhorn-Museen 335 ERIK BRUIJN, AMELIE ALTERAUGE, STEPHANIE ZESCH, BEN HEGGELMAN, SYLVIA MITSCHKE, FRANCESCA COLETTI, WILFRIED ROSENDAHL, ALBERT ZINK UND VINCENT VAN VILSTEREN 11 | Die Mumie im Inneren ‒ eine übermodellierte Mumie eines buddhistischen Mönchs 337 MICHAEL TELLENBACH, KURT W. ALT, STEPHAN MEIER, FRANK RÜHLI UND WILFRIED ROSENDAHL 12 | Mumien aus Ozeanien in den Sammlungen der Reiss-Engelhorn-Museen 343 WILFRIED ROSENDAHL, KURT W. ALT, STEPHAN MEIER, FRANK RÜHLI, AMELIE ALTERAUGE, ELKE MICHLER, SYLVIA MITSCHKE UND MICHAEL TELLENBACH 13 | Südamerikanische Mumien aus den Sammlungen der Reiss-Engelhorn-Museen 345 ILDIKÓ SZIKOSSY, ÁGNES KUSTÁR, ZSUZSANNA GUBA, LILLA ALIDA KRISTÓF UND ILDIKÓ PAP 14 | Natürlich mumifizierte Leichname aus der Dominikanerkirche in Vác, Ungarn 355 KAI FÜLDNER, WILFRIED ROSENDAHL UND HEATHER GILL-FRERKING 15 | Mumifizierte Menschenföten als anatomische Präparate aus dem Naturkundemuseum Kassel 368 MATTHIAS FEUERSENGER 16 | Tierpräparation und Taxidermie 372 Autorenverzeichnis 375 VINCENT T. VAN VILSTEREN 6 | Eine Geschlechtsumwandlung bei Moorleichen Untersuchungen am Paar von Weerdinge und weitere Moorleichenfunde aus dem Drents Museum Assen, Niederlande Am 29. Juni 1904 stieß der Torfstecher Hilbrand Gringhuis auf zwei Moorleichen im Bourtanger Moor bei Weerdinge (van der Sanden 1990). Nachdem er die beiden Körper sorgfältig freigelegt hatte, benachrichtigte er die Polizei. Am nächsten Tag erschien ein Polizist an der Fundstelle. Da in Mooren gefundene Leichen häufig gut erhalten waren, vermutete die Polizei oftmals, dass es sich um Mordopfer oder vermisste Personen handeln könnte. Nachdem der Polizist seine Untersuchungen abgeschlossen hatte, schrieb er ein Protokoll und schickte es zum Staatsanwalt nach Assen. Die nur wenige Zentimeter dicken Überreste der beiden Körper wurden eingerollt, in eine Kiste gelegt und in die nahe gelegene Leichenhalle gebracht. Die Theorie vom Paar von Weerdinge nimmt Fahrt auf Eine erste Untersuchung und photografische Dokumentation der beiden Moorleichen wurde 1904 von G. J. Landweer vorgenommen, der eigentlich Finanzbeamter in Hoogeveen war. Landweer photografierte leidenschaftlich gern und interessierte sich außerdem sehr für Archäologie. Seit 1892 war er örtlicher Korrespondent für das Museum in Assen (Abb. 1). In seinem Bericht kommt Landweer zu dem Ergebnis, dass es sich bei dem größeren der Leichname zweifellos um einen Mann, bei dem zweiten dagegen um eine Frau handeln müsse: „Augenscheinlich waren fast alle Kno- Abb.1 G. J. Landweer 1892 beim Torfstechen in Drenthe, Niederlande. 6 | EINE GESCHLECHTSUMWANDLUNG BEI MOORLEICHEN · 315 Abb. 2 Das historische Photo von G. J. Landweer zeigt das Paar von Weerdinge 1904. Abb. 3 Das Photo zeigt das Paar von Weerdinge in heutiger Zeit. chen verschwunden, auch die Köpfe fehlten größernteils. Da die Köpfe ursprünglich näher zur Oberfläche lagen als die übrigen Körperteile, waren sie vermutlich anderen Einflüssen unterworfen. Es ist auch möglich, dass sie beim Torfstechen beschädigt wurden. Zähne hat man nicht finden können (…). Von dem Mann ist noch ein großer Teil der Kopfhaut mit Haaren vorhanden, von der Frau nur noch ein kleiner Teil der Kopfhaut. Ein Teil des Haars wurde offensichtlich nach der Ausgrabung abgeschnitten und entfernt. Es ist deutlich zu sehen, dass der Mann zum Teil kahl war. Im linken Arm des Mannes sind noch Teile von Radius und Elle vorhanden und im linken Bein ist noch das Schienbein zu erkennen. An beiden Stellen fehlt ein Stück der Haut. Da außer den Haaren fast nur Haut und einzelne Sehnen – unter anderem an den Knien – übrig sind, sind beide Körper sehr stark abgeflacht und haben nur noch eine Dicke von ein bis drei Zentimetern (…). Wie Polizist Warrink erklärte, wurden sie von ihm – noch im Moor liegend – gemessen und sollen zwei Meter lang gewesen sein. Ich lege die Länge des Mannes auf 1,75 m fest, wobei ich möglicherweise nicht genug für den fehlenden Kopf zugerechnet habe. Beide können zwischen den Vermessungen geschrumpft sein. Es scheinen jedenfalls sehr robuste Leute gewesen zu sein. Bei der Frau fehlt der rechte Fuß, der wahrscheinlich bereits während eines vorherigen Torfstichs ohne es zu merken abgetrennt wurde und in ein Torfstück geraten ist. Es besteht also die Möglichkeit, dass es für die eine oder andere Küchenfrau eine Überraschung geben wird! Das Haar ist ziemlich lang, sehr fein und leicht gewellt. Es hat eine glänzende braune Farbe (…). Es gab keine Begleitfunde – weder Kleidung, Waffen, noch andere Dinge. Bei dem Körper des Mannes fällt auf der linken Seite, etwas unterhalb des Herzens eine kleine Öffnung auf, wo die Eingeweide heraustreten. Man könnte hier auf eine Stichwunde schließen.“ (Landweer 1904, S. 597–598). Landweer kümmerte sich auch um die Überführung der beiden Körper ins Museum nach Assen. Sie wurden in eine größere Kiste gelegt, um das Falten der Körper zu vermeiden. Bereits wenige Tage nach der Ankunft im Museum wurde in einem Zeitungsartikel vom großen Interesse der Öffentlichkeit an den Moorleichen berichtet, die seither in der Dauerausstellung gezeigt werden. Im Volksmund waren beide lange Zeit unter dem Namen Paar bzw. Ehepaar von Weerdinge oder Herr und Frau van der Veen (aus dem Moor) bekannt, was vermutlich auf ihre vertraut wirkende Körperhaltung, aber sicher auch auf Landweers Bericht zurückzuführen ist (Abb. 2). 316 · VINCENT T. VAN VILSTEREN Die Wissenschaft erhebt Einspruch 1988 richtete Dr. Wijnand van der Sanden, der damalige Oberkustos des mittlerweile in Drents Museum umbenannten Museums, ein Mumienforschungsprojekt zur Untersuchung der acht nicht mittelalterlichen Moorleichen aus der Sammlung ein. In diesem Zusammenhang wurden auch die beiden Moorleichen aus dem Bourtanger Moor bei Weerdinge erneut untersucht, 85 Jahre nach ihrer Entdeckung (Abb. 3, van der Sanden 1990). Dabei wurde auch erstmals eine 14C-Datierung durchgeführt. Man vermutete, dass beide Personen zeitgleich ums Leben kamen und hat deshalb zunächst nur eine Hautprobe eines Individuums datiert (OxA-1723: 1980 ± 70 BP). Zu einem späteren Zeitpunkt wurden weitere Hautproben und außerdem Haare entnommen und datiert. Daraus ergab sich, dass beide Individuen zwischen 40 v. Chr. und 50 n. Chr. starben (van der Plicht et al. 2004). An einigen Körperpartien der rechten Person wurden Fehlstellen in der Haut festgestellt. Diese sind zum Teil auf eine differenzierte Schrumpfung von Haut und Knochen zurückzuführen, wie zum Beispiel an einer Öffnung am linken Unterarm zu erkennen ist. Die Knochen ragen hier aus der Haut heraus. Andere Öffnungen in der Haut scheinen nicht-natürlichen Ursprungs zu sein. Die auffälligste ist ein dreieckiges Loch unterhalb der linken Brust. Ein Großteil des Dünndarms ist hier ausgetreten. Ob es sich dabei um die Todesursache handelt, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Auch die Position der Beine änderte sich im Laufe der Zeit infolge der Austrocknung der Haut. Sie sind jetzt gekreuzt, was 1904 noch nicht der Fall war. Die Haare haben sich gut erhalten, sind allerdings durch die Lagerung im Moor bräunlich verfärbt. Auch die Schambehaarung und die männlichen Genitalien sind zu erkennen. Beim Vermessen der Moorleiche ergab sich eine Länge von 1,34 m. Im Vergleich mit dem Längenmaß von 1,75 m, das Landweer 1904 angab, ist der Körper deutlich geschrumpft. Die Körperhöhe ist jedoch nicht immer so einfach feststellbar. Mitunter kann sie nur anhand der Maße der Langknochen rechnerisch ermittelt werden. Der Tollund-Mann war vermutlich kaum größer als 1,61 m. Der Mann aus Grauballe maß 1,75 m, der Aschbroeken-Mann 1,70 m und die Männer aus Hunteburg waren zwischen 1,80 und 1,90 m groß. Die durchschnittliche Körpergröße scheint nur geringfügig unterhalb derer heutiger Menschen zu liegen. Die linke Moorleiche ist genauso gut erhalten wie die rechte, wenngleich sie ebenso stark geschrumpft ist. Die Körperlänge beträgt nur noch 1,26 m. Im Gegensatz zum rechten Leichnam sind bei der linken Moorleiche kaum noch Knochen zu erkennen. Die Haut an der vorderen Körperseite hat einige markante Abb. 4 Die Schnittspuren an den Beinen der beiden Moorleichen machen deutlich, dass der linke Mann ursprünglich etwa 20 cm nach unten verschoben im Moor lag (modifiziertes Photo von 1904). Fehlstellen, wozu zwei dreieckige Öffnungen auf Höhe der Leber gehören. Im Bereich der Genitalien fällt eine große, ebenfalls dreieckige Fehlstelle auf. Das Geschlecht dieser Moorleiche war deshalb nicht ohne weiteres festzustellen. Ein vorhandenes Stück Haut wurde jedoch als Teil des Kinns mit Barthaaren identifiziert. Infolgedessen sowie auch aufgrund des Fehlens von Hinweisen auf Brustwölbungen wurde geschlussfolgert, dass auch die zweite Moorleiche ohne Zweifel männlichen Geschlechts ist. Auffallend ist außerdem, dass im Gegensatz zur rechten Moorleiche kaum Knochen zu erkennen sind. Es handelt sich um erwachsene Männer. Eine präzisere Altersbestimmung war nicht möglich. Seit dieser Untersuchung im Jahr 1988 können Herr und Frau van der Veen nicht mehr als Ehepaar gelten. In welcher Beziehung die beiden Männer zueinander standen, ist bislang unklar. Es könnte sich um Vater und Sohn handeln, aber auch um zwei Brüder, zwei Freunde oder sogar ein Liebespaar. Versuche, mittels einer DNA-Analyse eine familiäre Beziehung nachweisen oder ausschließen zu können, waren nicht erfolgreich. Die biochemischen Bedingungen des Moores sind dabei ursächlich für die schlechte Erhaltung der DNA. 6 | EINE GESCHLECHTSUMWANDLUNG BEI MOORLEICHEN · Überlegungen zur Körperhaltung des Paars von Weerdinge Abb. 5 Eine plastische Rekonstruktion des Mädchens von Yde (Richard Neave, 1992). Bei einem Treffen von Dr. Wijnand van der Sanden (Provinzialarchäologe der Provinz Drenthe), Dipl.Restaurator Jens Klocke (Experte für die Restaurierung von Mumien aus Hildesheim), Monika Lehmann (Abteilung Restaurierung, Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege Hannover), Floor Huisman M. A. (Projektmitarbeiterin Drents Museum Assen) und dem Autor im Drents Museum im Jahr 2012 wurden die historischen Photografien mit dem heutigen Befund verglichen. Bei genauerer Betrachtung des Photos von 1904 fielen einige Unterschiede im Vergleich zu heute auf. Zunächst einmal scheint die Position des linken Arms der linken Moorleiche auf dem historischen Photo unnatürlich zu sein. Die Handinnenfläche ist nach oben gedreht. Zu vermuten ist, dass dies nicht die ursprüngliche Position der Hand war. Auch im Bereich der Schulter scheint der Arm unnatürlich verdreht zu sein. Würde man den Arm umklappen, so dass der Daumen nach innen weist, könnte dies der ursprünglichen Position des Arms entsprechen. Die längliche, dunkle Verfärbung im Schulter- und Torsobereich der rechten Moorleiche könnte von dem ursprünglich quer liegenden linken Arm der linken Moorleiche stammen. Ebenfalls von Interesse sind die Schnittspuren an den Beinen (Abb. 4). Der linke Unterschenkel des linken Mannes ist annähernd diagonal durchtrennt. Würde man diese diagonale Schnittlinie nach unten verlängern, träfe sie genau auf den Bereich, wo der rechte Fuß fehlt. Bereits Landweer vermutete, dass der rechte Fuß schon während eines vorherigen Torfstichs abgetrennt wurde. Somit besteht die Möglichkeit, dass auch das linke Bein beim Torfstechen durchtrennt wurde. Genau dasselbe Phänomen ist bei der rechten Moorleiche zu beobachten. Der rechte Unterschenkel ist diagonal durchtrennt. Bei Verlängerung der Schnittlinie nach oben fällt eine markante Kerbe im linken Oberschenkel auf. Diese Verletzungen können erst während des Torfstechens entstanden sein. Daraus ergibt sich, dass die Positionierung der beiden Moorleichen auf dem historischen Photo von 1904 nicht der ursprünglichen Lage im Moor entsprechen kann. Die Position der linken Moorleiche muss daher in Bezug zur rechten um etwa 20 cm nach unten korrigiert werden, damit der fehlende rechte Fuß, die Schnittspuren an den Beinen beider Moorleichen und die Kerbe im linken Oberschenkel der rechten Moorleiche eine gemeinsame diagonale Schnittlinie bilden. Bei Annahme dieser Position als die ursprüngliche wird auch klar, dass die Schultern beider Männer nicht auf derselben Höhe gelegen haben können. Ver- 317 mutlich bedeckte die Hand des ausgestreckten linken Armes des linken Mannes den Genitalbereich des rechten Mannes. Es ist durchaus vorstellbar, dass diese Position 1904 als schockierend empfunden wurde und Landweer deshalb den Arm des linken Mannes verdreht hat. In einem Brief vom 5. Juli 1904 hat er wissen lassen: „Wie Sie sehen, ist das Photo gut gelungen. Die männlichen Geschlechtsorgane hätten viel besser zu sehen sein können, aber so hat das Bild auch eine weniger heikle Wirkung. Jetzt kann man es allen jungen Mädchen zeigen.“ Landweer hat sich also durchaus Gedanken über die Wirkung des Photos gemacht. In diesem Zusammenhang wäre das Verdrehen des Armes des linken Mannes durchaus nicht ungewöhnlich. Was führte zum „Irrtum“ Landweers? Anstelle der Genitalien des linken Mannes ist heute eine dreieckige Fehlstelle zu sehen, die auf dem Originalphoto von 1904 noch von den Händen verdeckt wurde. Ein ähnlicher Einschnitt ist auf der rechten Seite der Brust zu erkennen. An beiden Stellen fehlen Stücke der Haut. Zu klären wäre, ob diese Verletzungen bereits um den Zeitpunkt des Todes des Mannes zu Stande kamen oder erst nach Entdeckung der Moorleichen 1904. Die unterschiedliche Färbung der Einschnitte im Vergleich zu den umgebenden Hautpartien, die auf dem historischen Photo zu erkennen sind, sprechen eher für einen Entstehungszeitpunkt der Fehlstellen um den Zeitpunkt der Auffindung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es ist zu vermuten, dass kurz nach der Bergung der beiden Moorleichen Personen Teile der Haut entfern- 318 · VINCENT T. VAN VILSTEREN Abb. 6 Ein geflochtenes Paar Zöpfe auf Torf, um 500 v. Chr. ten und mitnahmen, wie es auch 1897 bei der Entdeckung der Moorleiche Mädchen von Yde geschah (Abb. 5), die ebenfalls im Drents Museum Assen zu sehen ist. Bis auf einen Zahn entfernten die Einwohner von Yde alle Zähne und rissen außerdem Haare vom Kopf (van der Sanden 1994). Das Mädchen wurde zwischen 40 v. Chr. und 50 n. Chr. etwa im Alter von 16 Jahren mit einem Wollstrick erdrosselt und im Moor begraben. Vielleicht waren zum Zeitpunkt des Auffindens der beiden Moorleichen von Weerdinge 1904 die Genitalien des linken Mannes noch vorhanden und wurden erst kurz darauf entfernt. Wie Landweer berichtet, wurden nach der Entdeckung auch Haare der rechten Moorleiche abgeschnitten und mitgenommen. Es ist durchaus vorstellbar, dass zudem weitere Körperteile entfernt wurden. Zu überlegen wäre außerdem, ob die Eingeweide, die scheinbar aus der Brust des rechten Mannes heraustreten, nicht eigentlich zur linken Moorleiche gehören und beim Entfernen der dreieckigen Hautpartie im Unterleib frei wurden. Dies scheint plausibel, da fraglich ist, ob aus einer Wunde so hoch im Brustbereich Eingeweide heraustreten würden. Bei der großen Verletzung im Unterleib des linken Mannes wäre das Heraustreten von Eingeweiden dagegen zu erwarten. Bei beiden Moorleichen ist die Rückseite besser erhalten als die Vorderseite (Uytterschaut 1994). In Anbetracht der langen Liegezeit im Moor hat sich aber auch die Vorderseite der Körper verhältnismäßig gut erhalten. Daher können die fehlenden Hautpartien keinesfalls die Folge eines schlechteren Erhaltungszustands aufgrund größerer Nähe zur Oberfläche sein. Die Ränder der Fehlstellen hätten hierfür deutlich unregelmäßiger sein müssen. Sie scheinen aber vielmehr von einem scharfkantigen Gegenstand verursacht zu sein. Es stellt sich die Frage, warum Landweer 1904 behauptete, dass es sich bei den Moorleichen ohne jeden Zweifel um einen Mann und eine Frau handelt. Als er die Körper vor der Leichenhalle photografierte, waren bei der linken Moorleiche bereits keine Geschlechtsorgane mehr zu erkennen. Vermutlich ist Abb. 7 Eine mumifizierte Hand aus dem Moorleichenfund Wijster Four, spätes 16. Jh. 6 | EINE GESCHLECHTSUMWANDLUNG BEI MOORLEICHEN · die fehlerhafte Schlussfolgerung Landweers, es handele sich um eine Frau, einerseits auf die fehlenden Genitalien, vielleicht aber auch auf ein traditionelles Mann-Frau-Denken zurückzuführen: Wenn die eine Moorleiche ein Mann ist, muss die andere wohl eine Frau sein. Es ist zu vermuten, dass Landweer die beiden Moorleichen nicht mehr im originalen Zustand photografierte, sondern erst nachdem unbekannte Personen, möglicherweise Torfstecher, bereits Manipulationen an den Körpern vorgenommen hatten. Wo die entfernten Körperteile geblieben sind, bleibt offen. Der dokumentarische Wert der Photos, die G. J. Landweer am 3. Juli 1904 anfertigte, ist in jedem Fall unschätzbar. Nur aufgrund des historischen Photomaterials konnte rekonstruiert werden, wie es zur falschen Geschlechtsbestimmung des linken Mannes kam. Weitere Moorleichenfunde aus dem Drents Museum Assen, die in der Mumienausstellung gezeigt werden, sind ein sehr gut erhaltenes Paar geflochtener Zöpfe auf einen Torfblock (Abb. 6) und eine mumifizierte Hand (Abb. 7). Das Zopfpaar wurde 1894 beim Torfstechen im niederländischen Odoorn gefunden und befand sich in einem Säckchen aus Wolle, das mit einem Bronzering verschlossen war. Es datiert um 500 v. Chr. und wurde vermutlich als Opfergabe im Moor niedergelegt. Die rechte Hand gehört zu einem Moorleichenfund, der unter dem Namen Wijster Four bekannt ist, benannt nach dessen Fundort nahe Wijster in der Provinz Drenthe. Dieser Fund von 1901 umfasste ursprünglich die Überreste von vier Moorleichen, Kleidungsresten sowie Münzen und einen Kupferkessel. Von den menschlichen Überresten ist heute nur noch die Hand erhalten. Eine 14C-Datierung organischer Proben sowie die Typisierung der Kleidung und die Münzprägung ordnen den Fund ins späte 16. Jahrhundert ein. 319 Literatur Landweer, G. J., Een merkwaardige vondst in een veentje bij Wijster, Nieuwe Drentse Volksalmanak 21, 1903, S. 102–112 Landweer, G. J., Twee Oud-Germaanse lijken uit het Weerdingerveen, Eigen Haard 30, 1904, S. 597–600 Plicht, J. van der, Sanden, W. A. B. van der, Aerts, A. T., Streurman, H. J., Dating bog bodies by means of 14C-AMS, Journal of Archaeological Science 31, 2004, S. 471–491 Sanden, W. A. B. van der, Mens en moeras – Veenlijken in Nederland van de bronstijd tot de Romeinse tijd, Assen 1990 Sanden, W. A. B. van der, Het meisje van Yde, Assen 1994 Sanden, W. A. B. van der, Mumien aus dem Moor – Die vorund frühgeschichtlichen Moorleichen aus Nordwesteuropa, Amsterdam 1996 Sanden, W. A. B. van der, Stand der Moorleichenforschung in Nordwesteuropa. In: Oll‘ Mai 2013, Band 7, 50 Jahre Archäologische Landesaufnahme, 40 Jahre Forschungsinstitut der Ostfriesischen Landschaft, Aurich 2013, S. 54–74 Uytterschaut, H. T., De anatomische beschrijving. In: Sanden, W. A. B. van der (Hrsg.), Mens en moeras – Veenlijken in Nederland van de bronstijd tot de Romeinse tijd, Assen 1990, S. 104–124 Abbildungsnachweis Abb. 1–7 Photos: Drents Museum, Assen