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Geschlecht Und Institution. Radikale Kritik Und "gender Trouble" - Judith Butler Und Luc Boltanskis Institutionentheorie.

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Goethe-Universität Frankfurt am Main Fachbereich 03 - Gesellschaftswissenschaften Veranstaltung: Einführung in die Soziologie der Kritik Dozent: Ronan Kaczynski Sommersemester 2016 Geschlecht und Institution Essay zum Erwerb des Leistungsscheins im Modul „Grundlagen der Sozialwissenschaften“ für den Studiengang Soziologie BA Hauptfach Vorgelegt von: Martin Ebendorff Verfasser: Studiengang: Fachsemester: Matrikelnummer: E-Mail: Anschrift: Martin Ebendorff Soziologie BA Hauptfach/Politikwissenschaft BA Nebenfach 04/02 5778272 [email protected] Marburger Straße 30, 60487 Frankfurt am Main Inhalt Einleitung ............................................................................................................................................... 3 1 Realität, Welt und Institution in Boltanskis Soziologie der Kritik .............................................. 4 2 Institution, Geschlecht und Kritik .................................................................................................. 8 3 Fazit und Ausblick.......................................................................................................................... 12 Literaturverzeichnis ............................................................................................................................ 14 Erklärung zur Prüfungsleistung ........................................................................................................ 15 2 Einleitung Was hat Geschlecht mit Institution zu tun? Auf den ersten Blick nicht viel und vor allem dann nicht, wenn man nach dem Wesen beider Kategorien fragt. In diesem Essay werde ich versuchen, Luc Boltanskis Institutionentheorie und Judith Butlers Konzeption von Geschlecht einander anzunähern, da sie über viele konzeptuelle Gemeinsamkeiten verfügen und sich teilweise wechselseitig aufeinander anwenden lassen. Dabei möchte ich folgende Frage beantworten: Wie verhält sich Butlers Konzeption von Geschlecht zu Boltanskis Institutionentheorie, und inwiefern ist Butler in der Lage, Boltanskis Projekt der Stärkung der Kritik zu stützen? Im ersten Abschnitt (1) werde ich Boltanskis Institutionentheorie erläutern. Dabei werde ich auf seine Differenzierung zwischen Realität und Welt eingehen, wobei erstere durch eine ritualisierte und performative Praxis von Institutionen (re)produziert wird. Ich werde auf die spezifischen Qualitäten dieser Realität eingehen und erläutern, wie sie stabilisiert wird und wie sie die soziale Ordnung selbst stabilisiert, wobei ich anschließend versuchen werde zu zeigen, dass es eine weitere Form von Realität – aufgefasst als semantische Textur über die Welt – gibt, welche sich in gewisser Weise auch ohne Institutionen zu instituieren vermag. Im zweiten Abschnitt (2) will ich zeigen, wie diese weitere Realitätsform – die Symbolform einer binär kodierten Geschlechtlichkeit – auch ohne Institutionen bzw. deren Sprecher eine enorme Wirkmächtigkeit erlangt, indem ich auf die Kontexte ihrer performativen Inszenierung und Reproduktion eingehen werde. Ich werde argumentieren, dass diese Realitätsform ihre Zähigkeit aus ihrer Unabhängigkeit von institutionellen Bestätigungsakten und den notwendigerweise mit ihnen verbundenen Widersprüchen ebenso gewinnt wie aus ihrer von naturwissenschaftlichen Diskursen gestützten Referenz auf (scheinbar) natürlich gegebene statt sozial konstruierte Tatsachen. Darauf aufbauend werde ich versuchen zu zeigen, dass eine solche Art von Realitätsform sozialkritischen Praxen nicht zugänglich ist, weil das Scheitern ihrer Inszenierung nur Individuen und keinen Kollektiven angelastet werden kann, wodurch sich die Kritik auf keine soziale Größe stützen kann, durch die sie sich selbst rechtfertigen könnte. Im Schlussteil (3) werde ich die bisherigen Ausführungen zusammenführen und versuchen zu zeigen, dass Butlers Konzeption von Geschlecht und die daraus abgeleiteten Praxen Boltanskis Projekt der Stärkung von Kritik unterstützen, indem sie (in ihren Auswirkungen) als Kompromiss zwischen Metakritik und Sozialkritik zu verstehen ist, worin die gesellschaftliche Relevanz dieser Arbeit liegen soll. Anschließend sollen weitere Forschungsansätze gegeben werden. 3 Die wissenschaftliche Relevanz dieser Arbeit soll darin liegen, dass die Parallelen zwischen beiden Autor*innen bisher kein Grund zu vergleichenden oder gar vermittelnden Ansätzen waren, die einer Synthese von pragmatischen und performativen Sozialtheorien ebenso dienen könnten sowie einer Synthese und wechselseitiger Stützung von soziologischen und philosophischen Theorien über die Produktion und Instandhaltung gesellschaftlich produzierter Bedeutungsökonomien. 1 Realität, Welt und Institution in Boltanskis Soziologie der Kritik Boltanskis Argumentation in Soziologie und Sozialkritik gründet auf der Unterscheidung zwischen Realität und Welt. Die Welt ist in Anlehnung an Wittgenstein „alles, was der Fall ist“ (Boltanski 2010: 92). Sie ist als „Hintergrund“ unserer Realität in ihrer Totalität nicht erfassbar und tritt immer dann hervor, wenn sich die Realität oder ihre Prognosen als falsch oder unzureichend herausstellen (ebd.: 93). Die Realität ist zumindest ihrem Anspruch nach als ein Abbild, vielmehr jedoch als eine modellhafte, sozial konstruierte Art Nachbildung der Welt zu betrachten. Doch während die Welt in einem permanenten Wandel ist, bleibt die Realität auf Stabilität ausgerichtet (ebd.). Sie inszeniert sich als die einzig wahr sein könnende Wirklichkeit und muss beständig durch Selbstwiederholung reproduziert werden, um Zweifeln oder Kritik an ihrer Wirklichkeit standhalten zu können, womit sie nicht nur sich selbst, sondern viele Formen von Handlungskoordination und sozialer Ordnung stabilisiert, indem sie als eine Art implizites, praktisches, als selbstverständlich geltendes Wissen deren axiomatische Grundlage darstellt. Die Selbstwiederholung bzw. Stabilisierung von Realität wird nach Boltanski – wie wir noch sehen werden – von Institutionen geleistet. Einzelne Individuen sind dazu nicht in der Lage, da sie aufgrund ihrer Körperlichkeit mit einem partikularen Standpunkt verhaftet sind und daher nicht über die erforderliche Autorität verfügen können, um zu sagen, „was es mit dem, was ist, auf sich hat“ (ebd.: 95, Hervorh. im Original). Boltanski konzeptualisiert das soziale Leben als grundsätzlich durchzogen von einer „radikalen Ungewissheit“ über das, „was wichtig, wertvoll, zu respektieren und besonders zu beachten ist“ (ebd.: 91); und diese Ungewissheit tritt eben dann zutage, wenn in einer sozialen Situation ein oder mehrere ihre Handlungen koordinierende Individuen aufhören, ihre Taten routiniert oder gewohnheitsmäßig zu vollziehen: Wenn sie nach Sinn, Zweckmäßigkeit oder der moralischen Richtigkeit einer Handlung oder ihres Kontextes fragen, eröffnen sie eine Kluft zwischen Realität und Welt. Das, was sie tun, erscheint plötzlich nicht mehr als selbstverständlich. Es entsteht 4 eine Differenz zwischen dem, was ist und wie es ist, und dem, was es sein könnte oder womöglich sein sollte. Zur Fortsetzung der Handlungskoordination und der Abwendung eines drohenden, potentiell gewalttätigen Konfliktes muss die Sicherheit über das, was es mit dem, was ist, auf sich hat, wiederhergestellt werden, und da einzelne Individuen nicht über die erforderliche Autorität verfügen, um zu sagen, was ist, müssen sie sich auf eine Regel berufen, die legitimer; sprich, allgemeingültiger ist als ihre eigenen partikularen, von Eigeninteressen durchzogenen Standpunkte (ebd.: 106f.). Eine solche Regel ist dann erfolgreich, wenn sie Symbolformen und Sachverhalte so in Beziehung setzt oder dem Verhältnis zwischen Realität und Welt eine solche Kohärenz verleiht, dass sie kritischen Interventionen oder Zweifeln an der Realität keine Angriffsfläche bietet in Form von Widersprüchen oder Unzulänglichkeiten. Qualifizierungen legen „die Beziehung fest, in der eine Symbolform einerseits mit dem Sachverhalt und den Rollen in einer typischen Situation und andererseits mit dem Sachverhalt und den Leistungen in einer okkurenten Situation verbunden werden kann“ (ebd.: 108, Hervorh. im Original). Doch sie setzen auch die konkrete Situation oder das betreffende Objekt mit anderen Objekten in Beziehung, was Voraussetzung der Zuschreibung von Werten ist, und sie weisen „auf Konsequenzen in der Realität hin“ (ebd.: 109, Hervorh. im Original), was „damit die Möglichkeit einer Unterscheidung zwischen korrektem und transgressivem Gebrauch [eröffnet, Anm. d. Verf.], und damit einer Sanktion“ (ebd.). Für Boltanski sind Qualifizierungen „deskriptiv und normativ zugleich“ (ebd.). Sie können John L. Austins Sprechakttheorie zufolge als illokutionärer Sprechakt aufgefasst werden, da sie im Augenblick der Beschreibung das Beschriebene selbst hervorbringen (Butler 1998: 11), indem sie soziale Normen oder sprachlichen Typen setzen und/oder bekräftigen. Ein Beispiel für einen qualifizierenden illokutionären Sprechakt ist der Schuldspruch einer Richterin. Indem sie den Schuldigen als solchen beschreibt, schafft sie ihn erst. Doch der Schuldspruch kann nur dann als legitim anerkannt werden, wenn er in einem ritualisierten Kontext (Gerichtsverhandlung) (ebd.) von einer Person gesprochen wird, die eine bestimmte soziale Rolle (Richterin) einnimmt; und nur so kann er eine „Kette von Effekten“ (ebd.: 31) auslösen, welche in diesem Fall die Vollstreckung des Urteils bedeuten. Doch die Richterin darf ihre Entscheidung nicht willkürlich treffen; gemäß der an sie gestellten Rollenerwartungen muss sie auf vorgefertigte und katalogisierte sprachliche Typen (Gesetze) zurückgreifen, unter welche Handlung wie Handlungskontext des Angeklagten subsumierbar sein müssen, damit ein Urteil gesprochen werden kann. 5 Um zu Boltanski und den Regeln zurückzukommen, die zur Abwendung von Konflikten erforderlich sind, so können diese nur von einem „körperlosen Wesen“ gesetzt werden, dass weder zeitlich, noch räumlich situiert ist (Boltanski 2010: 116, Hervorh. im Original). Folglich ist eine Institution „ein körperloses Wesen, dem die Aufgabe übertragen wurde, zu sagen, was es mit dem, was ist, auf sich hat“, und zwar, indem sie sagt und bestätigt, was bereits ist (ebd.: 117). Sie stabilisiert1 bestimmte Formen von Handlungskoordination oder die gesellschaftliche Ordnung an sich, indem sie in Anlehnung an bestimmte, mehr oder weniger verbindliche soziale Normen fest definierte Typen entwickelt, durch deren Brille die soziale Realität nun betrachtet, bewertet und (unter)geordnet wird; notfalls auch durch physische Gewalt.2 Diese von Institutionen erstellten und fixierten semantischen Typen (z.B. Gesetze) müssen bei Bedarf abrufbar sein (z.B. Gesetzbuch), damit konkrete Sachverhalte oder Situationen als einem Typus zugehörig qualifiziert werden können (ebd.). Institutionen sind in gewisser Weise zeitlos. Ihre Existenz(dauer) geht über die eines einzelnen Menschen hinaus, und ihre Typen, Klassifizierungen usw., oder kurz; ihre Realität, strebt nach einer Art Allgemeinheit, die räumlich und zeitlich über diejenigen Realitätsbereiche hinausgeht, in denen sich konkrete Personen in konkreten Situationen zu einer bestimmten Zeit fragen, was es mit dem, was ist, auf sich hat (ebd.). Nach Boltanski „kommt es den Institutionen zu, den Richtwert zu fixieren, und zwar besonders dann, wenn es um Objekte von hohem Wert geht, deren Prädikate durch Definitionen gefestigt werden müssen“ (ebd.: 119, Hervorh. im Original). Sie können (i)materielle Dinge an Personen oder Organisationen koppeln und sie nach bestimmten Eigenschaften definieren, klassifizieren und prüfen, womit sie diese Dinge verrechenbar machen, „was sie in Produkte oder Güter verwandelt und die Eröffnung von Märkten erlaubt“ (ebd.: 120, Hervorh. im Original). Institutionen greifen also in die Welt ein und verwandeln Kontinuitäten in klar definierte und abgrenzbare sprachliche wie ontologische Entitäten (ebd.: 121), womit sie der Welt eine semantische Textur verpassen. Als Beispiel einer solchen Operation nennt Boltanski „die Bestimmung des Zeitpunkts der Schwangerschaft […], von dem an die Abtreibung nicht mehr gesetzlich erlaubt ist“ (ebd.: 121), in der, wie sie auch erfolgen mag, Kontinuitäten in Diskontinuitäten verwandelt werden. Entweder bestimmt man, ab welchem Punkt der Entwicklung ein Fötus von einer „Sache“ zu einer „Person“ wird, welcher als Rechtssubjekt nun ein Recht auf Leben oder körperli- Die Stabilisierung ist von den Effekten der „Organisationen, die Koordinations-Funktionen haben“, zu unterscheiden. Diese koordinieren Handlungen, nachdem bereits eine Realität als axiomatische Grundlage dieser Handlungen instituiert wurde (Boltanski 2010: 124). 2 Diese Gewalt wird aber nicht von den Institutionen, sondern von den an sie gekoppelten „Verwaltungen“ mit „Polizei-Funktionen“ durchgesetzt (ebd.). 6 1 che Unversehrtheit zusteht, oder man bestimmt, ab welchem Entwicklungsstadium der Schwangerschaftsabbruch eine Gefahr für das Leben der Frau darstellt (ebd.). Diese Operationen können nach Boltanski aus zwei Perspektiven betrachtet werden. Einerseits und in Anlehnung an Bourdieu als Akte von symbolischer Gewalt, da sie mit einer gewissen Willkür in die Kontinuitäten der Welt eingreifen und diese so kodieren können, dass aus kleinen Differenzen klare Grenzen und drastische Konsequenzen für das Leben eines betroffenen Individuums erwachsen (ebd.: 122f), was z.B. dann passiert, wenn man keinen deutschen Pass und damit verbunden kein Wahlrecht bekommt, nur, weil man im Einbürgerungstest einen Fehler zu viel begangen hat. Durch diese grenzziehenden Operationen bestätigen Institutionen nicht bloß einen Wert; sie tragen dazu bei, „ihn allererst zu schaffen“ (ebd.: 123). Andererseits kann man diese institutionellen Operationen als Akte „semantischer Absicherung“ betrachten (ebd.), die vor allem abstrakte Wesen, „auf die man nicht zeigen und die man nicht berühren kann“ (ebd.), reidentifizierbar machen und damit ihren Fortbestand über die Zeit sichern. Damit es z.B. die Rolle einer Richterin oder das Gericht auch dann geben kann, wenn alle jetzigen Richterinnen gestorben sind, muss festgehalten werden, was es bedeutet und erfordert, eine Richterin zu sein oder werden zu können. Die Kriterien, die z.B. eine Richterin als eine solche auszeichnen, sind formell festgehalten. Sie besitzen eine hohe Verbindlichkeit und Legitimität, weil sie von anderen Institutionen des politischen Systems gesetzt wurden; und zwar auch als Folge eines dialogischen Prozesses zwischen der Kritik an ihnen und ihrer Bestätigung durch die Institution selbst. Indem diese Kriterien beständig vor vielerlei Kritiken ihren Willkürcharakter rechtfertigen und ihnen bisweilen sogar nachgeben müssen, werden ihre Rechtfertigungen verallgemeinert, was sie in immer mehr Kontexten nicht kritisierbar macht, wodurch sie an Verbindlichkeit und Legitimität gewinnen (ebd.: 126f.). Selbiges gilt auch für die Regeln (z.B. das Recht), die sagen, was es mit dem, was ist, auf sich hat. Zusammenfassend kann man vielleicht sagen, dass Institutionen für Boltanski in ihrer Funktion der semantischen Absicherung jegliche Formen von typischen Sachverhalten oder Situationen festlegen, worunter auch formell festgehaltene Rollenerwartungen fallen, die mit typischen Situationen verbunden sind, so z.B. die Rolle der Richterin mit der typischen Situation einer Gerichtssitzung. Damit stecken sie den „Handlungsspielraum“ für die unter ihrem Einfluss stehenden Individuen ab, so dass diese wissen können, was sie erwarten würde, wenn sie auf eine bestimmte Art und Weise handelten (ebd.: 134, Hervorh. im Original). Doch es gibt auch in- 7 formelle oder nicht institutionell gesetzte Rollenerwartungen oder Typen, deren zeitlicher Fortbestand ebenfalls von beträchtlicher Stabilität sein kann, was bei Geschlechtsnormen oder der Kategorie Geschlecht als ontologische Entität sichtbar wird. 2 Institution, Geschlecht und Kritik Die Kriterien, die z.B. eine Frau als solche erkennbar machen, müssen nicht formell festgehalten werden, um ihre gesellschaftliche Wirkung zu entfalten. In biologischen oder medizinischen Diskursen existieren zwar exakte und idealtypische Definitionen, was einen Mann oder eine Frau auszeichnet, doch in der Welt gibt es auch Wesen, die nicht diesen Idealtypen entsprechen und Merkmale von beiden in sich vereinigen können. Die Entscheidung, ob es sich um Mann oder Frau handelt, ist nicht immer klar zu treffen, und wenn es sich um intersexuell geborene Wesen handelt, die von ihren körperlichen Merkmalen her irgendwo im Kontinuum zwischen männlich und weiblich statt an seinen Rändern liegen, wird allzu oft die Welt der Realität angepasst, indem eine geschlechtsangleichende Operation die Kohärenz zwischen Symbolform und Sachverhalt wiederherzustellen sucht. Dass die (vermeintliche) Realität – Wesen könnten nur männlich oder weiblich sein – die Welt nur unzureichend abzubilden vermag und daher selbst einer Korrektur bedürfte, ist eine seltene Auffassung, deren Existenz an sich noch vor wenigen Jahrzehnten undenkbar schien. Akte der Gleichsetzung von Symbolform und Sachverhalt wie die einer geschlechtsangleichenden Operation beruhen auf einer Realitätsform, deren Symbolformen – die Typen männlich und weiblich – weder von den Akteuren in konkreten Situationen ausdiskutiert, noch vom körperlosen Wesen der Institution entschieden oder gesetzt wurden. Ärzte verfügen zwar in bestimmten Fällen über die Macht, Wesen als männlich oder weiblich zu qualifizieren (und damit zu produzieren), doch die Kategorien männlich/weiblich als ontologische Entitäten sind institutionellen Akten der Setzung eines Richtwertes oder eines anderen sprachlichen Typus vorgängig. Man wird zwar auf dem Personalausweis als eines bestimmten Geschlechtes zugehörig gesetzt, doch es ist kaum anzunehmen, dass dieser institutionell bestätigende Akt maßgeblich an der (Re-)Produktion dieser binär kodierten Kategorie beteiligt ist, welche doch in allen Kulturen von Bedeutung zu sein scheint.3 Ich will hier die These aufstellen, dass die Kategorie männlich/weiblich an sich und unabhängig 3 Hier ist mir keine Ausnahme bekannt, weshalb ich diese These auch ohne weitere Ausführungen oder Belege für Gültig erachte. 8 von ihrem zeitlich variierenden Inhalt im Gegensatz zu Kategorien wie z.B. deutsch/ausländisch nie Gegenstand politischer Kämpfe oder konkurrierender Rechtfertigungen gewesen ist, da sie nicht auf (sich oftmals ausschließende) Ideologien oder moralische Ideale verweist oder aus ihnen ableitbar wäre. Stattdessen verweist sie auf ein biologisches Kontinuum körperlicher Merkmale, die als ebenso unwandelbar wahrgenommen werden wie die mit ihnen verbundene Geschlechtsidentität. Die Kategorie männlich/weiblich erscheint auch deswegen als von der Natur determiniert und unveränderlich, weil ihre Essenz (bzw. der Schein einer solchen) durch einen biologisch-medizinischen, ja naturwissenschaftlichen Diskurs argumentativ untermauert wird, welcher gemeinhin als deskriptiv und nicht als normativ aufgeladen betrachtet wird: Man kann jemanden vielleicht vom Kommunismus überzeugen, aber sicher nicht zum Frau- oder Mann-Sein. Aufgrund ihrer Fundierung in naturwissenschaftlichen Diskursen, ihrer Referenz auf biologische statt auf gesellschaftliche Tatsachen und aufgrund ihrer Funktion eines zentralen Identitätsankers erscheint bzw. erschien die Kategorie Geschlecht als nicht diskutabel, als natürlich und notwendig, weswegen die Kritik sie nicht als einen willkürlichen Akt symbolischer Gewalt identifizieren konnte, welcher ein Kontinuum in eine binäre Logik presst. Mit welchem Narrativ hätte man auch seine Kritik stützen können, wo – wenn schon nicht „der gesunde Menschenverstand“ – Biologie und Medizin eine Art in Neutralität gekleidete Letztbegründung liefern? Wie hätte man als ein einzelnes, stigmatisiertes und sozial abweichendes Individuum den Bann der Realität brechen können? Boltanskis Institutionentheorie ist nicht in der Lage, die Existenz, Stabilisierung und Reproduktion solcher Realitätsformen zu erklären, deren Typen institutionellen Festlegungen vorgängig oder von ihnen unabhängig sind. Er koppelt die Existenz von Institutionen fest an die für ihn notwendige Möglichkeit ihrer Kritisierbarkeit (ebd.: 13, 131ff.), womit sich Institution und Kritik quasi einander bedingen und beständig herausfordern. Unter Kritik versteht er hier die „sozial verwurzelten und kontextabhängigen Formen der Kritik“ (ebd.: 24); und deswegen kann er diese Realitätsformen nicht in sein theoretisches Modell aufnehmen, da sie – so meine These – nur durch „metakritische Herrschaftstheorien“ aufgedeckt und somit von der Welt unterschieden werden können. Wenn diese Realitätsform nicht auf institutionelle Festlegungen angewiesen ist, kann sie den einer jeden Institution eingeschriebenen Widersprüchen entgehen, die im Zweifeln an der institutionellen Realität liegen, da man nie wissen kann, ob der Sprecher einer Institution wirklich die „Inkarnation“ des körperlosen Wesens ist, die er vorgibt zu sein, oder ob er insgeheim nicht doch seine eigenen partikularen Interessen verfolgt (ebd.: 132). Doch die Realität ist selbst dann 9 nicht sicher, wenn keine Zweifel an ihrem Sprecher bestehen. Sie strebt nach einer Totalisierung und Gültigkeit in allen Gesellschaftsbereichen, was ihr Boltanski zufolge zwangsläufig zum Verhängnis wird. Symbolformen und Sachverhalte sind im Ritual am ehesten deckungsgleich. Hier ist vorausschaubar, was auf welche Weise geschehen wird und warum, und die Teilnehmer synchronisieren ihre Aufmerksamkeit und ihre Handlungen, was der Situation einen selbstreferentiellen Charakter verleiht, da man sich ganz nach der Symbolform und denjenigen Teilnehmern richtet, die diese zu verkörpern versuchen (ebd.: 127f., 135f.). Doch wenn die Realität den Kontext ihrer Inszenierung überschreitet, schwindet ihre Fähigkeit, Einheit zwischen Symbolform und Sachverhalt zu wahren. Sie entfernt sich von den konkreten Situationen und lässt Raum für Interpretationen, da die auf ihren Bestätigungs- bzw. Inszenierungskontext zugeschnittenen sprachlichen „Stereotype“ (ebd.: 141, Hervorh. im Original) irgendwann „nichts anderes mehr besagen [können, Anm. d. Verf.] als sich selbst“ (ebd.: 142). Um die so entstandene Kluft zu den Individuen zu überbrücken, kann die Sprecherin einer Institution so tun, als ob die unklare oder fragliche Situation ihre Situation wäre, womit sie sich jedoch wieder verkörperlicht und dem Vorwurf des Vertretens partikularer Interessen aussetzt (ebd.). Beide Realitätsarten werden mittels performativer Inszenierungen (re)produziert. Bei einer „Wahrheitsprüfung“ bestätigen Institutionen die Realität analog zu den soeben genannten rituellen Inszenierungen, wobei es darauf ankommt sich auf eine Kohärenz zu beziehen, in der „jedes ihrer Elemente die ganze Bedeutung in sich erhält“ (ebd.: 157). Es wird nicht erklärt, warum etwas ist, wie es ist, sondern gezeigt, dass es mit anderen als wahr angenommenen Dingen irgendwie in Zusammenhang steht und deswegen selbst wahr ist bzw. sein soll. Eine Realitätsart wie die binär kodierte Geschlechtlichkeit wird nach Butler ebenfalls inszeniert, indem man sich in seinem Verhalten und seiner Identität an kulturellen Idealtypen ausrichtet und diese auf ritualisierte Weise zu verkörpern versucht: „Tatsächlich besteht die Norm nur in dem Ausmaß als Norm fort, in dem sie in der sozialen Praxis durchgespielt und durch die täglichen sozialen Rituale des körperlichen Lebens und in ihnen stets aufs Neue idealisiert und eingeführt wird. […] Sie wird durch ihre Verkörperungen (re)produziert, durch die Handlungen, die sich ihr anzunähern suchen, durch die Idealisierungen, die in und durch solche Handlungen reproduziert werden.“ (Butler 2009: 85) In unserer Kultur ist nach Butler ein Wesen dann eindeutig in seiner Geschlechtlichkeit zuzuordnen – wodurch es erst den Status als anerkennungswürdige Person erlangt – wenn seine Körpermerkmale, seine Geschlechtsidentität und sein Begehren gemäß bestimmter Normen kohärent sind; wenn also die Geschlechtsidentität zu den Körpermerkmalen passt und das Begehren heterosexuell ist (Butler 1991: 37ff.). Zur entsprechenden Geschlechtsidentität gehören bestimmte Charakterzüge, Verhaltensweisen oder Arten, sich zu kleiden, welche wir in der Regel 10 schon von klein auf zu l(i)eben lernen. Wenn man z.B. als „braves“ oder „liebes“ Mädchen bezeichnet wird („Anrufung“) und dann Anerkennung erfährt, wenn man mit dieser Fremdzuschreibung identisch ist und Sanktionen dann, wenn man (für ein Mädchen zu) frech wird oder im Dreck spielen will (was nur etwas für Jungs sei), dann („Umkehrung“) wird man sukzessive zu dem als der oder die man bezeichnet wurde (Butler 1998: 43, Hervorh. d. Verf.). Wie bei den institutionellen Akten der Qualifizierung von Sachverhalten sind auch hier Sprechakte für die (Re-)Produktion von Realität zentral, wobei es sich bei Anrufungen um perlokutionäre Sprechakte handelt, die ihre Wirkung nicht plötzlich, sondern erst über einen gewissen Zeitraum entfalten (ebd.: 11). Doch diese performativ-ritualisierten Inszenierungen von Realität können scheitern. Eine Wahrheitsprüfung scheitert, wenn sich Menschen oder auch technische Geräte nicht so verhalten, wie erwartet; wenn unvorhergesehene Ereignisse auftreten, die sich nicht in die Inszenierung einer vermeintlich kohärenten Realität integrieren lassen (Boltanski 2010: 157f.). Und da die Institution den Prüfungskontext kontrolliert, wird sie und ihre Realität von seiner Destabilisierung selbst bedroht. Die Inszenierung einer Realität wie Geschlecht scheitert dann, wenn das Wesen scheitert, sich in einem ausreichenden Umfang den Idealtypen von „Mann“ oder „Frau“ anzunähern, so dass es von seinen Mitmenschen als Person anerkannt werden kann. Dieses Scheitern ist jedoch ein persönliches; es gibt weder fiktive Kollektive, noch körperlose Wesen, auf die Bezug genommen oder an denen Kritik geübt werden könnte, um sich seines Status als Außenseiter oder als Abweichung zu entledigen. Das Wesen wird somit in gewisser Weise Opfer der „Realitätsprüfungen“ (ebd.: 158ff., Hervorh. im Original) seiner Mitmenschen, die es (Sachverhalt) beständig mit den Geschlechternormen (Symbolform) abgleichen und ihm bei Abweichung die Anerkennung verweigern, was hier mit Boltanski durchaus als Äquivalent zur Sozialkritik an institutionellen Realitäten aufzufassen ist. Der einzige Ausweg aus dieser Lage liegt in der Durchführung einer „existentiellen Prüfung“, in welcher nach Boltanski die Realitätsprüfungen und ihre Symbolformen selbst ausgehend von einer der Welt nahestehenden Außenperspektive einer radikalen Kritik unterzogen werden (ebd.: 160ff, Hervorh. im Original). Hier wird nicht die Unzulänglichkeit des Individuums kritisiert, sondern die Unzulänglichkeit der binär kodieren Kategorie Geschlecht in ihrer Fähigkeit, die Welt angemessen abzubilden. Doch damit es soweit kommen kann, muss die Kategorie Geschlecht zuerst als eine sozial konstruierte sichtbar gemacht werden, worin das besondere Verdienst der Arbeiten von Butler liegt. 11 Ihre Konzeption von Geschlecht kann nach Boltanskis Definition als eine metakritische Herrschaftstheorie aufgefasst werden, da sie sich „gleichzeitig als Macht-, Ausbeutungs- und Erkenntnistheorie“ präsentiert (ebd: 27, Hervorh. im Original): Sie verwirft die Annahme, dass Geschlecht eine natürliche Tatsache sei und konzeptualisiert es neu als eine regulierende, mit Herrschaftseffekten verschränkte Norm und zugleich als einen Prozess, der scheitern kann und muss, weil man einen Idealtypus niemals vollständig verkörpern kann und weil sein konkreter Inhalt einem beständigen gesellschaftlichen Wandel unterworfen ist, womit unsere Identität auch immer nur ein Werden ist und kein Sein (Villa 2012: 45). 3 Fazit und Ausblick Ich möchte die bisherigen Ausführungen in der These zusammenfassen, dass Butlers metakritische Herrschaftstheorie die Kategorie Geschlecht selbst (und nicht nur ihren Inhalt) eben jener Art von Diskursen, Auseinandersetzungen und Rechtfertigungen zugänglich gemacht hat, welche kontextabhängig entstehen und Elemente jener Praxen sind, die Boltanski als Sozialkritik beschreibt. Butlers Theorie ist also als ein Kompromiss zwischen Metakritik und Sozialkritik zu verstehen, der sich von anderen metakritischen Herrschaftstheorien dahingehend unterscheidet, dass er zwar Machtverhältnisse totalisiert und keine Möglichkeit eines Jenseits von ihnen gelten lässt4, aber dennoch konkrete Praxen der Veränderung aufzeigt, die an den Schnittstellen der Reproduktion von Macht liegen. Das Praktizieren von „Geschlechter-Verwirrung“ (Butler 1991: 61f), das Vorleben von gemäß den Symbolformen nicht vorlebbarem, z.B. in Travestie und Drag, vermag dabei die Kohärenz dieser Symbolformen bewusst aufzuweichen, die Voraussetzung einer eindeutigen Zuordnung zum Mann- oder Frau-Sein sind. Durch solche Praxen erzeugt man einen Einbruch der Welt in die Realität, was letztere zur Neukodierung und Rechtfertigung nötigt. Diese Rechtfertigung ist ohne ihre Essenz einer auf scheinbar natürliche, biologische Tatsachen verweisenden Letztbegründung immer zum Scheitern verurteilt, was sie nun dauerhaft der radikalen Kritik der Akteure zugänglich macht, ohne dass diese über Kenntnisse von Butlers Theorien oder den komplexen Machtverhältnissen der Geschlechternormen verfügen müssten. Butlers und Boltanskis Theorien arbeiten mit ähnlichen Konzepten, denen in künftigen Arbeiten weiter nachgespürt werden könnte, da aus Zeit- und Platzgründen nicht auf alle entsprechend detailliert eingegangen werden konnte. Butlers Konzept von Intelligibilität (Villa 2012: Vgl. hier das Regime der „Zwangsdiskursivität“ und der „Zwangsheterosexuellen Matrix“. (Butler 1998: 194, Butler 1991: 39) 12 4 20ff.), mittels welcher wir die Welt durch die Brille eines Rasters kulturell definierter ontologischer Entitäten wahrnehmen ist dabei ebenso erwähnenswert wie Boltanskis Konzept von Real&Welt, wo man aufgrund des Glaubens an die unbedingte Notwendigkeit der Realität das eigene Verhalten so sehr an ihr ausrichtet, dass sie wie eine selbsterfüllende Prophezeiung zur Welt verschmilzt (Boltanski 2010: 199ff.). Hier wäre der Bezug zu Geschlecht als Praxis sozialen Tuns vielversprechend, wobei zu prüfen wäre, ob Butlers Theorie der „Materialisierung“ des Geschlechts – welche sie in ihrem Buch „Körper von Gewicht“ entfaltet – durch Boltanskis Konzept von Real&Welt gestützt oder gar gestärkt werden könnte. Außerdem scheint es mir ebenso vielversprechend zu sein, eine Institutionentheorie zu entwickeln, welche die (Re-)Produktion beider in diesem Essay behandelten Realitätsformen in einem Rahmen zu erklären vermag; vielleicht ließe sich zwischen formellen und informellen Institutionen differenzieren, die mittels illokutionären bzw. perlokutiven Sprechakten operieren. 13 Literaturverzeichnis Boltanski, Luc (2010): Soziologie und Sozialkritik. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2008. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Butler, Judith (1998): Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Butler, Judith (2009): Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Villa, Paula-Irene (2012): Judith Butler. Eine Einführung. 2., überarbeitete Aufl. Frankfurt am Main: Campus. 14 Erklärung zur Prüfungsleistung Name, Vorname: Matrikelnummer: Studiengang: Ebendorff, Martin 5778272 Soziologie BA Hauptfach Die am FB03 gültige Definition von Plagiaten ist mir vertraut und verständlich: „Eine am FB03 eingereichte Arbeit wird als Plagiat identifiziert, wenn in ihr nachweislich fremdes geistiges Eigentum ohne Kennzeichnung verwendet wird und dadurch dessen Urheberschaft suggeriert oder behauptet wird. Das geistige Eigentum kann ganze Texte, Textteile, Formulierungen, Ideen, Argumente, Abbildungen, Tabellen oder Daten umfassen und muss als geistiges Eigentum der Urheberin/des Urhebers gekennzeichnet sein. Sofern eingereichte Arbeiten die Kennzeichnung vorsätzlich unterlassen, provozieren sie einen Irrtum bei denjenigen, welche die Arbeit bewerten und erfüllen somit den Tatbestand der Täuschung.“ Ich versichere hiermit, dass ich die eingereichte Arbeit mit dem Titel Geschlecht und Institution nach den Regeln guter wissenschaftlicher Praxis angefertigt habe. Alle Stellen, die wörtlich oder sinngemäß aus Veröffentlichungen oder aus anderen fremden Mitteilungen entnommen wurden, sind als solche kenntlich gemacht. Die vorliegende Arbeit ist von mir selbständig und ohne Benutzung anderer als der angegebenen Quellen und Hilfsmittel verfasst worden. Ebenfalls versichere ich, dass diese Arbeit noch in keinem anderen Modul oder Studiengang als Prüfungsleistung vorgelegt wurde. Mir ist bekannt, dass Plagiate auf Grundlage der Studien- und Prüfungsordnung im Prüfungsamt dokumentiert und vom Prüfungsausschuss sanktioniert werden. Diese Sanktionen können neben dem Nichtbestehen der Prüfungsleistung weitreichende Folgen bis hin zum Ausschluss von der Erbringung weiterer Prüfungsleistungen für mich haben. Frankfurt am Main, den 30.09.2016 15