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Lucius Burckhardt: Der Kleinstmögliche Eingriff

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Lucius Burckhardt: Der kleinstmögliche Eingriff Nina Gribat 1 Einführung: Querdenken mit Lucius Burckhardt Der Schweizer Soziologe Lucius Burckhardt war ein kritischer Grenzgänger, der über die gesamte zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts an den Schnittstellen von Design, Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung und von Akademie, Praxis und Aktivismus gewirkt hat. Seine Arbeit stellt auf äußerst zugängliche Art eine Reihe von Grundannahmen der verschiedenen Disziplinen und Praxisbereiche in Frage, die sich im weitesten Sinne mit der Gestaltung der menschlichen Le­ bensumwelt auseinander setzen. Ihm ist an der Auflösung der Gleichung gelegen, dass aus der Perspektive der gestaltenden Disziplinen auf jede gesellschaftliche Problemstellung mit einer baulichen Intervention geantwortet wird. Eine altern­ de Gesellschaft z. B. sollte nicht unbedingt zu Innovationen im Bau von Altershei­ men führen, stattdessen wäre es nützlicher, Alterung als gesellschaftliches System zu begreifen. Provokante Sätze, wie » Design ist unsichtbar « bringen Burckhardts Sicht auf den Punkt, sind aber begleitet von tieferen Reflexionen von Entschei­ dungsprozessen der Planung und Stadtpolitik, der Wahrnehmung von Stadt- und Landschaft, und einer Vielzahl an anderen Bezügen. Wie werden bestimmte Din­ ge zu einem » Issue « in der Planung, während andere Dinge in den Hintergrund treten ? Wie können durch eine neue Justierung der Stadt- und Landschaftsbilder in unseren Köpfen bauliche Interventionen verhindert werden ? Die Vielfalt der Arbeitsbereiche, in denen Lucius Burckhardt tätig war, zei­ gen sich in einem kurzen Abriss seines Lebenswegs: 1925 als jüngster Sohn einer Arztfamilien in Davos geboren, studierte Burckhardt nach einem abgebrochenen Medizinstudium Soziologie und Volkswirtschaftslehre (» Nationalökonomie «) in Basel. Er promovierte 1955 über die Rolle der Parteien bei der Gründung des ita­ lienischen Nationalstaates (siehe Burckhardt, 1959). Im selben Jahr heiratete er Annemarie Wackernagel, mit der er bis zu seinem Lebensende eng zusammen © Springer Fachmedien Wiesbaden 2017 F. Eckardt (Hrsg.), Schlüsselwerke der Stadtforschung, DOI 10.1007/978-3-658-10438-2_9 145 146 Nina Gribat arbeitete (siehe Mäder, 2014). Burckhardts universitäre Karriere hatte viele Sta­ tionen: Zunächst war er für einige Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Sozialforschungsstelle der Universität Münster in Dortmund tätig. Mit einer Gast­ dozentur an der Hochschule für Gestaltung in Ulm 1959 begann seine Tätigkeit im Umfeld von Design- und Architekturfakultäten. Zwischen 1961 und 1973 über­ nahm er mehrere Lehraufträge und Gastdozenturen für Soziologie an der Archi­ tekturabteilung der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich, unter anderem zwischen 1970 und 1973, zur experimentellen Phase der ETH. In dieser Zeit entwickelte er im Rahmen des sogenannten » Lehrcanapés « (anstatt -stuhls) neue Ansätze für die Bearbeitung von Architekturentwürfen. Anstatt dem » Entwurfsakademismus « zu folgen, wurde ein » problemorientierter Unterricht « eingeführt. Zur gleichen Zeit (1962 – 1972) arbeitete er als Chefredakteur der Ar­ chitekturzeitschrift » Werk «. Ab 1973 lehrte er als Professor für Sozioökonomie ur­ baner Systeme an der kurz zuvor gegründeten Gesamthochschule Kassel. Parallel zu dieser Tätigkeit war Burckhardt von 1976 – 1983 erster Vorsitzender des Deut­ schen Werkbundes, korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie für Stadt- und Landesplanung, Chevalier dans l’Ordre des Arts et des Lettres. An der Neuausrichtung der Architektur- und Stadtplanungslehre in Deutsch­ land war Burckhardt neben seiner Professur in Kassel mehrfach beteiligt: Er war 1987 bis 1989 Mitglied des Gründungsbeirates der Hochschule der Bildenden Künste Saar und von 1992 – 1994 Gründungsdekan der Fakultät Gestaltung der Bauhaus-Universität Weimar. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, z. B. mit dem Hessischen Kulturpreis für herausragende Leistungen in den Bereichen der Wissenschaft, Ökologie und Ästhetik, den er gemeinsam mit Annemarie Burck­ hardt 1994 erhielt; mit dem Bundespreis für Förderer des Designs (1995); und dem Design-Preis Schweiz (2001). Lucius Burckhardt starb 2003 in Basel. Trotz zahlreicher Veröffentlichungen – viele davon in Kooperation mit an­ deren Autoren, den Preisen und einem Engagement, das sich meist an aktuel­ len Stadtentwicklungsprozessen orientierte, ist die Arbeit von Lucius Burckhardt noch relativ wenig über die Dunstkreise der gestalterischen und planerischen Disziplinen und über den deutschen Sprachraum hinaus bekannt. Daran könn­ te sich durch die posthume, thematisch strukturierte Veröffentlichung seiner Tex­ te und die sukzessive Übersetzung in die englische Sprache, verschiedenen Sym­ posien zu seinem Werk, ausführlichen Radiobeiträge und Ausstellungsbeiträge zu seiner Arbeit (z. B. auf der Architekturbiennale 2014 in Venedig) langsam et­ was ändern. Inwieweit Burckhardts verschiedene Arbeiten sich je nahtlos in einen wissenschaftlichen Kanon der Stadtforschung einfügen werden, den er selbst weit­ gehend gemieden hat, bleibt abzuwarten. Durch seine Fähigkeit » selbst zerredete Themen originell anzugehen – und zwar in äußerster, in angelsächsischer Einfach­ heit « (Brock 1985: 10) und die immer noch hochaktuellen Fragestellungen, denen Lucius Burckhardt: Der kleinstmögliche Eingriff 147 sich seine Texte widmen, dürfte jedoch zumindest gesichert sein, dass die Ausein­ andersetzung mit Burckhardts Werk weiter zur kritischen Reflexion über Design, Stadt und Landschaft einlädt. Im Folgenden geht es hauptsächlich um den Text » Der kleinstmögliche Ein­ griff « (Burckhardt, 2013), einen ca. 150-seitigen Text, der einen Bogen spannt über die verschiedenen Themenbereiche, mit denen sich Burckhardt befasst hat. Zu­ nächst stelle ich den Text vor, setze ihn dann in Beziehung zum weiteren Werk Burckhardts bevor ich schließlich den Versuch unternehme eine Wirkungsge­ schichte seiner Arbeiten nachzuvollziehen. 2 » Der kleinstmögliche Eingriff « – eine Querschnittskritik Die Kritik an Stadtplanung ist eine der prominentesten Konstanten, die sich durch Lucius Burckhardts Werk zieht, angestoßen durch sein frühes Engagement gegen den autogerechten Umbau der Stadt Basel Ende der 1940er Jahre (Burckhardt/ Kutter, 1953; Burckhardt/Frisch/Kutter, 1955, 1956). Im Gegensatz zu vielen relativ kurzen und thematisch fokussierten Texten werden die verschiedenen Argumen­ tationsstränge von Burckhardts Planungskritik in » Der kleinstmögliche Eingriff « in monografischer Länge und integriert behandelt. Insgesamt ist dieser Text eines der wenigen Beispiele für eine längere Auseinandersetzung Burckhardts zu einem Thema. Dennoch basiert der Text auf einer Fülle teils eklektischer Beispiele und Bezüge, die hier nur in Grundzügen wiedergegeben werden können. Anstoß für das Nachdenken über den » kleinsten Eingriff « waren Besuche von Lucius und Annemarie Burckhardt in sizilianischen Belice, wo ein Erdbeben 1968 zu großen Verwüstungen geführt hat, was zu eine Reihe von maximalinvasi­ ven Planungsprojekten seitens der italienischen Regierung führte: dem Bau eines Auto­bahnanschlusses, dem Wiederaufbau eines Städtchens in autogerechter Form und anderen großmaßstäblichen Planungsprojekten. Im Gegensatz zu den maxi­ malen Eingriffen in Belice, eine Herangehensweise in der Planung, die dem Prin­ zip des Gesamtplans – der vollständigen Lösung aller vormaligen Verkehrs- und Wohnprobleme – verpflichtet ist, schlägt Burckhardt eine radikal andere Form der Planung vor, die weder anstrebt Planungsaufgaben ein für alle Mal noch möglichst umfassend zu lösen. Belice dient Burckhardt zwar als Extrembeispiel und Aufhän­ ger, durch die umfangreiche Darstellung der Vielgestalt anderer, durch Planung verursachte Missstände wird jedoch schnell klar, dass diese (teils unerwünschten und) negativen Nebenwirkungen der Planung weit verbreitet sind. Der kleinstmögliche Eingriff ist der Entwurf eines Ansatzes einer Art von Planung, die zum Ziel hat, möglichst wenige negative und unerwartete Konse­ quenzen zu produzieren und möglichst anpassbar zu bleiben gegenüber verän­ 148 Nina Gribat derter Bedingungen, Ziele und unvorhersehbaren Wendungen. » Der kleinstmög­ liche Eingriff « stellt eine klare normative Forderung gegenüber der Stadtplanung dar, ohne jedoch determinieren zu wollen, wie Planung genau auszusehen habe. Burckhardts Kritik an der Planung als Gesamtkonzeption – der Aufstellung und des Scheiterns von städtischen Gesamtplänen nach dem Prinzip der rationalen technokratischen Planung – ist vielgestaltig. Er analysiert die Beschränkungen und falschen Annahmen, die der rationalen technokratischen Planung und der ihr eigenen Abfolge von Zielfindung – Analyse – Planung – Ausführung – Kon­ trolle (ZASPAK) zugrunde liegen. Anhand zahlreicher Beispiele zeigt er, wie bei der Planung als Gesamtkonzeption das Scheitern vorprogrammiert ist. Die Planungskritik in » Der kleinstmögliche Eingriff « ist anhand dreier äußerst unterschiedlicher, jedoch miteinander verbundener Bereiche strukturiert: dem Bauwesen, der Planungspraxis und der Wahrnehmung von Landschafts- und Ortsbildern. Burckhardt bewegt sich in seiner Argumentation von einer Diagno­ se zur nächsten und verwendet eine Vielzahl von Beispielen und Bezügen. Aber trotz eines teilweise recht sprunghaften und assoziativen Aufbaus ergibt sich eine kohärente Kritik. Das liegt vermutlich an der kritischen Perspektive Burckhardts, die gängige Sichtweisen infrage stellt. Burckhardts systemischer Ansatz auf die uns umgebende Umwelt schließt die kritische Hinterfragung ihrer Produktions­ bedingungen und -prozesse ein. Leser_innen werden aufgefordert, die sie um­ gebende Umwelt mit neuen Augen zu betrachten und zu hinterfragen. Eingriffe in diese Umwelt, die ohne Einbeziehung ihrer Kontexte und Produktionsprozes­ se auskommen, greifen für Burckhardt zu kurz. Um zu zeigen, wie vielgestaltig Burckhardts Argumentation für den » kleinstmöglichen Eingriff « ist, stelle ich im Folgenden die drei analysierten Bereiche – Bauwesen, Planungspraxis und Land­ schafts- bzw. Ortsbild – getrennt dar: 2.1 Das Bauwesen Burckhardts Kritik setzt an der übermäßige Regulierung und Professionalisierung des Bauens und der Herausbildung des Bauwesens an, da es zu einer Zweckent­ fremdung des Bauens geführt habe: » Das Bauwesen ist ein Komplex, fast ein Lebewesen, ein Untersystem des großen Sys­ tems von Gesellschaft und Wirtschaft, und als solches mit einem Eigenleben ausgerüs­ tet. Mit einem Wachstumsimpuls, natürlich, aber das Wachstum hängt von äußeren Umständen ab. Gefährlicher noch ist das autonome Innenleben, das durch Inzucht zu Zuständen führt, wie sie niemand beabsichtigt haben kann, der noch die tatsächlichen Zwecke des Bauens im Auge hat. « (Burckhardt, 2013: 13) Lucius Burckhardt: Der kleinstmögliche Eingriff 149 Diese » Zustände « der Überregulierung und Professionalisierung verhindern laut Burckhardt experimentelle Herangehensweisen, das Erproben von Alternativen und somit dringend benötigte Innovationen und Veränderungen im Bereich des Bauens. Angesichts einer als so verfahren dargestellten Situation ist es wichtig, noch einmal genauer zu nachzuvollziehen, was genau Burckhardt unter dem » Bau­ wesen « versteht: » Das Bauwesen erfasst den engeren Bereich der Architektur, samt seinem Überbau, den Hochschulen, den Bauzeitschriften, den Ideologien der Architektenverbände […]. Das Bauwesen umfasst die gesamte Bauausführung mitsamt der Zulieferung durch das Baugewerbe, die Materiallieferanten und die verarbeitende Industrie. Es umfasst aber auch die Finanzierung, die Beleihung, den Grundstückshandel, die daran gehängte Bü­ rokratie und Rechtsprechung. Es umfasst nicht zuletzt große Teile des Staatswesens, das nicht nur als bei weitem größter Austraggeber auftritt, als intensiv verflochtene In­ stanz über eine Gesetz- und Normgebung, die in intensiver Kooperation zwischen der Bürokratie und den Berufsverbänden entsteht. « (Burckhardt, 2013: 14) Für Burckhardt hat die Verflechtung dieser verschiedenen Bereiche, die er unter dem Begriff des » Bauwesens « sammelt, eine Reihe von negativen Folgen, auf die er im Laufe verschiedener Argumentationsschleifen zurückkommt. Die übermä­ ßige Normierung, z. B. führe zur » vorzeitige[n] Alterung der Bauten […] Und da die Normen fortlaufen und verschärft werden, ist der jeweils gerade vor der Er­ neuerung der Normen erstellte Baubestand schon obsolet. « (Burckhardt, 2013: 68) Darüber hinaus sei durch die Ausformung des Bauwesens Bauen nichts mehr, an dem Bewohner_innen oder Nutzer_innen ohne weiteres teilnehmen kön­ nen. Burckhardt führt als Beispiel Klempnerarbeiten an, wie den Anschluss eines Waschbeckens, der zwar ohne große Vorkenntnisse selbst bewerkstelligt werden könne, was jedoch aufgrund der Bestimmungen und der dafür nötigen speziellen Werkzeuge nicht gestattet bzw. unmöglich sei. Einen anderen Aspekt zeigt er mit dem Beispiel der Elektrizität. Es sei nicht einsehbar, warum das gesamte Strom­ netz nicht in Niederspannung laufe (wie im Auto) und die Installation im Haus über Putz geführt würde, was den individuellen Umgang deutlich sicherer und die Reparatur einfacher mache. Ein Ergebnis dieser Prozesse sei die Verdummung: » Wir nennen das so entstandene System die Schein-Professionalisierung. Sie dient der Verdummung des Laien, die so weit getrieben werden soll, dass der einzelne Mieter nicht mehr beurteilen kann, ob ein Schaden noch reparabel ist oder nicht. « (Burckhardt, 2013: 79) Ein Nebeneffekt der Entwicklung des Bauwesens sei die Vermeidung von Um­ bau oder anderen Formen der Anpassung. Als Illustration dieser Hypothese zieht Burckhardt das Wohnungswesen hinzu, bei dem Fragen der Instandhaltung und 150 Nina Gribat des Umbaus oft vorkommen, sei es aufgrund sich verändernder Familienverhält­ nisse oder anderer Umstände. Burckhardt stellt die Entwicklung des Wohnungs­ baus im Kontext des Bauwesens als » Warenkorb Wohnung «, bestehend aus einem Paket von Waren, Dienstleistungen und Organisationen (Burckhardt, 2013: 75) ge­ genüber mit den Eigenbaupraktiken von Squatter_innen: » Die Lektion des Squatting1 an die Bewohner der hochindustrialisierten Welt lehrt uns die Rückkehr zu allmählich ausstattbaren Wohnungen. Eine Auflösung des festge­ schnürten Paketes der zur Wohnung gehörenden Güter erlaubt nicht nur eine allmäh­ liche Steigerung des Komfortes und damit eine Ausgabenpolitik der Familie, die dem Einkommen angepasst ist, sondern sie erlaubt auch die individuelle Wahl […]. [W]as zählt, ist […] die mit dem individuellen Einkauf verbundene Eigenleistung, die mögli­ che Zeitverschiebung und schließlich die Befriedigung bei der eigenen Wahl. « (Burck­ hardt, 2013: 75) Anstatt der Begründung des Pakets Wohnung durch die Bedürfnissen der Leute –  die » vermeintlichen Bedürfnisse «, deren Kritik Burckhardt ein ganzes Kapitel im Rahmen des Buches widmet – sei es wichtig, diese selbstverständlich erschei­ nenden Prozesse und Systeme zu hinterfragen und darauf hinzuarbeiten, sie zu auszuhebeln. Das Bauwesen erscheint als nur ein Beispiel für die vielen, meist un­ sichtbaren und unhinterfragten Systeme, denen Burckhardt seine Aufmerksam­ keit widmet. Für die Planungspraxis gilt der gleiche Ansatz. 2.2 Die Planung als Gesamtkonzeption Die Kritik an der Planung als Gesamtkonzeption gemäß des ZASPAK Prinzips (s. o.) ist Burckhardts Ausgangspunkt für die Entwicklung des kleinstmöglichen Eingriffs. Davon ausgehend, nimmt er sich verschiedene, damit verwandte The­ men und Probleme in der damals gegenwärtigen Planungspraxis vor. Zunächst betrifft dies die Frage der zeitlichen Dimension von Planungen, der Kurz- oder Langfristigkeit von Planungen, bzw. Kurzsichtigkeit oder Weitsichtigkeit der Pla­ ner_innen. Während die Kurzsichtigen den unmittelbaren Eingriff wählten, so be­ fassten sich die Weitsichtigen gemäß ZASPAK zunächst mit Zielfindung, Analyse, Synthese bevor sie Planen und Ausführen. Kennzeichnend für die Kurzsichtigen 1 Anmerkung der Autorin: Mit » Squatting « sind hier die vom Selbstbau gekennzeichneten Urbanisierungspraktiken von Bewohner_innen in informellen Gebieten stark wachsender Städte des globalen Südens gemeint. Lucius Burckhardt: Der kleinstmögliche Eingriff 151 war der Wiederaufbau der Städte nach dem Zweiten Weltkrieg, kennzeichnend für die Weitsichtigen der Stadtumbau zur autogerechten Stadt Ende der 1950er Jahre. Ihnen gemeinsam ist die Vorstellung von Planung als Garant der städtischen Har­ monie – einer Planung auf einen definierten Endzustand hin –, worin für Burck­ hardt der entscheidende Denkfehler liegt: » die harmonisch funktionierende Stadt [gibt es] überhaupt nicht […]. Die städtischen Zustände sind immer konfliktgeladen, und der Planer immer ein Schiedsrichter zwi­ schen mehreren nicht optimalen Zuständen. Selbst die geglückte Lösung, wenn es das gäbe, hätte nur ein temporäres Leben: sofort treten technische sowohl wie politische Veränderungen ein, die wiederum Konflikte auftreten lassen. « (Burckhardt, 2013: 30) Nach dieser Vorstellung löst die Planung weder in ihrer kurzfristigen, noch in ih­ rer langfristigen Ausformung ein und für allemal ein gesellschaftliches Problem. Planung ist nie fertig. Viel eher kann sie als ein wiederkehrender Prozess verstan­ den werden, der im besten Falle vorübergehend eine passende und nicht schäd­ liche Antwort gibt. Um in eine solche Richtung zu arbeiten, müsse der Zeit im Pla­ nungsprozess mehr Aufmerksamkeit zukommen und Entscheidungen so lange es ging, aufgeschoben werden – zum einen, um im Laufe der Zeit bessere Informa­ tionen zu bekommen und zum anderen, um jene noch am demokratischen Pro­ zess beteiligen zu können, die bei schnellerer Durchführung noch nicht stimmbe­ rechtigt gewesen wären. Darüber hinaus habe die Planung, so Burckhardt, ein Problem mit der Frage des Bestands. Stadtplaner_innen und Architekt_innen z. B. begründeten ihre Ein­ griffe damit, vorher sei nichts dagewesen, bzw. das vorher Dagewesene sei wertlos gewesen. Dieser Vorstellung tritt er entschieden entgegen: » der kleinste Eingriff [besteht] zunächst einmal darin, die vorhandene Situation ästhetisch zu verste­ hen « (Burckhardt, 2013: 149). Die Umwelt wahrnehmen zu können und dabei den Fokus nicht auf die sichtbaren Aspekte zu lenken, sondern auch unsichtbare Pro­ zesse zu beachten, die einen teilweise genauso starken Einfluss auf die Entstehung des Landschafts- oder Stadtbildes haben ist dabei das erste Ziel. Das zweite Ziel ist auf dieser Basis zu intervenieren – entsprechend des berühmten Burckhardt­ schen Grundsatzes » Design ist unsichtbar «. Die beste Art gesellschaftliche Pro­ bleme anzugehen, sei demnach durch Strategien und nicht durch die Planung von Bauten: » Übelstände entspringen gewöhnlich nicht einer einzigen Ursache, und deshalb ist auch die Bekämpfung durch eine einzige Maßnahme vermutlich nicht die geeignets­ te Form. Vielmehr bekämpft man sinnvollerweise Übelstände durch Strategien: Sol­ che sind Maßnahmenbündel in geeigneter Dosierung. […] Übelstände werden in der 152 Nina Gribat Praxis deshalb durch Baumaßnahmen bekämpft, weil Strategien unbeschließbar oder undurchführbar sind. […] Demgegenüber ist ein Bau in der Regel durchführbar. « (Burckhardt, 2013: 35 – 36). Burckhardt lehnt folglich auch Erfahrung oder Routine als Qualitäten von Pla­ ner_innen ab. Sie suggerierten zu sehr, dass planerisches Vorgehen von einem auf den anderen Fall übertragbar sei: » vielmehr müsste die Vermittlung von Erfah­ rung darin bestehen, zu zeigen, wie man sich in einem besonderen Fall Informa­ tionen beschafft, die es einem ermöglicht, sich genau dieser Situation angemessen zu verhalten. « (Burckhardt, 2013: 157) Als Gegenmittel gegen zu einfache Trans­ fers und für angemesseneres Verhalten setzt Burckhardt die Wahrnehmung der Umwelt, sei es die Landschaft, der Ort oder die Stadt. 2.3 Landschafts- und Ortsbilder Die Bilder der Landschaft oder des Ortes, die unsere Wahrnehmung der Um­ welt beeinflussen sind bei Burckhardt weder statisch noch eindimensional. Land­ schafts- und Ortsbilder sind produziert und können sich verändern. » Die Landschaft ist ein Konstrukt, nämlich ein Gebilde in unseren Gehirnen, welches es uns ermöglicht, die zahllosen Eindrücke der Umwelt durch Ausfilterung wahrnehm­ bar zu machen. Und zwar ist es ein Konstrukt von in Städten lebenden Bevölkerungen. Unsere vom Lande lebenden Vorfahren haben ihre Eindrücke zweifellos anders gefil­ tert: sie sahen Beeren und Pilze, jagbare Tiere […] Landschaft also ist das Bild der Um­ welt › ohne Interesse ‹. « (Burckhardt, 2013: 130 – 1) Burckhardt beschäftigt sich im » kleinstmöglichen Eingriff « mit den Prozessen, die zu bestimmten Landschaften geführt haben, z. B. die Alpenwiese, die ohne die Bewirtschaftung durch die Milchbauern, die ihre Kühe draußen grasen lassen nicht so schön blühen würde; oder der Entstehung englischer Landschaftsgärten im 18. Jahrhundert, die genutzte Landschaften abbilden, ohne jegliches wirtschaft­ liches Interesse – das Geld der Inhaber wurde auch schon damals in der Stadt ver­ dient. Aus diesen Beobachtungen entwickelt Burckhardt eine Reihe von Fragen, wie Landschaft zu schützen sei, wenn sie doch nur in unserem Kopf existiere ? Wie Landschaft noch bewirtschaftet werden könne, um das gewünschte Bild zu erhal­ ten ? Und was letztlich an der Landschaft überhaupt schön sei ? Burckhardts Über­ legungen zum Ortsbild sind ganz ähnlich. Auch hier weist er auf die Existenz unterschiedlicher Bilder der Bauern und der Städter hin und auf den Zusammen­ hang der Wirtschafts-, Lebens- und Nutzungsweisen, die diese Orte einmal haben Lucius Burckhardt: Der kleinstmögliche Eingriff 153 entstehen lassen. Für die Frage der Erhaltung des Ortsbildes stelle sich somit auch die Frage, wessen Ortsbild denn nun erhalten werden solle und für wen ? Diese Fragen könnten eine nostalgische Sicht auf » die gute alte Zeit « freige­ ben. Diesem Rückgriff verwehrt sich Burchardt jedoch. Vielmehr plädiert er für die Anerkennung der sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen und lehnt es ab Spuren alter Nutzung künstlich aufrecht zu erhalten. Noch mehr jedoch wehrt er sich gegen standardisierte Interventionen, die an vielen Orten durchgeführt werden, um ein liebliches und aufgeräumtes Ortsbild zu erhalten, sei es die Pflas­ terung der öffentlichen Flächen mit demselben Betonstein, sei es die Bepflanzung allerorten mit Begonien. Anstatt dessen solle an jedem Ort nach angemessenen, der Spezifizität des Ortes gerecht werdende Interventionen gefunden werden – der dort » kleinstmögliche Eingriff «. Manchmal liegt dieser auch nur in einer Ver­ änderung der Wahrnehmung, denn alternative Landschafts- und Ortsbilder ha­ ben andere Interventionsformen zur Folge: » Eine erste Stufe des kleinsten Eingriffs könnte also darin bestehen, das Vorhandensein einer Landschaft oder einer städtischen Situation in die Wahrnehmung des Betrachters einzuführen oder eine vorhandene Wahrnehmung zu stärken. […] Einen Schritt wei­ ter würde der kleinste Eingriff gehen, wenn er die Bereitschaft zur Wahrnehmung nicht nur wecken, sondern verändern würde. Wir nennen eine Reihe von Beispielen heutiger Künstler oder Landschaftsgestalter, die nicht durch Eingriffe in die Landschaft, son­ dern vermittels Eingriffen in die Vorstellung des Betrachters die Bedeutung der vor­ handenen Landschaft verändern. Der kleinste Eingriff wäre in diesem Fall das Setzen eines Zeichens oder Signals. « (Burckhardt, 2013: 151 – 2) Ein Beispiel sei das oft aufgestellte Schild » Naturschutz «, dessen Folge sei: » der Baum, die blühende Pflanze, der kreisende Raubvogel werden plötzlich unter dem Blickwinkel ihrer Schönheit, Schutzwürdigkeit und Natürlichkeit wahrgenom­ men. « (Burckhardt, 2013: 152) 2.4 Systemische Sichtweisen auf Prozesse des Bauens, des Planen und der Landschaft Der kleinstmögliche Eingriff ist ein Plädoyer für das Aufschieben, das Abwarten und das Zurücknehmen von planerischen Interventionen, vor allem von bauli­ chen Interventionen – es scheint, je kleiner und später, desto besser, am besten jedoch gar nicht. Und dennoch: Burckhardt belässt es nicht bei einer einfachen Verhinderungstaktik. Vielmehr geht es ihm um das umfassende Verstehen und Hinterfragen der komplexen Produktionsprozesse von Stadt, Ort und Landschaft 154 Nina Gribat und die Entwicklung neuer und möglichst minimalinvasiver Interventionsformen. Diese können sowohl ansetzen, die Wahrnehmung der Umwelt zu ändern, oder auf verschiedenste Arten in die Prozesse Eingreifen. Der kleinstmögliche Eingriff ist damit nicht von einem Konservatismus geprägt (Alles soll am besten so blei­ ben wie es ist !) sondern von dem Wissen, dass es wirkliche Alternativen zu den gegenwärtigen Missständen gibt, sie sich jedoch nicht durch grob vereinfachende planerisch-bauliche Eingriffe lösen lassen. Burckhardt nähert sich seinen Unter­ suchungsgegenständen mit einer systemischen Denkweise – sei es das Bauwesen, die Planung oder die Landschaft. Wie werden diese Phänomene zu dem, wie wir sie heute vor uns haben ? Wie kommen dabei sichtbare und unsichtbare Aspekte zusammen ? Welche Untersysteme, wie z. B. die Wohnung als Paket, oder das Ver­ kehrssystem, lassen sich identifizieren ? Ist dies ein Hinweis, dass Burckhardt ein impliziter Systemtheoretiker war ? 3 » Der kleinstmögliche Eingriff « im Verhältnis zum Gesamtwerk Lucius Burckhardts Das Werk von Lucius Burckhardt ist verteilt über zahlreiche Publikationen in ver­ schiedenen Zeitschriften, Lehrdokumentationen und öffentlich zugänglichen, je­ doch zeitlich vergängliche Formate, wie z. B. Ausstellungsbeiträgen. Es gibt nur relativ wenige längere Texte, die schon zu Lebzeiten Burckhardts in Form von Bü­ chern erschienen (z. B. Burckhardt, Frisch, Kutter, 1955, 1956). Der hier ausgewähl­ te Text » Der kleinstmögliche Eingriff « ist keine Ausnahme: Lucius Burckhardt schrieb das Manuskript zwischen 1979 und 1981, veröffentlichte es aber nie in gan­ zer Länge. Gekürzte Fassungen erschienen in verschiedenen Zeitschriften. In vol­ ler Länge ist der Text erst 2013 auf die Initiative von Markus Ritter und Martin Schmitz, den Herausgebern des gleichnamigen Buches im Martin Schmitz Verlag erschienen (Burckhardt 2013). » Der kleinstmögliche Eingriff « behandelt eine Schnittmenge so gut wie al­ ler Themen, mit denen sich Burckhardt im Laufe bis zu dieser Zeit immer wieder auseinander gesetzt hat. Er war ein leidenschaftlicher Kritiker der NachkriegsStadtplanung und Stadtentwicklung und kämpfte für ein erweitertes Verständnis der gebauten und nicht-gebauten Umwelt und für ein Verständnis von Planung, das über das Bauen hinausgeht. Darüber hinaus beschäftigte sich Burckhardt früh mit Themen wie der Partizipation (z. B. Burckhardt/Förderer, 1968); dem Selbst­ bau (Andritzky/Burckhardt/Hoffmann, 1981); den Fragen des guten Designs bzw. der guten Form (z. B. Burckhardt, 1978); und der universitären Ausbildung (z. B. Burckhardt, 1995, 2012; Blumenthal, 2010). So disparat die Themen auch schei­ nen, Burckhardts systemischer Ansatz (stets unter Einbeziehung sichtbarer und Lucius Burckhardt: Der kleinstmögliche Eingriff 155 unsichtbarer Aspekte) und seine kritische Haltung ziehen sich als eine Konstan­ te durch sein Werk. Im Laufe der 1980er Jahre – und damit im Anschluss an das Verfassen des » kleinstmöglichen Eingriffs « – entwickelte Burckhardt die » Spaziergangswissen­ schaften « bzw. die » Promenadologie « (Englisch: » Strollology «). Diese neue Me­ thode zum Erfassen der Umwelt baut auf einigen Gedanken zum Landschafts- und Ortsbild auf, die im hier hauptsächlich diskutierten Text nur am Rande vorkom­ men. Das Ziel der Promenadologie ist es, die Wahrnehmung der Umwelt zu er­ weitern – d. h. zum einen die Mechanismen der Wahrnehmung zu hinterfragen und neue Lesarten hinzuzufügen. Sie bedient sich sowohl wissenschaftlicher als auch künstlerischer Methoden: kulturgeschichtliche Analysen, etwa zu verschie­ denen Formen der Wahrnehmung der Umwelt, werden mit experimentellen Prak­ tiken zur Erfassung der Umwelt, meist verbunden mit einem Spaziergang und mit künstlerischen Interventionen vor Ort kombiniert (Burckhardt, 2006; Weisshaar 1995, 2013). In der sehr bekannten » Fahrt nach Tahiti «, die Lucius und Annemarie mit Stu­ denten der Gesamthochschule Kassel unternahmen führte der Spaziergang über einen ehemaligen Truppenübungsplatz in der Nähe Kassels, anlässlich der docu­ menta 8 im Jahr 1987. Ein Schauspieler las an verschiedenen Stationen Auszüge aus Georg Forsters Reisetagebuch, der 1773 mit Captain Cook auf Tahiti war. Teilneh­ mer berichteten, dass die Schilderungen des Inselparadieses auch auf dem Trup­ penübungsplatz zu sehen waren (Burckhardt, 2006: 242 – 244). Die » Fahrt nach Tahiti « wurde an einem weiteren Ort in Mailand noch einmal aufgeführt. Zahl­ reiche weitere Spaziergänge folgten, u. a. der » Autofahrerspaziergang « durch Kas­ sel, bei dem alle Teilnehmer_innen Windschutzscheiben von Autos trugen, um die Beschränkung der Sicht besser nachvollziehen zu können; oder » Das ZEBRA­ streifen «, ein Spaziergang anlässlich Burckhardts Emeritierung in Kassel, bei dem alle Teilnehmer mittels eines tragbaren zebragestreiften Teppichs an beliebigen Stellen die Straße überqueren konnten. In seinen Texten operiert Burckhardt vorwiegend essayistisch und bewegt sich dabei manchmal an der Grenze zur Polemik. Er verarbeitet eine Vielzahl an Bezü­ gen, sei es zu den Thesen verschiedener Wissenschaftlern, oder eigene Beobach­ tungen und Vermutungen. Burckhardt bedient akademische Konventionen nicht. Wenn er Bezüge zu Werken anderer herstellt, dann in einer fast anekdotischen Weise. Künstlerische Mittel und die experimentelle Herangehensweise nehmen in Burckhardts Arbeiten eine herausragende Rolle ein – dies wird zum einen deut­ lich bei den Spaziergangswissenschaften: » Bestimmte Perspektiven kann man wohl nur durch Kunst vermitteln, da die Be­ schränkung des Blickes heute so weit verbreitet ist, dass die Leute kaum mehr die Di­ 156 Nina Gribat stanz haben, sie aufzuheben. Das kann nur die Kunst vermitteln, ohne belehrend oder verletzend zu sein. Mit unseren Spaziergängen schalten wir die Angst vor dem Unge­ wohnten aus. Und außerdem macht es Spaß. « (Burckhardt, 2006: 8) Die Installationen und performativen Ereignisse, die hauptsächlich in den 1980er und 90er Jahren in Verbindung mit der Entwicklung der » Spaziergangswissen­ schaft « entstanden, zielen darauf ab, dass die Teilnehmenden sich unmittelbar mit den Landschaftsbildern, die sie kennen und die ihre Sicht auf die Umwelt prä­ gen, auseinandersetzen und so zu einer erweiterten Sicht auf die Umwelt kommen können. Zum anderen wird die Wichtigkeit künstlerischer Mittel bei einer Be­ trachtung von Burckhardts zeichnerischen und malerischen Werks deutlich: Die Zeichnungen und Aquarelle illustrieren die Themen der Texte auf oft humorvol­ le Weise (Stippl, 2014). Eine Comiczeichnung z. B. kritisiert den weiteren Ausbau des Straßennetzes. Ein Planer steht vor einem Plan, auf dem ein Kleeblatt-Auto­ bahnanschluss abrupt in eine verschlungene und viel schmalere Straße übergeht. Der Planer zeigt mit einem Stock auf den Übergang und sagt: » Und dieser Teil der Gesamtkonzeption soll bewirken, dass die Leute die Notwendigkeit der Auto­ bahn verstehen. « (Abbildung in: Mäder, 2014: 145). Angesichts dieser ungewöhn­ lichen Vermengung von Herangehensweisen und Ausdrucksmitteln stellt sich umso mehr die Frage, wie die Arbeiten von Burckhardt rezipiert wurden, wie sie gewirkt haben. 4 Planungskritik und Promenadologie – über die Wirkungsgeschichte(n) und -zusammenhänge der Arbeiten von Lucius Burckhardt Die Arbeiten von Lucius Burckhardt haben in verschiedenen Bereichen gewirkt, zum einen direkt auf eine Vielzahl Studierender, die ihn in der Lehre erlebt haben (siehe Mäder 2014); zum anderen auf und durch eine Reihe von Personen, mit de­ nen er zumindest zeitweise zusammen arbeitete bzw. auf deren Arbeit er sich be­ zog. Über die Identifikation einiger dieser Kollaborateure lässt sich etwas über die Wirkungsgeschichte bzw. die – zusammenhänge der Arbeiten Lucius Burckhardts sagen. Die vielleicht gängigere Methode, nachzuvollziehen, wie er in welchem Kontext die Ideen von Burckhardt aufgegriffen hat (Zitationen nachvollziehend) führt bei Burckhardt relativ schnell ins Leere. Lediglich die » Promenadologie « wurde relativ breit aufgegriffen und scheint als eigenständige Methode die Wahr­ nehmung der Umwelt zu erweitern und eine gewisse Bekanntheit erlangt zu ha­ ben (siehe Weisshaar 1995, 2013). Eine breite Rezeption von Lucius Burckhardt in der Stadt- und Planungsforschung steht jedoch noch aus, trotz der erhöhten Lucius Burckhardt: Der kleinstmögliche Eingriff 157 Aufmerksamkeit durch die posthume Veröffentlichung diverser Sammelbände und die Durchführung verschiedener Veranstaltungen. Dass die planungs- und stadtentwicklungskritischen Arbeiten Burckhardts weitaus weniger bekannt sind als die Promenadologie mag unter anderem auch daran liegen, dass Burckhardts Werk sich der einfachen Einordnung verschließt: zu breit sind die Themen gefä­ chert, mit denen er sich fortlaufend beschäftigte, zu eklektisch die Bezugspunkte – sowohl in disziplinärer Hinsicht, als auch im Hinblick auf die Frage von Theorie und Praxis bzw. Analyse und Intervention. Die Arbeit von Lucius Burckhardt ist eng verknüpft mit einer Reihe von ähn­ lich denkenden Personen. Diesen Bezügen möchte ich nun anhand ausgewählter Beispiele und anstatt einer klassischen Wirkungsgeschichte nachgehen, da sie für die Verortung von Burckhardts Werk klarere Hinweise liefert. ■■ Mit dem Schweizer Jugendfreund, Historiker und Werber Markus Kutter (1925 – 2005) und dem Schweizer Schriftsteller und Architekten Max Frisch (1911 – 1991) entstanden die beiden frühesten Kritiken Burckhardts zum Pla­ nungsgeschehen in der Schweiz. Später zerstritten sie sich wegen eines Bau­ projekts in Basel (Sutter, 2014). ■■ Mit dem deutschen Planungs- und Designtheoretiker Horst Rittel (1930 – 1990) entwickelte Burckhardt die Idee, dass Planungsprobleme » bösartig « seien (sie­ he auch: Rittel und Webber, 1973) – im Gegensatz zu naturwissenschaftlichen Problemen, die lösbar seien. Rittel holte Burckhardt Ende der 1950er Jahre an die Hochschule für Gestaltung (HfG) in Ulm, wo sie einige Jahr zusammen ar­ beiteten. Bis an Rittels Lebensende blieben beide freundschaftlich verbunden. ■■ Mit den Architekten Rolf Gutmann und Rainer Senn entwickelte er zwischen 1970 und 1973 an der ETH Zürich das alternative Lehrformat » Lehrcanapé «, in dem soziologische und architektonische Ansätze im problemorientierten Un­ terricht zusammen kamen. Später zerstritten sie sich wegen eines Bauprojekts in der Nähe von Basel (Sutter, 2014). ■■ Mit dem französischen Landschaftsarchitekten und Künstler Bernard Lassus (* 1929) entwickelte Burckhardt den Ansatz des » kleinstmöglichen Eingriffs « und Grundzüge der Spaziergangswissenschaften bzw. der Promenadologie. Bis an Burckhardts Lebensende waren beide freundschaftlich verbunden. Keiner von Burckhardts unmittelbaren Weggefährten und Mitproduzenten ist Teil des heutigen Stadtforschungsdiskurses. Weitere Bezüge, die sich durch Burck­ hards Werk ziehen (siehe Brock, 1985: 11 – 12), z. B. Christopher Alexanders » Pat­ tern Language «; Robert Venturi und Denise Scotts » Learning von Las Vegas «, Bernard Lassus » Les Habitants Paysagistes «, oder Michael Thompsons » Theorie des Abfalls « sind heute weitgehend in Vergessenheit geraten. 158 Nina Gribat Doch wie steht es um die Aktualität von Burckhardts inhaltlicher Kritik am Bauwesen und der Planung als Gesamtkonzeption, sowie seines erweiterten Land­ schaftsbegriffs ? Sind sie heute noch aktuell, auch wenn sich seit seinem Wirken in allen drei Bereichen vieles geändert hat ? Während die » Z ASPAK Planung « heute kaum mehr in ihrer Reinform gelehrt und praktiziert wird und partizipative sowie strategische Planung an Bedeutung gewinnen, so hält sich – von einigen wichti­ gen Ausnahmen abgesehen – die Vorstellung und Praxis von Planung als Gesamt­ konzeption überraschend konstant. Kleinstmögliche Eingriffe und die allmähli­ che Entwicklung von Stadt und Raum werden oft nur in Krisensituationen, wie bei knappen Investitionsmitteln oder bei noch unklaren Zielsetzungen bzw. unsi­ cheren Zukunftsprognosen praktiziert. Die Kontexte von schrumpfender Städten und Austeritätspolitik haben hier teilweise zu einem Umdenken geführt, das aber sobald sich die Vorzeichen ändern wieder über Bord geworfen wird. Der erwei­ terte Blick, wie ihn Burckhardt fordert, um die Beantwortung vielgestaltiger ge­ sellschaftlicher Probleme mit vereinfachenden und die Probleme perpetuieren­ den Bauprojekten zu verhindern hat sich trotz weitaus vielgestaltiger und nicht mehr rein baulicher Stadtpolitiken (z. B. Soziale Stadt) nicht durchgesetzt. Es ist zwar deutlich weiter verbreitet, neben baulichen Interventionen auch Aktivitäten, Prozesse oder Events zu planen, diese stellen aber selten Probleme ähnlich grund­ sätzlich in Frage wie Burckhardt es praktizierte. Im Bauwesen stehen noch wei­ terreichende Spezialisierungen, Regulierungen und eine kaum hinterfragte Pro­ fessionalisierung wenigen Experimenten im Selbstbau gegenüber. Kritik, wie z. B. an der Energiesparverordnung ist weit verbreitet, aber eine generelle Neuausrich­ tung oder De- bzw. Neuregulierung nicht absehbar. In Bezug auf Landschaft hat sich vielleicht am meisten in Richtung Burckhardts Kritik getan – Schönheit und Idylle werden sicher nicht mehr ganz so eng verhandelt. Dazu beigetragen haben die weitere Ausbreitung von postindustriellen Landschaften und dringliche Fra­ gen des Klimawandels. Inwieweit sich die Arbeiten von Burckhardt für die Eingliederung in den Ka­ non der (kritischen) Stadt- und Planungsforschung eignen, wird sich noch zei­ gen. Dafür sprechen Burckhardts klare, zugängliche und durchweg kritische Ana­ lysen und seine deutliche Positionierung in Bezug zu normativen und ethischen Fragen (die im wissenschaftlichen Kontext ja noch weitgehend implizit verhan­ delt werden). Noch dazu sind Burckhardts Herangehensweisen und Themen zum Großteil zeitlos. Dagegen spricht die zunehmende Verengung von Wissenschaft auf immer kleinere Teilfelder und immer abgegrenzte Vorstellungen von Wissen­ schaftlichkeit. Wie kann ein Querdenker, der sich nicht auf eine Nische festle­ gen konnte oder wollte in solch einem Kontext rezipiert werden ? Wie steht es in solch einem Kontext mit Werken von Denker_innen, die sich den akademischen Konventionen von Empirie und Quellenarbeit (die für gegenwärtige Veröffent­ Lucius Burckhardt: Der kleinstmögliche Eingriff 159 lichungspraktiken und die Bedienung der Zitationsindices unumgänglich sind) verschließen ? Burckhardts Arbeiten zeugen von einem radikal anderen Verständ­ nis von Wissenschaft, als eine durch und durch gesellschaftliche Aufgabe. Eine Beschäftigung mit dem Werk von Personen wie Burckhardt regt somit auch an, die eigene Position im heutigen Wissenschaftsbetrieb zu hinterfragen. Querden­ ker_innen und -praktiker_innen wie Burckhardt konnten und können die Zu­ sammenhänge und Verbindungen zwischen so disparaten Feldern wie der Ästhe­ tik, der Stadtplanung, der Ökologie und der Gesellschaft zeigen. Sie verstanden ihre Arbeit als durch und durch gesellschaftliche relevant, was sie nicht davon ab­ hielt reale Experimente zu wagen. Literatur Primärliteratur Der kleinstmögliche Eingriff (Hrsg. Markus Ritter/Martin Schmitz), Martin Schmitz Verlag, Berlin 2013. Lucius Burckhardt Writings. Rethinking Man-made Environments (Hrsg. Jesko Fezer/ Martin Schmitz), Springer (Ambra), Wien/New York, 2012 Design ist unsichtbar. Entwurf, Gesellschaft, Pädagogik (Hrsg. Silvan Blumenthal/Mar­ tin Schmitz), Martin Schmitz Verlag, Berlin 2012. Warum ist Landschaft schön ? Die Spaziergangswissenschaft (Hrsg. Markus Ritter/Mar­ tin Schmitz), Martin Schmitz Verlag, Berlin 2006. Wer plant die Planung ? Architektur, Politik und Mensch (Hrsg. Jesko Fezer/Martin Schmitz), Martin Schmitz Verlag, Berlin 2005. Design ist unsichtbar (Hrsg. Hans Höger), Ostfildern 1995. Grüngürtel. Frankfurt am Main. Die Stadt wieder bewohnbar machen. (mit Till Beh­ rens), Verlag Jochen Rahe, 1992. Für eine andere Architektur (Hrsg. mit Michael Andritzky und Ot Hoffmann), Frank­ furt/Main 1981. Die Kinder fressen ihre Revolution, Köln 1985. Der Werkbund in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Stuttgart, 1978 (übersetzt ins Italienische, Französische, Englische). Moderne Architektur in der Schweiz seit 1900 (mit Annemarie Burckhardt und Diego Peverelli), Winterthur 1969. Bauen ein Prozess (mit Walter Förderer), Teufen 1968. Reise ins Risorgimento, Köln/Berlin 1959. Die neue Stadt (mit Max Frisch und Markus Kutter), F. Handschin Basel 1956. Achtung: die Schweiz (mit Max Frisch und Markus Kutter), F. Handschin Basel 1955. Wir selber bauen unsere Stadt: Ein Hinweis auf die Möglichkeiten staatlicher Baupolitik (mit Markus Kutter), F. Handschin Basel 1953. 160 Nina Gribat Sekundärliteratur Silvan Blumenthal: Das Lehrcanapé: Lucius Burckhardt und das Architektenbild an der ETH Zürich 1970 – 1973. Basel, Standpunkte Dokumente No. 2, 2010. Ueli Mäder (Hrsg.): Raum und Macht: Die Stadt zwischen Vision und Wirklichkeit. Leben und Wirken von Lucius und Annemarie Burckhardt. Zürich, Rotpunktver­ lag, 2014. Hannah Stippl: Zu den landschaftstheoretischen Aquarellen von Lucius Burckhardt, in Ueli Mäder (Hrsg.): Raum und Macht: Die Stadt zwischen Vision und Wirklichkeit. Leben und Wirken von Lucius und Annemarie Burckhardt. Zürich, Rot­ punktverlag, 2014: 155 – 172. Peter Sutter: Lucius Burckhardt-Wackernagel, in Ueli Mäder (Hrsg.): Raum und Macht: Die Stadt zwischen Vision und Wirklichkeit. Leben und Wirken von Lucius und Annemarie Burckhardt. Zürich, Rotpunktverlag, 2014: 21 – 64. Bertram Weisshaar: Spaziergang durch den Tagebau. Mit Fotos von Bärbel Bamberger, Dessau, Stiftung Bauhaus Dessau, 1995. Bertram Weisshaar (Hrsg.): Spaziergangswissenschaft in Praxis: Formate der Fortbewegung, Berlin, Jovis Verlag, 2013. Online http://www.lucius-burckhardt.org Radiobeitrag Deutschlandfunk: 14. 06. 2015 http://www.deutschlandfunk.de/querfeldein-denken-mit-lucius-burckhardt-1-3-vonder.1184.de.html?dram:article_id=319584 21. 06. 2015 http://www.deutschlandfunk.de/querfeldein-denken-mit-lucius-burckhardt-2-3-werwar-lucius.1184.de.html?dram:article_id=320096 28. 06. 2015 http://www.deutschlandfunk.de/querfeldein-denken-mit-lucius-burckhardt-3-3-ra­ dioaufnahmen.1184.de.html?dram:article_id=320268 Weitere Literatur Rittel, Horst und Webber, Melvin (1973) Dilemmas in a General Theory of Planning, Policy Sciences, 4: 155 – 169.