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Erinnerungsinszenierungen Im Interkulturellen Kontext. Anmerkungen Zu Ansätzen Und Möglichkeiten Der Gedächtnisforschung

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Erinnerungsinszenierungen im interkulturellen Kontext. Anmerkungen zu Ansätzen und Möglichkeiten der Gedächtnisforschung. David Simo Das Thema Gedächtnis erfreut sich seit einigen Jahrzehnten, vor allem in Europa und Amerika, einer so großen und breiten Beliebtheit, dass sich viele nach der Motivation der beteiligten Forscher fragen. Warum wird dieses Thema sowohl von Kultur- und Literaturwissenschaftlern als auch von Gehirnforschern und Informationstechnikern so intensiv erforscht? Manche Kritiker erblicken darin nur eine ModeErscheinung. Aber eine Mode, die seit Jahrzehnten andauert, ist keine. Der große französische Historiker Pierre Nora, der in den 1980er Jahren ein umfangreiches Werk zu diesem Thema veröffentlichte, hat für das Phänomen eine historisierende Erklärung gegeben, die immer wieder wiederholt wird. Er unterscheidet drei wichtige Perioden im Umgang mit dem Gedächtnis als soziale Praxis. In einer vormodernen Periode wird das Gedächtnis als affektive und magische Praxis „von lebendigen Gruppen getragen“, deren Zusammenhang es stiftet. Hier rücke das “Gedächtnis die Erinnerung ins Sakrale” . “Jede Geste bis zur alltäglichen wird wie die religiöse Wiederholung dessen erlebt, was immer schon getan wurde, in eine körperliche Identifizierung von Tat und Sinn.” 1 Für Nora ist nur dieses Gedächtnis, das nicht über sich selbst reflektiert, das wahre Gedächtnis. Dieser Periode folge eine moderne, die charakterisiert sei durch Geschichte und Geschicklichkeit. Hier erlebe man keine Kontinuität, sondern Brüche und eine unaufhaltsame Bewegung, die dazu führe, dass alles in eine tote Vergangenheit verschwindet. Zerstörung und Verlust werden nicht beklagt, sondern als unausweichlich und ganz normal empfunden. Das Gedächtnis höre auf, etwas Erlebtes zu sein, und werde „archivarisch’“. Erinnerung wird zur Rekonstruktion dessen, was mal war und inzwischen vergessen ist. Es sei ein registrierendes 1 Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Fischer Verlag Taschenbuch, Frankfurt am Main 1998. Darin: Zwischen Geschichte und Gedächtnis: Die Gedächtnissorte, S. 11-42. Die Zitate S. 13. Gedächtnis. Hier brauche man „Museen, Bibliotheken, Dokumentationszentren, Datenbanken usw.… und natürlich Experten“, 2 um das Gedächtnis zu speichern und zu bewahren. Das Gedächtnis werde zu dem, an das man sich nicht mehr erinnern könne, aber als bewahrungswürdig betrachte. Für Nora zählt das nationale Gedächtnis zu diesem Typus von Gedächtnis. Die dritte Periode sei die Postmoderne, in der ein Gedächtniszwang herrsche. Sich erinnern wird zur Pflicht, die dem Einzelnen und seiner jeweiligen Gruppe auferlegt wird. Jeder werde zum Historiker seiner Familie und anderer Gruppen, denen er angehöre. Hier gründe das Gedächtnis nicht auf etwas Erlebtem und auch nicht auf einer erstrebenswerten Gemeinschaft wie der Nation, sondern resultiere aus der Macht der Massenmedien, die Identitäten und Einstellungen propagieren, die nichts mit realen, geteilten Traditionen, erlebtem Alltag oder politischen Institutionen zu tun hätten und nur im Raum der Medien existierten . Nora kommt zu dem Schluss, dass so oft und viel von Gedächtnis gesprochen wird, weil es keins mehr gibt. Die intensive Thematisierung des Gedächtnisses ist also die direkte Konsequenz seiner NichtExistenz. So verlockend diese These auch ist, so ist sie doch allzu reduktionistisch und geht an der Komplexität des Phänomens Gedächtnis vorbei. In einer anderen Hinsicht ist sie eurozentrisch. Hier wird implizit der europäische Weg zur Moderne universalisiert und eine Teleologie der Geschichte postuliert, die inzwischen von vielen als problematisch erkannt wird. Der Eurozentrismus von Nora zeigt sich am deutlichsten in den folgenden Behauptungen: “An seine Rändern hat die Unabhängigkeit der neuen Nationen Gesellschaften in die Geschichtlichkeit hineingezogen, die schon der koloniale Gewaltakt aus ihrem ethnologischen Schlaf gerissen hatte und im Zuge der inneren Dekolonialisierung alle Ethnien, Gruppen, 2 Ebd. S.??? Familien mit starkem Gedächtnis- und schwachen Geschichtskapital. Es ist das Ende der Gedächtnisgesellschaften […]“3 . Der Historisierungsversuch Noras übernimmt weitgehend Postulate des evolutionistischen Denkens aus dem 19. Jahrhunderts und arbeitet implizit mit binären Oppositionen wie Gedächtnisgesellschaften – Geschichtlichen Gesellschaften, die er als unterschiedliche Stufen der menschlichen Entwicklung denkt. Die Opposition Gedächtnis-Geschichte, die er als zwei Modi des Umgangs mit der Vergangenheit betrachtet, wird zu einer absoluten Dichotomie und auf einer teleologisch ausgerichteten Achse als fixe Punkte platziert, durch die alle Gesellschaften gewollt oder ungewollt gehen müssen. Der deutsche Ägyptologe und Religionswissenschaftler Jan Assmann hat sich dagegen von dem evolutionistischen Paradigma befreit. Statt historisierend geht er typologisierend vor und identifiziert verschiedene Gedächtniskulturen, die nicht historisch verortet werden, sondern als unterschiedliche Modi des Umgangs mit dem Gedächtnis betrachtet werden, die zur selben Periode und sogar miteinander konkurrierend in derselben Gesellschaft bestehen können. Kategorien wie kalte und heiße Kulturen, die von Levi-Strauss entwickelt wurden, aber auch mündliche und schriftliche Kulturen befreit er von ihren evolutionistischen Bestimmungen und macht daraus brauchbare Begriffe bei der Bestimmung von konkurrierenden Optionen des kulturellen Gedächtnisses. 4 Die Beschäftigung mit dem Thema Gedächtnis kann also einerseits Denkschemata reproduzieren und bekräftigen , die im Prozess der europäischen Identitätskonstruktion entwickelt wurden und mitgeholfen haben, die besondere Stellung Europas als Telos der 3 Ebd., S.12 4 Vgl. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. C.H. Beck Verlag, München 2007 (1. Auflabe 1992), Ders., Der Begriff des kulturellen Gedächtnisses, in: Dreier/Euler(Hrsg), Kulturelles Gedächtnis im 21. Jahrhundert, Tagungsband des internationalen Symposiums am 23. April 2005, Karlsruhe, Universitätsverlag Karlsruhe 2005, S. 21-29. menschlichen Entwicklung zu denken, aber sie kann auch in die Dekonstruktion solcher Denkschemata münden. Ich halte es für besonders wichtig, von Afrika aus genau zu beobachten, wie mit diesem Thema umgegangen wird und welche Erkenntnisse dieser Umgang zu Tage fördert. Wenn man mit Aleida Assmann annimmt, dass das kulturelle Gedächtnis seinen anthropologischen Kern im Totengedächtnis hat, d.h. in der “Verpflichtung der Angehörigen, […] die Namen ihrer Toten im Gedächtnis zu behalten und gegebenenfalls der Nachwelt zu überliefern” 5, dann muss man in Afrika noch aufmerksamer werden, da dort gerade dies im Zentrum der geistigen Bemühungen steht und so viele Energie mobilisiert, ohne dass immer genau über die Notwendigkeit und die Konsequenzen solcher Bemühungen nachgedacht wird. Wäre es demnach nicht unerlässlich, gerade von hier aus der Frage nachzugehen, was es bedeutet und zu welchem Zweck man sich im Kontext der Globalisierung mit der Problematik des Gedächtnisses beschäftigt? Wie wird die 'geteilte Geschichte' einer durch globalisierende Bestrebungen und Projekte vernetzten Welt nacherlebt und erzählt? Wie wird eine koloniale Geschichte von den verschiedenen Subjekten und Objekten, Agenturen und Institutionen geschrieben? Welche Toten werden dabei mit welcher Erwartung geehrt? Aber es stellen sich noch weitere Fragen. Wie lässt sich eine Kontinuität nach Erfahrungen wie der Kolonialisierung und nach traumatischen Erlebnissen wie Bürgerkriegen und Genoziden denken? Welche Grenze wird zwischen dem Reich der Toten und dem der Lebendigen gezogen? Welche ethischen Imperative, welche Hoffnungen in Bezug auf die Gegenwart und die Zukunft kommen dabei zur Wirkung? In Europa und in Amerika geht man von ganz anderen Fragestellungen aus. Zentral bei der Beschäftigung mit dem Gedächtnis, vor allem in kulturwissenschaftlichen und literaturwissenschaftlichen Untersuchungen, ist dort 5 Aleida Assmann, Erinnerungsräume, Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. C.B. Beck Verlag, München 1999, S. 33. die Frage nach der Möglichkeit des Gedächtnisses eines Ereignisses wie der Shoah. Dies zeigt deutlich, wie ethische Erwägungen bei der Bestimmung der Gedächtnisobjekte eine wichtige Rolle spielen. Warum ist die Shoah als Forschungsobjekt so wichtig in Europa und Amerika? Es gibt verschiedene Gründe dafür. Eines der wichtigsten ist meines Erachtens die Tatsache, dass die Shoah immer noch so störend auf das Bild einwirkt, das Europäer und Amerikaner über sich selbst nach innen und nach außen propagieren. Dieses Ereignis nimmt eine so zentrale Rolle in der Beschäftigung mit dem Gedächtnis ein, weil es die Europäer vor grundlegende ethische und philosophische Fragen stellt, die nicht mit gewohnten Verfahren neutralisiert werden können. Deswegen stellt es einen so tief sitzenden Schock dar, dass seine Einbettung in eine kulturelle Kontinuität unmöglich ist. Diesbezüglich meint Andreas Langenohl Angesichts der Shoah wird es schwierig, sich auf klassisch-moderne Formen des Gedächtnisses, wie etwa das Nationalgedächtnis, zu beziehen. Stattdessen kommen Aporien von Erinnern und Gedächtnis zum Vorschein, die in der Dualität von Erinnern und Vergessen schon immer angelegt waren, nun jedoch eine Zuspitzung erfahren. Der Zivilisationsbruch Nazi-Deutschlands verstärkt zwar das Bewusstsein der Unmöglichkeit eines naiven Bezugs auf Tradition und verstärkt damit eine allgemeine Tendenz der Moderne, nämlich die Kontingentisierung von Kultur; doch ist Tradition damit keineswegs verabschiedet 6. Das Nachdenken über das Gedächtnis beschränkt sich aber nicht auf eine Verarbeitung dieses Ereignisses. Aufgrund seines inter- und multidisziplinären Ansatzes wirft es sehr unterschiedliche Fragen auf, von denen nur einige hier vorgestellt werden, die mir besonders spannend erscheinen. Zur Frage einer kausalen Beziehung zwischen Gegenwart und Vergangenheit. 6 Andreas Langenohl, Aleida und Jan Assmann, Kultur als Schrift und Gedächtnis, in: Stephan Moebius, Dirk Quadflieg (Hrsg), Kulturtheorien der Gegenwart, VS-Verlag, Wiesbaden 2010, S.541-556, das Zitat S. 550. In vielen Untersuchungen überwiegt ein konstruktivistischer Ansatz, wonach die Gegenwart die Vergangenheit produziere. Das Gedächtnis, aber auch die Geschichtsschreibung, werden als eine retrospektive Tätigkeit aufgefasst, die von dem epistemologischen aber auch einem ethischen und strategischen Horizont der Gegenwart aus eine Vergangenheit konstruiert, die erst durch das erzählende Subjekt Kohärenz und Kontinuität gewinnt7. Wenn manche Theoretiker wie Nora strikt zwischen einem subjektiven und emotional gefärbten Gedächtnis und einer professionell objektiv und wissenschaftlich rekonstruierenden Geschichtsschreibung unterscheiden, so wird diese strikte Dichotomie von den meisten Autoren verworfen. Was nun insbesondere das Gedächtnis betrifft, so geht es Hand in Hand mit dem Vergessen. Sich an manche Ereignisse und Personen zu erinnern bedeutet immer, andere zu vergessen. Die Vergangenheit gibt es also nicht als solche, sondern nur als erinnerte. Die Erinnerung gewinnt damit eine eminente Bedeutung, denn ihre Untersuchung ermöglicht es, herauszufinden, welche Traditionen sie strukturieren und bestimmen, aber auch welche Resistenzen und Revisionsversuche am Werk sind. Und wie viel Kreativität beteiligt ist. Aber auch die entgegengesetzte These ist, unterschwellig oder explizit, in manchen Ansätzen präsent. Diese These lautet: “Die Vergangenheit produziert die Gegenwart” Auch sie hat eine Tradition im europäischen Denken. Im Dialog 'Menon' lässt Platon Sokrates sagen, das Suchen und Lernen sei Wiedererinnerung 8. Sokrates bezieht sich dabei auf das Prinzip der Anamnese der Ideen, wonach die Erkenntnis in einer Wiedererinnerung an “Dinge” bestehe, die die Seele früher, in ihrer Präexistenz, schon einmal “geschaut und gewusst” habe. In dieser Perspektive 7 Vgl., Gerhard Rusch, Erkenntnis, Wissenschaft, Geschichte. Von [???] einem konstruktivistischen Standpunkt. Frankfurt am Main 1987; Siegfried J. Schmidt, Gedächtnis-Erzählen-Identität, in: Aleida Assmann, Dietrich Harth (Hrsg), Mnemosyne, Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt am Main 1991, S. 378-391. 8 Vgl. Platon, Hauptwerke, ausgewählt und eingeleitet von Wilhelm Nestle, Stuttgart 1941, S.59 geht Platon davon aus, dass die Erfahrung und vor allem das Wissen in der Gegenwart nur ein Wiedergewinnen dessen sind, was schon mal war. Die Gegenwart bleibt also in der Abhängigkeit der Vergangenheit. Auch Marcel Proust betrachtete das Schreiben nicht als Ort der Erfindung und der Phantasie, sondern als Erinnerungsarbeit. Durch die Analogie zwischen einem keltischen Mythos und dem Erinnerungsprozess versucht er sowohl den Modus als auch den Zweck der Erinnerung zu veranschaulichen. Nach diesem Mythos ist die Seele derjenigen, die wir verloren haben, gefangen in niedrigen Wesen, in Tieren oder in Pflanzen oder gar in unbelebten Gegenständen. Dadurch gehen sie für uns verloren, bis zu dem Tag, der für viele freilich nie kommt, an dem wir diesen Lebewesen oder den Objekten, die ihr Gefängnis sind, begegnen. Da freuen sich unsere Bekannten und rufen uns zu, und sobald wir sie wiedererkannt haben, endet ihr Gefangensein. Sie werden von uns befreit, überleben den Tod und kehren zurück, um mit uns zu leben. Der Schriftsteller hilft schreibend, das wieder zum Leben zu erwecken, was schon einmal da war 9. Für Proust besteht das Schreiben darin, das erinnerte Material, das bruchstückhaft und ungeordnet ins Bewusstsein zurückkehrt, zu einer harmonischen Totalität zu ordnen und damit 'wieder zu gewinnen’. Bei seiner ordnenden Tätigkeit wird das schreibende Subjekt gleichwohl durch eine Vergangenheit überwältigt, die sich ihm aufzwingt. Annahmen dieser Art werden in der Beschäftigung mit dem Gedächtnis von zwei verschiedenen Ansätzen weitergepflegt, von einem geschichtlichen und einem ontogenetischen. Der geschichtliche Ansatz verfährt kulturalistisch. In diesen Fällen geht man davon aus, dass in Individuen und Gruppen kulturelle oder ethnische Merkmale, die von Anfang an da waren, ihr Tun und Denken bestimmen. Menschen wiederholen also in der Gegenwart bewusst oder unbewusst, was ihre Ahnen in sie eingeschrieben haben. Das Gedächtnis ist in dieser Hinsicht die Erinnerung an einen Ursprung und steht in totaler Abhängigkeit von diesem. 9 S. 55 Vgl. Marcel Proust, Du côté de chez Swann, Gallimard Livre de poche, Paris 1954, Der ontogenetische Ansatz, der vor allem durch Freud beeinflusst ist, postuliert die Möglichkeit des Wiederauftauchens in der Gegenwart von vergangenen traumatischen Erfahrungen, die verdrängt wurden, aber im Unterbewusstsein weiterleben. Dieses Wiederauftauchen kann verschiedene negative und zerstörerische Formen annehmen, vor allem dann, wenn es unkontrolliert erfolgt und dadurch neurotische und psychotische Formen annehmen kann. Die Vergangenheit bemächtigt sich der Gegenwart und kontrolliert sie. Freud dachte bei seiner Theorie des Unbewussten vor allem an Individuen und ihre Erlebnisse. Aber in der Forschung über das Gedächtnis wird dieser Vorgang auf Gruppen erweitert, was nicht immer unproblematisch ist 10. Aber Leo Kreutzer zeigt, dass schon bei Freud ein Ansatz zur Anwendung seiner Kategorien auf Gruppen vorzufinden ist. Er verweist auf Einführung in die Psychoanalyse”, wo es jene Stelle in der “Vorlesung zur heißt : “Wenn ein ganzes Volk seine Wohnsitze verläßt, um neue aufzusuchen, wie es in früheren Perioden der Menschengeschichte oftmals geschah, so ist es gewiß nicht in seiner Vollzahl an den neuen Orte angekommen. Von anderen Verlusten abgesehen, muß es sich regelmäßig zugetragen haben, dass kleine Haufen oder Verbände der Wanderer unterwegs Halt machten und sich an diesen Stationen niederließen, während die Hauptmenge weiterzog”11. Mit dieser Analogie verdeutlicht Freud, so Kreutzer, den Vorgang einer Rückkehr des Individuums zu früheren Schichten seiner Libido-Entwicklung. Bei Freud heißt es nämlich weiter: “Denken Sie daran, wenn ein Volk in Bewegung starke Abteilungen an den Stationen seiner Wanderung zurückgelassen hat, so wird es den weiter Vorgerückten naheliegen, sich bis zu diesen Stationen 10 Vgl . Wulf Kansteiner, Finding meaning in Memory : A methodological critique of collective Memory Studies, in : History and Theory 41 (may 2002), Wesleyan University, S. 179-197. 11 Zit. nach : Leo Kreutzer, Literatur und Entwicklung. Studien zu einer Literatur der Ungleichzeitigkeit, Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1989, S. 11 zurückzuziehen, wenn sie geschlagen werden oder auf einen überstarken Feind stoßen. Sie werden aber auch um so eher in die Gefahr der Niederlage kommen, je mehr sie von ihrer Anzahl auf der Wanderung zurückgelassen haben. 12 Leo Kreutzer verkennt also nicht den individualgeschichtlichen Impetus Freuds, verweist aber darauf, dass der Verweis auf ein „Volk in Bewegung“ mehr als bloße Metapher und Verständnishilfe ist. Freud geht so vor, dass individualgeschichtliche Entwicklungen als Wiederholung einer Entwicklung der Gattung erscheinen. Es ist sicherlich möglich, so meine ich, diese Analogie nicht nur ontogenetisch oder phylogenetisch zu verstehen, sondern auch als Grundmuster der menschlichen geschichtlichen Erfahrung, zumal der von Freud „in früheren Perioden“ der Menschengeschichte angesiedelte Vorgang uns auch heute nicht nur in Afrika, sondern allgemein in einer globalisierten Welt, wo die Mobilität als charakteristisches Verhalten von Individuen und Gruppen gilt, sehr bekannt vorkommt. Diese Analogie kann mithin auch als Metapher für geistige und kulturelle Wandlungen verstanden werden. Dabei wird die ständige Verfügbarkeit von vergangenen historische Konstellationen betont, aber auch deren Funktion als Rückzugsstationen in Krisensituationen postuliert. Die Vergangenheit erscheint in dieser Hinsicht als reproduzierbare Alternative zu einer Gegenwart, die als problematisch erlebt wird. Bei vielen Überlegungen in Afrika sind solche Ansätze durchaus anzutreffen. Leo Kreutzer geht es freilich um etwas anderes, und zwar um ein Verständnis der Literatur “als 'Niederschriften', als Fixierung von durch den Geschichtsprozeß Verdrängtem und in der hochgefährdeten Situation wieder ins Spiel zu Bringendem“.13 Die Beschäftigung mit der Literatur erscheint ihm als eine kulturelle Tätigkeit, wodurch an jene Erfahrungen erinnert wird, die in der Literatur abgelagert wurden, aber inzwischen verschüttet und aus dem kulturellen 12 13 “ Zit. nach ebd. Ebd. S.13 Gedächtnis verschwunden sind, und dadurch andere Entwicklungsoptionen freilegen, die nicht erfolgreich waren, aber als Alternative zu einer problematischen, aus anderen Entwicklungsoptionen resultierenden, Gegenwart wieder sichtbar gemacht und 'ins Spiel gebracht' werden sollte Hier zeigt sich aber, dass die Vergangenheit nicht einfach der Gegenwart ihren Stempel aufdrückt, sondern einer hermeneutischen Vermittlung bedarf, die retrospektiv vorgeht, um die Vergangenheit in der Gegenwart produktiv werden zu lassen. Sich zu erinnern ist demzufolge nicht nur eine retrospektive, sondern auch eine produktive Tätigkeit. Bourdieu hat, so meine ich, am überzeugendsten erklärt, wie die Vergangenheit in der Gegenwart fortbesteht. Mit dem Begriff des Habitus hat er erfasst, wie die Vergangenheit durch Institutionen als leibgewordene Geschichte fortlebt. Die Forschungen von Jan Assman vermitteln zwischen dem konstruktivistischen und einem, wie dargestellt, die Vergangenheit privilegierenden Ansatz. Durch die Kategorie Kulturelles Gedächtnis vermag er sowohl die Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart als auch die Möglichkeit der Aktualisierung oder gar einer Kreativität des Gedächtnisses zu denken. Das kulturelle Gedächtnis wird durch Institutionen gepflegt und strebt nach einer ständigen Beeinflussung der Gegenwart durch die Vergangenheit, und zwar durch die Herstellung sowohl einer räumlichen als auch einer zeitlichen konnektiven Struktur, die Menschen in einem bestimmten Raum, aber auch Tote und Lebende in einem zeitlichen Kontinuum einschließt. Dieses Kontinuum wird nicht durch geheime magische Kräfte aufrecht erhalten, sondern durch Pflege und Erziehung, die eine Bindung zwischen den Generationen gewährleisten, und durch die Tradierung einer gemeinsamen Kultur. Dieser Ansatz hat sich als besonders wichtig erwiesen, um zu erklären, warum Gruppen über so lange Zeiträume bestehen konnten. Zur Frage nach den Funktionen des Gedächtnisses. hinweg Verschiedene Funktionen des Gedächtnisses werden identifiziert. Vor allem psychoanalytische Ansätze verstehen die kontrollierte Erinnerungsarbeit als einen therapeutischen Vorgang, sowohl bei Individuen als auch bei Gruppen. Durch diesen Vorgang werden traumatische Erfahrungen ins Bewusstsein gerufen und aufgearbeitet. In diesem Sinne haben Alexander und Margarete Mitscherlich argumentiert, indem sie die Unfähigkeit der Deutschen zu trauern, d.h. die Erfahrung aus dem dritten Reich nicht zu verdrängen, sondern aufzuarbeiten, in den 60er Jahren in einem einflussreichen Buch als ein großes Problem der Bundesrepublik identifizierten.14 Auf die ethische Funktion der Erinnerung wird vor allem in Bezug auf den Holocaust hingewiesen. Ob bei Ricœur, bei Derrida oder bei Harald Weinrich, alle Überlegungen zu der Frage des Vergessens und der Erinnerung münden in den Imperativ. “Auschwitz und kein Vergessen!” 15. Es wird also angenommen, dass es historische Geschehnisse gibt, die aus ethischen Gründen nicht vergessen werden dürfen. Gilt dieser Imperativ nur für den Holocaust oder könnte man annehmen, dass es für jedes kollektives Gedächtnis Ereignisse gibt, deren Erinnerung als Pflicht zu betrachten ist. Ricœur hat den Begriff “juste mémoire” 16 geprägt. Damit meint er ein lebendiges Gedächtnis, das eine subjektive Beziehung zur Vergangenheit unterhält. Ricoeur zufolge ist eine genaue methodologisch durchgeführte Erkenntnis der Vergangenheit notwendig, aber diese hat nicht allein zum Ziel, ein objektives und distanziert interesseloses Wissen zu schaffen. Sie zielt vielmehr darauf ab, eine intensive Beziehung zu dieser Vergangenheit herzustellen, um in der 14 Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern: Grundlagen kollektiven Verhaltens: Piper Verlag, München 1967 15 Harald Weinrich, Lethe, Kunst und Kritik des Vergessens. C.H. Beck Verlag, München 1999, S. 228: vgl. auch Paul Ricoeur, Devant l’inacceptable : le juge, l’historien, l’écrivain, in : Numéro 67 de Philosophie [???] ,Editions de Minuit, 2000 ; Jacques Derrida, Le siècle et le pardon, in :Le Monde des débats, Décembre 1999. 16 Paul Ricoeur, La Mémoire, l’Histoire , l’Oubli, Seuil, Paris 2000 Gegenwart eine Einstellung und ein Handlungsprinzip zu entwickeln, die gerechter wäre. Eine komplexe Aufgabe, in der auch die Art der Beziehung zum Tod und zu den Toten geklärt werden soll. Die Funktion des Gedächtnisses, die am intensivsten untersucht worden ist, ist die Identitätsstiftung. Vor allem Jan Assmann hat sich eingehend mit der Frage beschäftigt, „wie Gesellschaften erinnern, und wie Gesellschaften imaginieren, indem sie sich erinnern”.17 Und er kommt zu der folgenden Einsicht: “Der im kulturellen Gedächtnis gepflegte Wissensvorrat ist gekennzeichnet durch eine scharfe Grenze, die das Zugehörige vom Nichtzugehörigen, d.h. das Eigene vom Fremden trennt. Erwerb und Überlieferung des Wissens sind nicht von theoretischer Neugierde (Blumenberg) geleitet, sondern von “need for identity.“ 18 Damit übernimmt er eine Erkenntnis, die die Forschung über die Identität ermittelt hat. Diese Erkenntnis ist von Stuart Hall und anderen postkolonialen Theoretikern von verschiedenen Perspektiven aus dokumentiert worden. Erwerb und Tradierung eines Wissens über sich als Gruppe, welches das kulturelle Gedächtnis bestimmt, werden nicht aus reiner Neugierde und Erkenntnisdrang bewerkstelligt, sondern aus dem Willen heraus, die Besonderheit einer Gruppe gegenüber einer anderen Gruppe zu konstruieren. Die kulturelle Gedächtnisarbeit ist also eine Grenzarbeit, eine Arbeit, die Grenzen zieht und Differenz sichtbar macht. Insofern ist sie eine relationale Arbeit und kann nur dialektisch verstanden werden, nur als Konstruktion einer Alterität, die als Kontrastfolie zur Imagination und als erfolgreiche Durchsetzung des Selbstbildes, der Vorstellung vom Selbst fungiert. Das kulturelle Gedächtnis hat also eine Geschichte, und diese Geschichte ist die Geschichte der Abgrenzung von anderen Kulturen. 17 Vgl., Jan Assmann, Das kulturelle Gedächnis, op cit S. 18 18 Jan Assmann, Kollektives und Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Jan Assmann, Tonio Hölscher, Kultur und Gedächtnis. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1988, S. 9-19, das Zitat S. 13 Von Anfang an war die Beschäftigung mit dem Gedächtnis in Europa dank ihrer Interdisziplinarität nicht nur eine europäische Selbstspiegelung und damit nicht nur die Rekonstruktion von internen Genealogien, sondern z.B. bei jemandem wie Jan Assmann, der Ägyptologe ist, der Versuch einer universalen Typologie des Umgangs mit der Vergangenheit und einer Erarbeitung von Gesetzmäßigkeiten von Konstruktionen des Wissens über die Vergangenheit, das “im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht.“19 Diese Beschäftigung kann und soll verstärkt auch jene Momente untersuchen, wo sowohl das kommunikative als auch das kulturelle Gedächtnis unter Druck gerät, wo eine Kontinuität aufgrund von externen und internen Spannungen und Konflikten nicht mehr garantiert ist. Was geschieht in Situationen von existentiellen Herausforderungen, beim Eintreten von neuen Machtverhältnissen, wenn gewohnte Prozeduren der Stabilisierung und der Perpetuierung des kulturellen Gedächtnisses nicht mehr funktionieren? Damit meine ich nicht die retrospektive Eingliederung von Krisen als Fixpunkte in ein Kontinuum des kulturellen Gedächtnisses. Ich frage vielmehr nach solchen Erinnerungsmodi, die bei der Bewältigung von Krisen wie der gewaltsamen Eingliederung in eine neue Kosmologie, in eine neue Kosmogonie oder in eine neue Ökumene mobilisiert werden, wie dies bei verschiedenen Globalisierungsversuchen Afrikas durch den Islam, das Christentum und den Kolonialismus der Fall war. Auf solche Fragen wird in der kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Gedächtnis in Europa und Amerika so gut wie nicht eingegangen, wohl aber in postkolonialen Ansätzen. Beide Ansätze können sich gegenseitig befruchten, und dadurch Probleme von Herrschaft und Anerkennung, von Asymmetrie und Emanzipation in Bezug zur Gedächtnisarbeit und zu Gedächtnisinszenierungen untersuchen. 19 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächnis , op cit S. 9 Zur Frage der Formen von Gedächtnis Ich habe schon in Bezug auf Pierre Nora und Jan Assmann auf Versuche einer Typologisierung von Gedächtnis hingewiesen. Gerade in Bezug auf die Identifikation von Gedächtnisformen hat die Forschung viel geleistet. So wird unterschieden: nach dem Träger zwischen individuellem, kommunikativem und kulturellem Gedächtnis; nach dem Modus zwischen erlebtem und archiviertem Gedächtnis; nach dem Medien zwischen ritualisiertem, schriftlichem und elektronischem Gedächtnis; nach dem Ort seiner Einschreibung zwischen körpergeschichtlichem und externalistischem Gedächtnis; nach seiner Verfasstheit zwischen Latenz-, Funktions- und Speichergedächtnis; nach seinem Bezug zum Totengedenken zwischen Nachruhm und historischer Erinnerung; und schließlich nach seinem Zielzwischen ‘heißer’ und ‘kalter’ Erinnerung. Schlussbetrachtung Die verschiedenen unterschiedlich. Auch in Objektbereiche und Disziplinen konstruieren ihre Objekte sehr den Kulturwissenschaften bestehen unterschiedliche Richtungen. Aleida Assmann identifiziert in der Literaturwissenschaft zwei Grundausrichtungen, die auf zwei Traditionen gründen: Gedächtnis als ‘Ars’, d.h. als Speicherung, und Gedächtnis als ‘Vis’, d.h. als immanente Kraft, als Energie, die ein 'Ins-Gedächtnis-Rufen' erschwert, wie im Fall des Vergessens, oder die es blockiert, wie im Fall des Verdrängens; oder die es je nach Bedürfnislage oder Willen lenkt 20. Aber die Literaturwissenschaft kann, wie nicht zuletzt die Untersuchungen von Aleida Assmann zeigen. auch Objekte aus der Psychologie, der Soziologie oder der Geschichtswissenschaft in einen komplexen Ansatz integrieren. 20 Vgl. Aleida,Assmann, Erinnerungsräume, a.a.O. S. 27.