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Müller, Birgit, 2002 Die Entzauberung Der Marktwirtschaft. Ethnologische Erkundungen In Ostdeutschen Betrieben, Frankfurt: Campus Verlag

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Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Vorwort Im Gegensatz zum offiziellen Diskurs der Kohl-Regierung hatte ich zur politischen Vereinigung der beiden deutschen Staaten ein skeptisches Verhältnis. Von Lehrern der 68-iger Generation erzogen, ging mir das Gefühl eines deutschen Nationalstolzes, oder auch nur Nationalgefühls gänzlich ab. Mir lag Frankreich, wo ich studiert habe, oder Österreich, wo ich einen Teil meiner Kindheit verbrachte, sehr viel näher als die DDR, die ich erst nach 1989 zu entdecken begann. Mich interessierten 1989 vor allem die Bestrebungen der neu erwachten Oppositionsbewegung, Alternativen zum DDR-Regime zu entwickeln. Ich war fasziniert von dem plötzlichen Aufblühen des Widerstandes gegen das bevormundende Regime. Sicherlich spielte auch die Hoffnung eine Rolle, von dieser Opposition, die den real existierenden Sozialismus überwunden hatte und dennoch nicht sogleich dem marktwirtschaftlichen Kapitalismus in die Arme fallen wollte, könne eine Diskussion über gesellschaftliche Alternativen ausgehen, die auch den sozialen Bewegungen im westlichen Deutschland neuen Aufschwung geben könnte. Allerdings machte das, was Habermas „den pausbäckigen DMNationalismus“ (1990:205) nannte, dieser Hoffnung rasch ein Ende. Ich war neugierig darauf, wie die DDR-Bürger die Marktwirtschaft erführen und was sie Eigenes dagegen zu setzen hatten. Außerdem hegte ich seit meiner Forschung in Westberliner Kollektivbetrieben in der ersten Hälfte der achtziger Jahre den starken Wunsch, einmal in einem „echten“ volkseigenen Betrieb eine sozialanthropologische Feldforschung durchzuführen. Als ich mir im späten Frühjahr 1990 diesen Wunsch erfüllte, waren die volkseigenen Betriebe schon fast keine mehr, wenn auch die Erinnerungen frisch und die Beschäftigten darauf bedacht waren, sie mit mir zu teilen. Ich begann meine Entdeckungen gemeinsam mit den Studenten des Projektseminars „Wandel der Alltagskultur in der (ehemaligen) DDR“ vom Sommersemester 1990 bis Sommersemester 1991, das ich am Institut für Ethnologie der Freien Universität Berlin leitete. Rainer Bachmann, Gregor Noack, Hildegard Weber, Dagmar Heymann, Christina Katzer, Britta Heinrich, Thomas Hammer und Katrin Arndt 9 waren an den ersten heißen Debatten beteiligt. Mit Katrin Arndt teilte ich die Höhen und Tiefen der Feldforschungen bei TAGHELL und die Interviews und Feldnotizen. Ich möchte allen Beschäftigten von TAGHELL, STANEX und HOCHINAUF für ihre Bereitschaft danken, mir ihre guten und manchmal unangenehmen Erinnerungen zu erzählen und lange Gespräche über ihre Einschätzungen der Gegenwart und Erwartungen für die Zukunft zu führen. Ich habe ihnen bei der Arbeit oft im Weg gestanden, und sie haben mich trotzdem weiterhin über die Schulter gucken lassen. Mein besonderer Dank gilt Herrn Stolz1, der es nie gescheut hat, mir ungeschminkt seine Meinung zu sagen. Ich bin der Deutschen Forschungsgemeinschaft für ein großzügiges Habilitationsstipendium dankbar, das es mir ermöglichte, die Forschungen in Berlin und später Moskau fortzusetzen. Die schriftliche Ausarbeitung erfolgte inmitten vielfältiger anderer Aufgaben am Centre Marc Bloch in Berlin mit Unterstützung seines Direktors Etienne François und am CEFRES in Prag in Diskussion mit meinen Kollegen am LAIOS in Paris. Für anregende Ideen möchte ich dabei vor allem Marc Abélès, Catherine Neveu, Irene Bellier, Jean-François Gossiaux und Pierre Bouvier danken. Zahlreiche Diskussion mit Kollegen und Freunden haben mich ermutigt und angeregt. Danken möchte ich besonders Emmanuel Terray, Simon Clarke, Claire Wallace, Michal Bodemann, Miklos Hadas, Michel Pialoux, Sighard Neckel, Helmuth Berking, Richard Rottenburg, Ivana Mazalkova, Ed Clark, Anna Soulsby, Pavel Romanov, Veronika Kabalina, Albert Hirschman, László Bruszt, Effi und Ewald Böhlke. Meine Gespräche mit Wolf Schäfer halfen mir besonders, den Alltag im DDR-Betrieb zu verstehen. Horst Froberg steuerte seine Gedichte und seine ironische Sicht der Dinge bei. Vor allem die Diskussionen mit meinem Vater haben mir das Innenleben eines multinationalen Konzerns verständlich gemacht. Ein großes Dankeschön an meinen Freund Henk Raijer, der das Manuskript Korrektur gelesen hat. Mein besonderer Dank geht an Claus Offe als kritischen Leser der ersten Manuskriptfassung. —————— 1 Alle in diesem Buch verwendeten Namen von Einzelpersonen und Betrieben sind Pseudonyme 10 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Inhalt Vorwort 00 Einleitung 00 Methoden der Feldforschung Vorstellung der Betriebe und der Akteure TEIL I Erinnerungen an die Planwirtschaft 1. Ideologie und Praxis des Plans 00 00 00 00 1.1. Die Planung des Mangels 00 1.2. Politik vor Ökonomie 00 2. Der Planerfüllungspakt 00 2.1. Demokratischer Zentralismus im Betrieb 00 2.2. Autonomie und Schufterei 00 2.3. Disziplin und Motivation 00 3. Sozialismus als Performance 00 3.1. Sozialistisch leben, lernen und arbeiten 00 3.2. Hinter vorgehaltener Hand… 00 4. Parteiherrschaft im Betrieb 00 4.1. Partei und Karriere 00 4.2. Parteiräson 00 11 4.3. Die Freiheit der Andersdenkenden 00 4.4. Perestroika im Betrieb 00 TEIL II Die Wende 5. Privatisierung – Herrschaft und Besitz 00 5.1. Versteckte Kritik wird laut 00 5.2. Vom „volkseigenen“ zum privaten Besitz 00 5.2.1. Der Traum vom schnellen Geld 00 5.2.2. Die Enklave in der marktwirtschaftlichen Welt 00 6. Der Marktwahn 00 6.1. Vermarktung 00 6.2. Arbeiten für den Markt 00 6.3. Stimmungsbild nach zwei Jahren Kurzarbeit 00 7. Weltsichten in der Wende 7.1. Konstruktion von zwei deutschen Kulturen 00 00 7.1.1. Westverwandtschaft 00 7.1.2. Das Stereotyp vom „faulen Ossi“ 00 7.2. Die Idee des Sozialismus TEIL III Eintritt in die Weltwirtschaft 8. Die HOCHINAUF-Mission gen Osten 12 00 00 00 00 8.1. Strategien der Expansion 00 8.2. Die Missionare der Marktwirtschaft 00 8.3. Die HOCHINAUF-„Familie“ 00 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 9. Zwei Karrieren in der Marktwirtschaft 00 9.1. Ein Erfolgsmodell 00 9.2. Anpassung und Verweigerung 00 9.3. Disziplin und Eigensinn 00 10. Vereinigung und Vereinzelung 00 10.1. Leistungsdruck versus wissenschaftlich bestimmbare Produktivität 00 10.2. Das Paradies oder die gelungene Integration 00 10.3. Kollektivität und Konkurrenz 00 Konklusion 00 Bibliographie 00 13 Einleitung Beim Fall der Mauer im Herbst 1989 schien der Wettbewerb der politischen und ökonomischen Systeme, der das 20. Jahrhundert bestimmt hatte, eindeutig zugunsten der Marktwirtschaft entschieden. Die Abschaffung der zentralen Planung begeisterte nach Jahrzehnten der Unbeweglichkeit. Sie erzeugte Hoffnung und Optimismus, Enthusiasmus und Aufregung. Den Arbeitern und Angestellten in den Ostberliner Betrieben gab sie das Gefühl der grenzenlosen Möglichkeiten, der Freude am Aktionismus und am wiedergefundenen Sinn des Lebens und weckte utopische Visionen für die nahe Zukunft. Als die Macht des Regimes gebrochen schien, kritisierten sie offen ihre Chefs, warfen ihnen Fehler in der Verwaltung, Unfähigkeit und politischen Dogmatismus vor. Sie sprachen Kritik offen aus, die schon lange unter der Hand zirkuliert hatte, und schmiedeten Pläne, was alles besser und anders werden sollte im Betrieb. Was aber konnten und wollten die arbeitenden Menschen in den Betrieben nach 1989 tatsächlich bewirken? Wie reflektierten sie über ihr Handeln und über die Möglichkeiten, die sich ihnen mit dem Zusammenbruch der alten autoritären Gesellschaftsstruktur eröffneten? Dieser Frage bin ich seit 1990 in drei Ostberliner Betrieben nachgegangen. In diesem Buch versuche ich, einige der Mythen und Verheißungen der liberalen Marktwirtschaft zu entschleiern, indem ich sie aus der Sicht derer betrachte, die den Zusammenbruch der Planwirtschaft im Betriebsalltag erlebten. Im Zentrum stehen die Lebenswelten und persönlichen Erfahrungen von Arbeitenden im Strudel des politischen und ökonomischen Umbruchs. Die zentrale Problematik setzt sich mit der Frage von Macht und persönlicher Autonomie im Betrieb vor und nach der Wende auseinander. Sie verweist auf die Mechanismen der politischen und ideologischen Einflußnahme im planwirtschaftlichen Betrieb und kontrastiert sie mit Wirkungsweisen marktwirtschaftlicher Betriebsideologien. Ich werde aufzeigen, mit welchen informellen und institutionellen Mitteln Management und Belegschaften ihre Beziehungen neu verhandelten und wie sie in diesem Prozeß Vorstellungen von Solidarität, Verantwortung und Gemeinwohl neu definierten. Der kurze historische Mo14 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 ment der „Wende“ vom Herbst 1989 bis zum Sommer 1990 wird dabei für die Arbeitenden zum Schlüsselerlebnis, das überlieferte Ideen von marktwirtschaftlicher Rationalität, Legitimität von Besitz und demokratischer Kontrolle in Frage stellt. Ihre Vorstellungen von „Markt“, „Privateigentum“ und „Demokratie“ werden Gegenstand meiner Untersuchung und damit in ihrer ideologischen Bedeutung hinterfragt (Verdery 1996, 1999). Das Buch ist in drei Teilen aufgebaut. Der erste Teil widmet sich den „Erinnerungen an die Planwirtschaft“. Machtbeziehungen vermittelt über den Plan, den sozialistischen Wettbewerb und die Partei werden dort an Hand von Lebensgeschichten, Erinnerungen und schriftlichen Materialien aus der Zeit der Planwirtschaft rekonstruiert. Der zweite Teil analysiert die Strategien der Individuen im Betrieb nach dem Zusammenbruch der planwirtschaftlichen Makrostrukturen. Die Alltagswelten, die sich dabei eröffnen, haben wenig mit einer rationalen Wirtschaftswelt gemein, die mit der Marktwirtschaft im Osten entstehen sollte. Verkaufenmüssen erscheint als Demütigung, politische Macht manifestiert sich in Privatbesitz, und der Zusammenbruch der ostdeutschen Betriebe geht einher mit der Konstituierung einer ostdeutschen Identität. Im dritten Teil geht es um die Rezeption, die die Unternehmensstrategien und Managementphilosophien der multinationalen Firma in ehemals volkseigenen Betrieben erhalten. Während die westlichen Manager die Expansion des Unternehmens in Osteuropa als zivilisatorische Mission empfinden, reagieren die Mitarbeiter mit komplexen Strategien der individuellen Reinterpretation und Aneignung. Das Buch endet mit einem Vergleich der Mechanismen ideologischer Macht und materieller Kontrolle in der sozialistischen Planwirtschaft und der globalisierten Marktwirtschaft. Der institutionelle Wandel im Betrieb läßt Machtbeziehungen sichtbar werden, die im betrieblichen Alltag meistens in Umgangsformen eingebettet sind, die als selbstverständlich angesehen werden (Clegg 1979). Die Beschäftigten in den Ostberliner Betrieben konnten die Machtbeziehungen im marktwirtschaftlichen Betrieb anders und stärker wahrnehmen als ihre Kollegen im Westen, für die sie bereits zum Alltag gehörten. Weil die Kontrollstrukturen nicht mehr als natürliche Bedingungen erschienen und noch nicht im routinisierten Verhalten verankert waren, wurden die Machtbeziehungen offensichtlich (Clegg, 1979:147). Dadurch ermöglicht diese Studie einen Einblick in die Mikromechanismen der Macht (Foucault 1975, 1977, 1986, 1987) und wie sie von den Beschäftigten interpretiert werden (Scott 1990, Herzfeld 1997). Sie haben in den Untersuchungen über die „Wende“ in Osteuropa bisher weniger Beachtung gefunden als die „großen“ institutionellen Veränderungen, obwohl sie sie zum Teil erklären und sie sich gegenseitig bedingen. 15 Um zu analysieren, wie sich Formen von Macht und Kontrolle im sozialistischen und marktwirtschaftlichen Unternehmen unterscheiden, greife ich auf Foucaults Machtbegriff zurück. Foucault begreift Macht nicht als Ding, Besitz oder Chance, sondern als Ressource für alle im jeweiligen Handlungsfeld: „Die Macht kommt von unten, das heißt, sie beruht nicht auf der allgemeinen Matrix einer globalen Zweiteilung, die Beherrscher und Beherrschte einander entgegensetzt und von oben nach unten auf immer beschränktere Gruppen bis in die letzten Tiefen des Gesellschaftskörpers ausstrahlt. Man muß eher davon ausgehen, daß die vielfältigen Kräfteverhältnisse, die sich in den Produktionsapparaten, in den Familien, in den einzelnen Gruppen und Institutionen ausbilden und auswirken, als Basis für weitreichende und den gesamten Gesellschaftskörper durchlaufende Spaltungen dienen.“ (Foucault 1977:115) Foucault erklärt historisch, wie direkte gewaltsame Formen der Machtausübung in „Souveränitätsgesellschaften“ durch „Disziplinargesellschaften“ abgelöst wurden, in denen die gesellschaftliche Disziplin über körperlichen Drill und totale Überwachung durchgesetzt werden mußte (Foucault 1986:241). Moderne Industriegesellschaften erweisen sich in dieser Perspektive als Disziplinargesellschaften, in denen die gesellschaftliche Disziplin von den gesellschaftlichen Akteuren als Norm angenommen und internalisiert wird und nicht mehr von außen aufgezwungen werden muß. Marktwirtschaftliche Herrschaftsverhältnisse im Betrieb betonen dabei in weit stärkerem Maße die individuelle Selbstdisziplinierung, als dies in sozialistischen Betrieben der Fall war. Dies bringt uns zu der zentralen Frage dieses Buches: Haben die Beschäftigten im Übergang zur Marktwirtschaft an persönlicher Autonomie und Selbstbestimmtheit gewonnen oder verloren? Hat ihnen die Marktwirtschaft die Freiheit gebracht, auf die sie gehofft haben? Die Ausübung von Macht ist immer ein gegenseitiger Prozeß zwischen denen, die sie ausüben, und denen, die es geschehen lassen und die sie geradezu dazu auffordern. Um diesen Zusammenhang zu beleuchten, ging ich der Frage nach, inwiefern die Beschäftigten in den ostdeutschen Betrieben versuchten, die Mechanismen von Kontrolle und Disziplin im Betrieb zu verändern und die wirtschaftlichen Entscheidungen zu beeinflussen. Nichtkonforme Diskurse über Macht und Gerechtigkeit im Betrieb entstanden schon in der Planwirtschaft. Die zur Zeit der DDR im Verborgenen entstandenen und überlieferten Texte (hidden transcripts) nahmen die Form von Witzen, Anekdoten über die sozialistische Fehlplanung und Ineffizienz und manchmal auch von Gerüchten über Korruption und Unterschlagungen an, die hinter vorgehaltener Hand im engen Kreise von Vertrauten und Kollegen erzählt wurden. Im Moment der rapiden gesellschaftlichen Veränderung traten sie als kollektive Interpretationen der gesellschaftlichen 16 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Realität zutage (Scott 1990:204ff) und richteten sich vor allem gegen Betriebsund Kombinatsleiter und Vertreter der Parteihierachie. Sie wurden kurz nach dem Fall der Mauer in Handlungen umgesetzt, die jedoch „schwer zu bündeln und noch schwerer zu institutionalisieren waren“ (Engler 1995:76). Die Grundlage für die Analyse der Mikromechanismen der Macht bilden ethnologische Feldstudien in drei Betrieben in Ostberlin: in einer Lampenfabrik, einem Maschinenbaubetrieb und einer Aufzugsfirma. Die erste Zeit nach dem Fall der Mauer (1990–1991) wird vor allem in den ersten beiden Betrieben dokumentiert, und auch die Auseinandersetzung mit der gerade erst vergangenen Vergangenheit der Planwirtschaft war bei den dort Arbeitenden am lebendigsten. Der dritte Betrieb wurde von einer multinationalen Firma gekauft, die einen Zweigbetrieb in Westberlin besaß. Ich verbrachte in allen drei Betrieben die meiste Zeit in der Werkstatt, beobachtete die Interaktionen und führte lange Gespräche während und nach der Arbeit. Ich verfolgte über vier Jahre von 1990 bis 1994 die Dramen um Macht, Besitz und Weltanschauung, die sich in den Betrieben abspielten und die sich aus vergangenen Ereignissen und aktuellen Sorgen und Ambitionen speisten. Die radikalen Veränderungen nach dem November 1989 betrafen alle Ebenen und Dimensionen des sozialistischen Betriebslebens: die Produktion und Verteilung von Gütern, die soziale Betreuung der Betriebsmitglieder und ihrer Familien, die parteipolitischen Veranstaltungen, den sozialistischen Wettbewerb, die gesellschaftlichen Organisationen, das Alltagsleben, das Ferienwesen und die individuelle Psyche. Ohne den Betrieb als solchen zum Forschungsgegenstand zu machen, untersuchte ich im Betrieb, wie sich Machtkonstellationen auflösten und neu konstituierten, Vorstellungen von Ordnung und sozialer Gerechtigkeit auf den Kopf gestellt wurden, aber auch, wie sich der Gebrauch von Zeit und Raum veränderte, sowie die Art, im Betriebsalltag mit Maschinen, Produkten und mit Kollegen umzugehen. Über alltägliche und außergewöhnliche Begebenheiten im Betrieb und die Geschichten, die mir dazu erzählt wurden, konnte ich die individuellen und kollektiven Strategien der Beschäftigten beobachten und mich mit ihren Weltbildern, Träumen und Plänen vertraut machen. Dabei interessierte mich vor allem, inwieweit die Beschäftigten auf den grundlegenden Wandel, der in ihren Betrieben vonstatten ging, Einfluß nehmen konnten, indem sie ihn unterstützten, duldeten oder bekämpften. Inwieweit machten die Menschen in den Betrieben nach 1989 Geschichte? Die politische „Wende“ in der DDR, die 1989 Beobachter und Akteure überraschte, geschah zu einem Zeitpunkt, als auch die westliche Welt in eine Phase rapiden sozialen und wirtschaftlichen Wandels eintrat. Seit Ende der achtziger 17 Jahre wurden die westlichen Industrienationen von den Folgen einer neuen technologischen Revolution vor allem im Kommunikationsbereich geprägt. Informationen können in Lichtgeschwindigkeit über Glasfasernetze rund um den Globus geschickt werden, und kleinste elektronische Elemente ermöglichen es nun, weltweit Produktions- und Planungsvorgänge zu vernetzen und dezentral zu steuern. Zu einem Zeitpunkt, da dezentrale Planung und die komplexe Vernetzung von Gruppen und Individuen technologisch möglich geworden waren, brach die DDR-Gesellschaft unter der Last ihrer zentralistischen und de facto arbiträren Kaderverwaltung zusammen. Technologisch, vor allem in der Kommunikationsund Computertechnik, hatte die DDR die entscheidenden achtziger Jahre verpaßt. Die ostdeutsche Wirtschaft mußte nach 1989 zu einem Quantensprung ansetzen: aus einem geschlossenen System in die Globalisierung der Produktions- und Marktbeziehungen. Ihre Produkte mußten sich von einem Tag auf den anderen einem weltweiten Verdrängungswettbewerb stellen. Nicht nur der Schutz der ostdeutschen Produktion durch den realsozialistischen Staat entfiel, sondern auch der Schutz durch Grenzen, Zölle, Währungen und Subventionen wurde in den neunziger Jahren durch internationale Freihandelsabkommen und den Abbau der Währungsschränken in der europäischen Gemeinschaft zunehmend brüchiger. Mit dem Fortfall der zentralen Lenkung durch den Staat bröckelte auch die Sicherheit eines geschlossenen Weltbildes. Aus dem Zeitalter der Vervielfältigung mit Matrizen und Karbonpapier, wie sie im DDR-Betrieb vor 1989 üblich war, und der direkten face-to-face-Kommunikation – vor allem dann, wenn der Staat nicht mithören sollte – trat die ostdeutsche Gesellschaft ins Zeitalter des Internet ein, in dem andauernde Kommunikation nicht nur erwünscht, sondern gefordert ist. Kommunikation und Mobilität wurden, vermittelt über das allgegenwärtige Medium des Geldes, zu einem Muß der neuen Gesellschaft. Die Planwirtschaft war einhergegangen mit einem Verhaltenskodex, der mit dem moralischen Wertesystem des real existierenden Sozialismus verbunden war. Dieser Kodex war nicht identisch mit der öffentlich verbreiteten Ideologie, ja er widersprach ihr sogar in vielen Punkten. Wo die staatlich kontrollierte Ideologie Wettbewerb und Leistung forderte, setzte sich in der betrieblichen Praxis Leistungsnivellierung durch. Trotz kollektiver und individueller Prämien, die oft nicht nur für Arbeitsleistung, sondern auch für politisches Wohlverhalten vergeben wurden, waren die Einkommensunterschiede zwischen Direktor und Arbeiter gering. Geld war auch kaum ein Anreiz, da die Waren fehlten, die man sich dafür hätte kaufen können. 18 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Mit dem Ende der Planwirtschaft änderten sich Funktion und Bedeutung des Geldes für die sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen. Die gesellschaftlichen Bereiche, die über Geld geregelt werden konnten, weiteten sich aus und machten engmaschige persönliche Netzwerke für Tausch und gegenseitige Dienstleistungen überflüssig. Gleichzeitig wurden die gesellschaftlichen Akteure zur Lösung unzähliger alltäglicher Probleme vom Geld abhängig. Hohes Einkommen versprach hohen gesellschaftlichen Status. Soziale Differenzierungen wurden möglich, die in der Planwirtschaft der DDR nicht existiert hatten.2 Der gesellschaftliche Verhaltenskodex der Planwirtschaft, der von den Individuen verlangte, sich zu beschränken, nicht aufzufallen und nicht aus dem Kollektiv herauszustechen, verlor mit dem Fall der Mauer schlagartig seine Basis. Mit dem Zusammenbruch der Planwirtschaft begann ein Selektionsprozeß, der unproduktive, inflexible und passive Mitarbeiter rasch zum alten Eisen warf. Auffallen und positiv aus der Masse herausstechen wurde nötig. Während in der DDR die Produktion von Gütern für die Gesellschaft mit einem hohen moralischen Anspruch versehen war und der Betrieb als „Keimzelle“ des sozialistischen Lebens galt, appellierten die neuen Anforderungen der Marktwirtschaft an keine gesellschaftliche Mission mehr. Erfolgreiches Konkurrieren auf dem Markt wurde zum Ziel an sich. Produkte wurden weltweit an den Fertigungsstandorten hergestellt, die am billigsten waren, wo Löhne und Sozialleistungen niedrig und die gewerkschaftliche Organisation der Arbeitenden schwach waren. Unternehmen in den westlichen Industrienationen forderten von ihrer Belegschaft eine hohe Bereitschaft, sich den Wettbewerbsbedingungen anzupassen, Betriebsschließungen und Entlassungen in Kauf zu nehmen und gleichzeitig Kreativität und Qualitätsbewußtsein zu entwickeln. Die Konsequenzen der rasch einsetzenden Institutionenbildung und der Veränderung der rechtlichen Rahmenbedingungen für alle wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten übertraf alle Vorstellungen, die sich die Beschäftigten vor 1989 hatten machen können. Konnten die Menschen in Ostdeutschland den institutionellen Rahmen, den die Gesetze und Institutionen der Bundesrepublik vorgaben, mit eigenem Leben füllen oder wurden alle Ansätze und Initiativen, die kurz nach dem Fall der Mauer aufblühten, durch die institutionelle Fest- —————— 1 Selbst die Wandlitz-Villen der hohen SED-Funktionäre, die kurz nach dem Fall der Mauer so viel von sich reden gemacht hatten, zeichneten sich eher durch spießigen kleinbürgerlichen Wohlstand als durch wirklichen Reichtum aus. Im Gegensatz zur Sowjetunion, wo in planwirtschaftlicher Zeit stattliche Vermögen angehäuft werden konnten, scheint die DDR tatsächlich ein ökonomisch weitgehend egalitärer Staat gewesen zu sein. 19 schreibung der Macht- und Besitzverhältnisse erstickt? In den Ostberliner Betrieben galten ab dem 1.7.1990 westdeutsche Gesetze. Während der Privatisierung der volkseigenen Betriebe über die Treuhand verhandelten die Funktionsträger der Planwirtschaft mit den Funktionsträgern der westdeutschen Wirtschaft und Politik. Dies ließ lediglich geringen Spielraum für Experimente und für die diffusen Vorstellungen, die sich die Beschäftigten von den Veränderungen gemacht hatten, die in ihrer Gesellschaft vor sich gehen sollten. Dennoch veränderte sich die ostdeutsche Gesellschaft nicht nur von oben herab. Letztlich war es das alltägliche Handeln innerhalb und natürlich auch außerhalb des Betriebs, oft auch ohne reformerische Intentionen, das die ostdeutsche Gesellschaft formte und veränderte. Die westdeutschen Institutionen mussten ein gewisses Maß an Anerkennung, Akzeptanz oder sogar Unterstützung bei den Ostdeutschen finden und ihren Normen und Werten entsprechen, um die Gesellschaft auf lange Sicht beeinflussen zu können. Die Spannung zwischen den Werten und Normen, die aus dem planwirtschaftlichen Alltag einerseits und den Erwartungen an die Marktwirtschaft andererseits erwachsen waren und denen, die die westdeutschen Reformer antizipierten, waren im Betriebsalltag präsent. Sie äußerten sich oft indirekt in endlosen Vergleichen zum Beispiel über die gegensätzlichen Eigenschaften und Verhaltensweisen der „Wessis“ und „Ossis“. Sie entwickelten, veränderten und differenzierten sich auch im Prozeß der Transformation nicht zuletzt infolge der Erfahrungen von individuellem Erfolg oder Mißerfolg im neuen Gesellschaftssystem. In den Gesprächen im Betrieb nach der Wende analysierten und kommentierten die Beschäftigten ständig die Konsequenzen und Bedingungen der Managemententscheidungen und gaben Gründe für ihr Handeln oder auch für ihre Untätigkeit an. Die Ergebnisse dieses Handelns stimmten jedoch nicht notwendigerweise mit den ursprünglichen Intentionen überein (Giddens 1987:61). Solche ungewollten Konsequenzen der Alltagsentscheidungen zum Zeitpunkt der Wende stehen im Mittelpunkt dieses Buches. In dieser Phase der raschen gesellschaftlichen Transformation erlaubte das Wissen, über das die Betriebsmitglieder in der Routine des realsozialistischen Alltagslebens verfügten, kaum, die weitreichenden Konsequenzen ihrer Entscheidungen in der Marktwirtschaft abzuschätzen. Weil sich die Parameter ihres Handels ständig änderten, entwickelten die Akteure Strategien nur über einen kurzen Zeithorizont hinaus, die jedoch sehr viel weiter reichende Konsequenzen mit sich bringen konnten. Der Moment des Handelns, selbst bei den radikalsten gesellschaftlichen Umwälzungen, ist immer auch ein Moment, in dem die aktuellen Zusammenhänge des sozialen Lebens reproduziert werden (Giddens 1987:76). Dieser Zu20 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 sammenhang ist schon in der vielzitierten Aussage von Marx enthalten: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst gewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ (Marx 1960:115) Die Menschen können sich in ihrem Handeln auf die Erfahrungen stützen, die sie in der Vergangenheit machen konnten, und sind durch die Bedingungen eingeschränkt, die sie selbst durch ihr Handeln geschaffen haben. Allerdings bedeutet das nicht, daß sie nicht auch innovativ und kreativ auf neue Situationen reagieren können. Häufig sind selbst die Verhaltensweisen, die als „sozialistisches Erbe“ oder „Kultur“ erscheinen, in Wirklichkeit direkte Antworten auf die neue gesellschaftliche Situation (Burawoy/Verdery 1999:1-2). Wenn die Menschen in den ostdeutschen Betrieben Sprache und Symbole aus der sozialistischen Zeit benutzten, so bedeutete dies nicht unbedingt, daß sie sich an die Vergangenheit klammerten, sondern sie gebrauchten in ihrem Alltagshandeln die schon bekannten Formen zu neuen Zwecken und mit neuer Bedeutung. Wenngleich die Ziele und Vorstellungen der Betriebsmitglieder zunächst aus der realsozialistischen Praxis erwuchsen, so gingen sie auch darüber hinaus. Sie verknüpften die erlebte Erfahrung mit Vorstellungen von gesellschaftlicher Gerechtigkeit und Ordnung, die auf ein weites Spektrum von gesellschaftlichen Theorien Bezug nahmen, mit denen sie vermittelt oder unvermittelt in Kontakt kamen. Zu diesen Theorien gehörte die in den Schulen des MarxismusLeninismus vermittelte Rolle der Produktionsarbeiter in der DDR ebenso wie die Lebensweisheiten der Prärieindianer, die in den DDR-Jugendgruppen populär waren, oder die Lehren der Katholischen Kirche. Diese Theorien geben aber nicht notwendigerweise einen Rahmen ab, in dem die Menschen denken (Sabel 1982:18), sondern aus vielfältigen, oftmals auch widersprüchlichen Theorien entwickelt sich eine „little Tradition“ (Tambiah 1970), die der konkreten Lebenssituation entspricht. Das Spektrum dieser Theorien erweiterte sich mit der Öffnung der ostdeutschen Gesellschaft zusehends. Die Vorstellungen von der Marktwirtschaft, die im Betrieb vor dem Fall der Mauer zirkulierten, hatten recht wenig mit der Welt außerhalb der DDR zu tun. Die meisten Beschäftigten gingen davon aus, ihr Betrieb könne auf dem westlichen Markt bestehen, wenn die Mängel der Planwirtschaft behoben, die Produktivität gesteigert und die Qualität der Produkte verbessert würden. Ein Mangel an Gütern und eine hohe Nachfrage wurden Anfang 1990 noch als selbstverständlich angenommen. Ein gesättigter Markt war vor der Wende nicht vorstellbar, und der plötzliche Wegfall der Produktnachfrage fand zunächst keine rationale Erklärung. Die Orientierungslosigkeit, die in dem häufig gehörten Ausdruck der 21 Hilflosigkeit gipfelte: „Jemand müßte kommen, der umstellt“, entstand aus dieser Diskrepanz zwischen Vorstellung und Realität. Gleichzeitig kritisierten die Beschäftigten, daß ihnen die Initiative aus den Händen genommen wurde und daß die Machtmittel der neuen Zeit sich in den Händen der alten Machthaber wiederfanden. Sie hatten das Gefühl, als verflöge die Zeit viel zu schnell, um „auf Erreichtem aufbauen“ zu können. Indem der Prozeß der Transformation in Ostdeutschland in die Übernahme der westdeutschen Institutionen mündete, konnte die Verantwortung für die ungewollten Konsequenzen der Transformation im alltäglichen Diskurs den „Westdeutschen“ zugeschoben werden. Damit wurde allerdings der Umstand verdeckt, daß sich die Beschäftigten die westdeutschen Institutionen durchaus zu eigen machten und nicht nur passiv erduldeten. Wer waren die Akteure, welche die westdeutschen Institutionen begrüßten und die davon profitierten, und wer wurde von ihnen überrascht und überrannt? Profitierten im Wirtschaftsleben tatsächlich jene, die sich die westdeutschen Institutionen herbeigewünscht hatten? Warum setzten sich manche Werktätige in der DDR für die institutionelle Innovation ein und andere widersetzen sich ihr? Auf welche Erfahrungen und zumindest offiziösen Statusrechte beriefen sie sich? Wie verbanden sie diese mit den Erfahrungen und Wahrnehmungen über das neue Betriebsregime? Die institutionelle Innovation im Betrieb, die Überführung des Betriebskapitals in Privatbesitz, die Produktion für den Markt, die Trennung von Politik und Wirtschaft, die Aufhebung der sozialen Rolle des Betriebs, die Einführung einer Buchhaltung, welche die Aktivitäten im Betrieb nach Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkten bewertete – dies waren die Konsequenzen, die von den Beschäftigten durchaus unterschiedlich aufgenommen wurden, abhängig von ihrem Ausbildungsniveau, dem Status im Betrieb, dem Alter, der politischen Überzeugung, der Position in der Hierarchie und dem Zeitpunkt der Einschätzung. Diejenigen, die sich Vorteile von der institutionellen Erneuerung versprachen, erwarteten eine ihrer Leistung angemessene Bezahlung, technologische und organisatorische Bedingungen für Qualitätsarbeit, die Überwindung der durch Fehlplanung verursachten Staus und Unregelmäßigkeiten im Produktionsfluß (Stürmen und Warten), eine rationelle Planung, das Ende der politischen Kontrolle und Bevormundung und der Reproduktion der sozialistischen Ideologie im sozialistischen Wettbewerb sowie die Ablösung der sozialistischen Leiter und der Parteiorgane im Betrieb. Sie waren überzeugt, daß sie ihre wahren Fähigkeiten zeigen könnten, wenn der sogenannte Wasserkopf der Kaderverwaltung erst abgelöst wäre. 22 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 In den Jahren nach der Vereinigung erhöhte sich jedoch die Zahl der Beschäftigten, die den Konsequenzen der institutionellen Veränderung skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden. Sie bedauerten den Verlust der Arbeitsplatzsicherheit und hatten Angst um den individuellen Arbeitsplatz und um den Gesamtbetrieb. Die verstärkte Differenzierung zwischen den Arbeitenden, zwischen Technikern und Produktionsarbeitern traf auf Ablehnung vor allem bei den qualifizierten Produktionsarbeitern. Die stärkere Kontrolle am Arbeitsplatz, vor allem über den Gebrauch der Zeit, die den Planerfüllungspakt zwischen Management und Produktionsarbeitern ablöste, wurde als Einschränkung der persönlichen Freiheit empfunden. Auch das Wechselspiel zwischen Phasen mit starkem Produktionsdruck und Kurzarbeit als Folge der Höhen und Tiefen der Auftragsauslastung wurde von denen, die das „Stürmen und Warten“ in der Planwirtschaft überwunden glaubten, als Enttäuschung empfunden. Konkurrenz und Ausgrenzung, mit der Ideologie der Verlierer und Gewinner gerechtfertigt, widersprachen den Vorstellungen vieler Beschäftigter von Gerechtigkeit. Ebenso ungerecht erschien ihnen der Umstand, daß „sozialistische Leiter“ Besitzer oder Geschäftsführer werden konnten und als solche die Mittel hatten, noch autoritärer als zuvor über den Betrieb zu herrschen. Manche Beschäftigte wurden von dem Gefühl überrascht, daß ihnen der Verlust an politischer und ideologischer Bedeutung als „Werktätige“, die einen wichtigen Beitrag zu leisten haben in der Gesellschaft, zu schaffen machte. Viele, die um ihren Arbeitsplatz bangten, hatten das Gefühl, überflüssig zu sein in der neuen Gesellschaft. Ausgangspunkt meiner Analyse der Machtbeziehungen war das Gefühl vieler Beschäftigter, nach dem Ende der DDR stärker vereinzelt und weniger zu gemeinsamem Handeln fähig zu sein. Für meine Gesprächspartner kam dies um so überraschender, als sich in ihren Augen die Rechtslage wesentlich gewandelt hatte: In der Bundesrepublik standen ihnen nun die freie Wahl einer Belegschaftsvertretung und das Recht auf Streik zu, die sie im real existierenden Sozialismus nicht hatten. Allerdings wurden die in der Gesetzgebung der Bundesrepublik festgelegten Mitbestimmungsrechte von der Belegschaft in den privatisierten Betrieben in Ostberlin oft nicht genutzt. Sie kannten ihre Rechte nicht, mißtrauten den Gewerkschaftsführern der Nachfolgeorganisationen der alten sozialistischen Gewerkschaften und reproduzierten zunächst die Kommunikationsstrukturen, die sie aus der Planwirtschaft kannten. Wenn in der ersten Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs nach dem Fall der Mauer die Rigidität der gesellschaftlichen Strukturen aufgelockert schien, so verfestigten sie sich in den darauffolgenden Jahren wieder. Die Kritiker der ersten Stunde forderten Veränderungen und zogen ihre Chefs zur Rechenschaft, 23 aber es waren meist die alten Machthaber, die die Möglichkeiten des neuen Systems ausnutzten, um ihre Machtpositionen zu zementieren. Mancher Leiter der Planwirtschaft, der in den ersten Monaten des Jahres 1990 an Machtfülle eingebüßt zu haben schien, setzte sich in den marktwirtschaftlichen Institutionen durch. Die Genossen Direktoren der Planwirtschaft wurden zu Managern oder gar Betriebsbesitzern in der Marktwirtschaft, oftmals mit Hilfe von persönlichen Verbindungen zu Mitarbeitern der Treuhand. Da die Macht, die die Betriebsdirektoren zur Zeit der Planwirtschaft über ihre Untergebenen ausübten, eher politischer als ökonomischer Natur war, wie konnten sie diese nach dem Auflösen der Parteistruktur erhalten? An dieser Stelle wird der Zusammenhang zwischen Eigentum und Macht wesentlich. Eigentum ist institutionalisierte Verfügungsmacht, die nach der Wende durch die staatliche Institution Treuhand vom „Volk“ auf unterschiedliche private Institutionen beziehungsweise Personen, übertragen wurde. In den ersten Monaten nach dem Fall der Mauer verstanden die Beschäftigten und auch die Leiter die Betriebe „in Volkseigentum“ (VEB), in denen sie arbeiteten, in gewisser Weise als ihren Besitz. Als die Eigentumsrechte auf Privatpersonen übertragen wurden, knüpften sich daran eine Reihe von Machtinstrumenten, die die Beschäftigten in den ostdeutschen Betrieben bald als ihren Nachteil erkannten. Das Instrument, um Macht über andere zu erlangen, war nun nicht mehr die politische Position, sondern der Besitz oder die Allianz mit den Besitzenden. Es gab in Ostdeutschland nur sehr wenige Betriebe, die von der Belegschaft übernommen wurden, und noch weit weniger haben bis heute Bestand. Die Treuhandanstalt stand dieser Möglichkeit zwar aufgeschlossen gegenüber, wenn die Belegschaften Finanzierungskonzepte vorlegen konnten, aber die meisten Belegschaften machten erst gar nicht den Versuch. Der Besitz eines Betriebes in einer völlig undurchschaubaren wirtschaftlichen Situation schien den wenigsten Beschäftigten erstrebenswert – vielen Betriebsdirektoren jedoch durchaus. Interessant ist dabei die Frage, was diese Direktoren motiviert hat und wie sie sich durchsetzten und legitimierten gegenüber einer Belegschaft, der sie jahrelang den Marxismus-Leninismus gepredigt hatten. Die komplexen Mechanismen der kulturellen Anpassung und Abgrenzung im Betrieb unterschieden sich, je nachdem ob die Betriebe von Direktoren der VEBs privatisiert oder von westlichen und multinationalen Unternehmen gekauft wurden. In den letzteren wurde den Beschäftigten meist eine „Unternehmensphilosophie“ als Identifikationsmodell angeboten, die die neuen Machtverhältnisse und dominanten Werte erklären und legitimieren sollte. Wie die offizielle Ideologie zur Zeit der Planwirtschaft wurde das homogene Modell, das die multinati24 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 onale Firma ihren Mitarbeitern anbot, angenommen, verändert oder auch abgelehnt. Allerdings wirkte es nicht auf die gleiche Art und Weise. Während die Reproduktion der realsozialistischen Ideologie im sozialistischen Wettbewerb in erster Linie darauf angelegt war, Lippenbekenntnisse der politischen Konformität von den Beschäftigten zu erhalten, ging es bei der Betriebsphilosophie darum, wirtschaftlich bedeutsame Handlungen und Entscheidungen der Beschäftigten zu beeinflussen und zu steuern. Geld, Erfolg und Macht spielten eine Rolle für die Akzeptanz des Identitätsmodells des „Gewinners“ in der Marktwirtschaft. Auch Existenzangst und Unsicherheit wirkten sich aus. Die Unternehmensphilosophie der multinationalen Firma, die hier als dritter Betrieb untersucht wird, richtete sich vor allem auf die Steigerung der Produktivität in den osteuropäischen Tochterfirmen. Die Beschäftigten sollten sich im Wettbewerb mit allen anderen Produzenten in und außerhalb des Unternehmens als Gewinner fühlen, die die höchste Produktivität und die besten Ergebnisse brachten. Die Argumente und Strategien jedoch, mit denen das multinationale Unternehmen versuchte, ein Maximum an Produktivität, verbunden mit einem Minimum an Lohnkosten, zu erzielen, widersprach der sozialistischen Idee von Produktivität als einer objektiven, wissenschaftlich ermittelbaren Kategorie, die der Leistungsfähigkeit der Arbeiter und der technischen Ausstattung Rechnung trug. Produktivität war auch in der Planwirtschaft ein Schlüsselbegriff gewesen. Der Anspruch, in immer kürzerer Zeit immer mehr zu produzieren, war daher nicht neu für die Arbeiter und Angestellten. In der Planwirtschaft hatte die Erhöhung der Produktivität jedoch eine politisch-moralische Dimension als kollektiver Beitrag der Arbeiter zur sozialistischen Gesellschaft. Im multinationalen Unternehmen jedoch war „Produktivität“ der Maßstab, an dem der „Wert“ des einzelnen für das Unternehmen gemessen wurde. Die Unternehmensphilosophie zielt einerseits auf die Abstraktion von persönlichen Beziehungen, Passionen und Identifikationen ab und reduziert die Menschen, die in den Betrieben arbeiten, auf ihre Funktion als Arbeitskräfte. Andererseits stellt es den individuellen Willen der Beschäftigten in den Mittelpunkt, der auf die Interessen des Unternehmens ausgerichtet und instrumentalisiert werden soll. Methoden der Feldforschung Im Wechselspiel von Nähe und Distanz, von der Suche nach möglichst großer Familiarität, die manchmal bis zur Annahme von fiktiven Verwandtschaftsbezie25 hungen geht, und der dennoch unauflöslichen Bedingung kultureller und sozialer Fremdheit in der untersuchten Gruppe, entsteht der besondere anthropologische Blick. Der Untersuchungsgegenstand und die Methode bedingen sich gegenseitig und werden so zu einem untrennbaren und exklusiven Paar. Die Sozialanthropologie steht somit vor der Herausforderung, die Subjektivität der Forscher in ihre Analyse miteinzubeziehen und gleichzeitig die Ergebnisse ihrer Untersuchungen methodisch nachvollziehbar zu machen. Die Rückkehr der Sozialanthropologen in ihre eigene Gesellschaft hat diese Herausforderung noch verschärft, da die Verschränkung von eigenen Interessen und Forschungsgegenstand noch vielschichtiger und die sozialanthropologische Selbstanalyse des Forschers noch schwieriger zu gewährleisten ist, da der gesellschaftliche Akteur, auf den sich das Interesse richtet, nicht notwendigerweise anders und auch nicht unbedingt fremd ist. Die sozialanthropologische Forschung in Ostberlin hielt in dieser Hinsicht viele Fallstricke für mich bereit. Ich konstruierte zu Beginn meiner Forschung die Beschäftigten in den von mir untersuchten Betrieben als „andere“. Das war umso einfacher und einleuchtender, als mir die im Sommer 1990 noch vorherrschenden Strukturen eines VEB fremd waren und die Beschäftigten darauf bedacht waren, mir die Planwirtschaft und die damit einhergehenden besonderen Verhaltensweisen zu erklären. Sie bestanden geradezu darauf, daß sich in der DDR eine eigene Kultur entwickelt habe, die die Westdeutschen verstehen und berücksichtigen müßten. Allerdings verschob sich diese scheinbar klare Trennung in fremd und eigen im Laufe der Forschung. Die Konstruktion des anderen als Forschungssubjekt stand mit dem gleichzeitig ablaufenden Prozeß der Vereinigung im Widerspruch. Die ostdeutsche Gesellschaft erhielt den institutionellen Rahmen der westdeutschen und paßte sich ihm an oder paßte ihn sich an. Die „anderen“ verloren ihren separaten gesellschaftlichen Kontext, in den ich mich als Sozialanthropologin voller guten Willens hätte hineinbegeben können, um sie zu verstehen und kennenzulernen. Sie entwickelten eine eigene Dynamik des Umgangs mit der Vergangenheit, veränderten ihren Arbeits- und Lebensrhythmus und ihre kulturellen Bezüge. Auch die westdeutsche Gesellschaft veränderte sich – in Westberlin wesentlich schneller und umfassender als im restlichen Westdeutschland. Die Schnittpunkte des Kontaktes, an denen die beiden Gesellschaften sich trafen, verschoben sich ständig. Der Betrieb war Kristallisationspunkt dieser gesellschaftlichen Entwicklungen, die sich in einem enormen Tempo vollzogen. Die einfachen Kategorien, mit denen ich meine Forschung begonnen hatte, lösten sich auf. So zum Beispiel die Kategorie des „Ostberliner Arbeiters“: 1990 26 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 hatte die Kategorie „Arbeiter“ noch starke ideologische und politische Bezüge in Ostdeutschland. Die Erinnerung an den Arbeiter- und Bauernstaat lastete darauf. Schon ein Jahr später war diese fast gänzlich verschwunden. Die neue Kategorie des „Arbeitslosen“ schlich sich ein. Menschen, die 1989 davon überzeugt waren, ihr ganzes Leben Arbeiter zu bleiben, wurden Händler, Vertreter, selbstständige Handwerker, Taxifahrer. „Ostberliner Arbeiter“, die nach 1989 in der Westberliner Firma HOCHINAUF zu arbeiten begonnen hatten, kehrten bei der Vereinigung der Westberliner mit der Ostberliner Fertigung als „Westberliner“ nach Ostberlin zurück. Im Verlauf der Langzeitstudie veränderte sich nicht nur mein Verhältnis zu den Akteuren in den Betrieben, sondern ich war auch wie sie betroffen von tiefgreifenden politischen und sozialen Veränderungen, die uns bisweilen als Westdeutsche und Ostdeutsche in unterschiedliche politische Lager stellten. Die Ergebnisse der Studien zeugen daher nicht von „neutralen“ objektiven Feststellungen, sondern vom Prozeß dieser Veränderungen. Durch die Beobachtungen des Arbeitsablaufs, die ständige Anwesenheit auch in Momenten von Spannungen und Konflikten, die Teilnahme an Geburtstagsfeiern, Arbeitsbesprechungen und Belegschaftsversammlungen konnte ich die Erzählungen und Erläuterungen der Arbeitenden in Bezug zu ihrem Handeln setzen, aber ich war auch selbst Projektionsfläche für die Selbstdarstellungen, durch die sich die Akteure in der neuen Realität positionierten. In der sozialanthropologischen Literatur wird diskutiert, daß der erste Zugang zum Feld und die Personen, die diesen Zugang ermöglichen, prägend sind für den Verlauf der Forschung. Ich wählte den für die alte DDR typischen Weg durch die Hierarchien – vom Ministerium für Leichtmaschinenbau abwärts –, um Zugang zu volkseigenen Betrieben zu erhalten. Am schwierigsten war es Anfang Mai 1990, durch die Sperren und Personalkontrollen am Eingang des Ministeriums für Leichtmaschinenbau zu kommen. Hinter den Sperren ergab es sich, daß das Ministerium bereits seine Funktionen aufgegeben hatte. Die Mitarbeiter saßen noch in ihren Räumen – aber sie arbeiteten nicht mehr. Ich war ins Zentrum der Kontrollmacht der DDR Wirtschaft vorgedrungen, aber diese Macht bestand nicht mehr. Sie brauchte auch nicht mehr durch Abgrenzungen aufrechterhalten zu werden. Die Mitarbeiter des Ministeriums brauchten keine Geheimnisse vor mir zu hüten. Sie nahmen sich Zeit für mich, suchten Adressen und Telefonnummern von Betrieben heraus, die ihrer Meinung nach erfolgreich genug waren, um auch in der Marktwirtschaft zu bestehen und empfahlen mich ihren Freunden, die dort Betriebsdirektoren waren. 27 Die Tatsache, daß ich vom Ministerium geschickt worden war, öffnete mir in den ersten beiden Betrieben STANEX und TAGHELL umstandslos die Türen. Die Direktoren gestatteten es, daß ich mich frei im Betrieb bewegte und mit den Beschäftigten redete. Es war sicher nicht das große Interesse für meine Arbeit, das sie dazu bewog, mich in den Betrieb hineinzulassen, sondern ich war als Sozialanthropologin für sie wohl auch nichts anderes als ein Zeichen der neuen Zeit: eine Westlerin, deren Absichten sie nicht einschätzen konnten, der sie aber auch nicht den Zugang zum Betrieb verweigern wollten, weil sie nicht den Anschein erwecken wollten, etwas zu verbergen zu haben. Als ich im Juni 1990 zum ersten Mal die Lampenfabrik TAGHELL und den Hersteller von Montageautomaten STANEX besuchte, begegneten mir Belegschaft und Leiter mit großer Offenheit. Ich konnte lange Gespräche führen und Notizen machen. Nach und nach erschlossen sich mir die Konfliktpotentiale, Allianzen und Gegnerschaften im Betrieb. Belegschaftsmitglieder und Geschäftsleitung versuchten zwar, mich von ihrer jeweiligen Position zu überzeugen, aber sie hinderten mich nicht daran, auch gegensätzliche Darstellungen zu hören. Die Leiter der volkseigenen Betriebe wußten noch nicht, ob sie bei der Umwandlung ihres Betriebes in eine GmbH ihren Posten behalten würden. Die Belegschaften hingegen hinterfragten zwar noch die politische Vergangenheit und die aktuellen wirtschaftlichen Entscheidungen ihrer Leiter. Aber sie hatten es zu diesem Zeitpunkt bereits aufgegeben, sie ablösen zu wollen. Es entstand eine Pattsituation, die sich für die ethnologische Forschung geradezu ideal auswirkte: Die Vergangenheit besaß für die Positionsbestimmungen in der Gegenwart noch genügend Brisanz, so daß mich Leiter und Belegschaften mit Berichten und Darstellungen über die Planwirtschaft überschütteten, aber die Machtstrukturen aus der Vergangenheit waren vorläufig außer Kraft gesetzt. Erschwert wurde die Forschung zunehmend im Laufe des Jahres 1991, als die Leitung angesichts der immer größer werdenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten begann, ihre Entscheidungen und ihre Betriebspolitik zu verschleiern. Die sozialistischen Leiter waren zu Geschäftsführern geworden und versuchten, zu Besitzern der Betriebe zu werden. Als Beobachterin im Betrieb war ich nun unerwünscht. Als der Zugang zu den ersten beiden Betrieben schwieriger wurde und ich die Gespräche mit den Betriebsangehörigen vor allem außerhalb des Betriebs durchführen mußte, zog ich im Sommer 1991 einen dritten Betrieb HOCHINAUF in die Untersuchung mit ein, der von einem multinationalen Unternehmen gekauft worden war. Ein westdeutsches Aufsichtsratsmitglied hatte mir den Kontakt zu der Betriebsleitung in Westberlin vermittelt. 28 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Die Beobachtungen am Arbeitsplatz und die Interviews wiesen ständig über den beschränkten Rahmen des Betriebes hinaus. Im Kleinen, in den alltäglichen Veränderungen und in den banalen, oft nur nebenbei gemachten Bemerkungen und Kommentaren reflektieren sich die großen gesellschaftlichen Zusammenhänge. Die beobachteten alltäglichen Ereignisse und Kommentare können einer Vielfalt von unterschiedlichen und wiederholten Betrachtungen unterworfen werden (Rosenthal 1996:142). Die beobachteten sozialen Interaktionen, Konflikte etc. geben einen unterschiedlichen Sinn, je nachdem ob ich sie „mikroskopisch“ in all ihren Details betrachtete oder ob ich sie in einer weiteren „makroskopischen“ Perspektive sah. Um nur ein Beispiel zu geben: Die unterschiedliche Bezahlung von Ostberliner und Westberliner Arbeitern in der HOCHINAUF Fabrik in Ostberlin kann von einer „makroskopischen“ Perspektive aus als Konsequenz der im Einigungsvertrag festgelegten vorübergehenden Einrichtung von zwei Tarifzonen in West- und Ostdeutschland betrachtet werden. Von der „mikroskopischen“ Perspektive der Werkstatt aus erscheint sie als ein Versuch der Westberliner Geschäftsleitung, die Ostberliner Arbeiter zu benachteiligen, und wird zum Auslöser von normativen Diskursen über Produktivität und Gerechtigkeit. Offizielle Statistiken, Gesetzestexte und Berichte geben wertvolle Hintergrundinformationen, ohne die eine „makroskopische“ Perspektive nicht bezogen werden kann, aber sie geben den Entscheidungen, die auf einer dem Betrieb übergeordneten Ebene getroffen worden sind, einen unpersönlichen, fast objektiven Charakter. Ich habe mich aus diesem Grund bemüht, die Komplexität der Entscheidungen auch auf übergeordneter Ebene zumindestens anzureißen und die Entscheidungsträger als komplexe Personen darzustellen. Aus diesem Grund führte ich Interviews nicht nur im Betrieb, sondern auch bei der Konzernleitung, der Treuhand und beim Aufsichtsrat durch. Obwohl ich meine Forschung auf den Betrieb konzentrierte und dort auch die meisten Beobachtungen machte, war der Betrieb nur der Ort, an dem ich die Feldforschung durchführte, nicht die „natürliche“ Grenze des Forschungsfeldes. Die Beziehungen der Akteure und ihre Interpretationen verwiesen ständig über den Betrieb hinaus: in ihr Familienleben, ihre Wohnsituation, ihr politisches Engagement, ihre Lebensgeschichte. In der Phase der Umstrukturierung wurde auch mit der Vergangenheit im Betrieb abgerechnet. Sie wurde ausgiebig erläutert und beschrieben, aber auch verdrängt. Häufig kam es erst durch die Diskussion von historischen Textdokumenten (Brigadebüchern, Aufzeichnungen der Betriebsparteiorganisationen, Protokollen von BGL-Sitzungen u.a.) zu einem intensiveren und detaillierteren Erinnern. Die schriftlichen Dokumente wurden zum Anstoß für Interpretationen 29 aus der Gegenwart heraus, die oft ebensoviel über das gerade Erlebte wie über die Vergangenheit aussagten. Schon über einen Zeitraum von einem Jahr lassen sich Verschiebungen in der Interpretation der Vergangenheit feststellen. Nach mehreren intensiven Feldforschungsphasen, in der ich mich täglich während der Arbeitszeit im Betrieb aufhielt, besuchte ich die Betriebe regelmäßig, verabredete Interviews und hielt mich über die neusten Ereignisse auf dem Laufenden. Ich beendete die Materialsammlung, als auch der dritte Betrieb, HOCHINAUF, von dem multinationalen Konzern 1996 geschlossen wurde. Der Bankrott der Betriebe oder die Produktionsverlagerung war selbstverständlich nicht das „natürliche“ Ende der Feldforschung, denn die Menschen in den Betrieben existierten weiter, fanden eine neue Arbeit oder wurden arbeitslos. Mit der Auflösung der Betriebe verschwand jedoch der Ort, an dem ich die Interaktionen der mir bekannten Akteure hätte beobachten können. Sie auf ihrem weiteren Lebensweg zu begleiten, hätte Stoff für ein neues Projekt ergeben. Vorstellung der Betriebe und der Akteure STANEX STANEX entwickelte sich in den sechziger Jahren aus einem Forschungsinstitut für Kybernetik. Kybernetische Ideen wurden in den Reformjahren des Neuen ökonomischen Systems3 auf die Organisation der Produktion angewandt, die nach wissenschaftlichen Kriterien gestaltet werden sollte. 1968 begannen die Ingenieure des Instituts, nicht nur ihre Organisationsprinzipien als Krisenmanagement in andere Betriebe zu tragen, sondern sie entwickelten aus diesen Ideen heraus selbst Produkte. Einer der Initiatoren war der spätere Direktor des Bereichs Montageautomatisierung von STANEX, Dr. Schöpf, ein überzeugtes Parteimitglied und Doktor der planwirtschaftlichen Ökonomie. Ich wählte den Betriebsteil Montageautomatisierung als Untersuchungsfeld, der mit 100 Mitarbeitern und einer eigenen Verwaltungsstruktur schon fast wie ein eigenständiger Betrieb innerhalb des VEB STANEX mit über 2000 Mitarbei- —————— 3 In der Reformphase des Neuen ökonomischen Systems (1963-1970) wurde die Kybernetik dazu gebraucht, die zentrale Planung zu stärken (Meuschel 1992:188), indem die Untersysteme sich selbst regulieren sollten. Der Betrieb war Katalysator dieser Vorstellung. Dort sollte die technokratisch-systemische Selbstregulierung politisch und ideologisch eingebunden werden. 30 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 tern funktionierte. Mitarbeiter und Leitung des Bereichs waren überdurchschnittlich motiviert und von ihrem Produkt überzeugt. Die Auseinandersetzung mit den politischen Zielen der Planwirtschaft und den Idealen des Sozialismus war Bestandteil ihrer alltäglichen Gespräche. In den ersten Jahren gelang es den Forschungsingenieuren nicht, eines der von ihnen entwickelten Produkte tatsächlich in die Fertigung zu bringen und bis zur Serienreife zu entwickeln. Die Mechanismen der Planwirtschaft, für die jede Innovation eine neue Komplikation bedeutete, blockierten ihr Vorhaben. Erst ab Mitte der siebziger Jahre gelang es Schöpf nach jahrelangen Kämpfen im Kombinat und im Betrieb und auch nur dank seiner guten politischen Verbindungen, daß Fertigungsautomaten, die sein Bereich entwickelte hatte, auch tatsächlich gebaut werden konnten. Die komplizierten Automaten beruhten auf dem Grundprinzip von zwölf zusammenhängenden Montagestationen, die für jeden Auftrag neu entwickelt werden mußten. Die Vibratorbehälter beförderten Kleinteile zu den Montagestationen, die dort eingesetzt, verschraubt oder gepresst wurden. Der Automat wurde beispielsweise dafür konstruiert, in einem Durchlauf Schukostecker zusammenzusetzen oder, kombiniert mit einem zweiten Automaten, Leiterplatten zu bestücken. Da jeder Automat ein Einzelstück mit spezifischen Problemen war, die meist vor Ort bei der Montage gelöst werden mußten, arbeiteten die Monteure eng mit den Konstrukteuren zusammen. Ihr Verhältnis war gleichberechtigt und kollegial, da es darauf ankam, gemeinsam pragmatische Lösungen zu finden, statt Hierarchien herauszustreichen. Der Betrieb hatte zur Zeit der Planwirtschaft ein weites Netz von Beziehungen zu Zulieferbetrieben von speziellen Komponenten aufgebaut, die für die Fertigung der spezialisierten Automaten unabdingbar waren. Die Automaten waren hochbegehrt und wurden von dem Bereichsdirektor vor allem für die Betriebe gebaut, die bereit waren, im Austausch dafür spezielle Komponenten für die Automaten zu liefern. Als ich meine Forschung im Betrieb im Mai 1990 begann, hatte der Bereich bereits einen guten Teil seiner Geschäftspartner verloren. Die elektrische und elektronische Industrie der DDR war in der Krise, und Montageautomaten wurden nicht gebraucht. Neue Kunden auf dem westdeutschen Markt waren noch nicht geworben worden. 31 TAGHELL Der kleine Fertigungsbetrieb für Messingleuchten in einem Vorort von Berlin, nennen wir ihn TAGHELL, war in vielerlei Hinsicht das Gegenstück zu STANEX. Er produzierte begehrte Konsumgüter für den inländischen Verbrauch, aber auch für den Export ins sozialistische und nicht-sozialistische Ausland. Die Belegschaft einschließlich der Direktoren bestand zum größten Teil aus Nichtparteimitgliedern. Entsprechend gering war die ideologische Indoktrination und die politische Motivation der Beschäftigten. Die meisten arbeiteten hier, weil der Job gut bezahlt war oder weil er in der Nähe ihrer Wohnung lag. Den Mitgliedern der Leitung wurde von den Beschäftigten nachgesagt, daß sie vor allem in den Betrieb gekommen waren, weil sich mit den Leuchten auf inoffiziellem Wege gut Geld verdienen ließ. TAGHELL war aus kleinen Lampen produzierenden Familienbetrieben und Zulieferern hervorgegangen, die in den sechziger Jahren die verschiedenen Phasen der schleichenden Verstaatlichung durchlaufen hatten. Durch die hohe Besteuerung ihrer Gewinne mit bis zu 80 % und durch den fehlenden Zugang zu Investitionsgütern gerieten die Klein- und Kleinstfirmen zunehmend in Abhängigkeit vom Staat, verschuldeten sich und mußten Anteile an den Staat überschreiben, der sie in der letzten Verstaatlichungswelle 1972 ganz übernahm. Auch nach 1972 hatte die Lampenproduktion weiterhin große Schwierigkeiten, ihren Maschinenpark zu erneuern. Erst 1978 verbesserte sich die Situation des Betriebes schlagartig, als die politische Entscheidung fiel, dem Betrieb einen Teil des geringen Messingkontingents, das es in der DDR gab, für die Produktion von Messingleuchtern zur Verfügung zu stellen. Die begehrten Lampen eigneten sich vorzüglich, um sich Freunde bei den verantwortlichen staatlichen Stellen zu machen. Mitglieder des Wirtschaftsrates des Bezirks, der bis 1984 für den Betrieb verantwortlich war, erhielten Messingleuchter und vergaben dafür Investionsbilanzen. Dies änderte sich 1984, als der Betrieb in das Kombinat XYZ eingegliedert wurde und die Kombinatsleitung die Investionsbilanzen, die für TAGHELL bestimmt waren, lieber für ihren eigenen Stammbetrieb – das heißt den Hauptbetrieb des Kombinates, für den sie direkt verantwortlich waren – abzweigte. Dennoch blieb der Betrieb im DDR-Maßstab auch nach 1984 außerordentlich erfolgreich. Es gelang ab Mitte der achtziger Jahre, einen Leuchtertyp zu entwickeln, der auch im westlichen Ausland Anklang fand. Der wirtschaftliche Erfolg des Betriebes, das heißt die Tatsache, daß er begehrte Konsumgüter herstellte und außerdem exportierte, zog Führungskräfte aus anderen, auch bedeutenderen 32 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Betrieben an. Die neuen Direktoren kamen häufig gleich mit einer neuen Mannschaft, mit der sie leitende Positionen neu besetzten (Arndt 1997). Besonders einflußreich war die „Truppe der Schwachströmer“ – so genannt von ihren Kollegen, weil sie alle aus dem VEB-Elektrik zu TAGHELL gekommen waren, als 1978 die Stelle des Produktionsdirektors und die Stelle des technischen Direktors mit Mitarbeitern aus diesem Betrieb besetzt wurden. 1989 verteilten sich zehn kleine Fertigungsstätten für Lampen, Komponenten und Schirme, die alle zu TAGHELL gehörten, über das Berliner Stadtgebiet und die Umgebung. Das Hauptfertigungsgebäude, wo sich auch die Verwaltung befand und wo ich meine Untersuchung durchführte, lag im Zentrum eines Vorortes von Berlin, direkt am Fluß. TAGHELL besaß neben seinem Stammsitz mit 120 Mitarbeitern einen Werkzeugbau und Rationalisierungsmittelbau mit 15 Personen, einen Entwicklungs- und Musterbau mit sieben Mitarbeitern, eine Schirmefertigung mit 40 Mitarbeitern – vorwiegend Frauen – ein Fertigwarenlager, eine Handpoliererei mit drei Männern und am anderen Ende von Berlin eine mit fünf Männern sowie eine Drechslerei, die von einem Ehepaar betrieben wurde. 1986 wurden dem VEB zwei weitere Betriebe zugeschlagen, die nichts mit Leuchtenproduktion zu tun hatten: eine Metalldrückerei mit vier Unterbetrieben und eine Fertigung für Drehkondensatoren mit drei Unterbetrieben, so daß der Betrieb 1989 aus 15 Teilbetrieben mit insgesamt 340 Mitarbeitern bestand. Ein Mitarbeiter nannte diese Ansammlung von Betrieben treffend „ein Hüttenkombinat“ – eine Ansammlung von Hütten, in denen mit uralter Technologie gefertigt wurde. Als Katrin Arndt und ich im Sommer 1990 zum ersten Mal den Betrieb besuchten, lag der Hof voll mit Messingabfällen und Maschinenteilen. Die Fertigungshalle im Erdgeschoß war unaufgeräumt, die Maschinen standen in Öl und machten einen Höllenlärm. Im ersten Stock des Hinterhauses arbeiteten fast ausschließlich Frauen, die Leuchter montierten. Der Raum war hell und freundlich und ausgestattet mit einer großzügigen Frühstücksecke mit Blick auf den verdreckten Hinterhof und die Spree. Den Montiererinnen, die alle im Akkord fertigten, arbeiteten Einrichter zu, die auf Stundenbasis bezahlt wurden. Als Antwort auf ihre Kollegen in der Vorfertigung, die ihre Frühstücksecken mit Bildern von nackten Frauen ausstaffiert hatten, hatten die Montiererinnen ein überlebensgroßes Poster von einem nackten Jüngling an die Stirnseite der Montagehalle gehängt. Im zweiten Stock befand sich die große Kantine, die auch als Versammlungsraum diente, und im darüberliegenden Stockwerk die Oberflächenbehandlung der Messing- und Holzteile. Obwohl die Oberflächenabteilung erst 1982 vollständig renoviert worden war, blieb sie die Giftküche des Betriebs. 33 Hier wurden die Messingteile von Handpolierern an kleinen Polierstöcken aufpoliert, was eine große Fertigkeit und Ausdauer erforderte. Dann wurden sie von weniger qualifizierten Hilfskräften in einem Tauchbad lackiert und in einer nytroverdünnten Lösung abgeglänzt. Schließlich wurden sie von anderen Frauen nachpoliert und abgepackt. HOCHINAUF Die Aufzugsfirma VEBLift war zu Zeiten der DDR ein Vorzeigeprojekt. Sie profitierte von dem Wohnungsbauprogramm der siebziger Jahre, das auch die Erweiterung der Aufzugsfertigung in der DDR vorsah. Für den VEBLift wurde ein Investitionsprogramm bewilligt, das für rund 25,5 Millionen Mark den Neubau eines Hauptgebäudes, einer Maschinen- und Montagehalle und einer Farbgebung realisierte. Franz Oswald, der zur Zeit meiner Feldforschung Fertigungsleiter der Kabinenproduktion war, leitete dieses Investitionsprogramm und setzte es bei den politischen Stellen in mühsamer Kleinarbeit durch. Mit überoptimistischen Planzahlen, die nie erfüllt wurden, weckte er die Investitionsbereitschaft der verantwortlichen politischen Stellen. Obwohl der VEBLift ein privilegierter Betrieb war und seine Hauptfertigungslinie politische Priorität besaß, fertigte er noch zahlreiche andere Produkte. Wie andere DDR-Betriebe mußte auch er ein Pflichtkontingent an Konsumgütern herstellen. Die Beschäftigten fertigten Autoanhänger und Schlauchwagen für Gartenschläuche, die bei Datschenbesitzern sehr begehrt waren. 1983 begannen sie mit der Entwicklung des Prototyps einer Rolltreppe, der, nachdem er 1989 fertiggestellt war, gleich wieder verschrottet wurde. Die Fertigung von Trogketten für den Braunkohletagebau war schon vor der Wende wieder eingestellt worden. Der VEBLift war in der DDR auch für die Wartung fast aller Aufzugsanlagen des Landes zuständig. Mehr noch als die Investitionen war es der Zugang zu Wartungsverträgen, der den VEBLift nach dem Fall der Mauer für westliche Investoren interessant machte. Schon Ende 1989 nahmen konkurrierende westliche Aufzugsfirmen mit der Betriebsleitung und mit den im Jahre 1990 zunehmend weniger einflußreichen Ministerien Verhandlungen über ein Joint Venture auf. Den Zuschlag erhielt schließlich eine große multinationale Aufzugsfirma, die im September 1990 die Mehrheit der Anteile an VEBLift erwarb. Das multinationale Unternehmen HOCHINAUF schloß den Vertrag mit dem Ziel ab, den Markt gen Osteuropa zu erschließen und sich die Wartungsaufträge zu sichern. 34 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Als ich meine Untersuchungen im Juli 1991 begann, besaß HOCHINAUF neben der Fertigung in Ostberlin eine Fabrik und eine Verwaltungszentrale in Westberlin, wo ich im Dezember 1992 eine vergleichende Untersuchung durchführte. 35 TEIL I ERINNERUNGEN AN DIE PLANWIRTSCHAFT 36 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 37 Im Mai 1990 sprachen die Betriebsmitglieder über die Planwirtschaft in einer Weise, die ihre Vorstellungen vom marktwirtschaftlichen System mit reflektierte. Das heißt, sie sprachen über die Verhältnisse zu Zeiten der Planwirtschaft in anderer Weise, als sie es vermutlich vor dem Fall der Mauer getan hätten. So wurde der Aspekt des informellen Wirtschaftens am Plan vorbei von Beschäftigten auf allen Hierarchieebenen betont, während der in der DDR vorherrschende offizielle Diskurs von der wissenschaftlichen Planbarkeit der Wirtschaft fast völlig aus den Darstellungen verschwand. Die Beschäftigten vermittelten über diese Darstellungen auch ein Bild von sich selbst, das sie auf die Rolle zuschnitten, die sie in dem neuen gesellschaftlichen System zu spielen wünschten. Die Darstellungen der Vergangenheit waren Aussagen über die gerade gelebte Gegenwart. Umgekehrt hing die Wahrnehmung der Gegenwart zum großen Teil mit der Erfahrung der Vergangenheit zusammen (Connerton 1989:2), denn unsere Bilder der Vergangenheit dienen in der Regel dazu, die gegenwärtige soziale Ordnung zu legitimieren oder sie in Frage zu stellen. Während meiner Forschungsaufenthalte in den Betrieben zwischen 1990 und 1993 waren meine Gesprächspartner beständig gezwungen, sich in ihrem privaten und beruflichen Umfeld neuen Bedingungen anzupassen. Die Vorstellungen, die sie sich von der Zukunft ihres Betriebes machten, und die Chancen, die sie sich für ihr eigenes berufliches Fortkommen ausrechneten, wurden laufend von den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen überholt und mußten korrigiert werden. Je weiter die deutsche Vereinigung voranschritt, desto mehr wurden die persönlichen Beziehungen im „volkseigenen Betrieb“ als Gegenbild zu den neuen Erfahrungen mit der Marktwirtschaft gezeichnet. Der Diskurs über die Vergangenheit wurde Bestandteil eines Ost-WestVergleichs, der vor allem ab Ende 1990 die Gemüter erregte. Gleichzeitig gehörten die Planwirtschaft und die sie beherrschenden Machtbeziehungen immer mehr der Vergangenheit an, und es wurde offener über Dis38 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 ziplinlosigkeit, halblegale Transaktionen und fehlende Arbeitsmotivation berichtet. Manche Aspekte planwirtschaftlichen Wirtschaftens, die früher nur hinter vorgehaltener Hand im kleinen Kreis diskutiert wurden oder als Gerüchte zirkulierten, wurden mir breit und ausführlich erzählt. Ebenso aufschlußreich wie die Verhältnisse aus der Vergangenheit, über die nun offen berichtet wurde, waren die, die nach wie vor verschwiegen wurden, und jene, über die nicht mehr gesprochen wurde. Somit war nicht nur die Darstellung der Vergangenheit relevant, sondern auch das, was nicht dargestellt wurde, weil es entweder als unwesentlich betrachtet wurde oder als sehr wesentlich, aber zu intim. Ereignisse und Umstände, die die Akteure in der Vergangenheit als verletzend und beschämend empfunden hatten, wurden vergessen oder in der Darstellung weggelassen. Die politische Einstellung der Interviewten zur Planwirtschaft und ihre Chancen in der Marktwirtschaft beeinflußten die Darstellungen der Vergangenheit. Überzeugte Parteimitglieder hüteten ihre Erinnerungen wie einen Schatz und waren auch nicht bereit, mir Einblick in die von ihnen geführten Brigadebücher zu gewähren. Die Bücher konfrontierten ihre Hüter mit den eigenen politischen Verlautbarungen in der Vergangenheit und wurden deshalb, abhängig von der gegenwärtigen Einstellung derer, die sie geführt hatten, vernichtet, gesammelt oder versteckt. Für die Rekonstruktion der sozialen Beziehungen im Betrieb zu Zeiten der Planwirtschaft war es von entscheidender Bedeutung, ob die sozialen Gruppen, die in der Vergangenheit zusammen agiert hatten, sich immer noch direkt aufeinander beziehen konnten und ob demnach die Darstellungen der einzelnen Beschäftigten durch die der anderen Gruppenmitglieder ergänzt, korrigiert oder bestätigt werden konnten. Über die politischen Einstellungen und Handlungen von Kollegen, zu denen in der Vergangenheit ein antagonistisches Verhältnis bestanden hatte, wurde ausführlich gesprochen, solange diese noch im Betrieb waren und Einfluß hatten. Besiegte Gegner wurden uninteressant, sobald sie den Betrieb verlassen hatten, und es wurden immer weniger Geschichten über sie erzählt. In Gruppen, die seit den Zeiten der Planwirtschaft relativ stabil geblieben waren, war die Erinnerung an die Planwirtschaft vielfältiger und facettenreicher und zeigte sich in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit. 39 1. Ideologie und Praxis des Plans (1988) Etwas, was wir Fortschritt nennen, Schleicht oft nur dahin. Würden wir es Fortschlich nennen, Gäb es einen Sinn. Horst Froberg alias Fröhlich, Facharbeiter bei STANEX Mit der Überführung des Privateigentums an Produktionsmitteln in „Volkseigentum“ wurden Kapitalverwertung und individuelle Nutzenmaximierung als Hauptantriebe der Wirtschaft abgeschafft. Damit verlor der Markt seine Funktion, die Allokation wirtschaftlicher Ressourcen zu leisten, indem gewinnorientierte, rechtlich autonome und ihr eigenes Risiko tragende Akteure – in den Rollen von Verkäufern von Arbeitskraft, Käufern von Arbeitskraft, Kapitalgebern, Produzenten, Händlern und Konsumenten (Rottenburg 1992:242) miteinander konkurrierten. Als Ersatz für den Markt wurde der Plan eingeführt, mittels dessen die richtigen Produkte in den erforderlichen Mengen und zur rechten Zeit hergestellt und verteilt werden sollten. Die intellektuellen Vordenker des Sozialismus gingen davon aus, daß wirtschaftliche und soziale Beziehungen rational planbar waren und daß die Planung große Gewinne an Produktivität und Effizienz gegenüber dem „Chaos des Marktes“ bringen würde (Kornai 1992:110). Schon Weber wies allerdings darauf hin, „daß von einer rationalen ‚Planwirtschaft‘ keine Rede sein kann, solange kein effizientes Rechnungssystem zur rationalen Aufstellung eines ‚Planes‘ bekannt ist“ (Weber 1972:55-56). Da die Planwirtschaft keine effektive Kapital- und Preisrechnung besaß und Geld seine Funktion als generalisiertes Steuerungsmittel verloren hatte, hatte sie kein Mittel, um die wirtschaftlichen Aktivitäten zu bewerten und miteinander zu vergleichen. Wie von Mises (zitiert in Hirschhausen 1994:16) es ausdrückte: „Die Planwirtschaft ist gar keine Wirtschaft. Sie ist nur ein System des im-Dunkeln-herumtastens.“ Die Entscheidungsspielräume der Betriebe wurden einerseits durch die Vorgabe von Plankennziffern, Preisen und die Zuweisung sogenannter „Bilanzanteile“ erheblich beschnitten. Andererseits hatten die Betriebe nicht die Konsequen40 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 zen ihres Handeln zu tragen. Die volkseigenen Betriebe operierten unter „weichen Budgetbedingungen“ (Kornai 1992) und konnten ohne Rücksicht auf Wirtschaftlichkeitserwägungen Güter und Arbeitskräfte horten, die dann an anderer Stelle im System fehlten. Da Geld als Steuerungsmedium für den Erwerb von Waren, Ersatzteilen und Werkzeugen nur eine untergeordnete Rolle spielte, mußte die mangelhafte Versorgung im Betrieb durch „Eigeninitiative“ kompensiert werden (Adlerhold/u.a. 1994:33). Das System hatte sich zwar als zentral gesteuerte Planwirtschaft dargestellt, war in der Praxis jedoch stark von informellen autonomen Handlungsmustern der wirtschaftlichen Akteure abhängig. Es waren vor allem diese Muster, die nach dem Fall der Mauer auch die Darstellungen der Beschäftigten in den von mir untersuchten Betrieben bestimmten. „Wenn Sie die Pläne aufmerksam lesen, steht da bestimmt drin, daß die Produktionspläne, der Jahresplan und davon abgeleitet das Jahresvorhaben, daß das Gesetz ist. Im Prinzip also wie Gesetz ... obwohl sich da keiner – die wenigsten – drum gekümmert haben, was da drinnen steht. Das ist es nämlich, das ist das Entscheidende.“ (Ruland, Facharbeiter, STANEX 18.4.1991) Alle Erzählungen über das Betriebsleben zu Zeiten der Planwirtschaft betonten die informellen Aspekte des Wirtschaftens. In der Erinnerung der Kollegen wurden die Angestellten in der Materialwirtschaft zu gewieften Dealern, die geschickt und unbürokratisch die für die Produktion benötigten Materialien besorgten. Die Beschäftigten im Absatz erzählten, wie sie vieles „möglich machten“. Die Buchhalter erläuterten, wie sie geschickt die Planzahlen manipulierten und den Wünschen der erfragenden Institutionen anpassten. Über die Direktoren hieß es, „ein sozialistischer Leiter ohne Beziehungen ist wie ein Kapitalist ohne Kapital“. Dem sozialistischen Arbeiter wurde die Fähigkeit zur Improvisation nachgesagt. Die Erzähler unterstrichen damit, daß sie und ihre Kollegen schon zu DDR-Zeiten eine aus der Praxis geborene Distanz zur offiziellen Lesart der Planwirtschaft hatten und – so die implizite Konsequenz – daher für die Marktwirtschaft gerüstet waren. Allerdings verschleiert diese Darstellung, daß alle Aspekte des Wirtschaftens durch die zentrale Planung geprägt waren. Die Implementierung des zentralen Plans, dieses monumentalen Werkes bürokratischer Koordination, wie es Kornai, (1992:114) nennt, verband in der Tat die planenden Institutionen, die zentrale Plankommission und die Planungsabteilungen der Ministerien, Kombinate und Betriebe eng mit den ausführenden Organen. Selbst die Bemühungen, den Plan zu umgehen, hingen untrennbar mit den Mechanismen der Planung zusammen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob das informelle Wirtschaften am Plan vorbei 41 der Planerfüllung zugutekam, wie fast alle Betriebsleiter einhellig behaupteten, oder ob sie diese sabotierte. 1.1. Die Planung des Mangels Der Produzent war König in der Planwirtschaft. Die Versuche, den Plan in den siebziger Jahren verstärkt den Wünschen der Konsumenten anzupassen, konnten zwar den Grundbedürfnissen weitgehend Rechnung tragen, waren jedoch unzulänglich, wenn es darum ging, den veränderten oder neu auftretenden Bedarf an Gütern oder Dienstleistungen zu befriedigen. Die Planwirtschaft blieb bis zum Schluß über einen Produktionsplan definiert, der nach politischen Zielsetzungen erstellt wurde und sich nur an zweiter Stelle nach den Wünschen der Konsumenten richtete. Durch die Abwesenheit der Rentabilitätsrechnung und der nachfragebestimmten Preisrechnung war es für die Planer unmöglich, selbst wenn sie es gewollt hätten, die Wichtigkeit, das heißt Begehrtheit, verschiedener Güterarten festzustellen (Weber 1972:56). Dennoch nahmen Parteiorgane für sich in Anspruch, die Bedürfnisse besser feststellen und erfüllen zu können als die Arbeiter und Konsumenten selbst. In Übereinstimmung mit sozialistischen Gleichheitsidealen hatten sie vor allem in den ersten Jahren der DDR eine minimalistische Definition der Grundbedürfnisse, die zu erfüllen waren. Das Regime verhinderte also, daß die Menschen konsumierten, indem es wenig Güter zur Verfügung stellte, und gleichzeitig erhob es den Anspruch, daß sich der Lebensstandard im real existierenden Sozialismus beständig verbessern würde. Obwohl die Staatsbetriebe in der DDR auch über Kosten von Material und Arbeitskräften sowie über Gemeinkosten Buch führten, waren die Preise, die den Konsumenten in Rechnung gestellt wurden und die in der Planabrechnung zählten, nicht einfach von den Produktionskosten abgeleitet, noch waren sie Marktpreise. Sie waren politische Preise, darauf angelegt, die Nachfrage der Bevölkerung in einer politisch angemessenen Weise zu beeinflussen (Kornai 1992:153). Der Industrieabgabepreis, mit dem beispielsweise die Konsumgüter produzierenden Betriebe in der Planabrechnung kalkulieren mußten, bestand aus dem Betriebspreis und einer Produktionsabgabe, einer Art Luxussteuer, die von einer externen Preiskommission festgelegt und direkt vom Staat bezogen wurde. Im Mai verpflichtete sich jeder volkseigene Betrieb zu einer wertmäßig höheren Produktionsziffer als im vorangegangenen Jahr und beantragte dementsprechend auch einen höheren Materialbedarf. Im Ministerium kontrollierte dann 42 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 eine staatliche Plankommission, ob geplante Produktion (Aufkommen) und Bedarf übereinstimmten. Das Aufkommen war jedoch immer geringer als der angegebene Bedarf, denn da die Unternehmen davon ausgehen mußten, daß ihnen die Materialien nie vollständig bewilligt wurden, beantragten sie mehr als sie tatsächlich brauchten. Mitarbeiter der Materialwirtschaft nannten den Vorgang ironisch die „Mittagsche Bilanzideologie“4, die eine Konsequenz des „nicht vorhandenen Aufkommens“, sprich des permanenten Mangels, war. „Wenn Sie drei Teile gebraucht haben als Betrieb, dann haben Sie beim Kombinat neun Teile beantragt, daraus hat das Kombinat sechs Teile gemacht und hat dann beim Wirtschaftsrat sechs beantragt. Und die haben das dann nochmal reduziert auf drei und dann haben Sie ihre drei gekriegt.“ (Kabel, Personalleiter, TAGHELL, 23.4.1991) Im Januar erfolgte dann die Feinplanung auf Grundlage der staatlichen Planaufgabe STAG, in der der Staat die zu erwirtschaftende Summe festlegte. Der staatliche Rücklauf reichte niemals für die Produktion aus, vor allem auch weil er in den Unterposten nicht stimmte. Das bedeutete, daß die bewilligten oder gelieferten Materialien nicht genau mit den beantragten übereinstimmten. So beklagten sich die Meister der Vorfertigung von HOCHINAUF, daß sie häufig statt ZweiMillimeter-Stahlblechen Drei-Millimeter-Bleche bekommen hatten, die, weil sie so dick waren, beim Stanzen Risse bekamen und beim Einbau in die Aufzugskabine das vorgesehene Gesamtgewicht der Kabine erhöhten. Die Betriebe erhielten meist von einigen Materialien weniger und von anderen mehr, als sie tatsächlich für die Produktion benötigt hätten. Das bedeutete, daß Betriebe Materialien horten konnten, für die sie möglicherweise auch in Zukunft keine Verwendung finden würden und die von anderen Betrieben dringend für die Produktion benötigt wurden. Um die Betriebe zu zwingen, die Bestände auch zu verwerten, die diese angehäuft hatten, mußten sie, um neue Materialbilanzen oder Kredite zu beantragen, eine Bestandsverwertungskonzeption vorlegen. Der Leiter der Materialwirtschaft von STANEX erläuterte, wie er diese Vorgabe umging. Wenn der Betrieb zum Beispiel 100 000 Kondensatoren eines bestimmten Typs benötigte – alle Kondensatoren wurden unter der ELNNummer 13 272 geführt –, und er hatte noch einen Bestand von 30 000 Kondensatoren des falschen Typs, so bekam er nur eine Bilanz von 70 000 Kondensatoren zugesprochen, was für die Produktion nicht ausreichte. Die Materialwirtschaft gab also in der Planung einen Bedarf von 130 000 Kondensatoren an und —————— 4 nach Günter Mittag, dem Wirtschaftsminister der DDR 43 erfand dafür Produkte, damit dieser Mehrbedarf auch durch die Planabnahme ging. Die Planungsinstanzen versuchten vergebens diese Art des Mißbrauchs zu verhindern und zu kontrollieren, indem sie von den Betrieben immer ausführlichere zusätzliche Pläne und Bilanzen forderten, wie zum Beispiel Materialverwertungskonzeptionen. Dazu kamen eine detaillierte Rechnungslegung, Statistiken, Dekadenmeldungen und Monatsberichte, die vom Kombinat und vom Wirtschaftsrat des Bezirkes geprüft wurden. Die Menge der erhobenen Daten erschwerte es jedoch eher, die Planung zu durchschauen, da die technologischen Mittel fehlten, die erhobenen Daten auch zu ordnen und zu analysieren. Investitionen in Produktionsmaschinen mußten Jahre im voraus beantragt werden, aber selbst wenn die beantragte Maschine dem Kombinat zur Verfügung gestellt wurde, konnte der Antrag stellende Betrieb nicht sicher sein, daß er sie erhielt und daß sie ihm nicht von einem Kombinatsbetrieb mit besseren Beziehungen zur Kombinatsleitung weggenommen wurde, wie das dem Betrieb TAGHELL immer wieder passiert war. „Der Kombinatsdirektor war der vorige Direktor von dem Stammbetrieb. Und von allen Bilanzen, die also reinkamen, hat er sich erstmal den dicksten Kuchen weggenommen und dann den Rest umverteilt. Und diese Umverteilung war nochmal abhängig davon, wie stark sich so ein Direktor gegenüber dem Kombinatsdirektor machen konnte, wie gut sein persönliches Verhältnis zu dem war. Der Kombinatsdirektor hat eben von unserem Direktor ab und zu auch mal was bekommen....“ (Kabel, Personalleiter, TAGHELL, 23.5.1991) Der Maschinenpark aller drei Betriebe war zum Zeitpunkt der Wende im Durchschnitt 15 bis 20 Jahre alt. TAGHELL hatte die ältesten Maschinen, manche noch aus der Vorkriegszeit. Als ich die Vorfertigung das erste Mal im Juni 1990 besuchte, standen drei der Stanzen in dicken Öllachen, die rumänische 63 Tonnen schwere Exenterpresse schlug unkontrolliert nach unten nach. Die beiden neuesten DDR-Maschinen standen unbenutzt herum. Der Betrieb hatte sie 1988 zum vierfachen Preis erworben, da sie ursprünglich für den Export ins westliche Ausland bestimmt gewesen waren, dann aber wegen technischer Mängel zurückgezogen werden mußten. Es waren denn auch diese Mängel sowie die überdimensionierte Größe der Maschinen, die sie für den Betrieb unbrauchbar machten. Über zehn Jahre lang behalf sich die Fertigung mit einer aus einer alten Drehbank selbstgebastelten Gewinderollbank, auf der die Gewinde für die Kerzenleuchter gerollt wurden. Der Betrieb stellte immer wieder Investitionsanträge für eine neue Rollbank, die zwar bewilligt wurden, doch die gewünschte Maschine kam nicht. Auch der Versuch, stattdessen eine neue Drehbank zu kaufen und 44 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 diese umzubauen, schlug fehl, da die umgebaute Maschine die erforderliche Gewindetiefe nicht erreichte. Der Maschinenpark von STANEX und des VEBLift war 1989 zwar ebenfalls veraltet, aber der VEBLift hatte Anfang der achtziger Jahre auf Grund eines staatlichen Förderprogramms für Neubauwohnungen – unter anderem in Hochhäusern mit Aufzug – die Möglichkeit bekommen, einige neue DDR-Maschinen zu erwerben. STANEX hingegen pflegte und reparierte seinen alten Maschinenpark und konnte nur selten über offizielle Kanäle eine Maschine dazu erwerben. Diese Beispiele inkohärenter Investitionen zeigen deutlich den permanenten Konflikt zwischen produktiven und sozialen beziehungsweise politischen Funktionen der Betriebe (Hirschhausen 1994:8). Kriterien nicht-ökonomischer Art führten dazu, daß in den volkseigenen Betrieben modernste Anlagen neben schrottreifen Maschinen standen, oftmals Elemente in der Produktionskette fehlten und die technische Auslegung der Maschinen den Produktionsanforderungen nicht angepasst war. Neben der offiziell geplanten Verteilung, die nutzlos war für die Feinabstimmung, gab es zwei weitere: die politisch-bürokratische Verteilung, die auf persönlichen Beziehungen entlang der Parteilinien basierte, und die pragmatische Redistribution, die den direkten Tausch von dringend benötigten Investitionsund Konsumgütern zwischen Firmen und Individuen umfasste. Eine offizielle Form dieses Warentausches war der „äquivalente Leistungsaustausch“, der es Abteilungen, die Rationalisierungsmittel herstellten, gestattete, diese gegeneinander auszutauschen. STANEX interpretierte diese Regelung für sich, indem es Halbfertigprodukte anderer Betriebe als Rationalisierungsmittel deklarierte und sie gegen Automaten, Projektierungen von Rationalisierungsmaßnahmen und ähnliches austauschte. Obwohl es offiziell eine Rangfolge auf der Warteliste für Automaten gab, die vom Kombinat festgelegt wurde, bekamen Kunden, die keinen so dringenden Bedarf hatten und nur kleine Stückzahlen fertigen wollten, dennoch einen Automaten, wenn STANEX von diesen ein Tauschobjekt brauchte. So fädelte der Betrieb im Jahr vor der Wende ein Tauschgeschäft mit einem Fräsenhersteller ein, der Fräserköpfe lieferte und dafür Projektunterlagen bekam. Sogar ganze Automaten wurden produziert und ausgetauscht, ohne eine Spur in den Plänen zu hinterlassen. STANEX produzierte auf diese Weise einen Fertigungsautomaten für eine Firma, die diesen im Grunde gar nicht benötigte, um ihn gegen eine Präzisionsfräse auszutauschen. Der Verlust des Tauschwertes von Geld bedingte wechselseitige enge Abhängigkeiten. Auf den permanenten Mangel an Material und Ersatzteilen reagierten die Betriebe, indem sie mit anderen Betrieben tauschten und persönliche 45 Netzwerke aktivierten. In den Kanälen der grauen Ökonomie bestimmte sich der „Wert“ des Produktes nach seiner Bedeutung als Investitionsgut oder nach seiner Beliebtheit als Konsumgut, und dementsprechend waren die Tauschpartner bereit, sich Mühe zu geben. Unternehmen wie der VEBLift organisierten zusammen mit anderen Betrieben Materialtauschbörsen, die toleriert waren. Allerdings waren die dort getauschten Güter oft nicht mehr offiziell deklariert. Sie stammten aus den Materiallagern, die sich die Betriebe mit der Zeit anlegen konnten und die in keiner Statistik mehr auftauchten. Mitarbeiter der Materialwirtschaften erzählten immer wieder, wie sie sich den Anhänger ihres Trabant mit Bananen, Paprika und anderen Waren, die außerhalb Berlins schwer zu bekommmen waren, vollgeladen hatten, um bei den Produzenten oder den Materialwirtschaften anderer Betriebe nach den fehlenden Materialien oder Ersatzteilen zu forschen. Der Leiter der Produktionsvorbereitung von STANEX, Grabher, schilderte anschaulich, wie er persönlich die Zulieferbetriebe aufsuchte, wenn ein Spezialteil für die Automatenfertigung fehlte. Wenn ihm gesagt wurde, das Teil sei nicht vorrätig, nahm er die Dame von der Lagerwirtschaft beiseite und ließ sie unter die Plane seines Anhängers gucken. Er verkaufte ihr für ihren persönlichen Verbrauch, was sie haben wollte, und sie fand dafür im Gegenzug das Teil, das STANEX so dringend für die Produktion benötigte. So entwickelte er über die Jahre ein Netz von Beziehungen, auf das er problemlos zurückgreifen konnte. Er verband einen sicher nicht unprofitablen privaten Tauschhandel mit der Materialbeschaffung für den Betrieb. Sein Geschick war unentbehrlich für den Betrieb und trug ihm den Respekt seiner Kollegen ein. Die Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken war Bedingung, um die Versorgungsengpässe auszugleichen. Sie konnte nicht beliebig aufgekündigt und gewechselt werden. Wo der Gebrauch des Geldes in modernen westlichen Industriegesellschaften zu einer Versachlichung von Austauschbeziehungen geführt hatte und zu einer Herauslösung der Individuen aus traditionellen Abhängigkeitsstrukturen, schafften die planwirtschaftlichen Strukturen neue persönliche Abhängigkeitsstrukturen, die die individuellen Freiheiten einschränkten (Aderhold/u.a. 1994:34), die aber als Freiheiten und Formen der Verweigerung innerhalb des planwirtschaftlichen Systems wahrgenommen wurden. Die geschilderten Schwierigkeiten zeigen, daß die Produktion des Mangels schon bei der Planerstellung vorprogrammiert war. Diese wurden noch durch operative Schwierigkeiten verschärft. Die Lager hatten oft hohe Umschlagszeiten und chaotische Bedingungen. Ein Mitarbeiter von STANEX prägte dazu den Ausspruch, „das häufigste Produkt am Lager sind die NALen (Nicht am Lager) 46 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 gewesen“. Material verschwand während der Produktion, denn elektronische Bauelemente zum Beispiel, waren hochinteressant für Bastler, die zu Hause ihre eigenen Anlagen bauten. Eine vollständige Erfüllung der Planauflagen war trotz besonderer Arbeitseinsätze nicht zu gewährleisten. Damit der Betrieb einen positiven Abschluß vorweisen konnte, mußten die Planauflagen korrigiert und/oder manipuliert werden. Die Planabrechnung bot dafür einige Möglichkeiten: Die Art der zu produzierenden Güter war zwar vorgeschrieben, war aber im Vergleich zur Kennziffer der industriellen Warenproduktion sekundär. „Diese Kennziffer gibt es nirgendwo auf der Welt, diese Kennziffer der Warenproduktion und dahinter steht immer dieser Begriff der Planerfüllung. Und diese Warenproduktion, das ist eben sozialistisch erfunden worden, als die VEB-Wirtschaft erfunden wurde.“ (Grabher, Produktionslenkung, STANEX, 7.5.1991) Die Kennziffer der industriellen Warenproduktion entsprach dem Wert, den sich jeder Betrieb für seine Produktion von Gütern in der Planabrechnung gutschreiben konnte. Diese Ziffer war weder identisch mit den Verkaufspreisen noch mit den Produktionskosten, sondern hing von den produzierten Mengen und außerdem noch von Exportbonussen und Luxussteuern ab. Dies erlaubte dem Betrieb, mit Mengen und Wertgutschriften zu jonglieren. Auf Produkte, die von der Produktkommission als Luxusgüter eingeschätzt wurden, so zum Beispiel die Messingleuchter, die TAGHELL herstellte, wurde eine Luxussteuer, die sogenannte Produktionsabgabe (P.A.) erhoben. Diese Produktionsabgabe wurde bei der Planabrechnung mit abgerechnet. Es war daher für einen Betrieb vorteilhaft, eine relativ kleine Menge sehr teurer Güter herzustellen, die mit einer hohen Luxussteuer belegt waren und diese mit einer hohen Anzahl von einfach herzustellenden Gütern zu ergänzen. TAGHELL fertigte sehr aufwendige und teure Messingarmleuchter, um die wertmäßige Planerfüllung zu gewährleisten, und ergänzte diese mit einer großen Anzahl einfacher Blechlampen, für die kaum Nachfrage bestand. Die Wünsche und Bedürfnisse der ostdeutschen Konsumenten waren bei all diesen Berechnungen völlig zweitrangig. Die Messingleuchter, die der Staat mit einer hohen Luxussteuer belegte, sollten die Kaufkraft der DDR-Bürger abschöpfen und ihr Bedürfnis nach Luxusgütern befriedigen. Die Nachfrage nach den schweren Messingleuchtern im Stil bürgerlicher Wohnzimmer der Jahrhundertwende war enorm. Sie konnte trotz der hohen Preise (1 200 Mark für einen fünfarmigen Hängeleuchter) nicht befriedigt werden. Die Absatzabteilung von TAGHELL war stets damit beschäftigt, Kunden abzuwehren. Obwohl Preise für 47 Konsumgüter von einer zentralen Preiskommission bestätigt werden mußten, blieb den Betrieben auch die Möglichkeit, diese zu manipulieren. Da die Betriebe verpflichtet waren, jedes Jahr Neuerungen in ihrer Produktpalette vorzuweisen, wurden ihnen die Preise für ein „qualitätsmäßig verbessertes Produkt“ ohne größere Schwierigkeiten bestätigt. Wenn der Betrieb, vermittelt über die staatliche Außenhandelsgesellschaft, für das nichtsozialistische Ausland produzierte, konnte er sich die vier- bis fünffache Summe in seine Planabrechnung schreiben, als wenn der gleiche Gegenstand für den inländischen Verbrauch bestimmt gewesen wäre. Vor dem Fall der Mauer erfüllte TAGHELL außer den üblichen Aufträgen für den inländischen Konsumenten und den Kunden aus dem nicht-sozialistischen Ausland auch Spezialaufträge für Regierungsinstitutionen und Parteimitglieder. Die Partei- und Regierungsinstitutionen bestellten außerhalb des Plans Lampen für Prestigeobjekte wie Luxushotels, Ministerien und Gästehäuser der Partei. Die Beschäftigten schätzten diese Sonderaufträge sehr, denn sie erhielten dafür eine besondere Bezahlung und wurden ohne Probleme mit allem nötigen Material versorgt. Der Abteilungsleiter, der für diese Spezialaufträge zuständig war, erklärte mir, daß er immer ein gerne gesehener Gast in den Hotels war, die er mit Lampen ausgerüstet hatte. Bei der Produktion von Investitionsgütern und vor allen Dingen bei sogenannten Rationalisierungsmitteln hatte der Betrieb in der Preisgestaltung praktisch freie Hand. Der Konstrukteur Kater erzählt: „In der DDR gab es Festpreise für alle Produkte, aber nicht für Sondermaschinen. Wir haben unsere Preise selber gemacht. Da ist es natürlich keine Kunst, da jeder unsere Maschinen haben wollte, die Preise so zu machen, daß wir den Plan immer übererfüllt haben.“ (Kater, Konstruktionsingenieur, HOCHINAUF, 20.2.1993) Obwohl offiziell auch die Preise von Produktionsgütern von der Preiskommission bestätigt werden mußten, akzeptierte sie meistens die Kalkulationen, die ihnen die Produzenten geliefert hatten (siehe auch Kornai 1992:149) So konnte beispielsweise die Abteilung Montageautomatisierung von STANEX den Anteil der Gemeinkosten am Preis des Produktes verdoppeln, um die Gewinnspanne zu erhöhen, mit der dann Defizite in anderen Bereichen des Betriebes ausgeglichen werden konnten. Die Weiterentwicklung der Rundschalttischautomaten erlaubte die Standardisierung und Rationalisierung der Fertigung. Dies führte aber nicht wie in der Marktwirtschaft zu sinkenden Produktpreisen, stattdessen wurden die Qualitätsverbesserungen am Automaten als Teuerungsgrund geltend gemacht. 48 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Den Käuferfirmen waren die höheren Preise oft sogar willkommen, weil sie damit der in den Planauflagen vorgesehenen Verpflichtung, jährlich für eine bestimmte Summe in Rationalisierungsmittel zu investieren, umfassender nachkommen konnten. Die nationalen Statistiken konnten auf diese Weise die Innovationsfähigkeit der DDR-Wirtschaft feiern, ohne daß sich der Maschinenpark in gleicher Weise modernisiert hätte. Was im volkseigenen Betrieb mit „Geld verdienen“ bezeichnet wurde, hatte nur entfernte Ähnlichkeit mit der marktwirtschaftlichen Vermittlung zwischen Produktion und Vermarktung über Geld. Weder konnte der produzierende Betrieb die ihm gutgeschriebenen Summen frei verwenden, noch hatte der kaufende Betrieb für den „Kauf“ Rückstellungen machen müssen. Das eingenommene „Geld“ stand nur auf dem Papier und konnte nicht in Ware umgesetzt werden. 1.2. Politik vor Ökonomie Die Steigerung der Produktivität und das Einsparen von Arbeitskräften waren in den siebziger Jahren offiziell zur ersten Priorität in der Entwicklung der DDRWirtschaft erklärt worden. Erich Honecker forderte 1979: „Nun gilt es, das Tempo der Intensivierung zu erhöhen und schneller zu Ergebnissen von volkswirtschaftlichem Gewicht zu kommen. ... Mehr Nationaleinkommen, gerade auch durch bessere Materialökonomie, durch gründlichere Nutzung der Arbeitszeit und der Produktionsanlagen – darauf zielt unsere Wirtschaftspolitik ab.“ (Honecker 1979) Die Beschäftigten erhielten im Neuererwettbewerb für Erfindungen zur Rationalisierung der Arbeit Geldprämien und symbolische Anerkennungen durch Ehrentitel. Mit großem Nachdruck wurde der kombinats- und betriebseigene „Rationalisierungsmittelbau“ gefördert, der dafür gebraucht wurde, immer mehr Geräte, Maschinen und Anlagen selbst herzustellen, die zum Ersatz verschlissener Produktionsmittel und Produktionsanlagen und zu deren Erweiterung benötigt wurden. Der Wert der Eigenproduktion von Produktionsmitteln stieg in der DDRIndustrie von 0,8 Milliarden Mark im Jahre 1975 auf 9,3 Milliarden Mark im Jahre 1987 (Grünert 1996:103). Mit Maßnahmen dieser Art sollte der technologische Standard verbessert und die Produktivität gesteigert werden, ohne jedoch die bestehenden Beschäftigungs- und Produktionsstrukturen anzutasten. Die Produktions- und Leistungsstruktur entwickelte sich damit in den 80er Jahren in eine Richtung, die der gleichzeitigen Entwicklung in den westlichen Industriena- 49 tionen diametral entgegengesetzt war: Erhöhung statt Reduzierung der Fertigungstiefe; Verbreiterung statt Verschlankung des Produkt- und Leistungssortiments; Verminderung statt Vertiefung der zwischenbetrieblichen Arbeitsteilung; Verzicht auf statt systematische Nutzung von Serien- und Spezialisierungseffekten (Grünert 1996:106). Größere individuelle Initiativen waren in der DDR-Wirtschaft nicht willkommen. Die bürokratische Struktur reproduzierte sich, indem Anreize für Produktionsveränderungen und für neue Produkte von den politischen Organen gebündelt und dann wieder über strikt vorbestimmte Kanäle an die produzierende Basis weitergegeben wurden. Rudolf Bahro faßt diesen Mechanismus prägnant zusammen: „Die bürokratisch-zentralistische Form der Planung, bei der die Spitze von unten vorzugsweise nur passive Ist-Informationen und ‚Fragen‘ entgegennimmt, während sie aktive SollInformationen abgibt, prägt den Mechanismus der ‚Auftragserteilung‘ an die Individuen. Die Menschen haben vom Prinzip her nicht selbst Aufgaben zu suchen, Probleme zu erkennen und aufzugreifen, sondern sie werden ihnen verpflichtend zugewiesen.“ (Bahro 1977:252) Hartnäckiges Festhalten an eigenen Lösungsstrategien, auch wenn sie zum „Wohle des Volkes“ gedacht waren, konnte als implizite Kritik an der offiziellen Linie verstanden werden. Das systematische Unterbinden jeglicher individueller Initiative führte ab dem Ende der siebziger Jahre zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stagnation, die die Beschäftigten zwar noch nicht analytisch verstanden, aber spürten. „Ich habe das Gefühl in den 70ern gehabt, da war noch eine positive wirtschaftliche Entwicklung, also auch im Konsum! […] Es wurden Wohnungen gebaut, es wurden Kindergärten gebaut, die Leute haben Arbeit gehabt, sie haben sich Wohnungen ausgebaut. In den 70er Jahren da waren sie alle grundversorgt und dann kam nichts Neues! Da kam auch keine neue Idee!“ (Schuster, Facharbeiter, STANEX, 22.4.1991). Die Leiter wiesen auch in den 80er Jahren nach wie vor „wirtschaftlichen Erfolg“ aus. Dieser Erfolg wurde an der regelmäßigen Planerfüllung gemessen, die nur durch die geschickte Manipulation der Plankriterien zu erreichen war, an der Produktion für das nicht-sozialistische und daher devisenträchtige Ausland, an der Arbeit an einer mit einer staatlichen Priorität versehenen Produktionslinie, an der Entwicklung neuer Produkte und vor allem an der Realisierung neuer Investitionen auch am Plan vorbei. Dieser betriebswirtschaftliche Erfolg war innerhalb und außerhalb des Betriebs die wichtigste Rechtfertigung für die Macht der sozialistischen Leiter. Volkswirtschaftliche Erwägungen standen hingegen im Wi- 50 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 derspruch und in Konkurrenz zu den betriebswirtschaftlichen Strategien der Leiter. „Es gab die Illusion, daß man volkswirtschaftlich denken sollte. […] Das Frappierende war natürlich, daß die ganzen Genossen Leiter nie volkswirtschaftlich gedacht haben, zumindestens die, die ich kenne, sondern die haben schon immer betriebswirtschaftlich gedacht. Da der Korrekturfaktor der Konkurrenz gefehlt hat, konnte das betriebswirtschaftlich Denken also voll zum Nachteil der Volkswirtschaft durchschlagen“ (Kater, Konstruktionsingenieur, STANEX 25.4.1991). Vorhaben im volkswirtschaftlichen Interesse, wie sie der Bereichsdirektor von STANEX mit der Entwicklung eines Produktionsautomaten versuchte, trafen auf wenig Gegenliebe bei Vorgesetzten im VEB und im Kombinat. Sie sahen dadurch nur neue Beschaffungsprobleme und Planauflagen auf ihren Betrieb zukommen. Diese Haltung war verbreitet in der DDR. So schreibt Harry Maier in seiner Analyse der Innovationsträgheit der DDR-Planwirtschaft, „die sozialistischen Produktionseinheiten“ scheuten „radikale Innovationen wie der Teufel das Weihwasser, zum einen deshalb, weil radikale Innovationen sehr riskant und im Falle eines Fehlschlags schmerzhafte Sanktionen der Zentrale zu erwarten waren; zum anderen, weil im Falle eines Erfolgs sprunghafte Effektivitätssteigerungen möglich wurden, die im nächsten Jahr nur schwer wiederholt werden könnten.“ Nach dem Fall der Mauer begrüßten die Arbeiter und Angestellten in den volkseigenen Betrieben das Verschwinden der unzähligen Planabrechnungen und -auflagen für einen Plan, der nie hielt, was er versprach, mit Erleichterung. Gleich nach ihrem Zusammenbruch 1990 wurde die Planwirtschaft von Parteianhängern und -gegnern als großartiges Luftschloß beschrieben, das mit ungeheurem Aufwand immer wieder neu aufgebaut worden war. Dennoch blieb das Kriterium der Planerfüllung in der Interpretation der realsozialistischen Vergangenheit und in der Beurteilung der eigenen Bedeutung für den Betrieb Referenzrahmen. Der Diskurs über den persönlichen Einsatz für die Planerfüllung war bei den meisten Mitarbeitern der Materialwirtschaften und bei vielen Mitgliedern von Produktionsbrigaden präsent. Mitglieder von erfolgreichen Brigaden versäumten nie darauf hinzuweisen, wenn sie es trotz vieler Widrigkeiten geschafft hatten, den Plan zu erfüllen. Da die Planerfüllung den Verstoß gegen die Regeln der Planwirtschaft herausforderte und nötig machte, bedeutete dies, daß selbst der, der den Plan erfüllte, zum potentiell Schuldigen werden konnte. Das führte dazu, daß sich die Entscheidungsträger gezwungen sahen, ständig in einer Art Doppellogik zu agieren und zu argumentieren. Auf der einen Seite verpflichteten sie sich offiziell, die 51 Prinzipien des Plans wie ein Gesetz zu verteidigen, auf der anderen Seite wußten sie um die Unzulänglichkeiten und versuchten den Plan mit Mitteln außerhalb des Plans zu erfüllen. Dadurch daß in der Ideologie der realsozialistischen Planerfüllung das Unerfüllbare zur Pflicht gemacht wird, nimmt diese einen irrationalen, quasi religiösen, Charakter an. Analog zur christlichen Religion, in der gerade an die Urwidersprüche, wie zum Beispiel die Auferstehung des Fleisches oder die Dreifaltigkeit Gottes in einer Person geglaubt werden soll, sollte der Beschäftigte in der DDR wider besseren Wissens und trotz seiner alltäglichen Erfahrungen an die Rationalität und die Überlegenheit der Planwirtschaft gegenüber der Marktwirtschaft glauben. Unglauben oder Zweifel offen auszudrücken war Sünde, und mußte bestraft werden. Bahro (1977:288) beschreibt denn auch die Struktur der DDRGesellschaft als „quasi-theokratische“. „Mit der Anmaßung, das Gesetz der Geschichte und die wahren Interessen der Massen zu kennen, läßt sich zum Beispiel jede ökonomisch noch so teure Entscheidung rechtfertigen. Das ‚Primat der Politik‘ .... schließt bei dem Monopol der politischen Meinungsbildung ein, daß sachliche Argumente gerade bei den größten Positionen nicht zählen“ (Bahro 1977:288). In der offiziellen Ideologie definierte sich die Planwirtschaft der DDR stets im Wettbewerb mit der Marktwirtschaft der BRD, die sie in den sechziger Jahren noch übertreffen, in den achtziger Jahren nur noch aufholen wollte. Die offizielle Ideologie war von der Logik des Kalten Krieges durchdrungen. Die wirtschaftlichen Akteure sollten „mobilisiert“ werden im Kampf für die Erhaltung eines wirtschaftlichen Gleichgewichts zwischen den beiden militärischen Blöcken. So hieß noch 1988 die jährliche Losung für den sozialistischen Wettbewerb: „mein Arbeitsplatz – mein Kampfplatz für den Frieden“. Die Zielstellung des Kollektivs Vorfertigung von TAGHELL im sozialistischen Wettbewerb 1988 führte aus: „Bezugnehmend auf die Beschlüsse der nuklearen Abrüstung zwischen der Sowjetunion und der USA ist es an jedem von uns, durch noch anspruchsvollere Zielstellung im sozialistischen Wettbewerb noch besser zur Herstellung des ökonomischen Gleichgewichtes zwischen dem sozialistischen Lager und den imperialistischen Mächten beizutragen, denn auf die Dauer ist das militärpolitische Gleichgewicht nur zu erhalten bei einer gleichzeitigen Schaffung eines ökonomischen Gleichgewichtes, und deshalb ist für uns unser Arbeitsplatz unser Kampfplatz für den Frieden.“ (TAGHELL, Verfasser Meister Saller, 24.3.1988) Diese Lesart der Planwirtschaft deckt sich mit der Analyse von Sapir (1992), der in der Planwirtschaft eine permanente Kriegswirtschaft sieht, die in Anlehnung an die Organe, die im Krieg den Mangel verwalteten, Quoten und Preise festlegt. 52 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Sie war dazu geeignet, Ressourcen zu mobilisieren und zu rationieren, um das Land Extremsituationen überstehen zu lassen, um – wie es Honecker 1973 ausdrückte – „das vom Hitlerregime hinterlassene Chaos zu überwinden, um die Wirtschaft zum Nutzen des Volkes aufzubauen und leistungsfähig zu machen“ (Honecker 1984:68). Die Aufrechterhaltung eines starken Feindbildes erlaubte es auch, die Schwierigkeiten der Planwirtschaft und den Fortbestand des Mangels mit Sabotage durch feindliche Kräfte zu erklären. Auf die Spitze getrieben, bedeutete das auch, daß die Beschäftigten dazu aufgerufen wurden, ihr Bestes zu geben, um ihr Vaterland und den Sozialismus zu verteidigen. Arbeitsunwilligkeit wurde damit zu Vaterlandsverrat und bekam eine politische Dimension. Gleichzeitig bot die Ideologie einer mobilisierten Wirtschaft auch eine Rechtfertigung für das Wirtschaften am Plan vorbei. Die Planerfüllung – gleichgesetzt mit der Verteidigung des Vaterlandes – war oberste Maxime und die Mittel, die zum Erreichen dieses Ziels eingesetzt wurden, waren dabei sekundär. So konnte sich die Produktionslenkung des Bereichs Montageautomatisierung bei STANEX mit Stolz „Kollektiv Blaulicht“ nennen, weil es den Mitarbeitern immer wieder gelungen war, Ersatzteile für die Produktionsmaschinen oder fehlende Komponenten für die Automatenfertigung zu beschaffen. Informelles Wirtschaftens im Interesse des Betriebes und der pragmatischen Funktionserhaltung der sozialistischen Wirtschaft war hoch geschätzt. Betriebsleiter tauschten untereinander für die Produktion benötigte Materialien aus und erteilten sich gegenseitig Aufträge, die nie auf der Planabrechnung erschienen. Den Mitgliedern politischer Organe wurde „Freude geschenkt“, um zum Beispiel Investitionsentscheidungen auf übergeordneter politischer Ebene zu erleichtern. Sogar die Parteisekretäre waren stolz darauf, wenn sie ihrem Betrieb über Parteikanäle Materialien besorgen konnten. Wenn politische Organe Sonderaufträge erteilten, wurden die Betriebe außerhalb des Plans mit allen nötigen Materialien und Werkzeugen versorgt und durften sogar höhere Stundenlöhne zahlen. Diese Formen des parallelen Wirtschaftens waren anerkannt und toleriert – auch weil davon scheinbar der Fortbestand der geplanten Wirtschaft abhing – aber sie waren in ihrer Informalität schwer zu kontrollieren. Häufig war die Grenze zur Illegalität nahe. Wenn zum Beispiel der Tausch von gehorteten Produktionsmaterialien nicht mehr über die Bücher ging, war die Verlockung für die am Tausch Beteiligten groß, Teile des Erlöses in die eigene Tasche zu stecken. Die Beschäftigten von TAGHELL erzählten Geschichten von Wagenladungen voller Lampen, die nachts vom Hof verschwanden, von Partei- und Regierungsmitgliedern, die sich im Lampenlager bedienten und von Betriebsdirektoren, die 53 wertvolle Messingbestände offiziell verschrotteten, um sie inoffiziell weiterzuverkaufen. Der Wahrheitsgehalt dieser Geschichten ist schwer zu überprüfen, ebenso wie das Ausmaß der illegalen Transaktionen und der persönlichen Bereicherung schwer zu ermessen ist. Dennoch waren es wohl die Beobachtungen und der Tratsch in der Belegschaft, die diese Praktiken in Grenzen hielten, die aber auch bewirkten, daß sich im und außerhalb des Betriebes verschworene Seilschaften von Mitwissern bildeten. Die Manipulation der Planziffern kam zwar vordergründig der Planerfüllung mancher Betriebe zugute, aber sie erhöhte die Engpässe in der Versorgung an anderer Stelle im System. Während sich die produzierten Mengen und Werte den geplanten Summen annäherten, taten sich qualitativ immer größere Lücken auf. Die Qualität der Produkte stimmte nicht mit den Bedürfnissen der Konsumenten überein – die einfachen Blechlampen von TAGHELL fanden zum Beispiel keine Abnehmer. Die informelle Beschaffung von Investitionsgütern, Ersatzteilen und Materialien half zwar die enorme Schwerfälligkeit der zentralen Verteilung zu erleichtern, aber machte das System der zentralen Verteilung zunehmend undurchschaubarer. Die volkseigenen Betriebe, die es schafften, technologisch hochwertige Investitionsgüter zu ergattern, waren oft nicht diejenigen, die sie wirklich brauchten und auslasten konnten. Im Gegensatz zu dem, was seine Protagonisten nach der Wende behaupteten, folgte das informelle Wirtschaften zwischen volkseigenen Betrieben – zumindest in der DDR – keinen marktwirtschaftlichen Kriterien, weil die freie Wahl unter verschiedenen Anbietern und Käufern nicht gegeben war, Zugang zu begehrten Gütern oft nur über persönliche Beziehungen möglich war und der Wert der Produkte sich nicht über Angebot und Nachfrage vermittelte. Während der Plan als Steuerungsinstrument der Wirtschaft manipuliert und umgangen wurde, blieb er eine die Gesellschaft regulierende und das Individuum kontrollierende Idee: Die Planerfüllung war offizielle gesellschaftliche Maxime und Norm, an der der gesellschaftliche Wert der wirtschaftlichen Einheiten und der dort arbeitenden Menschen gemessen wurde. Die Planung selbst war der politischen Ideologie unterworfen. Staatliche Prioritäten in der Planung wurden ideologisch begründet, und der ideologischen Arbeit mußte bei allen Rechenschaftslegungen vor Parteigremien der erste Platz vor den praktischen Problemen der Erfüllung der Planaufgaben eingeräumt werden. Die praktischen ökonomischen Probleme der Planwirtschaft wurden von den politischen Zielsetzungen überdeckt. Der Plan ersetzte also nicht nur den Markt und übernahm die Vertei54 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 lung von Ressourcen an die wirtschaftenden Akteure, sondern er war ein politisches Steuerungsinstrument, dessen Ziele nicht denen der wirtschaftlichen Rationalität entsprachen und dessen Durchführung nicht der Rationalität der politischen Ziele. Trotzdem ergab sich durch die politische Steuerung und Prioritätensetzung die Illusion der wirtschaftlichen Stabilität. Diese erschien manchen Beschäftigten, die nach 1989 von den Unwägbarkeiten der Marktwirtschaft verunsichert waren, im Nachhinein wie ein Garant existentieller Sicherheit und Transparenz der Zukunft. 55 2. Der Planerfüllungspakt Von 1 bis 5 oder die natürliche Reihenfolge (1975) Die Nummer 1, der Bereichsleiter, putzt Nummer 2 den Meister herunter: Der geht dann zu Nummer 3 dem Arbeiter und donnert ihn an. Der Arbeiter macht dann 4 bis 5 Wochen Krank. Horst Froberg, alias Fröhlich, Facharbeiter STANEX Die ideale „sozialistische Arbeiterpersönlichkeit“ zeichnet sich aus durch „soziale Verantwortung und höchstes Pflichtbewußtsein gegenüber ihrer Partei, ihrer Klasse und unserem Volk“, erklärte Honecker 1973 auf seiner Rede anläßlich des 25. Jahrestags der Aktivistenbewegung (Honecker 1984:69). Die sozialistische Moral verlangte vom klassenbewußten Arbeiter, sich selbst „als aktives Instrument zu wollen“, mittels dessen sich der transzendente Wille der Partei und die transzendenten Zielsetzungen des Sozialismus verwirklichten (Gorz 1990:64). Der „sozialistische Arbeiter“ sollte nach Erfüllung sozialer Verantwortung und nicht nach individueller Selbstverwirklichung und Nutzenmaximierung streben. In der Ideologie des real existierenden Sozialismus ergab sich die Aufhebung der individuellen Entfremdung der Arbeiter gegenüber ihrer Arbeit und den von ihnen hergestellten Produkten aus dem Anspruch, die Übereinstimmung von gesellschaftlichen, betrieblichen und individuellen Zwecken erreicht zu haben (Rottenburg 1992:242). Sie setzte voraus, daß die Interessen des einzelnen Arbeiters notwendigerweise mit denen der staatstragenden Arbeiterklasse überstimmten und daß somit die Entfremdung aufgehoben war. Im planwirtschaftlichen Betrieb – so betonten die Arbeiter von STANEX, TAGHELL und dem VEBlift – hatten sie einen hohen Grad an Eigeninitiative, weitgefächerte Aufgaben und die Gewißheit, für den Betrieb als Person von Bedeutung gewesen zu sein. Hatte die Politik der SED demnach Erfolg gehabt, die Erwerbstätigen als „ganze Menschen“ in den volkseigenen Betrieb einzubeziehen und sie im Sinne eines neuen sozialistischen Bewußtseins umzuerziehen (Rottenburg 1991:309)? Dem widersprachen die Arbeiter und Angestellten ausdrücklich und betonten, daß sie ihre Fähigkeiten und Initiativen trotz und gegen die offizielle Betriebspolitik in den Freiräumen und „angenehmen Nischen“ des 56 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Betriebs entwickeln konnten. Sie sahen diese Freiräume als eine Konsequenz der Mängel und der praktischen Undurchführbarkeit der zentralen Planung, die durch die wirtschaftliche Praxis unterlaufen und ergänzt wurde. 2.1. Demokratischer Zentralismus im Betrieb Der planwirtschaftliche Betrieb mit dem Betriebsdirektor an der Spitze reproduzierte das politische System der DDR. Die Leitung eines volkseigenen Betriebs war zentral nach Funktionen aufgebaut. Bei STANEX, TAGHELL und dem VEBLift gab es einen zentralen Vertrieb, eine zentrale Materialbeschaffung, ein zentrales Rechnungswesen (Hauptbuchhalter), eine zentrale Kaderleitung, einen Direktor für Ökonomie, der für die Planung zuständig war, eine zentrale Qualitätssicherung und einen Sicherheitsinspektor. Diese Leitungsabteilungen waren bei einem Betrieb wie STANEX mit 2000 Beschäftigten für so unterschiedliche Bereiche wie Montageautomaten, Regelungsgeräte für die Überwachung von Füllständen, elektronische Geräte und Komponenten für die Nationale Volksarmee, Kristalle für die Computertechnik und Sondermaschinen für die Elektrowärmetechnik zuständig. Bei TAGHELL stellten fünfzehn Teilbetriebe mit 340 Mitarbeitern, die über ganz Berlin verstreut waren, Wohnraumleuchten und Lampenschirme, große gedrückte Blechteile und Drehkondensatoren her. Der VEBLift produzierte 1988 mit 1100 Beschäftigten vorwiegend Personenaufzüge, aber auch Trogkettenförderer für den Braunkohleabbau, den Prototyp einer Rolltreppe, und Trabantanhänger und Schlauchwagen, um einen Beitrag zur Konsumbefriedigung der DDR-Bevölkerung zu leisten. Die große Produktvielfalt steigerte die Komplexität der zentralen Verwaltung und machte die von ihr abhängigen Teilbereiche ungeheuer schwerfällig. In den planwirtschaftlichen Betrieben wiederholten sich die Probleme der Verwaltungs- und Leitungsstrukturen der DDR. Die zentralen Verwaltungsabteilungen im Betrieb schotteten sich gegeneinander ab und versuchten die Verantwortlichkeiten für ihre Fehler und Rückstände auf andere Abteilungen, auf Anweisungen von oben oder auf Nichtbefolgen von Richtlinien von unten zu schieben. Die Leiter zogen ihre Legitimation im Betrieb aus dem Absolutheitsanspruch, welcher der gesamten real sozialistischen Gesellschaftsideologie innewohnte, als Exekutoren des Produktionsplans. Ihr politischer Freiraum und ihre Position gegenüber den staatlichen Institutionen hingen davon ab, wie groß ihre Erfolge gegen die Schwerfälligkeiten des Systems waren, das sie auch ideolo57 gisch vertreten sollten. Umgekehrt war ein wirtschaftlicher Leiter, der sich strikt an die ideologischen Vorgaben hielt, bei ökonomischem Mißerfolg vor Entlassung und Degradierung geschützt und konnte höchstens von einem Betrieb in den nächsten versetzt werden. Die Betriebsleiter agierten in einer Doppellogik: Auf der einen Seite verteidigten sie den Plan und seine politische und volkswirtschaftliche Rationalität wie ein Gesetz, auf der anderen Seite operierten sie am Gesetz vorbei, damit sie den Plan erfüllen konnten. Diese Dualität und Widersprüchlichkeit setzte sich in den Machtbeziehungen im Betrieb fort. Absolut gesetzte Führungsansprüche der Leiter standen den in der wirtschaftlichen Praxis ausgehandelten Freiräumen entgegen. Leiter, die das offizielle Weltbild propagieren mußten, waren in der Ausübung ihrer Rollen auf das Mitspielen der Geleiteten angewiesen (Rottenburg 1992:244). Anschaulich wird die Ideologie des demokratischen Zentralismus bereits in der Anordnung der Möbel in den Chefzimmern planwirtschaftlicher Betriebe. Nach dem Modell des Besprechungszimmers Lenins im Kreml, das man noch bis November 1993 im Leninmuseum in Moskau betrachten konnte, waren bei meinen ersten Besuchen in den Betrieben 1990 die Schreibtische der Chefs und der daran anstoßende Besprechungstisch t-förmig angeordnet. Die Ausführung und Bequemlichkeit des Mobilars signalisierte die Stellung, die der Leiter in der Betriebshierarchie einnahm. Während die langen Besprechungstische im Zimmer der Betriebsdirektoren von TAGHELL und STANEX aus poliertem Holz und die Stühle gepolstert waren, gab es im Büro der Meister nur noch Miniaturausgaben bestehend aus t-förmig angeordneten kunststoffbeschichteten Tischen und einfachen Holzstühlen. Bei Rapports und Dienstbesprechungen nahm der Chef hinter dem Schreibtisch Platz, die in der Hierarchie unter ihm stehenden Mitarbeiter an beiden Seiten des Besprechungstisches. Keiner der Mitarbeiter konnte so dem Chef direkt in die Augen sehen. Er hingegen konnte als einziger alle gemeinsam überblicken oder jeden einzelnen anblicken. Die Sitzordnung unterstrich die absolute Autorität des Chefs und stellte Distanz zwischen ihm und den Mitarbeitern her. Der Chef verkörperte den kollektiven Willen der anwesenden Mitarbeiter. Die Entscheidungen, die er in ihrem Namen aussprach, waren bereits von der übergeordneten Gesetzmäßigkeit der Planerfüllung abgeleitet und bedurften daher keiner Diskussion mehr. Während der täglichen Rapports mit dem Produktionsdirektor, wie ich sie bei TAGHELL noch im Sommer 1990 miterleben konnte, fand ein subtiles Verschieben von Verantwortlichkeiten statt. Die Meister der Abteilungen Vorfertigung, Montage und Oberfläche saßen am Besprechungstisch mit der Leiterin der 58 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Arbeitsvorbereitung, dem Leiter der Kooperation und dem Leiter des Fuhrparkes zusammen. Der Direktor thronte hinter seinem Schreibtisch. Zunächst trugen die Meister Probleme mit der Materialversorgung und den Arbeitsbedingungen vor, die sie an der prompten Erfüllung ihrer Aufgaben gehindert hatten. Sie wandten sich mit Ersatzteilforderungen an den Produktionsdirektor. Sie forderten Ersatz für eine durchgebrannte Neonröhre in der Vorfertigung und eine Spezialzange für die Montage. Dann begann der eigentliche Teil des Rapports. Der Produktionsdirektor fragte mit lauter autoritärer Stimme lange Listen mit Teilenummern ab, die jeder Mitarbeiter vor sich liegen hatte. Die Anwesenden mußten Rechenschaft darüber abgeben, an welcher Stelle im Produktionsdurchlauf sich die Teile befanden, ob die für die Produktion nötigen Materialien vorrätig waren und ob die Kooperationspartner rechtzeitig geliefert hatten. Die Atmosphäre ähnelte der einer Schulklasse, in welcher der gestrenge Lehrer die an einem Streich Beteiligten sucht. Die Beteuerungen von Effizienz und Gewissenhaftigkeit wurden von den Kollegen ironisch kommentiert und halb scherzend hinterfragt, während der Produktionsdirektor sich um die Seriosität seiner Kontrollbefragungen bemühte und den Eindruck zu erwecken suchte, daß er Einblick in jedes Detail des Produktionsprozesses habe. Nach dem Rapport erklärten mir die Meister, daß die Zahlen, mit denen bei dem Rapport jongliert wurde, nie den Tatsachen entsprächen. Der Meister der Vorfertigung beschrieb, wie er bei jedem Rapport versuchte, die Anzahl der Teile, die seine Abteilung produzieren sollte, zu drücken und gleichzeitig zu versuchen vorzuproduzieren und einen Vorrat an schon fertigen Teilen anzulegen, auf den er dann bei Engpässen zurückgreifen könne. Staats- und Parteifunktionäre, Betriebsleiter und Arbeiter spielten ihre Interessen im Betrieb gegeneinander aus. Die Funktionäre, vertreten durch den Parteisekretär und die hauptberuflichen Gewerkschaftsfunktionäre, hatten die Aufgabe, die gesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Prioritäten im Betrieb durchzusetzen. Priorität hatte die Erfüllung des Produktionsplans und die Verbreitung von politischen und volkswirtschaftlichen Kampagnen wie die Neuererund die Aktivistenbewegung. Diese Kampagnen, die sich direkt an die Arbeiter richteten, um sie zu höheren Produktionsleistungen anzuspornen, trafen bei den Betriebsleitern auf wenig Sympathie. Stachanovistische Schübe in den Werkstätten und auf den Baustellen, die allerdings in den achtziger Jahren kaum noch vorkamen, stellten die Betriebsleitungen vor die größten Probleme. Sie brauchten die Materialreserven auf und strapazierten die alten, ohnehin reparaturbedürftigen Maschinen. 59 Die Staats- und Parteifunktionäre versuchten über die „gesellschaftlichen Bewegungen“, Allianzen mit den Arbeitenden auch notfalls gegen die Betriebsleiter herzustellen. Auch die offizielle Ideologie stellte die Einheit der Interessen zwischen Arbeitern und Partei heraus. Aber in der Praxis lehnten Arbeiter und Betriebsleiter erhöhte Planauflagen ab und machten gemeinsam Front gegen die Staats- und Parteiführung. Die Selbstbeschränkung der Arbeitsverausgabung erfolgte im Interesse des gesamten Betriebs. Eine deutliche Steigerung der Produktivität hätte für den Betrieb nur eine Steigerung der Planvorgaben für das nächste Jahr bedeutet und ihm für die Zukunft größere Schwierigkeiten bei der Planerfüllung bereitet. Die Arbeiter konnten also in stiller Übereinstimmung mit der Betriebsleitung ihre Arbeitsleistung bis zum Niveau der Planerfüllung drosseln. Darunter durften sie nicht liegen, denn die gesellschaftliche und politische Position der Betriebsleiter hing von der Planerfüllung ab. Die Betriebsleiter operierten zwar unter „weichen Budgetbedingungen“ (Kornai 1992) und konnten Planverpflichtungen, Investionsbedürfnisse und Arbeitskräftequoten auf politischer Ebene verhandeln, sie waren aber gleichzeitig auch politisch angreifbar und der Willkür der Parteikontrolle unterworfen, wenn ihr Betrieb den Plan nicht erfüllte. 2.2. Autonomie und Schufterei Ein nach der Wende oft gehörtes Vorurteil besagt, daß die natürliche Faulheit der Arbeiter in den sozialistischen Betrieben klar zutage trat. Dem widersprachen die Arbeiter und Angestellten und betonten, sie hätten Sorgfalt und Eigeninitiative von sich aus und ohne disziplinarischen Zwang entwickelt. Die Frauen in der Montageabteilung von TAGHELL bestanden darauf, daß sie ihre Leuchter mit größter Sorgfalt prüften. Die Männer in der Vorfertigung der Lampenkomponenten wurden nicht müde, mir zu schildern, wie sie ihren Arbeitsrhythmus selbst bestimmten. Sie betonten ihre Fähigkeit, unabhängig vom Meister zu produzieren und sich auf ihre eigene Schläue und Fertigkeiten zu verlassen, weil sie den Produktionsprozeß kannten und kontrollierten. Die Arbeiter bei HOCHINAUF stellten heraus, daß sie zu Zeiten der Planwirtschaft vielfach mehr auf Qualität achten mußten als später in der Marktwirtschaft. Wie läßt sich dieses Selbstbild der Beschäftigten mit der betrieblichen Realität der volkseigenen Betriebe in Verbindung bringen? 60 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Die Autonomie der Beschäftigten am Arbeitsplatz war nicht Bestandteil der Programmatik des real sozialistischen Systems, sondern stellte sich ungeplant als eine Konsequenz der planwirtschaftlichen Mangelwirtschaft her. Allerdings wurde sie auch durch den hohen politischen und ideologischen Stellenwert gefördert, welcher der „Arbeit“ im Arbeiter- und Bauernstaat zugesprochen wurde: Einmal eingestellt waren die Arbeitskräfte so gut wie unkündbar. Selbst Arbeiter, die häufig vom Arbeitsplatz fernblieben, konnten kaum entlassen werden, da es den expliziten gesellschaftspolitischen Anspruch gab, durch Arbeit zu erziehen und in die Gesellschaft zu reintegrieren. Auch bei schweren Vergehen wie Maschinensabotage, wochenlangem unentschuldigten Fehlen am Arbeitsplatz und schwerem Diebstahl von Betriebseigentum konnte die Betriebsgewerkschaftsleitung die Zustimmung zur Entlassung verweigern, oder das Amt für Arbeit konnte die Arbeitskraft wieder unter den „positiven Einfluß der sozialistischen Brigade“ zurück in den Betrieb delegieren. Die Betriebe erhielten geistig und körperlich Behinderte, Haftentlassene und Alkoholiker zugewiesen, die nicht entlassen werden konnten, selbst wenn sie den betrieblichen Ablauf störten oder die Arbeitsmoral untergruben. Die Kollegen behandelten sie mit einer Mischung aus Herablassung und Freundlichkeit fast wie Maskottchen der Abteilungen. Der Arbeitsplatz war sicher, denn nicht nur Rohstoffe und Investitionsgüter, sondern auch Arbeitskräfte waren Mangelware im planwirtschaftlichen System. Ein DDR-Betrieb konnte erfolgreich sein, wenn er es schaffte, seine Planverpflichtungen so gering wie möglich zu halten und so viele Arbeitskräfte, wie er den staatlichen Stellen abringen konnte, an den Betrieb zu binden. Diese Arbeitskräfte wurden zwar nicht die ganze Zeit gebraucht, aber sie waren nötig, um die Unregelmäßigkeiten der planwirtschaftlichen Mangelwirtschaft auszugleichen. Die Betriebe horteten Arbeitskräfte, um für „Stoßaufgaben“ gerüstet zu sein, aber auch, um das volkswirtschaftliche Gewicht des Betriebes und den Status seiner Leitung zu erhöhen (Grünert 1996:55). Die Betriebe hatten demnach gleichzeitig und (vom Standpunkt der Akteure) unvermeidlich sowohl Arbeitskräftemangel als auch nicht ausgeschöpfte Möglichkeiten zur Freisetzung von Arbeitskräften (Grünert 1996:99). Durch den chronischen Materialmangel und die unzureichende Ersatzteilversorgung blieb der Produktionsrhythmus immer unregelmäßig und das Produktionsergebnis nie völlig vorhersehbar. In allen Betrieben setzte am Ende des Monats oder des Quartals der „Sturm“ auf die Planerfüllung ein, der den Beschäftigten Sonderschichten abverlangte, die Maschinen überstrapazierte und schlechte 61 Produktqualität hervorbrachte. Friedemann, Einrichter in der Vorfertigung von TAGHELL, schilderte mir aus seiner Sicht „den Sturm“ am Monatsende: „Monatsende war sowieso immer großer Trubel gewesen. Nicht nur bei uns hier, sondern oben in der Montage ja auch. Am Monatsanfang haben wir das immer ein bißchen schleifen lassen und dann am Monatsende war dann immer großer Aufstand. Und wenn Du hier unten eben nicht hinterher gekommen bist, […] dann wurden eben aus dem Büro noch welche abgezogen... Dann ging das eben los. Lampen montiert, eingepackt und alles so ne Dinger. Monatsende war immer groß.“ (Friedemann, Einrichter TAGHELL, 29.7.1991) Mit einer gewissen Befriedigung beschrieb Friedemann das Chaos des Sturms auf die Planerfüllung. Trennungen zwischen Abteilungen waren aufgehoben. Sogar die Büroangestellten mußten in die Fertigung und sich dort die Hände schmutzig machen. Es klang in seinen Worten das Gefühl der Selbstverständlichkeit durch, mit dem er davon ausging, daß die übermäßige Anstrengung am Monatsende den entspannten Arbeitsrhythmus am Monatsanfang rechtfertigte. Die Beschäftigten, durch Sonderschichten und einen besonderen Arbeitseinsatz am Monatsende ermüdet, sahen den Monatsanfang als einen Zeitraum an, in dem sie selbst über ihren Arbeitsrhythmus bestimmten. Der von außen durch den Mangel an Materialien beeinflußte Rhythmus wurde durch innere Mechanismen verstärkt. Die Fähigkeit zur „Chaosbewältigung“ (Aderhold/u.a. 1994:35) gab den Arbeitern ein Druckmittel in die Hand, das sie in informellen Aushandlungsprozessen mit ihren Meistern einsetzen konnten. In Zeiten weniger heftiger Aktivität und auch bei Maschinenstillstand und Materialengpässen verzogen sich die Arbeiter der Vorfertigung bei TAGHELL in die verschiedenen Frühstücksecken, oder wenn sie ungestört sein wollten, an eine Ecke am Fluß, die hinter einem Tor verborgen lag, für die ein Kollege den Schlüssel hatte. Wenn gegen Ende des Monats alle Abteilungen hart arbeiteten, zogen auch die Arbeiter der Vorfertigung mit. Ihr Engagement ging über die Pflicht, Überstunden zu machen, hinaus. Sie arbeiteten an Wochenenden durch und machten Doppelschichten, bei denen es oft schwere Unfälle durch Übermüdung gab. Arbeiter erzählten stolz hinter vorgehaltender Hand, daß sie in so einer Nacht die rumänische 63-Tonnen-Stanzpresse, die unkontrolliert nach unten nachschlug, zum Nieten von Leuchterarmen verwendet hätten. Das wäre zwar sehr gefährlich gewesen, aber die Teile seien nur so hintereinander weggegangen. Die langen Phasen des Nichtstuns am Arbeitsplatz auf Grund von Materialund Ersatzteilmangel wurden von den Arbeitern als unangenehm empfunden. Während dieser Wartezeiten wurde viel getrunken. In Zeiten intensiverer Aktivität hingegen ging der Alkoholkonsum deutlich zurück. Wochenendeinsätze und 62 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Sonderschichten am Monatsende belasteten das Familienleben, vor allem wenn auch der Ehepartner im Einsatz war und wenn die Kinder in Wochenendhorten abgegeben werden mußten. Viele Beschäftigte glichen diese Opfer an freier Zeit und die lange Arbeitszeit von acht dreiviertel Stunden täglich durch Krankfeiern aus. Seit den siebziger Jahren sank bei den Arbeitern das Interesse an einem höheren Einkommen ständig, da sie für das gesparte Geld kaum etwas kaufen konnten. Hatte es sich für die Beschäftigten in den sechziger Jahren noch ausgezahlt, die Arbeit in den beiden ersten Monatsdritteln zu verzögern, um dann im letzten Monatsdrittel durch Überstunden und Wochenendschichten mehr zu verdienen, so wurde in den achtziger Jahren Freizeit oder Freiraum im Betrieb zunehmend interessanter (Bust-Bartels 1980). Die Betriebsleitung mußte der Belegschaft immer größere Freiräume zugestehen, um sie zur Erfüllung der Planaufgaben zu bewegen. Flexible Arbeitskräfte, vielfältig einsetzbar, waren sehr gefragt. So wurden die Monteure aus der Endmontage bei STANEX auch in der Vorfertigung eingesetzt. Die Kabeleinzieherinnen bei TAGHELL montierten bei Produktionsengpässen auch Lampen. Die Ingenieure der Konstruktionsabteilung von STANEX gingen zu besonderen Einsätzen zur Elektronikfertigung nach Strausberg, die zu einem ganz anderen Betriebsteil gehörte. Die Arbeitsorganisation ähnelte der, die E.P. Thompson als aufgabenorientierte Produktion in den vorindustriellen Gesellschaften beschrieben hatte. Nichtstun wechselte sich ab mit Phasen intensiver Aktivität (Thompson 1967:73). Langen Perioden mit Maschinenstillstand wegen Materialmangels oder wegen Mangels an Ersatzteilen folgten Phasen von Nachtarbeit und Wochenendschichten. Die Auflagen der Planwirtschaft, so zum Beispiel der Zwang zu ständigen technischen Innovationen und die plötzliche Veränderung der zentralgesteuerten Produktpolitik zwangen die Betriebe zur Anpassung und forderten von den Belegschaften Flexibilität und Improvisationsvermögen. 1978 erhielt TAGHELL, bis dahin Produzent von einfachen Holz- und Blechlampen, ein Messingkontingent zugeteilt und wurde aufgeforderte teure Messinglampensets – eine Lampe zu 1200 Mark – zu produzieren, die die konsumhungrige Bevölkerung befriedigen und ihre Kaufkraft abschöpfen würde. Niemand im Betrieb hatte zuvor mit Messing gearbeitet. Die ersten Lampenmodelle – von Betriebsangehörigen selbst entworfen – waren dementsprechend plump und schwer, denn sie bestanden aus Vollmessing. Die damals vorhandenen Metallwerkzeuge schnitten das weiche Messing nicht. Bei der Verarbeitung entstanden Striemen und Kratzer. Die Arbeiter mußten sich den Umgang mit dem Metall erst durch Probieren aneignen. Erst nach jahrelanger Improvisation und mit Unterstützung eines professionellen 63 Designers entstanden Modelle, die schließlich sogar im westlichen Ausland Anklang fanden und die zu Tausenden über eine schwedische Firma in den Westen vertrieben wurden. Auch der Montageautomat der Firma STANEX war eine Selbstentwicklung, die in den siebziger Jahren in Anlehnung an westliche Modelle entstanden war. Das erste Modell hatte einen Antriebsmotor, der vibrierte wie „ein Traktormotor“ und benötigte daher zur Stabilisierung des Tisches einen schweren gußeisernen Unterbau. Erst durch langsame Weiterentwicklung wurde der Automat leichter und die Baugruppen konnten standardisiert werden. Für die Weiterentwicklung war eine enge Zusammenarbeit zwischen Konstrukteuren und Facharbeitern nötig, in die die fachlich weniger qualifizierten Meister kaum intervenierten. Bei der Lösung mancher Detailprobleme hatten die Facharbeiter sogar völlig freie Hand. Am unabhängigsten waren die drei Facharbeiter, die in der Abteilung Baugruppenmontage die speziellen Vibratorbehälter austüftelten, die für jeden Automaten neu entwickelt werden mußten. Jeder Vibratorbehälter trug die individuelle Handschrift des Facharbeiters, der ihn gebaut hatte. Die drei Tüftler waren für den Betrieb so strategisch wichtig und ihre Arbeit so undurchschaubar, daß sie alle Freiheiten besaßen, ihre Arbeitsweise und ihren Rhythmus selbst zu bestimmen. Sie wurden von ihren Vorgesetzten geschätzt, aber gleichzeitig auch wegen ihrer Unabhängigkeit gefürchtet. Fröhlich, einer der drei Spezialisten, schilderte mir das Verhältnis zu seinem Chef, dem Fertigungsleiter Voigt. „Das ist eigentlich immer ihr großer Kummer gewesen – auch Voigt seiner – daß sie uns nicht auf die Finger gucken konnten. Sicherlich hätten sie ganz gerne ihre Leute an dieser Stelle gehabt. Aber meiner Meinung nach können da nur ein bißchen extreme Typen arbeiten. Man muß da einfach ganz unbefangen rangehen. Und das ist eben wahrscheinlich doch nicht lernbar.“ (Fröhlich, Facharbeiter STANEX, 16.6.1991) Es gehörte zu den Prinzipien der zentralen Planwirtschaft, daß innerhalb der DDR möglichst kein Produkt von zwei verschiedenen Herstellern produziert werden sollte (Voskamp/Wittke 1991:19). Da aber die Zulieferungen nicht funktionierten, vor allem wenn Zulieferer und Produzenten unterschiedlichen Ministerien unterstellt waren, bemühten sich die Betriebe und Kombinate um Autarkie. Sie entwickelten Komponenten, die sie nicht kaufen konnten, in Kleinstserien in ihrem Rationalisierungsmittelbau und erfanden somit „das Rad“ immer wieder von neuem. Sie konnten sich dabei nur selten auf Hilfestellung von anderen Betrieben stützen. „Der sozialistische Austausch“ von technologischem Know-how war nicht systematisch und blieb eher oberflächlich. Das große Inno- 64 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 vations- und Kreativitätspotential der DDR-Wirtschaft war in der Erfindung von bereits erfundenen Produkten gebunden. In den Betrieben leisteten die Beschäftigten häufig anspruchsvolle Entwicklungsarbeit, während sich gleichzeitig das technologische Niveau der DDR-Volkswirtschaft immer weiter von dem Niveau des Westens entfernte. 1990 besaßen die drei untersuchten Betriebe Maschinen, die im Durchschnitt zwanzig bis dreißig Jahre alt waren. Die alte, schwer zu kontrollierende Technologie trug de facto zur Autonomie der Arbeiter bei. Improvisationsvermögen war nötig, um die Maschinen am Laufen zu halten und den Mangel an Ersatzteilen und an adäquatem Material auszugleichen. Die Arbeiter der Vorfertigung von STANEX, die spezielle Komponenten für den Rundschalttischautomaten fertigen mußten, die über die bilanzierte Beschaffung nicht zu erhalten waren, erreichten einen Grad an Genauigkeit, der es mit dem von modernen Maschinen aufnehmen konnte. Sie konnten diesen Grad an Präzision nur erreichen, weil sie ihre Maschine und deren Macken seit langem kannten und sich darauf einstellen konnten. Ein Lehrfacharbeiter demonstrierte mir, wie er auf einer Fräse aus den sechziger Jahren mit Erfahrungswerten und Augenmaß noch Genauigkeiten bis 3/100 fräsen konnte. Die meisten Facharbeiter der Abteilung beschwerten sich jedesmal heftig, wenn Kollegen während ihrer Abwesenheit „ihre“ Maschine „schlecht behandelten”. Die Fräser schliffen die Nutenfräser selber nach Augenmaß und fertigten, falls nötig, ganze Ersatzteile für ihre Maschinen. Diese Art Qualität zu produzieren, war sehr zeitaufwendig, und die Arbeiter hatten weitgehend freie Hand, was die Gestaltung ihres Arbeitstages anging. Sie hatten zwar eng kalkulierte formelle Arbeitsquoten, die aber durch großzügige Einrichtzeiten ausgeglichen wurden. Die Arbeiter betrachteten ihre Maschinen wie menschliche Wesen mit ihren Stärken und Schwächen, mit denen man nur zurechtkommen konnte, wenn man sie gut kannte. Die Qualität der Arbeit stand und fiel mit der Instandhaltung der Maschinen, die von den Arbeitern meist selbst übernommen wurde, weil die Zusammenarbeit mit den Instandhaltungsabteilungen sehr schwerfällig war. Die Bereitschaft, sorgsam mit ihren Maschinen umzugehen, hing davon ab, wie stark sich die Arbeiter mit ihrer Aufgabe und ihrem Produkt identifizierten. Die qualifizierten Facharbeiter bei STANEX legten dabei größte Sorgfalt an den Tag, während die angelernten Arbeiter in der Vorfertigung bei TAGHELL die Maschinen völlig vernachlässigten. Da die meisten Arbeiter, die dort arbeiteten, nur angelernt waren, war ihnen oft auch der sachgemäße Umgang mit den Maschinen nicht bekannt und wurden auch Sicherheitsbestimmungen nicht beachtet. Viele der 65 Stanzpressen schlugen nach, weil die Endschalter nicht funktionierten. Die Stauch- und Nietmaschine verlor am Tag literweise Öl, das dann mit Sand zugeschüttet wurde. Eine lange Metallsäge, die für die Einzelstückfertigung konzipiert war, wurde zum Sägen von Serien verwendet, was zur Folge hatte, daß ihr Futter völlig ausgeleiert war. Die Metallstangen tanzten beim Sägen in den Führungsrohren und machten einen Höllenlärm. Die Arbeit mit alter Technologie war mühsam und laut, oft auch gefährlich und gesundheitsgefährdend. Die Abteilung Oberfläche von TAGHELL besaß eine wahre Giftküche, die nur mit einem Schlüssel zugänglich war. Dort wurden in einem geschlossenen Raum bei einer Raumtemperatur von über 25 Grad und bei konstanter Luftfeuchtigkeit die polierten Messingteile in ein Lackbad getaucht. Der Lack war mit Nitroglyzerin verdünnt, damit er schnell an der Luft trocknete, ohne Tropfnasen zu bilden. Obwohl der Raum eine Absauganlage besaß, wurde diese nicht angestellt, damit der Lack auf den Messingteilen keine Wellen warf. Obwohl weniger gesundheitsschädigende Lackierungsmethoden möglich gewesen wären, wurden diese nicht praktiziert, weil sie völlige Staubfreiheit erfordert hätten und eine Anlage zum Einbrennen des Lacks nicht zu beschaffen war. Im gleichen Raum wurden auch Holzteile behandelt, was die Luftfeuchtigkeit erhöhte und die dort Arbeitenden weiteren Ausdünstungen aussetzte. Nach Meinung des Meisters war diese Arbeit nur etwas für „bestimmte Menschen“. Die beiden Arbeiter waren starke Raucher und hatten eine Arbeitszeit von sechseinhalb Stunden am Tag in diesem Raum. Die Kontrolle der Maschinen lag ganz in der Werkstatt. CNC-gesteuerte Maschinen mit Fernprogrammierung gab es selbst in Betrieben der Hochtechnologie wie STANEX nicht. Obwohl die Fertigungsleitungen in allen drei Betrieben versuchten, den Produktionsablauf mit tayloristischen Methoden zu steuern und zu kontrollieren, entwickelte die Fertigung durch die ständige Notwendigkeit zur Improvisation eine Eigendynamik. Die Arbeiter waren nicht Anhängsel ihrer Maschinen, sondern die Produktion mit den alten Maschinen hing von dem praktischen Geschick und dem Engagement der Arbeiter ab. 2.3. Disziplin und Motivation In der Geschichte der Industriearbeit in der DDR gab es seit 1949 beständig Versuche der Betriebsleitungen und der Staats- und Parteiorgane, die Leistungen der Industriearbeiter zu kontrollieren und zu systematisieren, die Freiräume ein66 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 zuschränken und die Arbeit unter eine tayloristische Disziplin zu stellen. Mit der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation sollte ab den siebziger Jahre ein Instrument entwickelt werden, das es den Leitern ermöglichen sollte, den Arbeitsprozeß theoretisch zu planen und vorwegzunehmen (Bust-Bartels 1980:114). Arbeitszeitnormen sollten entweder auf experimentellem oder auf rechnerischem Wege erstellt werden. Bei der analytisch-experimentellen Methode wurde die Norm durch Zeitmessungen und Arbeitsanalysen während sogenannter Initiativschichten ermittelt. Die Beschäftigten mußten über die Zeitnahme informiert werden und hatten daher auch die Möglichkeit, während der Zeitmessung Dienst nach Vorschrift zu machen. Maschinenarbeiter bei STANEX erzählten mir, daß diese Schichten besonders vorbereitet wurden und daß nur spezielle Arbeiten mit dem Ziel der Normveränderung gemacht wurden. Während der Initiativschichten hielten sie die Einrichtzeiten penibel ein und benutzten die Arbeitsschutzvorrichtungen, auf die sie im Normalbetrieb häufig verzichteten. Sie ließen auch manchmal wie „aus Versehen“ den Fräserkopf abbrechen. Fertigungsleiter Voigt konnte diesen Tricks nichts entgegensetzen. Normveränderungen wurden letztlich stets in Absprache mit den Meistern und Arbeitern durchgesetzt und damit zum Teil erheblich abgeschwächt. Von den analytisch-experimentell ermittelten Normen waren Zeitnormative für Arbeitsverrichtungen abgeleitet, die sich bei unterschiedlichen Arbeiten wiederholten, so zum Beispiel Einspannvorgänge. Diese Zeitnormative waren in Zeitnormativsystemen und -katalogen zusammengestellt und bildeten die Grundlage für die Normermittlung fern vom eigentlichen Arbeitsplatz (Bust-Bartels 1980:124). In der Werkstatt von TAGHELL waren rund 1500 Arbeitsgänge mit einer Norm belegt, die meist seit Jahren nicht mehr verändert worden war, weil sich auch der technologische Standard nicht verbessert hatte. Teilweise war diese Norm leicht zu erreichen, teilweise hatten die Arbeiter aber schon seit Jahren Schwierigkeiten damit. Um sich ein paar Minuten Freizeit zu erarbeiten, wurden die Maschinen bis an den Rand ihrer Kapazitäten getrieben und gleichzeitig unzureichend gewartet. Der Meister bemühte sich vergebens, die Arbeiter zu einer gleichmäßigen Arbeitsverausgabung anzuhalten und die Maschinen zu schonen. Wenn die Maschinen dann kaputtgingen und repariert werden mußten, hatte dies für den Arbeiter kaum Lohneinbußen zur Folge, da er bei Stillstand aus technischen Gründen oder auf Grund von Materialmangel einen Lohn entsprechend von 100% der Norm weiter bezahlt bekam. Stillstand bedeutete Freizeit im Betrieb. 67 Der Versuch, die Produktivität durch Neuerervorschläge der Beschäftigten zu steigern, hatte oft den Charakter von Improvisation. Bei TAGHELL konnten die meisten Maschinen, die für die Durchführung von mehreren Arbeitsgängen gleichzeitig konzipiert worden waren, auf Grund von technischen Mängeln nie mehr als einen Arbeitsgang bewältigen. Die ArbeiterInnen hantierten mit prekären Vorrichtungen, um dennoch zwei auf einmal zu schaffen. So wurden beispielsweise auf einer Stauch- und Nietmaschine aus dem Jahre 1972 die Feststellvorrichtungen mit Fensterisolierband belegt, um Messingleuchterarme dort festspannen zu können, auf die dann zwei Kerzentüllen gleichzeitig festgenietet wurden. Diese Neuerung, für deren „Erfindung“ ein Arbeiter im übrigen eine Prämie erhalten hatte, sparte zwar einen Arbeitsgang ein und setzte die Norm herab, führte aber gleichzeitig dazu, daß viel mehr Ausschuß produziert wurde, der dann mühsam und zeitaufwendig nachgearbeitet werden mußte. Diese Arbeit machten dann meist die Einrichter nebenbei. Die Abteilung Montage von TAGHELL war stolz darauf, fast jedes Jahr als beste Abteilung gegolten zu haben. Die Frauen montierten die Leuchter nach einer Normvorgabe, die nach einer Zeit der Einarbeitung relativ leicht zu erreichen war, während die Männer in der Abteilung als Meister, Einrichter und Qualitätskontrolleure fungierten und keiner Norm unterworfen waren. Die Frauen erhielten für jeden Leuchter, den sie fertigmontierten, ein Messingplättchen, das sie dann am Abend abrechneten. Vor der „Wende“ war es Usus, vorzuarbeiten und diese Plättchen aufzusparen. Einige Frauen hatten bei einer Tagesproduktion von 32 Armleuchtern nach einer Weile über dreißig Plättchen gespart. Obwohl es offiziell verboten war, während der Arbeitszeit den Betrieb zu verlassen, nutzten die Frauen diese Arbeitsreserven, um einkaufen zu gehen und sich für rare Konsumgüter anzustellen. Die zweite Form der Leistungsentlohnung, der Prämienzeitlohn, der vor allem für spezielle Facharbeit bezahlt wurde, wurde mit der Zeit zum Einheitslohn abgeschwächt. Bei STANEX bestand er aus einem festen Grundlohnanteil von 60% und einem Leistungslohnanteil von 40%. Der Leistungslohnanteil wurde nach fünf Kriterien bewertet: Arbeitsqualität, Arbeitsquantität, Pünktlichkeit, Arbeitsschutz und Arbeitseinsatz. Den vier ersten Kriterien entsprachen feste Lohnanteile. Das heißt, die Arbeiter rechneten sie als Bestandteil ihres Lohns, der ihnen nur „als Strafe“ abgezogen werden konnte. Nur der fünfte Faktor, der Arbeitseinsatz, wurde vom Meister gemeinsam mit dem Vertrauensmann bewertet. Es konnte für einen hohen Arbeitseinsatz eine Prämie von maximal 23 Pfennigen pro Stunde vergeben werden. Bei einem Durchschnittsverdienst von 6,85 Mark betrug die maximale Verdienstmöglichkeit 7,08 Mark pro Stunde. 68 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Die schwächeren und undisziplinierteren Mitglieder der Brigade konnten also in geringem Umfang zu einer Ressource für die produktiveren Mitglieder der Brigade werden. Sie waren also in gewissem Maße geduldet. Allerdings wogen die 2%, die ein besonders arbeitsamer Arbeiter durch die Umverteilung mehr verdienen konnte, nicht den Verlust auf, den die ganze Brigade erlitt, wenn sie wegen mehrerer undisziplinierter Arbeiter die Prämie als Kollektiv der sozialistischen Arbeit verlor. Mitglieder einer erfolgreichen Brigade sorgten also dafür, daß disziplinarische Verfehlungen nicht dem Meister zu Ohren kamen. Der Einfluß, den die Beschäftigten im planwirtschaftlichen Betrieb ausübten, beruhte nicht auf formalen Mitbestimmungsrechten, sondern auf ihrer Verweigerungsmacht. Da die Betriebsleitung auf die Zusammenarbeit mit der Belegschaft angewiesen war, um die Klippen der Mangelwirtschaft zu umschiffen, konnten die Belegschaften ihre Verweigerungsmacht einsetzen, um mit ihren Vorgesetzten einen ihnen genehmen Arbeitsrhythmus zu vereinbaren. Sie schlossen einen „Planerfüllungspakt“ (Voskamp/Wittke 1991:31). Dieser Pakt war nicht das Resultat einer friedlichen Übereinkunft, sondern das Ergebnis praktischen Handels, die Konsequenz von Verweigerung und Kooperation. Die Arbeiter beteiligten sich an der besonderen Anstrengung, gegen Monatsende den Plan zu erfüllen, aber sie erwarteten dafür, am Anfang des nächsten Monats von ihren Meistern in Ruhe gelassen zu werden. Die Beschäftigten hatten keine unabhängigen Gremien, die ihre Interessen offiziell vertraten und ihrer Unzufriedenheit Ausdruck gaben. Im Gegensatz zum westdeutschen Unternehmen, in dem zum Beispiel technisch-organisatorische Wandlungsprozesse über Gewerkschafts- und Betriebsratsarbeit immer politisiert werden können (Aderhold/u.a. 1994:42), konnten die Beschäftigten im volkseigenen Betrieb sich zwar individuell beschweren, aber nicht kollektiv auftreten. Eine offene Artikulation und institutionalisiertes Aushandeln konträrer Interessen war nicht möglich. Die Betriebsgewerkschaftsleitung vertrat den Standpunkt von Betriebsleitung und Partei in der Werkstatt und besaß keine organisatorische und politische Autonomie. Dementsprechend wurde sie von den Beschäftigten nicht als kollektive Interessensvertretung, sondern als Dienstleistungsorganisation wahrgenommen, die soziale Belange ihrer Mitglieder – wie zum Beispiel die Verteilung von Plätzen in betriebs- und gewerkschaftseigenen Ferienheimen – regelte. Selbst der Vertrauensmann der Brigade, der von den Beschäftigten selbst gewählt worden war und keine politische Funktion bekleidete, wurde über subtile Mechanismen von seinen Kollegen entsolidarisiert. Bei offensichtlichen disziplinarischen Verfehlungen war er zum Beispiel verpflichtet, die Bescheinigung 69 über den Prämienentzug gegenzuzeichnen und sich somit auf die Seite der Betriebsleitung zu stellen. Fröhlich, der Satiriker und gewählte Vertrauensmann bei STANEX erzählt: „Als Vertrauensmann mußte man diesen Schein ja unterschreiben. Wenn jetzt einer wirklich draußen rumgerannt ist, so daß es offensichtlich war, dann konnte man sich eigentlich nicht dagegen verwehren, zu unterschreiben, daß der eben 2 % weniger hat. Jens hat öfter mal was abgezogen gekriegt. Jens hat z. B. in der Mittagspause da draußen an seinem Motorrad gebaut oder am Auto, und da ist er eben zwischendurch rausgerannt und jeder wußte, wo er hinrennt. Das war unklug, das hätte er nicht machen brauchen! Das hätte er irgendwie anders machen können. Andere haben das auch gemacht, aber die haben das eben geschickter gemacht. Na ja, er hat es zu offensichtlich gemacht. Wenn er sich erwischen läßt, dann hat er sich das selber zuzuschreiben.“ (Fröhlich, STANEX, 16.6.1991) Fröhlich versuchte vor sich selbst und auch vor mir zu rechtfertigen, warum er dem Lohnabzug für seine Kollegen zugestimmt und somit Disziplinierungsmaßnahmen mitgetragen hatte. Sein Argument war: „Wer sich erwischen läßt, hat selber schuld.“ Es handelte sich bei den Prämienabzügen nur um geringe Summen von höchstens 40 bis 50 Mark im Monat. Aber die Unterschrift, mit der Fröhlich die Bestrafung seiner Kollegen bestätigen mußte, nahm seiner Rolle als gewähltem Vertrauensmann der Arbeiter die Autonomie. Er ordnete sich damit formell dem Standpunkt der Betriebsleitung unter, die er ansonsten kritisierte. Die Arbeitsorganisation in der Planwirtschaft förderte zwei typische Reaktionen bei den Beschäftigten, die sich nicht gegenseitig ausschlossen. Sie regte die Arbeiter und Angestellten an, die Grenzen ihrer Freiheit auszutesten und so wenig wie möglich zu arbeiten, aber sie ermutigte sie auch, auf ihre eigene Initiative hin zu arbeiten, an der Arbeit selbst Gefallen zu finden und stolz auf ihr Produkt zu sein. Immer wieder betonten die Arbeiter den Genuß einer gewissen „Narrenfreiheit“ im Betrieb. „Hähnchen im Härteofen gegrillt, Eisbein gekocht und Sahne auf dem Bohrwerk geschlagen. Aber es hat niemandem geschadet. Die haben alle hinterher wieder gearbeitet. Das mag ja nun für einen westlichen Menschen ein bißchen komisch anmuten, aber genau das war es ja, was eigentlich die Sache hier lebenswert gemacht hat auf seine Weise. Wir haben ja ewig lange in diesem Betrieb gehockt, von sieben bis halb fünf früher. Und so war es erträglich. Es war ja wirklich ne dufte Truppe... Aber die Nischen, die hier gesucht wurden und die eigentlich das angenehme Leben gemacht haben, die waren auch auf Arbeit. Die waren nicht nur in der Freizeit. Und das waren teilweise schöne Nischen, muß ich sagen.“ (Fröhlich, Facharbeiter, STANEX, 16.6.1991) Die Arbeiter von STANEX, die sich an diesen Streichen und Provokationen beteiligten, gingen an anderen Momenten völlig in ihrer Arbeit auf. Wenn sie 70 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 zum Beispiel im letzten Montageschritt den zwölf Stationen des Automaten „Leben einhauchten“, arbeiteten die zwei verantwortlichen Arbeiter, der Mechanik- und der Elektrikkonstrukteur oft Tag und Nacht. Die Zusammenarbeit zwischen Facharbeitern und Ingenieuren, die schon bei der täglichen Arbeit intensiv und unabhängig von formalen Hierarchien war, wurde fast eine Symbiose in diesen privilegierten Momenten. Die Faszination der Beschäftigten für technisch anspruchsvolle „deutsche Qualitätsarbeit“ (Lüdtke 1993) war also auch zur Zeit der Planwirtschaft nicht verlorengegangen. „Bei uns ist det nun wirklich sehr, sehr viel – und zum Glück muß man sagn – individuelle Arbeit, immer echte handwerkliche Arbeit und auch geistige Arbeit, die sich eigentlich durch das ganze Rektorat durchgezogen hat. Damit war die Zusammenarbeit, angefangen von der Konstruktion, Technologie, Arbeitsverwaltung bis runter zu uns in der Endmontage, notwendigerweise alles ineinander verzahnt. Damit ist natürlich auch, ob direkt oder indirekt, eine Gemeinschaft über die Jahre entstanden, die doch weitestgehend, muß ich sagen, fürnander und miteinander durch Dick und Dünn gegangen is. 95% der Leute sind nicht hierher gekommen weil sie eine Beschäftigung haben müssen oder Arbeit haben müssen, um Geld zu verdienen. Also eigentlich hat sich so gut wie jeder mit dieser Aufgabe identifiziert und hat den allermeisten auch Spaß gemacht. Und würde ihnen, wenn‘s bestehen bliebe, auch weiter Spaß machen.“ (Ruland, Facharbeiter, STANEX, 18.4.1991) Die direkte unbürokratische Zusammenarbeit zwischen Produktionsarbeitern und Konstrukteuren untergrub die formalen Betriebshierarchien und die Autorität der mittleren Kader. Abteilungsleiter Voigt von STANEX versuchte deshalb die Fertigung politisch und fachlich unter Kontrolle zu bekommen. Als Parteimitglied und Mitglied der Betriebskampfgruppe unterstützte er die politischen Ansichten seines Vorgesetzten Dr. Schöpf und bewies ihm absolute Loyalität. Er führte bis 1989 einen verzweifelten Kleinkrieg gegen die Facharbeiter seiner Abteilung, um einen Überblick über den Produktionsprozeß zu erlangen. Zu diesem Zwecke setzte er sogar den Umzug der Fertigung aus einem mehrstöckigen Gebäude in eine Montagehalle durch, wo er die Bewegungen seiner Arbeiter besser im Blick hatte. Um der direkten ungeplanten Zusammenarbeit zwischen den Fertigungsabteilungen Grenzen zu setzen, veranlasste Voigt, daß jede Nacharbeit bei ihm beantragt und von ihn abgezeichnet werden mußte. Die Facharbeiter in der Endmontage konnten nicht mehr wie zuvor direkt zu den Drehern und Fräsern in der Vorfertigung gehen, um sich einen Komponenten korrigieren oder neu machen zu lassen. Voigt schaffte es tatsächlich, die Zahl der Nacharbeiten drastisch zu reduzieren. Eine effektive Kontrolle über die Vorgänge in seiner Abteilung bekam er jedoch nicht, da er die fachliche Kompetenz nicht besaß. Die Monteure in der Endmontage machten sich einen Spaß daraus, in direkter Ab- 71 sprache mit den Konstrukteuren Veränderungen an den Automaten anzubringen, ohne sie dem Fertigungsleiter mitzuteilen. Die Arbeitsintensität in den Werkstätten beruhte weitgehend auf dem konsensualen Charakter des Planerfüllungspaktes und hing von dem Interesse ab, das die Arbeiter ihren Aufgaben entgegenbrachten. Die Meister konnten den Arbeitern unangenehme Arbeiten zuweisen oder ihre Jahresendprämie kürzen oder im schlimmsten Fall auf ihr Leben außerhalb des Betriebes einwirken, indem sie eine negative Beurteilung schrieben, wenn Mitarbeiter zu einem Familienbesuch in den Westen fahren wollten, aber sie konnten sie kaum zu einer stärkeren Arbeitsverausgabung zwingen. Da die Meister nur wenig Möglichkeiten hatten, auf die Produktivität der Arbeiter Einfluß zu nehmen, versuchten sie stattdessen, zumindestens formell, die Ordnung in der Werkstatt aufrechtzuerhalten. Sie versuchten, dafür zu sorgen, daß die Beschäftigten pünktlich zur Arbeit erschienen, den Arbeitsplatz nicht während der Arbeitszeit verließen und keine Trinkgelage abhielten. Der Status der Meister im Betrieb schien von dem Erfolg dieser Bemühungen abzuhängen. Die Meister betonten daher mir gegenüber immer wieder, daß sie es verstanden hätten, Disziplin in der Werkstatt herzustellen. Die Mittel, die Meister Spohr vom VEBLift dabei anwendete, waren bemerkenswert und erinnern an Disziplinierungsmethoden des 18. Jahrhunderts. Er sorgte dafür, daß die Arbeiter ihn nicht mehr in seinem Meisterbüro beobachten konnten und überwachte sie seinerseits mit Hilfe eines Foucaultschen Panoptikums (Foucault 1975:233ff). Er übermalte die Scheibe des Meisterbüros, das an die Werkstatt angrenzte, weiß und kratzte auf seiner Augenhöhe (er war rund 190 cm groß) drei markstückgroße Löcher hinein, durch die er hinaussehen, durch die die Arbeiter aber nicht ohne weiteres in das Meisterbüro hineinsehen konnten. Er behauptete allerdings, daß diese Löcher für ihn fast überflüssig wären, denn er könne die Maschinen in der Werkstatt am Geräusch unterscheiden und feststellen, ob sie leerliefen, im langsamen oder schnellen Rhythmus arbeiteten und sei so in der Lage, die Arbeiter genauestens zu überwachen. Diese Form der Überwachung erinnert an eine Frühform der Disziplinargesellschaft, in der Disziplin noch nicht internalisiert, „normal“ (Foucault 1986:241) geworden war, sondern immer wieder von den Machthabenden durchgesetzt werden mußte. Stets aufs genaueste überwacht, arbeiteten die Arbeiter nicht, sobald sie einmal nicht mehr überwacht wurden und entzogen sich dem Arbeitsdruck durch periodisches langes Krankfeiern. Spohrs Abteilung hatte den höchsten Krankenstand des ganzen Betriebes. 72 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 In der Vorfertigung bei TAGHELL, wo vor allem angelernte Arbeitskräfte beschäftigt waren, war die Arbeitsmotivation besonders gering. Der Meister der Vorfertigung, Saller, wandte fast detektivischen Spürsinn an, um die Arbeiter zu disziplinieren und um ihnen Disziplinarverstöße nachzuweisen. Anschaulich schilderte er mir, mit welchen Tricks er versuchte, sich Respekt zu verschaffen. „Um Ruhe in das Kollektiv reinzukriegen, habe ich sie in die Enge getrieben.... Die sind ja auch abgehauen von der Arbeit während der Nachtschicht: Die waren eine Stunde da, dann waren sie weg. Dann waren sie zu Hause. So und im Winter war das einmal sehr interessant. Der Einrichter war verschwunden, aber angeblich war er immer da. Da war nichts zu wollen. Eines Morgens, das war aber mehr Zufall, denk ich: ‚Warte mal, du fährst um fünfe zur Arbeit.‘ Um sechse ham die ja Feierabend. Ich habe ja damals erst um halb sieben angefangen. Ja, und ins Auto, ab zur Arbeit: Alle Autos waren mit drei Millimeter Schnee bedeckt. Nur eins nicht. Na logo. Der kam ja grade erst. Alle Autos sind weiß. Nur sein grasgrüner Trabbi nicht. Also, das wäre dem Dümmsten noch aufgefallen. Aber soweit hat der nicht gedacht. Der hätte sein Auto irgendwo hinten um die Ecke stellen müssen. Aber die waren sich ihrer Sache so sicher.” (Saller, Meister, TAGHELL, 21.1.1991) Allerdings waren diese disziplinarischen Erfolge des Meisters eher die Ausnahme. Meister Saller empfand seine Stellung im Betrieb als prekär und meinte resigniert: „Warum heißt der Meister Meister? Weil meist er der Dumme ist.“ Die Meister versuchten sich den ideologischen und materiellen Anforderungen der Führung nach Möglichkeit zu entziehen, aber sie wurden deshalb nicht unbedingt von den Arbeitern als Kumpel anerkannt und akzeptiert. So saßen sie meistens zwischen den Stühlen, von oben angreifbar, von unten nicht respektiert. Die Meister Spohr und Saller versuchten daher ihre Stellung im Betrieb ideologisch-politisch zu verbessern: Spohr, indem er seine Abteilung zum Champion des sozialistischen Wettbewerbs machte, und Saller, indem er in die Partei eintrat. Die Meister „der alten Schule“ waren da eine Ausnahme. Meister Krause von TAGHELL achtete in der Abteilung „Oberfläche“ auf strikte Arbeitsdisziplin und versuchte den Arbeitseifer seiner Arbeiter durch sein eigenes gutes Beispiel zu fördern. Sein Maßstab für das, was er von seinen Mitarbeitern verlangte, war, wie er sagte, die Arbeitsmoral, die er selbst noch in dem Privatbetrieb kennengelernt hatte, in dem er seine Lehre gemacht hatte. Krause hatte im Betrieb die Rolle einer moralischen Instanz. Als Leiter der Konfliktkommission des Betriebs trat er offen mit seiner Kritik an der Betriebsleitung nach außen und scheute sich auch nicht, Unterschlagungen und Leuchtenschiebereien öffentlich zu machen und bei der Polizei anzuzeigen. Seine Stellung im Betrieb war durch die strikte Disziplin und die guten Arbeitsergebnisse, die er in seiner Abteilung durchsetzte, 73 unangreifbar, und seine Chefs fürchteten ihn seiner kompromißlosen Kritik an illegalen Machenschaften wegen. Nach dem Fall der Mauer war Krause auch der erste, der öffentlich Rechenschaft von der Betriebsleitung verlangte. Das periodische Engagement und aufgabenorientierte Arbeiten, das darauf abzielte, zu einem bestimmten Zeitpunkt, ohne Rücksicht auf Kosten und Arbeitsaufwand, ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen, bewirkten einerseits, daß die Arbeiter zahlreiche Lücken im Disziplinierungssystem am Arbeitsplatz finden konnten und auch ausnützten, daß sie aber andererseits oft viele Jahre in demselben Betrieb blieben und sich stark mit ihrer Arbeit identifizierten, vor allem dann, wenn sie qualifizierte Facharbeiter waren. So mancher Facharbeiter, mit dem ich sprach, hatte das konkrete Gefühl, „seinen“ Betrieb mitaufgebaut und „sein“ Produkt mitentwickelt zu haben. Drei Faktoren trugen dazu bei, daß die Beschäftigten sich immer wieder für die Planerfüllung engagierten: Erstens erhielten Arbeiter und Angestellte gewisse konfliktfreie Freiräume dafür, daß sie durch besonderen persönlichen Einsatz, Improvisation und Flexibilität dazu beitrugen, die Rigidität der zentralen Planung zu verringern. Im stillen Einverständnis mit Meistern und Abteilungsleitern wurde bei der Planerfüllung zum Monatsende mitgezogen, und die Beschäftigten erwarteten dafür, in der übrigen Zeit in Ruhe gelassen zu werden. Voskamp und Wittke (1991:32) nennen diesen Interessenskompromiß treffend den Planerfüllungspakt zwischen Meistern und Arbeitern. Zweitens hing das Prestige der Brigaden im Betrieb und der Berufsstolz der Beschäftigten davon ab, inwieweit sie es schafften, trotz aller Widrigkeiten noch annähernd ihren Anteil am Plansoll zu erfüllen. Besonderes Ansehen genossen die Beschäftigten, die es schafften, durch Improvisation alte Maschinen am Laufen zu halten, mit fehlerhaften oder ungenügenden Materialien zu produzieren oder Material und Ersatzteile zu beschaffen. Außerdem hinderte die „professionelle Arbeitsethik“ (Rottenburg 1991:317) die Fachleute daran, ihrem Arbeitsresultat gleichgültig gegenüberzustehen, unabhängig von der Nutzenmaximierung. Drittens befanden sich die Beschäftigten, die sich in Stoßzeiten für die Planerfüllung einsetzten, im Einklang mit den Idealen der herrschenden Gesellschaftsordnung. Durch persönliche und kollektive Auszeichnungen wurden sie in ihrem Gefühl bestätigt, wichtige Mitglieder der sozialistischen Gesellschaft zu sein. Viele Arbeiter hatten zu DDR-Zeiten ein selbstbewußtes Verhältnis zum Staat. So fand Frau Schmidt, die Montiererin bei TAGHELL, es selbstverständlich, daß der Staat ihr etwas schuldete, weil „wir ja auch was für den Staat geben. 74 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Wir haben auch immer gearbeitet, tüchtig gearbeitet.“ Ihre Lohnarbeit begründete in ihren Augen einen Anspruch an den Staat, den sie mit Antragstellungen an den richtigen Stellen und Beschwerden durchzusetzen wußte. Trotz ihrer auf dem Planerfüllungspakt gegründeten passiven Stärke (Voskamp/Wittke 1991), die sicherlich auch zu den Effizienzproblemen der Planwirtschaft beitrug, wenn sie sie auch nicht verursachte, war die Arbeiterklasse in der DDR nicht die führende Klasse. Die Beschäftigten konnten zwar durch die Drohung mit Aufkündigung ihres Arbeitsverhältnisses einen gewissen Druck ausüben, aber sie konnten sich weder ihren Arbeitsplatz frei wählen, noch konnten sie sich auf unabhängige Vertretungsorgane berufen, um ihre Arbeitsbedingungen auszuhandeln. Auf die Arbeitssuche, die Stellung im Betrieb und vor allem die Aufstiegschancen wirkten immer persönliche und politische Faktoren mit ein, die die formalen Rechte der Beschäftigten einschränkten. Wie sich der politische Druck auf die Beschäftigten auf allen Ebenen im Betrieb auswirkte, möchte ich in den nächsten beiden Kapiteln behandeln. 75 3. Sozialismus als Performance Gedanken (1984) Was ist es nur, was uns so quält Beim Grübeln übers Leben Wer ist es, der die Richtung stellt In die wir uns begeben? Warum ist mancher Kopf so leer Ein anderer quillt über Der eine stellt sich schrecklich quer Der andere lächelt lieber Wie heißt der Motor ringsumher Wo ist das Ziel zum Tanken Der Eine, der fällt sofort um Ein Anderer muß erst wanken Auf Erden, da ist alles rund Drum eckt man ständig an Und wer hier nicht ins Grübeln kommt Der macht es nebenan. Horst Froberg, alias Fröhlich, Facharbeiter bei STANEX Das Selbstbewußtsein, das die Beschäftigten aus dem Planerfüllungspakt hätten gewinnen können, wurde durch den sogenannten „sozialistischen Wettbewerb“ wieder in die Schranken gewiesen. Im „sozialistischen Wettbewerb“ sollten Individuen und Brigaden um die Erfüllung der gesamtgesellschaftlichen Zielsetzungen wetteifern und die von der Partei vorgegebenen Klassifikationen, Normen, Werte und Rollen erlernen und internalisieren (Rottenburg 1992:243). Der „sozialistische Wettbewerb“ war die Unternehmensphilosophie der Planwirtschaft. Das heißt, er handelte nicht vordergründig von Produktivität, sondern von der kulturellen und politischen Rolle der Arbeitenden innerhalb und außerhalb des Betriebs, aus der das System seine Legitimität zog. Der Arbeiter – sprich Werktätige – war als Mitglied der „staatstragenden Klasse“ zentrale Figur der offiziellen Ideologie, und seine Arbeit wurde als „Beitrag zur Planerfüllung“ ideologisch verbrämt, als „Beitrag zum Wohle des Volkes“, als „Beitrag im Kampf für den Frieden“ und so weiter dargestellt. Die Beschäftigten sollten nicht 76 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 nur materielle Werte schaffen, sondern auch die ideellen Werte des real existierenden Sozialismus reproduzieren. Unter der politischen Leitung der Gewerkschaften waren Arbeiter und Angestellte in Brigaden organisiert, die teilhaben sollten an den vom Zentralkomitee der SED vorgegebenen politischen Zielsetzungen des Staates. Zum Jahresanfang verpflichteten sich die Brigaden in einem detaillierten Programm, „sozialistisch zu arbeiten, zu lernen und zu leben“. Am Jahresende rechneten sie dann die Erfüllung dieses Programms ab. Obwohl die Durchführung des Wettbewerbs formell freiwillig war, waren die Abteilungsleiter und Meister gehalten, ihn in einer vorgeschriebenen Form und mit stets ähnlichem Inhalt durchzuführen. Das Wettbewerbsjahr war durch Gedenktage strukturiert, welche die Beschäftigten auf Kundgebungen, in Brigadebüchern und auf Wandtafeln begehen sollten. Zum Jahresende durften die Gewinner schließlich mit einer Prämie rechnen. Nach der Wende wurde der Wettbewerb, der in den drei Betrieben unterschiedlich stark reglementiert war, im Rückblick von den meisten Beschäftigten als Farce und als lästige Pflicht abgetan. Seine Analyse erlaubt jedoch interessante Einblicke in die Wirkungsweise ideologischer Kontrolle im DDR-Betrieb. Die Mechanismen der ideologischen Machtausübung waren nicht wirkungslos, wie es viele Mitglieder der DDR-Gesellschaft heute nach dem Zerfall des real sozialistischen Systems glauben machen wollen. Dadurch, daß die Ideologie bis in die Praxis des Alltagslebens vordrang und Bestandteil davon wurde, forderte sie die Beschäftigten zur alltäglichen Stellungnahme für oder gegen sich heraus. Dadurch entstand eine Form von Macht, die im Handeln existierte (Foucault 1987:254). Indem die Beschäftigten im sozialistischen Wettbewerb agierten, reagierten oder sich verweigerten, wirkten sie auf das Handeln ihrer Kollegen ein. Das Verhältnis zur offiziellen Ideologie beziehungsweise zu dem, was als gesellschaftliche Wahrheit postuliert wurde, war ein dynamisches. Trotz der ideologischen Macht, die über sie ausgeübt wurde, blieben die Betriebsmitglieder freie handelnde Subjekte, die ihre Möglichkeiten zum Widerstand nicht verloren hatten, auch wenn sie ihre Kritik oder Distanz meist im Verborgenen oder verschlüsselt äußerten (Scott 1990). Wie Foucault schreibt: „Freiheit ist die Existenzbedingung von Macht, aber sie erscheint auch als das, was sich einer Ausübung von Macht entgegenstellen kann“ (Foucault 1987:255). Wenn wir diese dynamische Vorstellung von Macht zugrundelegen, erschließt sich uns die real sozialistische Gesellschaft als etwas anderes als ein verkrustetes statisches Gebilde, nur dann können wir ihre Mechanismen zu verstehen beginnen. 77 Die verbreitetste Form, die das Arrangieren oder Widerstehen annahm, war die des Spiels, im Sinne von Performance. Sozialistische Arbeitsmoral und Linientreue wurden auf Wandtafeln und in Brigadebüchern dargestellt und bei gesellschaftlichen Veranstaltungen und auf der Bühne des Alltagslebens aufgeführt. Jedes Betriebsmitglied wurde zum Schauspieler, der abwägen mußte, wieviel eigenes er/sie in die Darstellung der Staatsideologie hineinlegen wollte. Die Formen der Darstellung waren vielfältig. Sie reichten von der perfekten Imitation des offiziellen Diskurses in Form und Inhalt bis zur subtilen, sich der Kontrolle entziehenden Ironie. Die Betriebsmitglieder bewegten sich in der „Performance“ des sozialistischen Wettbewerbs zwischen Aufrichtigkeit und Zynismus (Goffman 1959:32). Gemeinsam bereitete die Brigade „hinter den Kulissen“ (Goffman 1959:231) die Vorstellung des sozialistischen Alltags vor, die dann für das offizielle Publikum aufgeführt wurde. Welche unterschiedlichen Meinungen tatsächlich in der Brigade existierten und wie die perfekte Vorstellung zustandekam, blieb ein Geheimnis, das die Mitglieder der Brigade miteinander teilten. Welche Wirkung die fiktionale Welt des real existierenden Sozialismus, die sie dabei in Szene setzten, und die Aufführung selber auf die Akteure hatten, zeigte sich in der betrieblichen Praxis. 3.1 Sozialistisch leben, lernen und arbeiten Wie viel Wert auf eine ideologische Interpretation des sozialistischen Wettbewerbs gelegt wurde, war von Betrieb zu Betrieb unterschiedlich und hing nicht zuletzt von der politischen Ausrichtung der Leitung ab. So war der Direktor des Bereichs Montageautomatisierung bei STANEX ein überzeugtes SED-Mitglied. Bei TAGHELL hingegen wurde der Wettbewerb nach innen nicht ideologisch überprüft, aber nach außen den Parteiorganen gegenüber in der geforderten Form gerechtfertigt. 1990 fragte ich systematisch in allen Abteilungen, die ich in den drei Betrieben besuchte, nach Brigadebüchern, aber meistens wurde mir von den Meistern und Mitarbeitern, die die Bücher geführt hatten, gesagt, sie hätten sie sofort nach dem Fall der Mauer weggeworfen, denn „die Zeiten waren jetzt vorbei“ oder „wir wollen doch jetzt nicht wegen der Dinger Schwierigkeiten kriegen und wie rote Socken dastehen“. 78 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 „Wir mußten sowat wegschmeißen. Wir haben gesagt: ‚Die müssen uns ja für total überzeugte Kommunisten halten, wenn nach Jahren hier unser Mist gefunden wird hier in unsern Schränken. Raus! Weg damit! Jetzt bestraft uns noch keener!‘“ (Born, Projektierung, STANEX, 4.2.1991) Andere Mitglieder der ehemaligen Brigaden bezweifelten allerdings, ob mir in diesem Fall die Wahrheit gesagt wurde: „Da, wo so viele Erinnerungen drinstecken, und Photos und so, das schmeißt man nicht einfach weg. Die haben das bestimmt noch, die wollen Dir das bloß nicht zeigen.“ Zum Glück gelang es mir, in den Abteilungen Ökonomie und Absatz von TAGHELL die Brigadebücher der Jahrgänge 1986 bis 1989 zu photokopieren. In der Abteilung Fertigungsvorbereitung von STANEX übergab mir Herr Grabher, Abteilungsleiter und Nichtparteimitglied, alle Brigadebücher, die er noch besaß, von 1973 bis 1976 und von 1980 bis 1985 sowie das von 1987, das heißt Hunderte von Seiten Material. Herr Grabher kommentierte sie ausgiebig in stundenlangen Gesprächen, die ich auf Tonband aufnehmen konnte. Die Brigadebücher vom Anfang der siebziger Jahre waren noch mit viel Liebe zum Detail ausgeführt. Die Berichte waren mit Handzeichnungen und Eintrittskarten zu Veranstaltungen verziert. Gegen Ende der achtziger Jahre wurden die Brigadebücher sachlicher, häufig waren sie nicht mehr in rote Mappen gebunden und das Beiwerk beschränkte sich auf Photos vom Brigadeausflug und Glückwunschkarten der Patenklasse zum Internationalen Frauenkampftag am 8. März. „Das hatte ja nen bestimmten Rahmen, das mußte nen Standardwerk sein, das Brigadebuch. Im Januar, da ging es eben los mit Luxemburg und Liebknecht, die sind 1919 ja ermordet worden. Das mußte im Brigadetagebuch erscheinen. Da war in Ostberlin immer eine große Demo, mitten im Winter. Da gab's dann hinterher immer einen Haufen Grippekranke, weil dann da 150.000 Menschen mobilisiert wurden aus den Betrieben... 1. Mai und 8. Mai und Gründung der DDR 7.Oktober und dann Oktoberrevolution und all so'n Kram. Das waren bestimmte Standarddaten, dazu mußte man was machen.“ (Grabher, Fertigungsvorbereitung, STANEX, 7.5.1991) Trotz der vorgeschriebenen Form, die diese Brigadebücher annehmen mußten, drückte sich in ihnen der besondere Stil des Gemeinschaftslebens jeder Brigade aus. In der Brigade Ökonomie von TAGHELL waren beispielsweise von den 15 Mitarbeitern 13 Frauen und ein Mann organisiert, das heißt, 14 waren Mitglied des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, keiner war Parteimitglied, und neun waren Mitglieder der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft. Neben Berichten über Besuche von politischen Veranstaltungen wurden im Brigadebuch Freizeitaktivitäten der Brigade dokumentiert, wie zum Beispiel gemeinsa79 me Kegelabende und Ausflüge, auch über Besuche am Krankenbett oder Hochzeiten von Brigademitgliedern wurde eine Seite gestaltet. Besondere Arbeitseinsätze wurden manchmal auch erwähnt und Auszeichnungsurkunden von Brigademitgliedern mit abgeheftet. Im Brigadebuch wurde liebevoll Buch geführt über alle gemeinsamen Unternehmungen, die sich über das Jahr verteilten und die häufig zwei bis drei Monate im voraus geplant worden waren. Im Jahre 1986 unternahm die Brigade folgende gemeinsame Unternehmungen: Am 22. März 1986 fuhr sie anläßlich des Frauentages (8. März) für einen Tag nach Dresden. Photos und Eintrittskarten fürs Museum wurden ins Brigadebuch geheftet. Am 9. April besuchten sieben Brigademitglieder nach der Arbeit gemeinsam die Archenholder Sternwarte und dekorierten das Brigadebuch mit Photos aus dem Katalog. Am 12. Mai gingen elf Mitglieder im Restaurant Freundschaft am Müggelsee Kegeln. Schon zwei Monate vorher war eine große Tafel bestellt worden. Wie aus dem Formular für die Tischvorbestellung hervorging, gab es ein Menü bestehend aus Kraftbrühe „Celestine“, panierten Schweinefleischtaschen und Sahneeisbechern mit Früchten und Mandelsahne. Am 6. Juni gingen sechs Frauen zusammen mit Familienmitgliedern und Freunden, insgesamt 20 Personen, ins Theater. Der Kulturobmann der Brigade, eine Frau, hatte schon drei Monate im voraus im Metropol Theater Karten für den „Graf von Luxemburg“ bestellt. Sie bekamen aber wegen Spielplanänderung die Operette „Polenblut“ zu sehen. Am 15. September durften vier Frauen, die von der Gewerkschaftsleitung für ihre Arbeit in der BGL ausgezeichnet worden waren, für einen Tag nach Budapest fliegen. Sie gingen einkaufen und versuchten so viel wie möglich von der Stadt zu sehen. Für das Brigadebuch wurden Boarding Cards, Sicherheitsinstruktionen, Bordinformationen und Bustickets eingesammelt. Am 29. September trafen sich zehn Mitglieder mit ihren Kindern kurz vor Arbeitsschluß um 16 Uhr am Ortsausgang Müggelheim zu einer gemeinsamen Herbstwanderung unter der Führung eines Mitarbeiters des Kulturkabinetts Köpenick. Er erzählte ihnen und den Kindern zahlreiche Geschichten und Sagen über die Entstehung der Müggelberge, von Riesen und von der schönen Königstochter auf dem Grund des Teufelssees. Am 8. Oktober besuchte die Brigade das Brechthaus in der Chausseestraße und ging hinterher im Brechtkeller gemeinsam essen. Acht Seiten wurden später im Brigadebuch mit Photos aus dem Brechthaus und einem Bericht über das Leben Brechts und Weigels in diesem Haus gefüllt. Am 31. Oktober gingen wieder fünf Brigademitglieder im Restaurant Freundschaft kegeln. Aus dem Brigadebuch erfahren wir, daß der einzige Mann der Brigade den Sieg davongetragen hat. Am 16. Dezember organisierte die 80 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Brigade in der Gaststätte L und B in Müggelheim ein Fondue-Essen als Jahresabschlußfeier. Das Fondue wurde schon sechs Wochen vorher für zwölf Personen bestellt, und das Fleisch war dann so reichlich, daß die Frauen eine Plastiktüte damit füllten und sich zwei Tage später im Betrieb eine deftige Gulaschsuppe davon kochten. Die Frauen der Brigade genossen es offensichtlich, sich fern von Mann und Kindern gemeinsam eine schöne Zeit zu machen und dies zudem offiziell über den sozialistischen Wettbewerb, der auch den persönlichen Zusammenhalt der Brigade fördern sollte, zu legitimieren. Bei der Brigade Fertigungsvorbereitung von STANEX, die in der Mehrzahl aus Männern bestand, schien der gesellige Aspekt eine wesentlich geringere Rolle gespielt zu haben. Ein gemeinsamer Wandertag fand jedoch fast jedes Jahr statt, und er wurde auch sorgfältig im voraus geplant. Die Brigade ging manchmal gemeinsam kegeln. Gemeinsame kulturelle Veranstaltungen, wie Theater- und Ausstellungsbesuche, über die in den siebziger Jahren noch im Brigadebuch berichtet wurde, fanden in den achtziger Jahren nicht mehr statt. Über den internationalen Frauentag wurde jedes Jahr im Brigadebuch berichtet, auch wenn es den Männern oft schwer fiel, den Tag „würdig“ zu begehen. So stand zum 8. März 1973 im Brigadebuch: „Eine große Schwäche von uns Männern, die Vergeßlichkeit, ließ uns ungeahnte Schwierigkeiten überwinden.“ Herr Grabher kommentierte dazu: „Wir hatten insofern immer das Glück, wir hatten recht wenige Frauen. Wir waren eigentlich eine Männerabteilung. Da ließ sich immer noch schnell was organisieren. Es gab ja auch hier so Bereiche, so in der Materialwirtschaft oder in den kaufmännischen Abteilungen oder in der Buchhaltung, da waren zwei oder drei Männer und dann vielleicht 10 oder 12 Frauen. Die Jungs mußten sich dann immer ganz schön sputen. Da wurde dann meistens so in den Abteilungen, zumindestens ein Kaffee und Kuchen spendiert und dann aus der Brigadekasse dann vielleicht irgendwie ein kleines Geschenkchen, ein kleines Fläschchen Parfum. Einmal, weiß ich noch, da hab ich immer wispern hören: ‚Na unsere Männer haben noch gar nichts vorbereitet!‘ – weil sie das ja mitkriegten – und ich hatte in dem Fernsehturm hier oben, in dem Café, hatte ich da fünf Plätze bestellt: für drei Frauen, für einen aus der Abteilung und für mich. Ich sage so: ‚Dichthalten, nichts sagen bis zu dem Tag, dem 8. März!‘ Zu 10 Uhr hab ich da fünf Plätze bestellt! Kurz nach 9 ziehen wir uns die Jacken an und sagen: ‚Los, anziehen! Wir haben was vor!‘ Und dann haben wir das auch so gemacht.....ein totaler Erfolg!.... ‚Hast Du was mitgekriegt, haben die irgendwas gemacht?‘ ‚Ne!‘ Und dann an dem Tag! Die haben noch nicht einmal einen Blumenstrauß in der Früh gekriegt oder sonst irgendwas nichts! Keiner hat dergleichen getan, als ob wir es alle vergessen hätten. Und die waren sauer! Und dann um neun hab ich gesagt, da war nun gerade Frühstück, wollten die anfangen zu frühstücken und ich sage: ‚Ne, ihr braucht nichts essen.’ – ‚Wieso, was ist denn?’ Ich sage: ‚Kommt, zieht euch mal an, wir fahren los…‘.“ (Grabher, Fertigungsvorbereitung, STANEX, 28.5.1991) 81 „So ist das Leben“, sagte Grabher, noch Jahre später zufrieden darüber, wie er seinen Kolleginnen eine Freude bereitet hatte. Auch wenn der Anlaß der internationale Frauenkampftag war, hatte dieser galante Ausflug auf den Fernsehturm nichts kämpferisches. Im Gegenteil! Die ausgeführten Frauen begaben sich ganz in die Obhut der Männer und ließen sich verwöhnen. Die Inszenierung des Frauentages hatte sich gänzlich von seiner ursprünglichen Bedeutung gelöst, und die Männer konnten dabei die klassische Rolle des Kavaliers spielen. Die Selbstverpflichtung zum „sozialistisch leben“ umfaßte jedoch nicht nur geselliges Beisammensein, sondern auch die Teilnahme an politischen Veranstaltungen, Demonstrationen und an der Zivilverteidigung. Die Brigade Fertigungsvorbereitung von STANEX berichtete ab Mitte der achtziger Jahre nicht mehr über die Teilnahme an Demonstrationen. Die rein politisch-ideologischen Aussagen in den Brigadebüchern ließen spürbar nach. Die letzte politische Protestresolution, die Mitglieder der Brigade verfaßten und abhefteten, stammte aus dem Jahre 1984 und richtete sich gegen den NATO-Raketenbeschluß. In den Jahren zuvor hatte es Resolutionen gegen den „Bombenterror der USA in Vietnam“ (1973), gegen den Putsch Pinochets in Chile (1973) und gegen den „brutalen Überfall Israels im Libanon“ (1982) gegeben. Dagegen nahm ab Mitte der achtziger Jahre die Zahl der Mitglieder, die in die Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft eintraten, sprunghaft zu. Die Brigade erklärte sich 1987 bereit an einem besonderen Wettbewerb für den Titel „Kollektiv der deutsch-sowjetischen Freundschaft“ teilzunehmen. In der Wettbewerbsabrechnung schrieben sie dann, daß sie eine Wandzeitung über die Sowjetunion gestaltet, einen Diavortrag organisiert und gemeinsam den Sputnik, die sowjetische Jugendzeitung, deren deutsche Ausgabe im November 1988 von der DDR-Postzeitungsliste gestrichen wurde, ausgewertet hatten. Die Buchlesung eines modernen sowjetischen Autors, an der sie auch teilnehmen wollten, fand allerdings (wohl auch wegen der sowjetisch-deutschen Spannungen) nicht statt, und die Hauptversammlung der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft wurde verschoben. Der alte Slogan „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen“ bekam seit dem Beginn der Gorbatchowchen Reformen eine neue Qualität und, wie Grabher meinte, wurde er im Betrieb mit neuer Inbrunst vorgetragen. Einige Mitglieder der Brigade nahmen noch bis 1989 an Zivilschutzübungen teil. Grabher selbst berichtete begeistert von seinem über zwanzigjährigen Einsatz für den Zivilschutz: wie sie Katastropheneinsätze simuliert, „Opfer“ auf der Trage aus dem sechsten Stock abgeseilt und Strategien für den Fall entwickelt hätten, daß ein Jumbo-Jet über einem Wohngebiet abstürzte. Seit Anfang der 82 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 achtziger Jahre hatte die Zivilverteidigung nach seiner Meinung viel von ihrem militärischen Charakter verloren: statt generalstabsmäßiger Simulation von Atomangriffen wurden von da an nur noch zivile Katastrophen simuliert. Viele Brigaden schlossen Patenschaftsverträge mit Schulklassen, die sie über mehrere Jahre als Paten begleiteten. In dem Vertrag zwischen dem Kollektiv „Blaulicht“ von STANEX und der Klasse 2b vom 18.10. 1974 verpflichtet sich die Klasse, Mitglieder der Brigade zu besonderen Anlässen wie Pioniergeburtstag, Kindertag (1.Juni) und Zeugnisausgabe einzuladen und Wandzeitungen für den Betrieb zu gestalten. Die Patenbrigade wurde offiziell von der Lehrerin über die Leistungen der Klasse informiert und wurde dadurch zu einer zusätzlichen äußeren Instanz, der gegenüber sich die Schüler beweisen mußten. Die Brigade wiederum verpflichtete sich, die Klasse regelmäßig in den Betrieb einzuladen. 1974 unternahm sie gemeinsam mit den Kindern einen Ausflug zum Schiffshebewerk Niederfinow, Mitglieder der Brigade nahmen manchmal an Elternversammlungen teil und zeichneten besonders gute oder strebsame Schüler bei der Zeugnisvergabe aus. „Gedacht war der Gedanke früher von unseren Strategen als ‚die Heranführung der Kinder an die Produktion und an die Arbeiterklasse’. Alles Quatsch, so was ist nie zum Tragen gekommen! Aber was ich immer gespürt habe, daß bei solchen Kindern ein gewisses Verständnis bleibt. Die haben immer eigentlich ein Vertrauensverhältnis entwickelt. Wenn die ihre Zeugnisse bekommen haben, haben wir Zeugnisausgabe gefeiert und da hab ich mich dann auch hingestellt. Mit der Lehrerin abgesprochen, haben wir aus der Brigadekasse ein paar Mark gespendet und dann ein paar Bücher gekauft für den Besten, aber auch nicht nur für den Besten sondern auch für die bißchen Schwächeren. Einer, der sich von einer 3 auf eine 2 hochkämpft oder von einer 4 auf eine 3, der hat oft mehr zu ackern, als einer, dem eine 1 nur so zufällt und der mal eine 2 gebaut hat und jetzt wieder eine 1 –, der wird immer gelobt und der, der wirklich ackert und büffelt zu Hause, um da wirklich mal eine Stufe hoch zu kommen, der wird nicht anerkannt. Da haben wir immer ein bißchen Wert drauf gelegt. Solche Schüler haben sich dann wie Bolle gefreut.“ (Grabher, Fertigungsvorbereitung, STANEX, 7.5.1991) Es bereitete den Männern der Brigade „Blaulicht“ Freude, die Kinder mit den Maschinen der Vorfertigung vertraut zu machen und ihnen die komplizierten Automaten vorzuführen. Mit den Patenschaftsverträgen wurde ihnen eine Vorbildfunktion zugedacht, die sie auch gerne ausfüllten bis zu dem Punkt, daß sie sich Gedanken darüber machten, daß nicht nur die besten Schüler – die Streber – ausgezeichnet werden sollten, sondern auch die, die sich redliche Mühe gegeben hatten. Dem erfolgsorientierten Drill der Jugendsportschulen versuchten sie, mit kleinen Gesten der Ermunterung entgegenzuwirken und den Kindern Freiräume zu verschaffen, die ihnen als junge Leitungssportler fehlten. Grabher betonte den direkten freundschaftlichen Bezug, den sie zu den Kindern entwickelten und 83 verwahrte sich explizit gegen die politische Funktion, die diese Freundschaft haben sollte. Die Verpflichtungen zum „sozialistisch arbeiten“ zeigen implizit in ihrer Detailliertheit, welches die Schwachpunkte in der Arbeitsorganisation der Brigade, aber auch in der Zusammenarbeit mit anderen Abteilungen im Betrieb waren. Die Brigade verpflichtete sich, Arbeitsleistungen zu erbringen, die nicht explizit im Plan vorgesehen waren. Dies beinhaltete die Bereitschaft zur „operativen Beschaffung“, das heißt zum informellen, nicht planmäßigen Organisieren von Materialien und zur Übernahme von Arbeitsaufgaben in anderen Betriebsteilen, die oft der Qualifikation der Mitarbeiter nicht angemessen war. Die Auswertung der Wettbewerbserfüllung am Jahresende zeigte dann, daß nur scheinbar Selbstverständlichkeiten in den Wettbewerbsverpflichtungen gestanden hatten, weil die Abteilung in der Tat die größten Schwierigkeiten hatte, diese zu erfüllen. So mußten die Mitglieder des Kollektivs „Blaulicht“ am Jahresende zugeben, daß sie es nicht geschafft hatten, die Monatsoperativpläne, wie in der Wettbewerbsverpflichtung versprochen, bis zum 20. des Monats zu erstellen. Die Schuld dafür, daß die Pläne nicht rechtzeitig erstellt werden konnten, wurde der Materialwirtschaft zugeschrieben, die die Produktionsmaterialien nicht termingerecht besorgt hätte. Die Fertigungsvorbereitung mußte, wenn die Produktion weitergehen sollte, selbst auf informellem Wege die nötigen Materialien besorgen, ein Umstand, der in der Wettbewerbsabrechnung elegant mit „sozialistischen Arbeitseinsätzen“ in der Materialwirtschaft und „zur Verfügungstellung von Unterlagen“, das heißt Fehlteillisten, umschrieben wurde. Mitglieder der Fertigungsvorbereitung übernahmen Aufgaben für die Fertigung, Vorfertigung und „organisatorische Aufgaben“ für andere Abteilungen. 1973 arbeitete das Kollektiv an einem Sonderprogramm Vorfertigung mit, wirkte an einem außerplanmäßigen Regierungsauftrag zur Antennenfertigung mit und erledigte Schwertransportarbeiten. Die Ingenieure der Fertigungsvorbereitung kehrten für qualifizierte aber auch unqualifizierte Arbeiten in die Produktion zurück, stellten sich wieder an die Maschine oder schleppten Materialien. Sie hatten dabei Lückenbüßerfunktion im ungleichmäßigen planwirtschaftlichen Produktionsablauf. Diese sicherlich recht unrationelle Art zu arbeiten konnten sie dann als Sonderleistung abrechnen. Mehr noch als die tatsächliche Hilfestellung in der Produktion, die sie dabei leisteten, zählte wohl auch das politische Signal, das sie damit setzten. Indem sie an die Maschinen zurückkehrten, hoben sie für kurze Zeit die Trennung von Hand- und Kopfarbeit im Betrieb auf. Indem sie sich bereit erklärten, Lückenbüßerfunktion zu versehen, unterstrichen sie die 84 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 gemeinsame Verantwortung für die planwirtschaftliche Produktion und legitimierten die Planung an sich. Die Brigadebücher geben einen recht detaillierten Einblick in den Lebensund Arbeitszyklus einer Brigade, doch muß bei der Auswertung der darin verbreiteten Informationen berücksichtigt werden, daß die Brigaden diese Bücher nur führten, um am sozialistischen Wettbewerb teilzunehmen und um Anrecht auf die darüber verteilten Prämien zu haben. Spontane Meinungsäußerungen waren in den Brigadebüchern, die am Jahresende vom Betriebsdirektor, dem Parteisekretär und dem Betriebsgewerkschaftsleiter gelesen und bewertet wurden, nicht erwünscht. Dadurch daß Kegelabende, Tanzveranstaltungen, Theaterbesuche, ja sogar Krankenbesuche und Hochzeiten im sozialistischen Wettbewerb abgerechnet werden können, verlieren sie ihren privaten Charakter. So zeugen auch die Berichte über gesellige Zusammenkünfte der Brigade oft von Ambivalenz, Distanz und einem gewissen Unwohlsein. Besonders deutlich wird dies in einem Bericht über eine Tanzveranstaltung zum 8. März 1974, in dem der Autor ausschließlich passive Satzkonstruktionen verwendet (wurde durchgeführt, wurde gestaltet, wurde unterhalten, wurde eröffnet usw.). Hier ein Auszug: „Man wurde durch die Künstler gut unterhalten. Nach diesem Kulturprogramm wurde ein Stehbankett eröffnet. Dieses Stehbankett wurde als willkommene Abwechslung entgegengenommen. Nach diesem Stehbankett wurde das Tanzbein geschwungen. Der Abend wurde gegen 2.00 Uhr beendet.“ „Das Angenehme wird zur Pflicht“, wie es ein Mitarbeiter von STANEX ausdrückte. So steht am Ende des Jahres 1980 in der Wettbewerbsabrechnung des Kollektivs „Blaulicht“: „Das sozialistisch Leben weist noch Mängel auf.“ Lebendige Berichte, wie der eines Mitarbeiters der Fertigungsvorbereitung, der im November 1973 mit dem Fahrrad durch halb Berlin fuhr, um für die Fertigung Lenkerband zu besorgen, sind die Ausnahme. „Ausgerechnet an jenem Dienstag, dem 13. November, hatten wir stürmisches Wetter: Aber die Situation machte es trotz des schlechten Wetters notwendig, sofort Lenkerband zu beschaffen. Koll. Konrad beschaffte Geld und Koll. Baumann fuhr dann mit seinem Fahrrad auf Lenkerbandjagd. Nachdem er 9 Fahrradgeschäfte erfolglos „abgegrast“ hatte, gab er nicht auf – wollte er doch auf keinen Fall ohne Lenkerband zurückkommen. Beseelt von diesem Gedanken kam er auf die Idee, Fensterklebeband zu nehmen. Er hatte Glück und bekam dieses auch in dem Farbengeschäft in der Münzstraße. Freudig und erschöpft kehrte er zurück, und die LS 3-Produktion konnte wieder anlaufen.“ 85 Der Bericht ist ungewöhnlich, weil er offen die Probleme der planwirtschaftlichen Produktion zutage treten läßt: Produktionsstillstand wegen Materialmangel, Improvisation mit produktionsfremden Materialien, leere Geschäfte, Rückgriff auf die spontane Initiative der Beschäftigten. Die Maske der Performance lüftet sich und die Realität tritt ungeschminkt zutage. 3.2. Hinter vorgehaltener Hand… Als ich 1990 und 1991 Arbeiter und Angestellte zum sozialistischen Wettbewerb befragte, konnten ihm nur noch wenige etwas Positives abgewinnen. Nur Grabher erklärte, daß er die gemeinsamen kulturellen Veranstaltungen bisweilen als Bereicherung empfunden hatte und als willkommene Gelegenheit, sich mit den Kollegen über andere Dinge als die tägliche Arbeit auszutauschen. So kommentierte er den Bericht der Brigade über den Besuch einer Photoausstellung zum 50. Jahrestag der UdSSR am 12. 2. 1973: „Da hat mancher vielleicht doch eine Anregung bekommen, mancher auch nicht. Darauf hat man dann keinen bewußten Wert gelegt, aber da hat dann vielleicht indirekt doch ein ganz kleiner Nutzen drin gelegen, wenn man sich so eine Ausstellung angesehen hat, wenn man diesen politischen Pomp ein bißchen beiseite läßt, wenn man das als Theaterkulisse betrachtet und sich die Menschen [auf den Photos; B.M] wirklich betrachtet, sich die Mühe macht, zu dem Kern vorzustoßen. Von alleine wär man in die Ausstellung nicht gegangen, sag ich mal so.“ (Grabher, Fertigungsvorbereitung, STANEX, 28.5.1991) Mit den positiven Aspekten, die Grabher der Praxis des sozialistischen Wettbewerbs abgewinnen konnte, rechtfertigte er seinen jahrelangen Einsatz als Brigadeleiter. Er versuchte, „das Menschliche“ vom „politischen Pomp“ zu unterscheiden und ihn als „Theaterkulisse“ in den Hintergrund zu stellen. Durch die politische Performance hindurch will er zu dem „wirklichen Kern“ vorstoßen und einen Sinn in den nicht ganz freiwilligen gemeinsamen Aktivitäten entdecken. Die meisten Kommentare seiner Kollegen zum sozialistischen Wettbewerb bagatellisierten allerdings im Nachhinein das politische Betriebsleben. Die Befragten schilderten mit großer Anschaulichkeit, wie sie die kulturellen Veranstaltungen und politischen Pflichtveranstaltungen zu Momenten geselligen Beisammenseins umfunktionierten. Auf der 1.-Mai-Demonstration bog so manche Brigade in die erste Seitenstraße nach dem Stellplatz ein, um ein Bierchen trinken zu gehen. Beim Besuch des sowjetischen Ehrenmals im Treptower Park trafen 86 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 die meisten Kollegen erst hinterher in der Kneipe ein. Man pflegte, wie ein Arbeiter es ausdrückte, die kleinen Freuden des Lebens unter dem Vorwand des Wettbewerbs. Das Bagatellisieren des politischen Betriebslebens liest sich heute wie eine Form des Widerstandes gegen politische Bevormundung (Scott 1990). Aber die Analyse des Interviewmaterials ergibt, daß hier nicht umstandslos eine Bipolarität, ein Entweder/Oder von Gehorchen oder Widerstehen in Bezug auf ideologische Dominanz vorausgesetzt werden kann. Es gab daneben auch Formen des Sich-Distanzierens, die keineswegs als Widerstand oder Widerständigkeit gemeint sind, (auch wenn sie gelegentlich so wirken). So führte in manchen Brigaden die Verpflichtung zu Gemeinsamkeiten eher zu einer Auflösung des Gemeinschaftslebens. „Der Zusammenhalt der Mitarbeiter war früher besser gewesen, als wir noch nicht um das berühmte sozialistische Kollektiv gekämpft haben – ‚Kampf’ nicht zu wörtlich nehmen. Als wir zwanglos in einem Arbeitskollektiv zusammen waren, haben wir auch gemeinsame Sachen unternommen bis hin zu gemeinsamen Auslandsfahrten. Als aber diese Rille reinkam, daß es, naja staatlich aufgezwungen war – logischerweise wollte ja keiner auch diesen berühmten Märtyrer machen und wollte sagen: „Ich nehm die Fahne in die Hand, renn' vorneweg dagegen, gegen diesen Schwung!“ – hat sich jeder doch ein bißchen mehr zurückgezogen, und dieser große angenehme Zusammenhalt ist deutlich zurückgegangen. Jeder hat sich ein bißchen mehr in sein Schneckenhaus zurückgezogen, so daß in den Jahren danach diese Gemeinsamkeiten immer weniger geworden sind und wir, naja genaugenommen nur allen anderen was vorgemacht haben.“ (Mahler, Projektierungsingenieur STANEX, 2.5.1991) Wie Mahler erklärte, zerstörte die Verpflichtung zur Gemeinsamkeit die Freude am Gemeinsamen und übte die Brigademitglieder in der Kunst der perfekten Verstellung. Selbst Prozentzahlen bei der Abrechnung der Wettbewerbsverpflichtungen wurden so erfunden, daß sie Plausibilität besaßen, nicht zu hoch, nicht zu niedrig. Das rege Gemeinschaftsleben verschwand in dem Maße, in dem es zur Verpflichtung wurde. Der sozialistische Wettbewerb brachte die Teilnehmer dazu, sich zu verstellen und vorzugeben, an das politische und ideologische System angepasst zu sein. Im Kleinen und auf der ideologischen Ebene wurde in den Wettbewerbsabrechnungen nachvollzogen, was im Großen und im wirtschaftlichen Alltag in der Planabrechnung Praxis war. Es wurde ein Trugbild reproduziert, mit dessen Hilfe man in Frieden innerhalb des Systems existieren konnte. Im Nachhinein argumentierten viele der Interviewten, daß der sozialistische Wettbewerb „ein Irrsinn“ war, den man zwar durchschaut hatte, an dem man aber trotzdem teilnehmen mußte, weil das System in seiner Totalität einen dazu zwang. 87 „Eben nach diesem Trend ‚nicht auffallen, nicht anecken’ so immer diesen berühmten goldenen Mittelweg herausgesucht, um im Endeffekt nachher die Ruhe zu haben. Man wurde nicht zu sehr nach vorne getrieben, daß man vorgezeigt wurde: ‚Hier die Besten.‘ Das ist gar nicht angenehm, wenn man so im 'Rampenlicht' steht. Denn da sieht man ja auch, daß die andern denken: ‚Schau mal an, wie doof die sind!‘ Man mußte auch aufpassen, daß man nicht zu sehr getreten wurde, daß man nicht hinten war. Dann hatte man ein Auskommen. Dann ging das schon.“ (Mahler, Projektierungsingenieur, STANEX, 2.5.1991) In den Worten Mahlers klingt die Resignation durch, die er empfunden hatte, als er als Abteilungs- und Brigadeleiter seine Mitarbeiter über diesen Mittelweg lotste. Erschwerend kam bei seiner Brigade hinzu, daß der Betriebsdirektor Dr. Schöpf formell Mitglied der Brigade war, auch wenn er nicht an ihren Aktivitäten teilnahm. Als überzeugtes Parteimitglied legte er größten Wert darauf, daß „seine“ Brigade im Wettbewerb gut abschnitt und überprüfte Brigadebuch und Wandzeitung persönlich. Mahler mußte also vermeiden, daß seine Brigade beim Betriebsdirektor negativ auffiel, andererseits wollte er auch vermeiden, daß seine Mitarbeiter bei den Kollegen der anderen Abteilungen als „Doofe“ oder als besonders eifrige Kommunisten dastanden. Aber auch Mitglieder von Brigaden in Betrieben wie TAGHELL, die als politisch locker beurteilt wurden, waren noch Jahre nach dem Fall der Mauer voller Wut über die verlogenen Rituale des sozialistischen Wettbewerbs: „Naja, gemacht haben wir schon was, klar. Verschiedene Fahrten haben wir gemacht. Im Prinzip mit dem ganzen scheiß Wettbewerb, das war sowieso so ein linkes Ei. Das war beschissen... haben sich alle gegenseitig die Taschen vollgehauen. Erst mal wenn du schon gesehen hast das Ding, wenn das aufgestellt wurde, hier mußte der Wettbewerb aufgestellt werden. Was da drinne stand fürn Schläer, da sind Dir manchmal die Schuhe weggeflogen, echt.“ (Friedemann, Einrichter, TAGHELL, 29.7.1991) Voller Verachtung spricht Friedemann zwei Jahre nach dem Fall der Mauer von dem Wettbewerb als „linkem Ei“ und „Lug und Betrug“, bei dem „alle“ oder „jeder“ mitgemacht hat. Er selbst erscheint in der Darstellung nur als Zuschauer wider Willen. Er war in der Tat als Einrichter nicht selbst verantwortlich für die Führung des sozialistischen Wettbewerbs, doch ein Teil seiner Prämien hing davon ab. Auch er hat sich „die Taschen damit vollgehauen“. In dieser Widersprüchlichkeit liegt das Kernproblem des sozialistischen Wettbewerbs. Die Wut, die Friedemann noch heute empfindet, ist auch zum Teil eine Wut über sich selbst – die Wut darüber, daß er mitgemacht hat. In allen drei Betrieben war auffallend, daß die vom Sozialismus am wenigsten überzeugten Meister und Abteilungsleiter die perfektesten Wandtafeln und Brigadebücher vorweisen konnten. Sie erkauften damit ihrer Brigade die Gewiß88 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 heit, von ideologischen und politischen Fragen verschont zu bleiben und dennoch von den verschiedenen Prämien zu profitieren, die es für diejenigen gab, die den Wettbewerb mit Erfolg geführt hatten. Im sozialistischen Wettbewerb als bester Arbeiter oder bestes Kollektiv ausgezeichnet zu werden, erweckte ambivalente Gefühle. Es erfüllte auch kritische Arbeiter mit Stolz, nach jahrelanger Arbeit zum Beispiel als „Aktivist der sozialistischen Arbeit“ ausgezeichnet zu werden oder gar den Vaterländischen Verdienstorden in Gold zu bekommen, wie der Facharbeiter Ruland bei STANEX. „Es wurde also genau definiert, was sie für einen Typ suchen. Also nicht in der Partei, wenn‘s geht kinderreich, gewerkschaftlich aktiv, dreißig Jahre im Betrieb, also so einen Ehrenbürger schon, und dann wurde aufgelistet und dann fallen also von den 2.000 Mitarbeitern schon nach der ersten Stufe die Hälfte raus. Und so geht‘s eben weiter bis zum Schluß noch zwei oder einer übrigbleibt und dann ist der wirklich unschuldig derjenige, wenn er dann den Orden kriegt, ja. Ich sage das mal so, weil viele ihm das natürlich auch vorgeworfen haben. Seine Gewerkschaftsarbeit, die hat er immer ohne den Anspruch auf irgendwelche Auszeichnungen gemacht und er hat auch nie, sagen wir mal Funktionen, also hauptamtliche Funktionen angestrebt, ganz im Gegenteil, er hat immer angestrebt, weiter zu arbeiten, was ja bei vielen nicht der Fall war.“ (Schuster, Facharbeiter, STANEX, 22.4.1991) Ruland war nach der Ordensverleihung dem mit Neid gepaarten Spott der anderen Beschäftigten ausgesetzt. Er wurde als linientreu oder rote Socke unter der Hand verspottet, aber es wurden auch Fragen laut, „warum denn der, der ist doch nicht besser als ich“. Da es Ruland wichtig war, als normales Kollektivmitglied weiterhin im Betrieb zu arbeiten, versuchte er so wenig Aufhebens wie möglich aus seinem Orden zu machen und nahm auch keine der Privilegien in Anspruch, die Ordensträgern zustanden. Der Abteilungsleiter Voigt von STANEX hingegen genoß es, einen Orden verliehen zu bekommen und ließ es sich nicht nehmen, ihn vor seinen Genossen und Arbeitern zur Schau zu stellen. Der Facharbeiter Fröhlich, der kein Freund solcher Festlichkeiten war, kommentierte: „Ich weiß, er hat mal einen Orden gekriegt. Das war ‚Verdienter Metallarbeiter des Volkes’ oder irgendsowas. Da waren dann tagsüber oben im Frühstücksraum die ganzen Genossen zu Gast, da wurde kräftig eingeschenkt und auf diesen Orden getrunken. Und wir, wir hatten eine halbe oder eine Stunde eher Feierabend, mußten hoch, hingesetzt, und da standen dann Platten mit belegten Broten auf dem Tisch und es gab auch Bier und Brause. Und da hat er diesen Orden am Revers gehabt. Das habe ich wirklich kaum noch ausgehalten. Da hat er diesen Orden rumgehen lassen und es durfte ihn jeder mal anfassen. Also das war schrecklich! Das einzige, was ich mitgenommen habe, war ein Stück grünen Klee für unser Meerschweinchen.“ (Fröhlich, STANEX, 16.6.1991) 89 Fröhlich schildert anschaulich den Kontrast zwischen den Parteigenossen, die anläßlich der Ordensverleihung zum „Verdienten Metallarbeiter des Volkes“ im Prinzip sich selber feiern und kräftig bechern, während die tatsächlichen Metallarbeiter in der Werkstatt stehen und arbeiten. Die Arbeiter dürfen früher mit der Arbeit aufhören, um dann den Orden und seinen Träger zu bewundern. Fröhlich verweigert sich dem Spektakel, indem er die Speisen verschmäht und die Feiernden mit seinem Meerschweinchen auf die gleiche Stufe stellt. In Betrieben wie STANEX, in denen auf ideologische Reinheit Wert gelegt wurde, gestalteten die Brigaden jeden Monat Wandzeitungen in Anlehnung an die großen Themen der offiziellen Parteiorgane. Der Direktor des Bereiches begutachtete sie zusammen mit dem Betriebsgruppenleiter der Gewerkschaft und dem Abteilungsleiter und vergab Punkte, die für den sozialistischen Wettbewerb zählten. Positiv beurteilt wurden die Wandzeitungen, die weder durch unangenehme politische Äußerungen aus der Reihe fielen, noch eine exakte Kopie der Zeitung des Vorjahres waren. Es sollte die Fiktion aufrechterhalten werden, daß die Wandzeitungen ein spontaner kollektiver Ausdruck der Beschäftigten waren, der in natürlicher Übereinstimmung mit den politischen Direktiven der Partei war. Ein besonders individueller Ausdruck, Witz oder Humor, vor allem wenn er tiefgründig und zweideutig war, war bei den Wandzeitungen nicht erwünscht. Das Gedicht, mit dem Fröhlich 1982 Weihnachten als Fest der Besinnung zum Thema machte, mußte auf Weisung des Fertigungsleiters entfernt werden. Besinnung (1982) Ist es wirklich schon so weit Ist das Jahr verschlungen? Ist es in uns tief und breit Richtig eingedrungen? Schlug die Welle unsrer Zeit Manchmal in die Brandung? Folgt dem Flug der uns geweiht Eine gute Landung? Haben wir genug versucht Menschen auch zu bleiben? Oder wurde nur gebucht Durch den Sog der Zeiten? Weihnachten steht vor der Tür Zeit um nachzudenken, Ob wir unsern Fuß und Geist Immer richtig lenken. 90 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Horst Froberg, alias Fröhlich Eine Woche lang blieb die Wandtafel leer. Als aber der Rundgang des Direktors zum Ende des Jahres anstand, auf dem auch die Stellung im Wettbewerb festgelegt wurde, erstellte der verantwortliche Facharbeiter schnell eine neue Tafel, damit den Kollegen von ihrer Prämie kein Geld abgezogen wurde. Noch fast zehn Jahre später, 1990, erinnerten sich die Arbeiter mit Wut an diese Erniedrigung. In der Projektierungsabteilung wurden die Wandzeitungen in Mappen aufgehoben und mehrfach neu aufgelegt. Die beiden Angestellten, deren Aufgabe es war, jeden Monat eine neue Zeitung zu erstellen, machten sich einen Spaß daraus, immer wieder dieselben Photos, Artikel und Kommentare zu verwenden, ohne daß es dem Bereichsdirektor auffiel. Sie bewahrten Embleme, Portraits politischer Führer und ideologische Propagandaschriften auf, änderten die Namen der Autoren, vermieden sorgfältig jegliche Jahreszahl. Wenn sie einen Wandzeitungsartikel wiederverwenden wollten, steckten sie die Stecknadeln sorgfältig in die vorhandenen Löcher. Schadorf: „Das haben wir so ausgefeilt betrieben, daß wenn Artikel zu bestimmten Festlichkeiten, staatlichen Festlichkeiten geschrieben werden mußten, diese ohne Datum und nähere Angaben des wirklichen Termins oder Zeitpunktes geschrieben wurden, so daß man sie jedes Jahr neu anheften konnte. Man mußte nur dieselben Löcher finden und verwenden beim Anheften.“ Born: „ Denn haben wir auch drauf geachtet, daß wir nur eine Einstichstelle haben und mit hauchdünnen Nadeln gearbeitet haben. Denn der Schöpf hat ja auf sowat geachtet. Das war schon dreimal dran, dann sind neue Löcher gestochen worden. Also wir sind ja mit allen Tricks… wir haben ja zum Schluß Skizzen gemacht. Der Artikel vom 1.Mai, der hing aber voriges Jahr oben in der Ecke. Denn haben wir gesagt, na wir müssen dat noch besser kaschieren, wir müssen noch mehr ändern, wir haben das so ausgefeilt, weil wir unsere diebische Freude daran eigentlich hatten, die andern auszutricksen. Dat is traurig, wenn man sowat im Nachhinein überlegt. Aber wir hatten damit die größte Ruhe. Und die andern, wenn Sie die befragen würden, viele haben dat gar nicht mitbekommen….“ (Born und Schadorf, Projektierung, STANEX, 4.2.1991) Die beiden Ingenieure bemühten sich, eine perfekte Performance der offiziellen Ideologie zu geben. Ihre zynische Distanz zu ihrer eigenen Performance lag vor allem in ihrer Weigerung, etwas „eigenes“, einen selbst geschriebenen Text, eine sie interessierende Frage auf die Wandtafel zu bringen. In ihrem Ehrgeiz, in möglichst kurzer Zeit aus Standardelementen eine scheinbar „aktuelle“ Wandtafel zu produzieren, die ihnen auch als solche vom Bereichsdirektor abgenommen wurde, bestätigten sie sich gegenseitig die Banalität und Realitätsferne der zu 91 reproduzierenden Ideologie und die Dummheit ihres Vorgesetzten, der keinen Unterschied zwischen den von ihm geforderten „aktuellen“ Wandzeitungen und ihren Konstrukten erkennen konnte. Allerdings war dies ein Spaß, in den sie die anderen Mitglieder der Brigade nicht miteinbezogen und der insofern nicht die Form einer gemeinsamen Verschwörung gegen die ideologische Bevormundung annehmen konnte. Im Nachhinein, ein Jahr nach dem Fall der Mauer, stimmte es sie traurig, wieviel Energie sie für ihre Performance verausgabt hatten. Mit dem Zusammenbruch des real sozialistischen Gesellschaftssystems erschienen die ideologischen Zwänge, unter denen sie gestanden hatten, fast irreale, und ihr versteckter Widerstand, der sie Stecknadeln in die immer gleichen Löcher stecken ließ, erwies sich als banal. Ihre Widerspenstigkeit hatte den beiden Ingenieuren ein Gefühl von moralischer und intellektueller Überlegenheit gegenüber ihrem Vorgesetzten und dem ideologischen System gegeben, aber es hatte sie gleichzeitig zu seiner Wirksamkeit beitragen lassen. Wie Scott es ausdrückt: „Wenn Rituale der Unterordnung auch nicht überzeugend sind in dem Sinn, daß sie die Zustimmung der Unterdrückten zu ihrer Unterdrückung bewirken, so sind sie doch überzeugend auf andere Art. Sie sind, zum Beispiel, ein Mittel, um zu zeigen, daß ein Herrschaftssystem stabil und wirksam ist, ob man dies mag oder nicht.“ (Scott 1990:66) Dadurch, daß den beiden Ingenieuren die perfekte Imitation gelang, konnten sie zwar ihren Vorgesetzten Dr. Schöpf hintergehen, der seine Untergebenen zwingen wollte, sich soweit zu erniedrigen, daß sie selbst Lobreden auf das System formulierten, hinter dem sie nicht standen, aber ihre Wandzeitungen waren von außen nicht von anderen zu unterscheiden. Diese private Art der zynischen Distanz zu den Machtbeziehungen war vom Verhalten her fast nicht von freiwilliger Zustimmung zu unterscheiden. Sie hatte den Effekt, die Machtbeziehungen eher zu verstärken, als zu untergraben. Ihr Vorgesetzter Mahler sprach denn auch bedauernd von der „Infantilisierung“, der seine Brigade durch den sozialistischen Wettbewerb ausgesetzt war: „Ja, erwachsene Leute lassen sich genaugenommen so erniedrigen und machen so'n Mist. Das ist das eigentlich, naja, das mit Beschämende daran.“ (Mahler, Projektierungsingenieur, STANEX, 2.5.1991) Nicht jedes Brigademitglied schrieb seinen Beitrag ins Brigadebuch, aber jeder profitierte von den Prämien, die die Brigade für einen erfolgreichen Wettbewerb gewann. Wer offen aus der Reihe tanzte und die Performance der Brigade störte, 92 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 schadete der Gruppe. Selbst Mitmachen ohne Überzeugung stützte und legitimierte die offizielle politisch-ideologische Linie. Die Wandzeitungen und Brigadebücher erfüllten die Funktion von Unterwerfungsgebärden unter die Logik des planwirtschaftlichen Systems. Indem die Arbeiter, scheinbar von sich aus, die großen Themen der sozialistischen Volkswirtschaft diskutierten, sich selbst kritisierten und versprachen, noch mehr Leistung zu erbringen, legitimierten sie formell das System und schrieben ihre eigene Rolle darin fest. Das komplexe System der Wettbewerbsabrechnungen ging einher mit individuellen und kollektiven Schuldzuweisungen. Indem die Individuen und Kollektive sich selbst attestieren mußten, daß sie ihre eigenen Vorgaben nicht erreicht hatten, schrieben sie sich indirekt die Verantwortung für die Unzulänglichkeiten des sozialistischen Systems zu. Es ist schwer, im Nachhinein abzuschätzen, wie viel vom sozialistischen Wettbewerb tatsächlich nur pragmatische Performance war, die den Mächtigen abgeliefert wurde, damit „wir-hier-unten“ unsere Ruhe haben, und was tatsächlich einer inneren Überzeugung entsprach. Die Ambivalenz des sozialistischen Wettbewerbs entsprang aus der Verquickung von Politischem und Privatem. Der Wettbewerb zelebrierte die persönlichen Beziehungen zwischen Brigademitgliedern als Teil des sozialistischen Lebens und nahm ihnen dadurch einen Teil ihrer Spontaneität. Auf der anderen Seite enthielten die politischen Verpflichtungen der Brigade persönliche Elemente oder wurden zu geselligen Ereignissen umdefiniert. Diese Verbindung machte es den Brigademitgliedern schwer, den Wettbewerb rundweg abzulehnen und sich den gemeinsamen Veranstaltungen und Unternehmungen aus politischen Gründen zu entziehen. Es entstand diese spezifische Atmosphäre aus persönlicher Wärme und politischer Kontrolle, die die DDR wie kein anderes sozialistisches Land charakterisierte. 93 4. Parteiherrschaft im Betrieb Vorbereitung des Versammlungsraums am 31. 10. 1988 ab 14.00 Uhr – Präsidium für 13 Genossen, Tische mit rotem Tuch belegen, Töpfe mit Blattpflanzen – Rednerpult mit rotem Fahnentuch bespannt und SED-Emblem – Tontechnik mit 2 Mikrofonen für Rednerpult und Präsidium – Fahnenständer mit BPO-Fahne, DDR-Fahne, Fahne des AKL – Wahlurne bereitgestellt, fliegende Wahlurne – Bestuhlung für ca. 185 Genossen, Tische mit weißem Tuch eingedeckt – Die vorhandene Losung wird genutzt – 1 Tisch für die Redaktionskommission – Verantwortlich für das Einräumen APO 3 und APO 5 mit je 3 Genossen – Wiederherstellung der Ordnung in der Gaststätte erfolgt durch APO 2 und 4 mit je 3 Genossen – Plattenspieler, Platten mit Arbeiter- und Kampfliedern Auszug aus dem Maßnahmeplan zur Vorbereitung der Berichtswahlversammlung der Betriebsparteiorganisation vom 19.9. 1988 Die politische Kontrolle der Wirtschaft durch die Partei und durch den Plan, der wiederum vom Zentralkomitee der SED seine Stoßrichtung bekam, macht den entscheidenden Unterschied zwischen marktwirtschaftlichem und planwirtschaftlichem Denken aus. Die „ideologische Arbeit“ der Betriebsparteiorganisationen mag vom marktwirtschaftlichen Standpunkt aus als ein völlig überflüssiges Unterfangen erscheinen, aber in der Planwirtschaft war die Produktion nicht vom Staat getrennt und nicht-ökonomische Erwägungen, wie politische Kontrolle, soziale Umverteilung und militärische Strategien waren untrennbar mit produktiven Zielen verbunden. Von der kommunistischen Ideologie und vom Monopol der Kommunistischen Partei leiteten sich Staatseigentum und staatliches Monopol, davon wiederum die bürokratische Koordination und die Einschränkung und Abschaffung des Marktes ab (Kornai 1992:360). Die Parteigruppen im Betrieb waren die Transmissionsriemen für die Entscheidungen der Parteispitze und hatten die Aufgabe, die Entscheidungen des Zentralkomitees auf Betriebsebene zu reproduzieren und zu legitimieren. Die Hierarchie im Betrieb war durch die Parteihierarchie verdoppelt. Dem Betriebsdirektor, der die politischen Vorgaben in der Praxis umsetzen sollte, wurde immer ein Parteisekretär ohne Praxisproblem zur Seite gestellt. Allerdings war der Einfluß der Partei nicht in allen Betrieben gleich stark. Bei TAGHELL 94 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 war die Parteigruppe klein und wenig aktiv, und zahlreiche Beschäftigten hatten trotz der schlechten Arbeitsbedingungen den Betrieb gerade wegen der geringen Parteikontrolle ausgewählt. Bei STANEX hingegen, wo manche Abteilungen auch für die Rüstung fertigten, war die Partei allgegenwärtig, und der von mir untersuchte Betriebsteil war in den achtziger Jahren Schauplatz heftiger politischer Auseinandersetzungen. In den beiden Berliner Betriebsteilen von STANEX waren von 1200 Beschäftigten 175 in der Betriebsparteiorganisation mit sechs Abteilungsparteiorganisationen, die sich alle 14 Tage trafen und die wiederum in Parteigruppen unterteilt waren. Der Bereich Montageautomatisierung mit 100 Mitarbeitern hatte seine eigene Parteigruppe mit 14 Mitgliedern. Der Konstrukteur Karst führte 1988 den Vorsitz. Für die Beschäftigten bei STANEX hatte auch noch Jahre nach der Wende die Auseinandersetzung mit ihrem Engagement für oder gegen die Partei eine emotionelle Bedeutung. Sie reflektierten über sozialistische Werte und Normen, die zur Zeit der Planwirtschaft heftig umstrittenes Terrain waren bei Parteianhängern und -gegnern und auch innerhalb der Partei bei Reformkommunisten und Orthodoxen. Kritik am herrschenden System durfte nur im Verborgenen zirkulieren, obwohl (oder vielleicht gerade weil) sie sich meist im Rahmen der sozialistischen Ideologie bewegte. Kritik wandte sich nicht grundsätzlich gegen sozialistische Ideen, sondern gegen die starre und dogmatische Auslegung, die diese von der Partei erhielten. Ich werde in diesem Kapitel analysieren, wie der moralische Absolutheitsanspruch der Parteiführung als Machtinstrument wirkte und zur Richtschnur für das Verhalten der Mächtigen wurde. 4.1. Partei und Karriere Die SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) erhob den Anspruch, den einzig richtigen Weg für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung zu kennen. Die Machtposition der Parteimitglieder war über diesen Absolutheitsanspruch legitimiert, aber gleichzeitig über die Parteihierarchie eingegrenzt und kontrolliert. Parteimitgliedschaft bedeutete Anteil an einem Herrschaftsinstrument zu haben und gleichzeitig zur absoluten Loyalität verpflichtet zu sein. Die Partei konnte nur über Genossen wirklich Kontrolle ausüben. Erst wenn die wirtschaftlichen Leiter Parteimitglieder geworden waren, konnten sie auf den politischen Kurs der Partei festgelegt werden. Politische Konformität war dabei ebenso wichtig wie Kompetenz. 95 Auch die wirtschaftlichen Leiter, die ohne politische Überzeugung und vor allem um ihre Karriere voranzutreiben, Mitglieder der Partei geworden waren, mußten nach außen hin die offizielle Ideologie glaubhaft vertreten und ihre politische Zuverlässigkeit beweisen, indem sie zum Beispiel in ihren Betrieben den sozialistischen Wettbewerb überwachten und vor übergeordneten Parteigremien Rechenschaft ablegten. Wie mir mehrere Nichtmitglieder unter meinen Gesprächspartnern berichteten, gaben sich auch die meisten der aus Opportunismus und Karrieredenken Eingetretenen schon nach kurzer Zeit selbst im privaten Gespräch linientreu. So erzählte mir Scheuch, ein ehemaliger Konstrukteur bei STANEX, daß seine Freundschaft mit dem späteren Gesamtbetriebsdirektor Mayer in dem Moment endete, als dieser in die Partei eintrat und nun versuchte, ihn zu „bekehren“: „Für mich war er damals schon verschwunden, als er in die Partei reingegangen ist, der Mayer, in den siebziger Jahren irgendwann. Da hab ich sehr viele Leute kennengelernt im Leben, die aus irgendwelchen Karrieregründen diesen Schritt gegangen sind und plötzlich versucht haben, die anderen ehemaligen Kumpel zu bekehren und zu sagen: ‚Paßt mal auf. Jetzt weiß ich, wie es richtig ist und nun müßt ihr auch.‘“ (Scheuch, STANEX, 24.6.1991) Als Mayer Leitungsfunktionen übernahm und somit Ideen aus dem Arsenal der SED öffentlich und rituell darbot, die ursprünglich nicht seine eigenen waren, begann er, diese Ideen und Emotionen während der Darstellung als authentisch zu erleben. Kognitive und emotionale Dissonanz führte auf die Dauer dazu, daß sich „die Grenze zwischen der Wahrnehmung einer distanziert gespielten Rolle und der Wahrnehmung der Ich-Identität“ verwischte (Rottenburg 1992:244). Der Parteieintritt bedeutete vielfach einen Bruch mit sozialen Beziehungen der Vergangenheit, der tiefer ging als beispielsweise das Verbot, Familienbande zu Verwandten in Westdeutschland zu pflegen. Kontakte zu regimekritischen Bekannten und nicht in der Partei organisierten Kollegen wurden distanzierter. Oft wurde das neue Parteimitglied zu seiner Überraschung von seinem früheren sozialen Umfeld unter Rechtfertigungszwang gesetzt oder ausgegrenzt, ein Zustand, der es der Partei leichter machte, das neue Mitglied in die Parteistrukturen zu integrieren und zu kontrollieren. Wie es der Konstrukteur Kater ausführte, behielten in der Tat viele Genossen im Betrieb lieber das „Parteibuch in der Tasche“ als sich der politischen Auseinandersetzung mit ihren Kollegen zu stellen. Die, die offen den Standpunkt der Partei vertraten, leisteten schon „ideologische Arbeit“. „Ideologische Arbeit war in der Hauptsache ein Begriff dafür, daß man eigentlich nur ganz normal seinen Standpunkt auch vertreten sollte. Es gab eine ganze Menge Genossen, die lieber 96 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 – gerade diese Leute, die wirklich nur mitgeschwommen sind – die sich vor solchen Diskussionen generell überhaupt gedrückt haben. Ja, die gar nichts gesagt haben oder die nur beiseite gegangen sind. Mit ideologischer Arbeit war eigentlich nur gemeint, daß die Genossen, die sich per Einschreiben in die Mitgliederliste ja eigentlich hinter irgendeine Idee gestellt haben, daß sie diese Idee auch wirklich vertreten sollen, nicht nur das Parteibuch in der Tasche haben und dann möglichst aber auch keinem zeigen...“ (Kater, Konstruktionsingenieur, STANEX, 25.4.1991) Der Zwiespalt bestand für viele Genossen nicht unbedingt darin, daß ihr eigener Standpunkt nicht hundertprozentig mit dem der Partei übereinstimmte, sondern daß sie nicht sicher sein konnten, welcher der richtige Standpunkt war, den sie beziehen und verteidigen konnten, ohne in Gefahr zu geraten, von der offiziellen Parteilinie abzuweichen. Karrierebewußte Genossen schwiegen daher lieber, als sich angreifbar zu machen. Wer gar einen eigenen Standpunkt bezog, setzte sich der Kritik der Genossen und den Angriffen der Nicht-Mitglieder aus. Es war für ein Parteimitglied schwerer, den Betrieb zu wechseln und in eine neue Arbeitsgruppe integriert zu werden. Häufig wurde er von den Kollegen als Spion der Betriebsleitung wahrgenommen, der ihre Gespräche überwachen und sie zu höheren Leistungen anspornen sollte. Der Facharbeiter Schuster beschrieb seine ersten Erfahrungen als Genosse in der Fertigung bei STANEX. „Da waren zwei Genossen in der gesamten Truppe damals. Die waren einfach nicht beliebt, die Genossen. Ein Fremder, o.k., der muß sich sowieso erst mal einfügen. Aber dann ein Fremder und Genosse, also Parteimitglied, also das war dann schon unangenehm. Die kannten mich überhaupt gar nicht, haben mich aber erstmal als doofen Parteitypen abgetan. Ohne zu wissen, daß ich eben, obwohl ich in der Partei bin, eine ganz andere Meinung hatte, als die allgemeine Parteilinie war.“ (Schuster, Facharbeiter, STANEX, 22.4.1991) Schuster war als 18jähriger, wie er sagte, „aus jugendlichem Enthusiasmus“ als „Überzeugungstäter“ in die Partei eingetreten – ein Schritt, der selbst seinen Vater, der hauptamtlicher Funktionär und Mitglied des diplomatischen Corps war, schockiert hatte. „Ich fand das normal, in diesem Staat, ich fand das auch alles richtig und gut. Meine Eltern haben ja eigentlich ihr Leben soweit vorgelebt, daß Sozialismus eigentlich Zukunft hat. Als Jugendlicher hast Du da auch wenig Vergleichsmöglichkeiten.“ Wie er heute meint, hinderte seine Parteimitgliedschaft seinen beruflichen Aufstieg eher, als daß er ihn gefördert hätte. Schuster zog es vor, das Ingenieurstudium nicht anzutreten, das ihm der Betrieb ermöglichen wollte, weil es ihn zu weiterer „gesellschaftlicher Arbeit“ im Betrieb verpflichtet hätte. Die Karrieren im Sozialismus zeigten immer dann einen Bruch, wenn die aufgestiegenen Leiter sich weigerten, in die Partei einzutreten (Niethammer/von 97 Plato/Wierling 1991, Lambrecht 1989). Aus politischen Gründen befanden sich daher häufig kompetente Leitungskräfte auf der zweiten Ebene, während die Direktorenstellen manchmal mit inkompetenten Personen besetzt waren. Die abgebrochene Karriere des Ingenieurs Grabher von STANEX illustriert diesen Zusammenhang. Als er im Jahre 1975 den Posten des Produktionsdirektors bei STANEX übernehmen sollte, wurde ihm der Eintritt in die Partei zur Bedingung gemacht. Grabher schilderte mir anschaulich, wie Parteivertreter aus dem Betrieb und der Kreisleitung versuchten, ihn in stundenlangen Gesprächen davon zu überzeugen, der Partei beizutreten: „Da hab ich dann so mehrere, drei, vier, fünf Stunden Gespräche über mich ergehen lassen müssen. So nachmittags um drei mit einer Tasse Kaffee und einem Cognac und dann bis abends um sieben von sehr freundlich stundenlang, bis doch recht bestimmt. [....] Da hat man dann krampfhaft versucht, in vielen Gesprächen zu sagen: ‚Na ja durch Deine Arbeit und durch Deine Arbeitsleistung und durch Deine Einstellung… Du stehst doch eigentlich hinter dem Staat. Da brauchst Du doch bloß noch unterschreiben und brauchst dich in die Partei eintragen, du bist doch eigentlich ein Sozialist.‘“ (Grabher, Produktionsvorbereitung, STANEX, 7.5.1991) Grabher jedoch wollte nicht beitreten. Er begründete seine Ablehnung mir gegenüber damit, daß ein Parteibeitritt für ihn die Aufgabe „der letzten kleinen persönlichen Freiheit gewesen wäre.“ Diese Begründung verwendete er aber den Genossen gegenüber nicht. Hier argumentierte er damit, daß er den Kontakt zu seinen Geschwistern in Westdeutschland nicht aufgeben wollte. „Da sag ich ‚Was ist denn, wenn ich jetzt den Antrag stelle als Genosse und Produktionsdirektor, daß ich meinen Bruder besuchen will, weil da dieses und jenes ist? Ich brauch doch von Euch die Zustimmung!‘ Man brauchte da vom Betrieb den Zustimmungsschein, sonst ist man auf der Polizei gar nicht seinen Antrag losgeworden. Da brauchte man vom Betrieb eine Stellungnahme. Ich sag: ‚Dann überzeugt ihr mich solange, bis ich dann sage, ach ich will meinen Bruder gar nicht besuchen.‘“ (Grabher, Produktionsvorbereitung, STANEX, 7.5.1991) Grabher hatte sich den massiven Anwerbungsversuchen der Partei mit dem Hinweis auf sein Privatleben entzogen und konnte damit die wesentlich unangenehmere politisch-ideologische Diskussion vermeiden, bei der er kaum Widerspruchsmöglichkeiten gehabt hätte, wollte er sich nicht offen in Opposition zum real sozialistischen Gesellschaftssystem stellen. Dennoch hatte er damit zum Ausdruck gebracht, daß bei ihm die Familie Vorrang vor den Parteiinteressen genoß, was ihn als sozialistischen Leiter disqualifizierte. Grabher wurde nach diesem Gespräch als Nachwuchskader gestrichen. Er blieb Abteilungsleiter, 98 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 übernahm auch 1978 eine neue Abteilung bei STANEX, aber er kam über diese Karrierestufe nicht hinaus. Für viele seiner Kollegen in der Konstruktion und in der Produktionsvorbereitung war ein Aufstieg in den Rang eines Abteilungsleiters oder in den Direktorenrang nicht erstrebenswert, weil er sie von ihrer fachlichen Arbeit entfernte und ihnen politisch „gesellschaftliche“ Aufgaben auferlegte, die sie nicht schätzten. Karst, orthodoxes Parteimitglied und Konstrukteur bei STANEX, erklärte: „Man hat selbständig arbeiten können, man hat seine Gruppen gehabt, so daß man also auf dem Fachgebiet weitermacht und nicht bloß den Betriebsabrechner macht. Derjenige, der eine Leitungsfunktion hat, der hat auch meistens irgendeinen Mist gemacht, aber keine fachliche Arbeit. Beim Gruppenleiter geht es gerade noch so mit der fachlichen Arbeit, aber da drüber ist nachher Schluß!“ (Karst, Konstrukteur, STANEX, 7.2.1991) 4.2. Parteiraison Mitglied der herrschenden Partei zu sein, war kein ererbter Status wie die Tatsache, in einer aristokratischen Gesellschaft zum Adel zu gehören, und auch keine erworbene Ermächtigung wie die, in einer marktwirtschaftlichen Gesellschaft Reichtum zu besitzen. Parteimitglieder mußten sich immer wieder beweisen, und das ihnen von ihren eigenen Genossen entgegengebrachte Mißtrauen war ein Mittel dazu, sie in Abhängigkeit zu halten. Parteimitglieder, auch wenn sie kritisch waren, konnten sich wichtig vorkommen, denn die Parteigremien diskutierten, als würden sie die Zukunft der Menschheit in Händen halten. Nicht zuletzt genossen Parteimitglieder Privilegien. Auch wenn sie nur klein und scheinbar unbedeutend waren, so setzten sie sie doch von ihren Mitmenschen ab. Indem sie Teil der Machtstruktur der Partei waren, hatten die Mitglieder das Gefühl, verändernd auf die Gesellschaft einwirken zu können. Tatsächlich aber sollten die Parteimitglieder als Erfüllungsgehilfen einer historischen Dynamik wirken, die durch marxistisch-leninistische und empirisch technische Wissenschaft vorgegeben war (Meuschel 1992:194). Innerhalb der Partei durfte zwar diskutiert werden, aber das Ergebnis mußte eine einheitliche Meinung darstellen, die schon von oben vorgegeben war und die die Genossen mit Entschiedenheit vertreten sollten. Die Parteimitglieder sollten „Entschiedenheit an die Stelle von Entscheidung“ setzen (Niethammer 1990:259). „Man sollte nach außen die Linie – es gab doch diesen sogenannten demokratischen Zentralismus – vertreten, auch wenn Du selber mit der nicht übereingestimmt hast. Am Anfang, oder 99 sagen wir bis Mitte 80 bis '85, habe ich den Eindruck, wurde kaum noch diskutiert oder vielleicht wurde schon immer nicht... Hinterher durfte zwar oder wurde zwar diskutiert und zunehmend schärfer, weil ja die Probleme immer schärfer wurden, aber man konnte eigentlich nie Beschlüsse fassen, denn die Beschlüsse wurden immer von oben gefaßt, man durfte sie zwar diskutieren, aber der Beschluß stand eigentlich schon von allein fest. Weil ja eben dieser demokratische Zentralismus eine Wählbarkeit von unten nach oben vorgab, dann aber eine Beschlußfassung von oben nach unten.“ (Kater, Konstrukteur, STANEX, 25.4.1991) Die Parteimitglieder benutzten eine eigene ideologisch gefärbte Sprache in ihren Berichten, die sich vom normalen Sprachgebrauch unterschied. Statt für die Mitglieder einen Fundus an gemeinsamem Überzeugungen darzustellen, war die Ideologie zu einem katechistischen Aufsagen von Standardsätzen verkommen (Bendix 1974:347). Diese Sätze, die ich unzählige Male in Berichten der Betriebsparteiorganisation und in der Betriebsparteizeitung lesen konnte, aber 1990 schon nicht mehr von meinen Gesprächspartnern zu hören bekam, sollten programmatisch und zukunftsgerichtet sein, waren aber sinnentleert. Dadurch, daß die grundlegenden Sätze nicht in Zweifel gezogen werden durften, wurden sie zu Glaubenssätzen, auf denen die weitere Argumentation aufbauten. So zum Beispiel der Satz: „Die entscheidende Errungenschaft der Arbeiterklasse ist die revolutionäre Kampfpartei.“ Er besagt, die Arbeiterschaft habe die Parteimacht im revolutionären Umsturz errungen und die Macht werde in ihrem Interesse ausgeübt. Dies war bekanntlich in der DDR nach dem Krieg nicht der Fall, wo die Macht der Partei durch die sowjetische Besatzungsmacht etabliert wurde. Arbeiter traten auch seltener in die Partei ein als ihre Vorgesetzten und sahen ihre Interessen häufig im Gegensatz zu denen der Parteimitglieder. Dadurch daß alle politischen Diskussion in den Parteiorganisationen Glaubensbekenntnisse zur Grundlage hatten, konnten sich die Argumentationen nicht weiterentwickeln und drehten sich im Kreis. Sie drehten sich um absolut gesetzte Wahrheiten, von denen man diejenigen, die die Grundannahmen nicht teilten, nicht überzeugen konnte, sondern man mußte sie dazu „bekehren“. Mitglieder sollten die Parteimeinung offensiv vertreten und durften ihre Parteimitgliedschaft nicht verbergen. Deshalb waren sie der Masse der Nichtmitglieder zwar übergeordnet, aber gleichzeitig auch von ihr abgegrenzt. Die Partei gebrauchte dies als einen Mechanismus, um ihre absolute Autorität aufrechtzuerhalten. „Die Partei muß das einzelne Mitglied daran hindern, Dinge für sich zu behalten und vor seinen Bekannten die Meinungen und Handlungen zu verstecken, die seine Identifikation mit der Partei verraten könnten. Wenn Dinge für sich behalten wurden, würde die Partei Gefahr laufen, daß Gedanken und Handlungen aufkeimen die ihre Herrschaft unterminieren. Und wenn die Identität als 100 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Parteimitglied versteckt würde, könnte man ein Privatleben unter seinen Bekannten führen, ohne daß sie auf der Hut wären. Aber dann wäre man außerhalb der Reichweite der Partei und damit eine potentielle Gefahr für ihre absolute Autorität.” (Bendix 1974:416) Die öffentlichen Meinungsäußerungen der Genossen mußten immer einheitlich sein. Widersprüchliche Meinungen, die ja durchaus existierten, wurden bei den öffentlichen Äußerungen systematisch unterdrückt. Das, was nach außen dringen durfte, mußte mit der Parteilinie übereinstimmen, die vom ZK vorgegeben und auf den Parteitagen bestätigt worden war. „Es war ja immer so, daß die Partei – weil es Kommunisten sind – immer Recht hat! Und das hat sich irgendwo eingebürgert da oben in diesem Kopf! Und damit ist sie immer verbohrter geworden, diese stalinistische Grundhaltung. Es ist eigentlich immer schlimmer geworden statt besser! Es ist niemals bei einer offenen Diskussion auf einem Parteitag Kritik geäußert worden! Du hättest Dir die Parteitage mal anhören müssen! Das ist zum Davonlaufen gewesen! Das hat sich kein geistig wacher Mensch anhören können!” (Schuster, Facharbeiter, STANEX, 22. 4. 1991) Noch bis 1989 wurden Stellungnahmen von Parteigruppen und Gewerkschaftsorganisationen sorgfältig auf ideologische Reinheit hin überprüft. Der Facharbeiter und Genosse Schuster zeigte mir, um dies zu illustrieren, ein Papier für eine Parteikonferenz, das er gemeinsam mit dem Konstruktionsleiter, einem Nichtgenossen, verfasst hatte. Er plädierte darin für eine Ausweitung der Automatenproduktion in der DDR und unterstrich ihre Bedeutung für die Volkswirtschaft. Das Papier war von fünf verschiedenen Personen auf unterschiedlichen Hierarchieebenen der Partei korrigiert und zensiert worden. Jeder noch so kleine Hinweis darauf, die DDR Wirtschaft habe einen niedrigen technologischen Standard, wurde sorgfältig eliminiert und positiv umformuliert. Gestrichen wurde zum Beispiel der Paragraph: „Wie Ihr wissen werdet, ist die verstärkte Automatisierung der Montageprozesse zu einer zwingenden Notwendigkeit geworden, um die vorgesehene Arbeitsproduktionssteigerung bei gleichzeitiger Kostensenkung, Erhöhung des technischen Niveaus der Montageprozesse und Verbesserung der Arbeitsverhältnisse zu garantieren.“ Dieser Paragraph wurde ersetzt durch: „Wir haben begonnen, uns in die Aufgaben der 5. Tagung des ZK der SED hineinzudenken und Schlußfolgerungen zu ziehen. Genosse E. Honecker fordert noch mehr Spitzenleistungen mit hohem ökonomischem Nutzen. Das ist uns auf den Leib geschrieben.“ Obwohl sich Schuster an die offizielle Schreibweise gehalten hatte und sich zum Beispiel auf Parteitagsbeschlüsse bezogen hatte, wurden die Formulierungen 101 nochmals ausgefeilt. Als nach dem fünften Zensurdurchgang alle Versäumnisse in der technologischen Entwicklung in Erfolge umformuliert waren, resignierte Schuster und entschied, das Papier nicht mehr vorzutragen. „Das muß man ja für die gesamte DDR sehen, daß sich die Leute in Wunschträume geflüchtet haben! Also daß Parteifunktionäre nur noch Erfolgsmeldungen wollten, keiner wollte mehr Kritik. Ich habe immer so das Gefühl, man durfte seinem Vorgesetzten – also dem nächst höheren Gremium – nur Erfolgsmeldungen darbringen! Und wenn die Erfolge zusammengelogen wurden! Aber warum das ist, kann ich Dir nicht erklären.“ (Schuster, STANEX, 22.4.1991) Auch bei weniger wichtigen schriftlichen Stellungnahmen wurden die selben Mechanismen der ideologischen Kontrolle angewendet. Mitarbeiter bei HOCHINAUF, die in der BGL (Betriebsgewerkschaftsleitung) gewesen waren, zeigten mir beispielsweise den Entwurf des Jahresabschlußberichtes der BGL von 1987, der jedes Jahr nach dem gleichen Schema verfasst wurde und über die Jahresarbeit der Gewerkschaft berichtete. Nachdem drei verschiedene Personen das Papier redigiert hatten, war jeder Hinweis auf eventuelle Fehler oder Versäumnisse sorgfältig getilgt. So war beispielsweise der Satz: „Zu verbessern gilt es die Qualität des Mittagessens“, umredigiert worden in: „Die Qualität des Mittagessens muß jedoch noch gleichbleibend gut gewährleistet werden.“ Jeder noch so geringfügige Versuch, die gesellschaftliche oder betriebliche Praxis offiziell von unten her zu ändern oder zu reformieren, wurde im Keim erstickt. „Es wurde eigentlich die Praxis durch die Parteiweiche in eine andere Richtung gelenkt! Also du bist mit einer guten Idee gekommen, mußtest durch die Parteiweiche und entweder biste rausgeflogen aus der Sortierweiche, oder die haben dich in eine ihnen genehme Richtung gelenkt!“ (Schuster, Facharbeiter STANEX, 22.4.1991) Parteimitglieder waren in der Parteigruppe permanenter Beurteilung und Kritik ausgesetzt, durften aber keine Kritik an anderen Genossen oder gar an der Parteilinie nach außen dringen lassen. Dies ging in manchen Arbeitszusammenhängen so weit, daß sich Genossen untereinander vor Nichtgenossen nicht kritisieren durften. Der Facharbeiter Schuster schilderte mir eine Auseinandersetzung mit Karl Voigt, seinem Abteilungsleiter und Genossen, dem er in der Parteihierarchie übergeordnet, in der Betriebshierarchie unterstellt war: „Ich habe auf offener Szene den Abteilungsleiter – wir sind nicht die besten Freunde – angegriffen. Das durfte ich ja als Genosse gar nicht! Du kannst Horst (Fröhlich; B.M.) fragen, der war dabei, und ist später aus dem Lachen nicht rausgekommen.... Ich habe den Karl also offen kritisiert! Da sagt der zu mir: ‚Du durftest mich doch gar nicht kritisieren, Du bist doch ein Genosse!’ Das heißt also: er als Abteilungsleiter, mir fachlich übergeordnet, ich ihm parteilich zwar übergeordnet, weil ich auch mal eine Zeitlang in der zentralen Parteileitung war, durfte ihn als Genossen Abteilungsleiter nicht 102 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 kritisieren, weil er ja in meinem Stall ist und da könnte er den größten Mist machen, ich müßte es gutheißen, weil es ja ein Genosse ist!“ (Schuster, Facharbeiter STANEX, 22.4.1991) Der Abteilungsleiter wehrte die Kritik des ihm unterstellten Arbeiters nicht mit dem Hinweis darauf ab, daß er der Chef war und daß seine Anweisungen zu befolgen waren, sondern er berief sich auf ihren gemeinsamen Status als Parteimitglieder, der eine Auseinandersetzung zwischen ihnen ausschloß. Umgekehrt versuchte Voigt, dem die fachliche Kompetenz abging, die Fertigung effektiv zu kontrollieren, wenigstens die Arbeiter, die Mitglieder der SED waren und die der Parteidisziplin unterstanden, exemplarisch zu disziplinieren, indem er bei Vergehen drakonische Strafen verhängte. Bei einer anderen Auseinandersetzung versuchte Voigt den Genossen Schuster wegen eines relativ geringen Vergehens zu einer harten Disziplinarstrafe zu verurteilen. „Ich habe mal einen Disziplinarverstoß gemacht, indem ich mein privates Schweißgerät mit in den Betrieb genommen habe und es dort ausprobiert habe. Karl (Voigt; B.M.) kommt durch, sieht das und eröffnet ein Disziplinarverfahren gegen mich. So! Nach Arbeitsgesetzbuch der DDR – das habe ich mir damals zum ersten Mal so richtig zu Gemüte gezogen – ging das gar nicht, aber er hat‘s trotzdem beantragt! Er hat ein Anschreiben gemacht – ich hab das auch noch da, also ich könnte das raussuchen – , und da steht dann aber nicht drin ‚Kollege Schuster’, in dem Falle bin ich ja Kollege, ja, sondern ‚Genosse Schuster hat gegen die Disziplin verstoßen’, ja! Und das ist also für mich auch schon eine Feinheit, daß er mich jetzt nicht als Kollegen, er als Leiter, Abteilungsleiter, Kollege Voigt, den Facharbeiter Kollege Schuster zur Verantwortung zieht, sondern der Genosse Voigt zieht den Genossen Schuster zur Verantwortung, weil er ihn endlich mal gekriegt hat! Hat er nun endlich mal was gefunden und wollte mich nun so richtig nudeln und im Endeffekt ist es abgewiesen worden.“ (Schuster, STANEX, 22.4.1991) Schuster akzeptierte ausdrücklich, als „normaler Arbeiter“ laut Arbeitsgesetzbuch bestraft zu werden, aber er wollte nicht „als Genosse“ für einen geringfügigen Verstoß zur Verantwortung gezogen werden. Ein Disziplinarverfahren, das ihn auch einer peinlichen Befragung durch das Betriebsparteikomittee ausgesetzt hätte, lehnte er ab. Er wollte nach Gesetzen verurteilt und nicht als „Genosse“ nach moralisch politischen Maßstäben beurteilt werden. In dem Gewicht der moralischen Beurteilung lag ein Teil der Macht der Partei begründet. Gegenüber dem quasi-religiösen Absolutheitsanspruch der Partei war das Individuum, das für sich in Anspruch nahm, richtig zu handeln, per Definition fehlbar und schuldig. „Hehre Werte“ und ein „hoher moralischer Ton“ zeichneten „die meisten Sprecher der DDR-Gesellschaft aus, ob es nun die Partei war, die Intelligenz oder die Opposition“ (Meuschel 1992:308). Die Partei verstand es lange, die Kritik an der Praxis der DDR-Gesellschaft auf die fehlbaren 103 Individuen zurückzulenken, während sie selbst für die sozialistischen Ideale stand. Der Bereichsleiter Voigt versuchte den Arbeitern gegenüber diesen Anschein der Unfehlbarkeit aufrecht zu halten. Seine fachliche Inkompetenz verbarg er hinter autoritärem Auftreten. Die Arbeiter hingegen beobachteten ihn und versuchten ihrerseits, ihm Fehler nachzuweisen. Fröhlich, einer der Arbeiter, die die Vibratorbehälter herstellten, und der besonders oft Konflikte mit dem Werkstattleiter auszutragen hatten, beobachtete seine Vorgesetzten Voigt und Dr. Schöpf genau und bemühte sich, ihren Mangel an ideologischer Festigkeit zu entlarven. Er machte sich Gedanken darüber, wie ihre Körpersprache mit der Tatsache zusammenhing, daß sie sich selbst als Vertreter der Wahrheit hinstellten, ohne unbedingt die Wahrheit zu sagen. Bei Reden und Ansprachen zählte er mit, wie oft sie, obwohl sie als Kommunisten Atheisten sein müßten, innerhalb von einer halben Stunde das Wort „Gott“ oder „glauben“ im Munde führten. Voller Schadenfreude erzählte er mir, wie er den Meister überrascht hatte, als dieser im Betrieb für seinen privaten Bedarf etwas hergestellt hatte. „Wir kommen aus dieser Halle, aus der Tür. Voigt kommt aus dem Gang und hat ein frisch verchromtes Teil in der Hand. Das war ganz offensichtlich was Privates. Dann hat er gemerkt, daß ich das gesehen habe. Ich bin die Treppe hoch, als müßte ich zur Toilette und er ist zur Türe raus. Ich denke: ‚Du mußt doch mal gucken, was der jetzt macht.‘ Er hat sich vor die Glastür gestellt, ist stehengeblieben und hat geguckt, ob ich weg bin. Dann ist er in Windeseile in die andere Richtung davongelaufen. Es dauerte eine knappe Minute, da ging er im Sturmschritt Richtung Bahnhof, mit seinem Teil unterm Arm. Affig bis zum geht nicht mehr! ... also voll auf Verarschung der Leute: ‚Ich bin ganz sauber! Weist mir einen Fehler nach!‘ Das ist ja auch so ein Spruch von ihm. Er hatte eine höllische Angst davor, daß ihm irgendjemand einen Fehler nachweisen könnte.“ (Fröhlich, Facharbeiter, STANEX, 16.6.1991) Die ideologische Kontrolle, die Meister Voigt über die Arbeiter auszuüben versuchte, hatte den gegenteiligen Effekt, daß die Arbeiter ihn an seinen eigenen ideologischen Ansprüchen maßen. Anekdoten, wie die, die Fröhlich mir erzählte, waren zahlreich und wurden immer wieder zur Erheiterung aller Kollegen erzählt. So eine Kritik aus dem herrschenden Diskurs heraus ist, wie Scott es ausdrückt, „das ideologische Äquivalent davon, mit seiner eigenen Rakete in die Luft gejagt zu werden“ (Scott 1990:103). Die Kritiken, die innerhalb des offiziellen Diskurses möglich waren, entlarvten die Form von Herrschaft als Ganzes. 104 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 4.3. Die Freiheit der Andersdenkenden Die Autorität, die die Partei über ihre Mitglieder ausüben konnte, war niemals absolut und stets gebrochen durch praktische Lebenserfahrungen. So wandelte sich die Einstellung der einzelnen Genossen zur Partei im Laufe der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung der DDR: durch Brüche in ihrer Biographie und durch Ereignisse in ihrem sozialen Umfeld. Die Mitglieder der SED waren im Alltagsleben kein monolithischer Block, der den Nichtmitgliedern gegenüberstand. Trotzdem konnten sie, wenn sie gemeinsam im Sinne der Parteiräson handelten, so wirken. Ein tragischer Konflikt, der die Konstruktionsabteilung von STANEX Anfang der achtziger Jahre erschütterte, macht dies deutlich. Die Konstruktion von STANEX wurde Anfang der achtziger Jahre von dem erfahrenen Konstrukteur Weber geleitet, der kein Parteimitglied war. Weber war sowohl politisch, als auch fachlich der Kontrahent Schöpfs. Er war von den Kollegen in Produktion und Fertigung geschätzt. Sein fachliches Können war unbestritten und machte ihn unangreifbar. Dr. Schöpf hingegen wurde von meinen Gesprächspartnern bei STANEX als jemand dargestellt, der keinen Widerspruch vertragen konnte und selbst dann noch an einmal getroffenen Entscheidungen festhielt, wenn sie sich als falsch erwiesen hatten. Als Weber begann, Dr. Schöpf grundsätzlich auf der moralisch-politischen Ebene anzugreifen, wurde er zu einer wirklichen Gefahr für seine Autorität. Weber opponierte offen gegen die Politik von Dr. Schöpf, die Monopolstellung des Betriebs für kurzfristige betriebliche Interessen zu mißbrauchen. Er war vor allem nicht damit einverstanden, daß Dr. Schöpf seinen Kunden die Vertragsbedingungen diktierte, ihnen die Garantiezeiträume auf ein halbes Jahr kürzte und ihnen statt Ersatzteilen nur Konstruktionszeichnungen lieferte, nach denen sie sich die Teile selber fertigen mußten. Dadurch daß Weber das Handeln Dr. Schöpfs offen als nicht korrekt darstellte, stellte er den Absolutheitsanspruch des Betriebsdirektors in Frage. Weber argumentierte volkswirtschaftlicher als Dr. Schöpf selber, der sich gerne als idealistischen Verteidiger sozialistischen Gedankengutes sah. Weber führte Dr. Schöpf vor, es wäre eine Verschwendung wirtschaftlichen und intellektuellen Potentials, den Service für die hoch komplexen Automaten nicht zu übernehmen und in Kauf zu nehmen, daß sie nach einem halben Jahr wegen fehlender Ersatzteile und inadäquater Wartung stehenblieben. Die Spannungen zwischen dem Bereichsdirektor Dr. Schöpf, der sich selbst als Stalinist bezeichnete, und dem Abteilungsleiter Weber brachen offen aus, als es Schöpf gelang, 1982 die beiden jungen Genossen Kater und Fischer als Kon- 105 strukteure zu gewinnen. Die beiden hatten zusammen in der Tschechoslowakei studiert und waren, als sie bei STANEX anfingen, noch voll von dem politischem Elan, den sie in ihrer kleinen Parteigruppe in Brno entwickelt hatten. Sie versuchten gleich, in der Abteilung Parteiarbeit zu machen und die Kollegen zu agitieren, was aber von den Nichtmitgliedern Weber und Scheuch abgeblockt wurde. Der Konflikt gipfelte in einer Anzeige der Genossen gegen Weber und Scheuch wegen Rädelsführerei. Scheuch schilderte mir den Hergang. „Die kamen damals als junge Genossen, der Fritz Fischer und der Herr Kater. Drin waren schon der Niederegger und der Karst. Das waren unsere Genossen damals. Naja und diese beiden jungen Leute, die hatten ja den glatten Stammbaum, wie wir immer so sagten. Die waren von zu Hause ausgestattet, die haben im Ausland studiert und hatten gedacht, wunder wie schau das alles ist. Und dann kamen sie zu uns hin, und haben dann natürlich versucht, gleich aufzudrehen: Parteiarbeit und sowas alles. Und dann haben wir gleich erstmal gegengehalten. Ich war damals kein Leiter, ich war Konstrukteur. Der Leiter war Weber. Der konnte das Geseier auch nicht hören, und wir haben eigentlich so ein bisserl dagegen gehalten, und da gab's eine Anzeige von den vier Leuten gegen den Herrn Weber und gegen meine Person. Ich weiß nicht, wie sie das genannt haben: ‚Rädelsführer‘, glaube ich. Sie behaupteten, sie könnten eben wegen uns keine Parteiarbeit leisten.“ (Scheuch, 24.6.1991) Die Anzeige diente Dr. Schöpf als Vorwand, um den unbequemen Weber aufzufordern, von seinem Posten als Abteilungsleiter zurückzutreten. Scheuch hingegen sollte in ein „gefestigtes Kollektiv“ im gleichen Betrieb versetzt werden. Weder Weber, noch Scheuch konnten offiziell auf Grund der ideologischen Differenzen entlassen werden, aber sie konnten an Arbeitsstellen versetzt werden, die ihnen nicht lagen und wo sie aus ihrem gewohnten sozialen Umfeld herausgerissen waren, politisch und sozial isoliert. Dr. Schöpf versuchte Weber auch den weiteren beruflichen Werdegang zu verbauen, indem er ihm ein besonders schlechtes Zeugnis ausstellte. Weber zog die Konsequenzen und verschwand, vermutlich, um über die Ostsee in den Westen zu fliehen. „Den gibt es nicht mehr, den Herrn Weber, der ist seit 1983 verschollen. Wir vermuten alle, daß er einen Fluchtversuch gemacht hat, über die Ostsee aber dann wahrscheinlich... und er ward nie wieder gesehen. […] Also der hätte sich gemeldet, wenn der es geschafft hätte. Es sind ja viele über die Ostsee geflüchtet in diesen dreißig Jahren, aber er muß es nicht geschafft haben.“ (Grabher, Produktionsvorbereitung, STANEX, 7.5.1991) Wegen Menschen wie Weber war die Mauer gebaut worden. Sein technisches Wissen war für das System wertvoll, aber sein Eigensinn war nicht erwünscht und sollte gebrochen werden. Weber hatte es nicht nur abgelehnt, in die Partei zu gehen, sondern er wagte es außerdem, die Praxis der Herrschenden an ihrem eigenen idealistischen Diskurs zu messen und sie damit zu entlarven. Webers 106 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Verschwinden blieb monatelang Betriebsgespräch und hatte zur Folge, daß Scheuch nicht mehr angetastet wurde. Sein Verschwinden wurde zum Schlüsseldrama für den gesamten Betriebsteil Fertigungsautomatik und zum wiederkehrenden Stein des Anstoßes in den politischen Auseinandersetzungen im Betrieb. Veit Kater wurde 1984 Gruppenleiter in der Konstruktion, aber sein Verhältnis zu Dr. Schöpf verschlechterte sich zunehmend. Möglicherweise verstand er auch – was seine Kollegen bereits diskutierten –, daß er von Dr. Schöpf für dessen eigene Machtkämpfe und zur Lösung seiner inneren Widersprüche mißbraucht worden war. Kater begann die Auffassung zu hinterfragen, wonach politische Arbeit möglich und nötig sei. „Also praktisch überzeugt wurde gar nicht. Man kann ja einen Menschen nicht mehr ändern. Also nicht mehr ändern, ist falsch. Man kann ja einen Erwachsenen nicht mehr erziehen oder in seinen Grundeinstellungen ändern oder so durch irgendwelche abstrakten Diskussionen, kann ich mir nicht vorstellen, daß das überhaupt funktioniert.“ (Kater, Konstrukteur, STANEX 25.4.1991) Nach einer heftigen Auseinandersetzung am Silvesterabend 1983, die fast zu einer Schlägerei wurde, hatten Scheuch und Kater eine Aussprache, die in den folgenden Jahren ihr Vertrauensverhältnis begründete. Das Verhältnis der Konstrukteure zu ihrem Betrieb war kein rein funktionelles. Im Betrieb versuchten sie auch ihre Vorstellung von sinnvollem Zusammenleben und politischen Ideale zu verwirklichen. Die Konstrukteure Scheuch und Weber versuchten in einer von Ideologie durchdrungenen Gesellschaft eine Insel zu schaffen, wo ausschließlich fachliches Können und Kreativität zählte. Die Genossen Kater und Fischer bemühten sich ihre neu erworbenen Überzeugungen auch ihren Kollegen zu vermitteln und ein vorbildliches sozialistisches Kollektiv zu schaffen. Bereichsdirektor Schöpf, der jahrelang dafür kämpfen mußte, den von seinen Ingenieuren entwickelten Automaten produzieren zu dürfen, wollte vor allem den Bereich am Leben erhalten und in seiner Position als sozialistischer Leiter uneingeschränkt respektiert werden. Das Aufeinanderprallen dieser verschiedenen Interessen endete tragisch, weil sich die Genossen mit den Nichtparteimitgliedern auf keinen Kompromiss einlassen wollten. Die Loyalität der Parteigenossen wurde jedoch nicht umgekehrt von der Partei mit Vertrauen belohnt, sondern sie mußten erleben, daß auch ihnen mißtraut wurde, ohne daß sie sich rechtfertigen oder erklären konnten. 107 4.4. Perestroika im Betrieb Das Schlüsseldrama um das Verschwinden Webers trug dazu bei, die scharfe Trennungslinie zwischen Genossen und Nichtmitgliedern aufzuweichen. Außerdem heizte der Gorbachow-Besuch von 1986 die Diskussionen im Betrieb an und führte unter Genossen zu einer Spaltung zwischen Gorbachowisten und Orthodoxen. „In dieser ganzen Diskussion seit '85, seit Gorbatschow, da war ja in der DDR ganz streng die Linie, was die machen, geht uns nichts an, bis hin zu diesem berühmten Satz von Hager: ‚Wenn ihr Nachbar tapeziert, dann fühlen sie sich ja auch nicht bemüßigt, unbedingt ihre eigene Wohnung zu tapezieren.‘ An dem entzündete sich das. Ein Teil sagte: ‚Ne, das was da läuft, das funktioniert bei uns nicht, das ist nicht gut, das ist Konterrevolution. Da sei Gott vor, daß wir sowas auch zulassen hier.’ Und die anderen sagten: ‚Das ist die einzige Chance, um überhaupt da rauszukommen.‘“ (Kater, Konstrukteur, STANEX, 25.4.1991) In der Konstruktionsabteilung von STANEX standen nun die beiden jungen Genossen Kater und Fischer den Genossen Niederegger und Karst gegenüber, die Kater als orthodoxe oder rechte Kommunisten bezeichnete: „Die anderen beiden waren Leute, die meinten, wenn das jetzt so gesagt ist, dann müssen wir das so machen. Da können wir jetzt nicht drüber diskutieren. Sie haben bewußt oder unbewußt die Augen zugemacht, weil sie keine Änderung wollten.“ (Kater 25.4.1991) Auch die Debatten mit den Nichtmitgliedern wurden immer heftiger. Wie ein Arbeiter aus der Fertigung es wahrnahm, „haben die da oben nur noch diskutiert. Da war Krieg da oben, Wortkrieg.“ Im Laufe der achtziger Jahre wurden die politischen Diskussionen auch zunehmend offener geführt. Der versteckte kritische Diskurs weitete sich auf einen immer größeren Kreis aus, die hidden transcripts bekamen ein immer größeres Publikum. „Da wurde eben diskutiert über die Kampfgruppe, also über die Aufgabe der Kampfgruppe, die Grenze, die Mauer, warum… – und weil Du gerade 88 sagst – Das war also die Zeit nach der Eröffnung der Vertretung in Bonn und Berlin. Da sind die Grenzen ja offener geworden. Es sind also immer mehr Menschen rübergefahren und wiedergekommen. Na jedenfalls kam damit natürlich immer mehr Diskussionsstoff. Dadurch daß sich das Problem immer offener dargestellt hat und die Konturen immer schärfer geworden sind, ist es natürlich auch immer schärfer betrachtet und diskutiert worden.“ (Schuster, Facharbeiter, STANEX, 22.4.1991) Auch in der Parteigruppe wurde nach 1985 heftiger debattiert. Allerdings hatten diese Diskussionen auch Grenzen, die unwillkürlich eingehalten wurden. Die „staatstragende Ideologie“ durfte nicht in Frage gestellt werden, das gesellschaft- 108 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 liche und politische System wurde nicht grundsätzlich hinterfragt. Der Genosse Schuster erzählt: „Ich glaube, es wurden gerade in den letzten Jahren nachher mehr Diskussionen innerhalb der Partei geführt als überhaupt nach außen gedrungen ist.....immer mit dem Risiko, sag ich mal, wer sich zu deutlich äußert, der ist dann vielleicht nicht ins Ausland gefahren. Also diese Restriktionen, mit denen mußte man schon rechnen. Das war so fast jeden Tag. Also ich konnte mich bestimmt nicht hinstellen und konnte sagen: ‚Erich macht das Gegenteil von dem – wenn auch nicht das Gegenteil – vieles völlig anders als Gorbatschow. Weil ich aber der Meinung bin, Gorbatschow macht das richtig, also macht Erich das scheiße.‘ So hätte ich nie auftreten dürfen.“ (Schuster, Facharbeiter, STANEX, 22.4.1991) Die reformwilligen Parteimitglieder gingen nicht an die außerparteiliche Öffentlichkeit, und sie vermieden Kontakt zu den gesellschaftlichen Oppositionsgruppen. Dadurch blieben sie in der Parteidisziplin gefangen und waren auch innerhalb der Partei nicht handlungsfähig. Während also im Betrieb heftig diskutiert wurde, ging nach außen hin alles seinen sozialistischen Gang. Eine zu starke Annäherung an bürgerlich-westliche Strukturen, so meinten die Reformer, müsse die DDR gefährden (Meuschel, 1992:309). Es gab den verhaltenen Ruf nach Perestroika im Betrieb, denn die von der SED-Parteileitung praktizierte Leugnung der Veränderungen, die in der Sowjetunion vor sich gingen, wurden nicht widerspruchslos hingenommen. In einem unvollständigen Brigadebuch der Konstruktionsabteilung aus dem Jahre 1988 und 1989 fand ich einen Brief vom 28. November 1988, den die Abteilung unter ihrem Brigadenamen, „Kollektiv Völkerfreundschaft“ an die Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft gerichtet hatte. Das Kollektiv forderte darin die Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft auf, sich dafür einzusetzen, daß die Zeitschrift „Sputnik“ wieder in den Postzeitungsvertrieb aufgenommen wird. Die Konstrukteure stellten klar: „Das weitere Erscheinen des ‚Sputnik’ in unserem Land zu verhindern, stellt keine Lösung dar, sondern wird von uns als Mißtrauensantrag an unsere Fähigkeit verstanden, selbstständig zu denken. Wir erwarten von Ihnen eine Antwort auf diesen Brief: als Antwort würden wir auch die Veröffentlichung des Standpunktes des Zentralvorstandes der DSF in unserer Presse betrachten, denn wir lesen keineswegs nur den ‚Sputnik’.” Die Konstrukteure taten mit diesem Brief den ersten Schritt an die allerdings begrenzte Öffentlichkeit und versuchten den Debatten, die sie innerhalb ihrer Abteilung führten, ein öffentliches Forum zu geben. Eine schriftliche Stellungnahme zu diesem Brief erhielten sie allerdings nicht. Stattdessen versuchte die Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft die peinliche Angelegenheit 109 mit einem Gespräch zu klären, das keine schriftlichen Spuren hinterlassen würde. Sie antworteten: „Wir haben Ihre Eingabe erhalten. Zur Rücksprache wird Sie ein Funktionär unserer Freundschaftsgesellschaft aufsuchen.“ Die Stellungnahme der Konstrukteure zeigt klar Konfliktbereitschaft und geht über die Verhaltensweisen der Fügsamkeit und „der Delegation politischer Aktion an ‚Befugte‘“ hinaus, die Hanke (zitiert in Meuschel 1992:310) als typisch für die DDR-Gesellschaft der achtziger Jahre ansah. Dennoch verlief diese Initiative im Sande und wurde wie wahrscheinlich viele andere in dieser Zeit durch den bürokratischen Mechanismus abgefedert, der Standardantworten für subversive Anfragen bereithielt. Erst im Laufe des Jahres 1989 trat die DDR-Gesellschaft in eine Phase der offenen Konfrontation ein, die für kritische Parteigenossen eine klare Stellungnahme unumgänglich machte. Für den Konstrukteur und Kampfgruppenmitglied Kater war dieser Moment gekommen, als die Mitglieder der betrieblichen Kampfgruppe im Laufe des Jahres 1989 mehrfach für den Einsatz gegen unbewaffnete Menschenmassen trainiert wurden: „[Der Kampfgruppeneinsatz war eigentlich] so ein strategisch militärisches Planungsspiel. Wenn die Armee eine Front gehabt hätte, und wenn der militärische Gegner im Hinterland Agenten eingesetzt hätte, dann sollte die Kampfgruppe den Gebäudeschutz übernehmen. Es gab da so sechs bis acht Ausbildungen im Jahr, und alle zwei Jahre war dann eben eine Ausbildung drin, die nannte sich so sinngemäß ‚Barrieren und Stangen auf Straßen und Plätzen’. Trainiert wurde, daß eine Menschenmenge da ist, der sich die Kampfgruppe entgegen stellen sollte. '89 haben wir dann plötzlich in diesem einen Ausbildungsjahr dreimal so was gemacht. Da haben sich natürlich plötzlich viele gefragt: ‚Na wozu sind wir denn eigentlich da? Sind wir dazu da, irgend einen Angriff von außen abzuwehren oder sind wir eigentlich dazu da, um gegen die eigene Bevölkerung anzutreten?‘ Da gab es dann sehr große Diskussionen drum, und das war auch einer der Gründe, warum ich gesagt habe: ‚Ich kann da nicht mehr mitmachen, sonst stehe ich plötzlich vor einer Situation, wo ich der eigenen Bevölkerung mit der Maschinenpistole gegenüberstehe.‘ Da hab ich gesagt: ‚Nee, das mach ich nicht.‘“ (Kater, Konstruktion, STANEX, 25.4.1991) Seine Bedenken waren nicht unbegründet, denn in Leipzig wurden am 9. Oktober 1989 Betriebskampfgruppen, allerdings ohne Waffen, gegen Demonstranten eingesetzt. Die Arbeiter der Leipziger Kirow Werke fanden sich auf beiden Seiten der Barrikade wieder (Hofmann 1995:183-184). Erst als Kater Gefahr lief, die Ideen und Interessen der Partei mit Waffengewalt gegen die Bevölkerung verteidigen zu müssen, trat er kurz vor dem Fall der Mauer aus der SED aus. Selbst zu diesem späten Zeitpunkt war ihm kein ehrenvoller Abschied aus der 110 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Partei vergönnt, sondern er wurde noch im Nachhinein aus der Partei ausgeschlossen. Trotz ihrer Intensität blieben die Debatten in der Konstruktionsabteilung und in der Betriebsparteiorganisation „versteckte Diskurse“, die nicht nach außen drangen. Selbst die kritischen Mitglieder identifizierten sich mit der Partei und meinten, nur aus der Partei heraus in der „Gesellschaft etwas bewirken zu können“ und nur innerhalb der Partei kritisch sein zu dürfen. Indem sie die Kritik nicht aus dem inneren Kreis dringen ließen, erhielten sie auf der gesellschaftlichen Ebene den Anspruch der Partei auf absolute Wahrheit aufrecht, an dem sie als Mitglieder auch Anteil hatten. Entscheidungen wie der Austritt aus der Partei wurden nicht kollektiv vollzogen, sondern blieben Individuen überlassen. Die Reformer oder Gorbachowisten spalteten sich nicht von der Mutterpartei ab oder traten mit einem alternativen Gesellschaftsprogramm an die Öffentlichkeit. Die versteckten Diskussionen innerhalb der Partei hatten deshalb keine Konsequenzen für die einschneidenden Veränderungen in der DDR, die schließlich losbrachen, als große Teile der Gesellschaft begannen, sich selbst um ihre Belange zu kümmern (Meuschel 1992:309). Die Rolle der Partei im Betrieb und damit auch die Kontrolle, die die Politik über die Wirtschaft der DDR ausübte, wurde nach dem Fall der Mauer von den westdeutschen Reformern der Planwirtschaft übersehen und als ideologischer Ballast abgetan. Die Direktoren der volkseigenen Betriebe, mit denen verhandelt wurde, waren entweder als Pragmatiker geschätzt oder wurden als fachlich unfähig abgetan. In den Darstellungen der Beschäftigten von den Machtbeziehungen im volkseigenen Betrieb schwang hingegen immer auch eine Abrechnung mit der politischen Bevormundung mit, die sie an ihrem Arbeitsplatz erduldet hatten. Die politische Rolle, die die Leiter in der Planwirtschaft gespielt hatten, disqualifizierte sie in den Augen der meisten Beschäftigten für eine ökonomische Rolle in der Marktwirtschaft. Als im Herbst 1990 in allen drei Betrieben die alten Direktoren von der Treuhand oder dem westlichen Aufkäufer als Manager bestätigt wurden, geschah dies gegen den ausdrücklichen Wunsch vieler Beschäftigter. Dies hatte auch Auswirkungen auf meine Befragungen im Betrieb. Zahlreiche Beschäftigten betonten nun, daß sie mir „nichts“ oder „nicht alles“ über die politische Rolle ihrer Chefs in der Vergangenheit sagen könnten, da diese ja immer noch an Ort und Stelle wären und sie befürchten müßten, durch eine allzu offene Auskunft ihren Arbeitsplatz aufs Spiel zu setzen. 111 TEIL II DIE WENDE 112 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 113 In den letzten Jahren der DDR-Herrschaft waren, wie die Debatten in der Parteigruppe von STANEX zeigten, die Entwicklungen in den Nachbarländern genau registriert worden. Sie wurden nicht öffentlich diskutiert, aber boten im privaten Kreis und auf der Arbeit Anlaß zu Streitgesprächen. Besonders die Gorbachowschen Reformen in der Sowjetunion wurden heftig diskutiert. Die Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft erhielt in allen drei Betrieben neuen Zulauf, während die SED beim Umtausch der Parteibücher 1989 zahlreiche Mitglieder verlor, darunter im September 1989 auch Veit Kater. Bis zum Herbst 1989 blieb zwar offener politischer Widerstand aus, aber es fand ein spürbarer Rückzug aus dem organisierten „gesellschaftlichen“ Leben statt. Das „Reisen-können“ nahm einen großen Platz ein in den Gesprächen im Betrieb. Das Recht, sein Land zu verlassen, ist, wie John Locke es formulierte, ein Recht von besonderer Bedeutung, denn nur wenn es wahrgenommen werden kann, beruht die Zustimmung zu einem Regime oder System auf einer echten Wahl (zitiert in Lukes 1990:30). Eine abgelehnte Reise in den Westen war für einige meiner Gesprächspartner der Auslöser dafür, alle Funktionen niederzulegen, die als politische Unterstützung des SED-Regimes verstanden werden konnten. Weil er zu einem „runden“ Geburtstag einer seiner Verwandten nicht nach West Berlin fahren durfte, gab der Ingenieur Born 1988 seine Funktion als Vertrauensmann im Betrieb auf, trat aus der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft aus, verließ die Kammer für Technik und weigerte sich von nun an in der Hausgemeinschaftsleitung ehrenamtlich mitzuwirken. In seiner schriftlichen Begründung für den Austritt schrieb er, wenn man ihm nicht das Vertrauen entgegenbrächte, daß er von einer Westreise zurückkehren werde, könne er auch solche ehrenamtlichen Posten nicht mehr bekleiden. Andere Kollegen entwickelten einen zunehmend kritischen Diskurs dem Staat gegenüber. Wie Fröhlich berichtete, standen kurz vor der Wende auf den VertrauensleuteVollversammlungen Mitglieder auf und beschwerten sich, daß sie in diesem 114 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Land nur „im eigenen Saft schmoren“ und nichts werden können, weil sie nicht wissen sollten, „was in der Welt getan wird“ (Fröhlich Facharbeiter, STANEX, 16.6.1991 ). Vierzig Jahre lang war die gesellschaftliche Realität aus der Isolation der DDR-Gesellschaft heraus interpretiert, verteidigt oder kritisiert worden. Die normativen Prinzipien, auf die sich die Kontrahenten in den drei Betrieben bei den innerbetrieblichen Auseinandersetzungen und ideologischen Kämpfen im Herbst 1989 stützten, waren Produkt der Planwirtschaft und der real sozialistischen Gesellschaftsordnung. Sie waren vielfältig, hoch moralisch und vor allem kaum auf konkrete Handlungsstrategien ausgerichtet. Solange die Kontroversen privat blieben, waren die Möglichkeiten zu realen Veränderungen gering. Erst die im Sommer 1989 plötzlich verfügbaren Möglichkeiten der Abwanderung riefen Gefühle der Ermächtigung in Menschen hervor, die nun auch andere Optionen zu erwägen begannen, darunter die Möglichkeit, auf einen verabscheuenswürdigen Zustand nicht mit Fortziehen zu reagieren, sondern mit einem direkten Versuch, die Situation zu verändern – durch Widerspruch (Hirschman 1992:344). Die im Herbst 1989 häufig verkündete Losung: „Wir bleiben hier!“ wurde zur ambivalenten aber doch effektiven Drohung an die Autoritäten der DDR, daß das schweigende Hinnehmen der gesellschaftlichen Bedingungen nun beendet war. Eine kurze Zeit lang im Herbst 1989 wurde die Gewerkschaft mit ihrem Vorsitzenden Harry Tisch zum Hoffnungsträger, weil sie als einzige eine alternative Kraft zur sozialistischen Einheitspartei darzustellen schien. Am 20. Oktober 1989 schrieben die Vertrauensmänner und Abteilungsgewerkschaftsleiter des Betriebsteils Montageautomatisierung von STANEX einen Brief an Harry Tisch um ihre Unterstützung für einen offenen Brief zum Ausdruck zu bringen, den die Gewerkschaftsmitglieder von Bergmann-Borsig am 29.9. 1989 an den Gewerkschaftsvorsitzenden gerichtet hatten. Die Gewerkschaftsmitglieder forderten eine offene Berichterstattung über die Ausreiseströme der DDR-Bürger gen Westen und eine Diskussion der wahren Gründe, die zu ihrem Weggang geführt hatten. Ohne den Sozialismus als Gesellschaftsideal in Frage zu stellen, verlangten sie: „Wir müssen den Menschen neue Perspektiven bieten, die es ermöglichen, das bisher Erreichte auf der Basis wirklicher individueller Einflußnahme weiterzuentwickeln.“ Knapp zwei Wochen später mußte ihr „Hoffnungsträger“ Tisch vom Amt des FDGB-Vorsitzenden zurücktreten und wurde einen Monat später wegen Amtsmißbrauchs angeklagt. Als die Mauer fiel, brach nicht nur das alte Regime zusammen, sondern auch die regimekritischen Diskurse verloren rasch an Orientierungskraft. Die meisten 115 Gesprächspartner in den Betrieben betonten, daß sie 1989 nicht den „Sozialismus“ als Gesellschaftsideal und moralische Ordnung abschaffen wollten, sondern sich gegen die politische und gesellschaftliche Bevormundung wehrten, die damit einherging, sowie gegen die Irrationalitäten einer zentral geplanten Wirtschaft. Der Ruf nach individueller Freizügigkeit, freier Meinungsäußerung und Demokratie wurde von der raschen politischen und ökonomischen Entwicklung überholt, die von keiner organisierten revolutionären Gegenmacht getragen, sondern von der alten Parteielite verwaltet wurde. Es gab also „keine Gegenelite, keine Theorie, keine Organisation, keine Bewegung, keine Vorstellung oder Projekt nach dessen Visionen, Vorgaben oder Vorschriften der Zusammenbruch erfolgte“ (Elster/Offe u.a. 1998:11). Elster und Offe nennen den Prozeß der Auflösung des alten Systems deshalb seltsam „subjektlos“ und den der Neukonstitution „vegetativ“, also höchst passiv (1998:15), weil sie keine gesellschaftlichen Akteure – und vor allem keine gesellschaftliche Elite – ausmachen konnten, die zweckgerichtet und absichtsvoll den Prozeß der Veränderung vorwärtsgetrieben hätten. Während in den meisten postsozialistischen Gesellschaften die Machtbeziehungen nach dem Zusammenbruch institutionell unklar bleiben, füllten die westdeutschen Institutionen die Leere, die der Zusammenbruch gelassen hatte. Durch die westdeutschen Gesetze und Institutionen erhielten die Mitglieder der ostdeutschen Gesellschaft einen neuen rechtlichen Rahmen, der zwar auf der einen Seite der Willkür Grenzen setzte, aber auf der anderen Seite nicht auf ihrer eigenen Initiative gegründet war. Der Prozeß des Institutionentransfers von West nach Ost wird manchmal als „Kolonisation“ bezeichnet (Stark/Bruszt 1998:175), was dem trotz Einschränkungen demokratischen Charakter der deutschen Vereinigung nicht gerecht wird und auf eine Banalisierung der gewaltsamen Unterwerfung und Ausbeutung großer Teile der Welt durch koloniale Mächte hinausläuft. Die westdeutsche Gesellschaft, für die DDR-Bürger nicht mehr nur Idealbild oder abschreckender Gegenpol, nahm den Platz einer gesellschaftlichen Alternative ein und konstituierte sich als dominantes und dominierendes Modell. Ostdeutschland sah seine Zukunft von westdeutschen Politikern gestaltet, die unbegrenztes Vertrauen in die umfassende Einführung des Marktprinzips setzten, die auf den starken bundesdeutschen Staat vertrauten, jedoch der ostdeutschen Gesellschaft höchst skeptisch gegenüberstanden (Stark/Bruszt 1998:102). Auch die von der Modrow-Regierung im Frühling 1990 ins Leben gerufene Privatisierungsanstalt Treuhand setzte zunächst darauf, die Privatisierung dem Markt zu überlassen und die ostdeutschen Betriebe zum Verkauf anzubieten, ohne sie zuvor umstrukturiert zu haben. Allerdings floß 1990 nicht Investitionskapital von 116 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 westdeutschen Firmen nach Ostdeutschland, sondern Waren, die rasch die ostdeutschen Produkte verdrängten und zu einem „Marktschock“ (Stark/Bruszt 1998:138) führten. Den ostdeutschen Betrieben fehlte Managementerfahrung, Marktzugang, neue Technologien und sie verloren außerdem durch steigende Löhne an Wettbewerbsfähigkeit. Zwischen 1989 und 1992 gingen dadurch 4,5 Millionen Arbeitsplätze verloren. Vom ersten Halbjahr 1990 bis zum ersten Halbjahr 1991 sank die industrielle Produktion um die Hälfte, um später noch einmal auf ein Drittel des Standes von 1989 zu fallen. Erst 1991 begann die Treuhand ihre Praxis zu ändern und für all das einzustehen, was „die unsichtbare Hand des Marktes“ nicht vollbringen konnte: Arbeitsplätze zu sichern, Desindustrialisierung zu verhindern, die Überlebensfähigkeit privatisierter Betriebe zu sichern und so weiter. Die aktive wirtschaftliche Restrukturierung Ostdeutschlands und die Transferzahlungen aus den Sozialversicherungen kosteten die Bundesbürger astronomische Summen. Bruszt und Stark sprechen von Zahlungen in zwölffacher Höhe des Marshallplans (1998:140). Viele westdeutsche Bürger empfanden die wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen, vor allem Staatsverschuldung und Steuererhöhung, als Belastung und als unfreiwilliges Tribut an die Vereinigung. Außerdem war das Verhältnis von Ost- und Westdeutschen, und besonders von Ost- und Westberlinern durch familiäre Bindungen geprägt, die den politischen und wirtschaftlichen Beziehungen eine besondere persönlich emotionale Dimension gaben, die die Menschen in ihrer Privatheit berührte und aus der sich oft tiefgreifende Konsequenzen für ihr Familienleben ergaben. Die Beschäftigten in den drei Betrieben verfolgten in diesem Prozeß der Transformation individuelle Strategien und unterschiedliche moralische und ökonomische Ziele. Jeder einzelne berief sich auf sein in der Planwirtschaft erworbenes Wissen, seine formellen und informellen Beziehungen zu Kollegen, Vorgesetzten und Kunden, seine Erinnerungen an vergangene Ungerechtigkeiten und Loyalitäten. Allerdings blieben die Menschen nicht die gleichen, während die instititutionelle Ordnung um sie herum zusammenbrach, sondern sie veränderten sich, experimentierten oder blockierten und trugen maßgeblich zu der Gesellschaft bei, die dabei entstand. Allerdings entsprach das Ergebnis nicht unbedingt den ursprünglichen Intentionen. Die „Wende“ in den drei Betrieben ist auch die Geschichte der verfehlten Absichten. Wieso das so war, werde ich in den beiden Betrieben TAGHELL und STANEX, die ohne westliche Käuferfirma versuchten, in der Marktwirtschaft zu bestehen, nachvollziehen. Dabei interessiert mich vor allem der Blick auf die Marktwirtschaft, den die Beschäftigten 117 dabei entwickelten, ihre Vorstellungen von Recht und Unrecht und die Instrumentalisierung der neuen an Geld und Besitz gekoppelten Machtbeziehungen. 118 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 5. Privatisierung – Herrschaft und Besitz Schon wieder Belehrung (1992) Er liebt sie die Menschen die Allesfresser. Er kocht und sie löffeln es aus. Er macht ihnen klar, Keiner wär besser Und kommt sehr oft durch das Haus. Die Menschen sind schwach und Denken tut weh. Sie sind froh, daß er 's für sie macht. Die Augen, die glänzen so leuchtend, oh jeh, Und tief im Kopf, da ist Nacht. Sie ackern, sie schuften, sie kämpfen für ihn. Er ruft und sie trotten ihm nach. Wenn die Menschen sich nicht dem Menschen entziehn, Liegt ihr Lebensfeld öde und brach. Such den Schalter der Erleuchtung in Dir. Mach Deinen Windungen Licht. Iß niemals Fertiggericht mit Bier, Sonst bleibst ein erbärmlicher Wicht. Horst Froberg, alias Fröhlich, Facharbeiter bei STANEX Wem soll der Betrieb gehören? Oder besser: Wer wird darüber verfügen? Vor dem Hintergrund dieser Fragen spielten sich von 1989 bis 1991 viele der Orientierungskämpfe in zwei der untersuchten Betriebe ab. Betriebsdirektoren und Beschäftigte konkurrierten um die Kontrolle über den Betrieb. Während sich die Direktoren bemühten, exklusive Besitzrechte zu erwerben, erhoben die Beschäftigten keine individuellen exklusiven Besitzansprüche, sondern wollten einbezogen werden in die Umstrukturierungen und wirtschaftlichen und personellen Entscheidungen im Betrieb. Es schien ihnen 1990, nach dem Fall der Mauer, selbstverständlich, daß sie bei den Veränderungen in „ihrem“ Betrieb eine wichtige Rolle zu spielen hatten. Die Auseinandersetzungen, die ich über einen Zeitraum von zwei Jahren beobachten konnte, kontrastiere ich im vierten Teil mit der Privatisierung des dritten Betriebs „von außen“ durch einen multinationalen Konzern. Die Integration des dritten Betriebs in einen weltweit operierenden 119 Konzern verlief anders und war von globalen „Corporate-Management“Strategien und dem Einfluß eines starken Betriebsrates geprägt. Das Privatisierungskonzept der Treuhandanstalt sah weder die Beteiligung der Belegschaft am Betriebsbesitz vor, noch ihre Mitbestimmung im Privatisierungsprozeß. Ihr Ziel war die eindeutige Zuordnung des gesamten Produktivbesitzes in der DDR zu privaten juristischen Personen. Es entsprach der herrschenden Vorstellung, daß damit der Grundstein gelegt würde für die gesunde Entwicklung einer Gesellschaft, gegründet auf bürgerliche und politische Freiheiten und wirtschaftliche Leistungskraft. Denn Privatbesitz sei Kollektivbesitz überlegen, weil er die Besitzer dazu veranlasste, sich weit intensiver und sorgfältiger um ihren Besitz zu kümmern, als sie es bei kollektivem Besitz tun würden (Hann 1998:14 und 17). Bei TAGHELL und STANEX wollten die Direktoren Besitzer der Betriebe werden, um damit die exklusive Kontrolle über die Betriebsentscheidungen, den Zugang zu den Arbeitsmitteln und zu den außerbetrieblichen Instanzen wie der Treuhand zu haben. Das liberale Verständnis von Besitz gibt dem Besitzer das Recht, andere vom Genuß oder Gebrauch eines materiellen oder immateriellen Gegenstandes auszuschließen, und, auf den Betrieb übertragen, darüber zu entscheiden, wer dazu gehört und wer nicht. Im Prozeß der deutschen Vereinigung stellt das Recht auf Zugang zum Betrieb und auf Kontrolle über den Zugang anderer eines der entscheidenden politischen Probleme demokratischer Kontrolle dar (Hann 1998:46). Sozialanthropologen sind meist nicht der gängigen Praxis gefolgt, Besitz als ein Ding oder als die Beziehung einer Person zu einem Ding zu betrachten, sondern sie bezeichnen Besitz als „Beziehung zwischen Personen in Bezug auf Dinge“ (Verdery 1998: 161, Hann 1998: 4). Diese Sichtweise erlaubt es, die Privatisierung im Betrieb als einen Prozeß zu verstehen, in dem die Machtbeziehungen neu verhandelt werden. Besitz wird in diesem Prozeß zu einem „Bündel von Macht“ (Verdery 1998:161). Die Direktoren erwarben mit den beiden Betrieben wirtschaftliche Einheiten von unbestimmtem monetären Wert, ja möglicherweise gehörten sie 1991 bereits zu den Betrieben mit „negativem Wert“, die die Treuhand zu privatisieren und am Leben zu erhalten versuchte (Stark/Bruszt 1998:139). Entscheidender als der Verkehrswert war die soziale Position des Besitzers, die Machtbefugnisse über andere und einen legalen Anspruch auf die Unterstützung verlieh, die die Treuhand und die Bundesregierung neuen Besitzern zukommen ließ. Der private exklusive Besitz zementierte ein ungeheures Machtungleichgewicht, das in den formalen hierarchischen Strukturen der Plan- 120 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 wirtschaft bereits angelegt war, das aber erst mit der Privatisierung effektiv werden konnte. Um allerdings die Konsequenzen einer solchen exklusiven Zuordnung für die Menschen im Betrieb zu verstehen, muß die Einbettung der formalen legalen Bestimmungen in den Kontext der Betriebspraxis, der Wert- und Moralvorstellungen und der Machtbeziehungen betrachtet werden. Was sie zeigen, ist eine unlösbare Verstrickung von persönlichen, politischen, legalen und wirtschaftlichen Faktoren in der Privatisierung, die die einfachen Prämissen der liberalen Marktideologie ad absurdum führt. 5.1. Versteckte Kritik wird laut Auf den ersten Betriebsversammlungen nach dem Fall der Mauer mußten sich die Leiter Fragen nach ihrer Befähigung, den Betrieb zu führen, gefallen lassen. Bei TAGHELL fand Ende Januar 1990 auf Initiative der Arbeiter und des Meisters der Oberflächenbearbeitung eine Aussprache mit dem Betriebsdirektor, dem Parteisekretär, dem BGL Vorsitzenden und zwei Direktoren der Leitung statt. Wie aus dem Protokoll hervorgeht, das vom Meister der Oberflächenbehandlung Kaiser am 26.1.1990 verfaßt wurde, stellten die zehn Arbeiter die Leitung über Fragen der technischen und finanziellen Betriebsführung zur Rede. Sie wollten wissen, ob ihr Betrieb rentabel arbeite, warum so viele Leuchten schon vor dem Fall der Mauer auf Halde produziert worden waren, wie der Plan von 1990 erfüllt werden sollte und ob der Betrieb aus dem Kombinat ausscheiden könne. Zwei Sichtweisen standen sich auf der Versammlung unversöhnlich gegenüber. Zum einen die des Betriebsdirektors Fechner, der versicherte, der Betrieb würde rentabel arbeiten und den Plan erfüllen. Zum anderen die des alten Meisters Kaiser, der noch auf Arbeitserfahrungen aus der Zeit vor der Kollektivierung zurückgreifen konnten, und der nun feststellte, daß der Plan erst erfüllt wäre, wenn die Ware auch abgesetzt würde (siehe vollständiges Protokoll im Anhang1). Während der Direktor noch mit positiven Bilanzen und erfüllten Plänen argumentierte, forderte der Meister eine kritische Betrachtung der Marktchancen der Produkte ein. Er drückte sich zwar noch in Begriffen der Planerfüllung aus, aber inhaltlich zielte seine Kritik schon ganz auf die neue Zeit. Ähnlich reagierten die Beschäftigten von STANEX. Dort versuchte im Frühjahr 1990 eine kleine Gruppe von Facharbeitern und Konstrukteuren des Bereichs Montageautomatisierung, den Bereichsdirektor Dr. Schöpf mit Hilfe des 121 Direktors des Gesamtbetriebes Mayer abzulösen und den von ihnen als erfolgreich eingeschätzten Bereich aus dem unrentablen Gesamtbetrieb zu „entflechten“, das heißt herauszulösen. Der Facharbeiter Walter Schuster beschrieb mir ihre Versuche: „Es gab so eine kleine Verschwörerclique. ... Wir haben uns hingestellt und haben gesagt: ‚Na gut, dann lösen wir den Doktor (das heißt den Bereichsdirektor; B.M.) eben ab!‘.... Drüben auf der Gesamtbetriebsversammlung haben wir mit Mayer (dem Gesamtbetriebsdirektor; B.M.) drüber diskutiert. Mayer hat gesagt: ‚Was ihr wollt, sind Phantastereien, das sind kapitalistische Spinnereien.‘“ (Schuster, Facharbeiter, STANEX, 22.4.1991) Gesamtbetriebsdirektor Mayer, der Sympathien bei der Belegschaft genoß und mit einigen Konstrukteuren des Bereichs sogar befreundet gewesen war, bevor er der Partei beitrat und Karriere machte, stellte sich hinter Bereichsdirektor Schöpf und stimmte einer Ablösung nicht zu. Er versuchte den großen und weitgehend zukunftslosen Gesamtbetrieb zusammenzuhalten und, wie ein Arbeiter meinte, auf staatliche Unterstützung zu setzen: „November/Dezember, Januar/Februar! Da gingen also die ersten Aufwalldiskussionen rund.. Es war also so, daß die Vorschläge schon gekommen sind. Aber die Grundorientierung von unserer Betriebsleitung her war noch eine sozialistische! Das hieß also, die ‚luftsche Linie‘ (das heißt entsprechend der Politik von Christa Luft, die Wirtschaftsministerin der ModrowRegierung war; B.M.), also der Betrieb sollte als Gesamtbetrieb staatlich gestützt weiterlaufen! Und da haben wir schon gesagt: Na sowas wird nicht laufen, so was gibt es im Kapitalismus, auch in der sozialen Marktwirtschaft, wie sie sich ja fälschlicherweise nennt, nicht! Du kannst nur eine soziale Sicherung der Arbeitnehmer in einer Marktwirtschaft vornehmen, wenn sie reich genug ist. Marktwirtschaft heißt doch, der Bessere, der Stärkere gewinnt den Wettstreit.“ (Schuster, Facharbeiter, STANEX, 22.4. 1991) Auch bei STANEX schien die Belegschaft stärker als die Leitung darauf vorbereitet, in einer konkurrenzbetonten Marktwirtschaft zu bestehen. Allerdings entsprach ihre Vorstellung von der fairen Konkurrenz nicht wirklich der marktwirtschaftlichen Praxis (siehe Kapitel 6). Die Politik der Direktoren blieb vom Weltbild der Planwirtschaft geprägt und reaktiv. Sie warteten auf Anweisungen von oben, unter der Modrow-Regierung vom Wirtschaftsministerium und später von der Treuhand. Die Stoßrichtung der Proteste der Belegschaften von TAGHELL und STANEX spiegelt den Charakter der Leitungen vor dem Fall der Mauer wider. Der Leiter von TAGHELL, der keine ideologische Kontrolle über den Betrieb ausgeübt und sogar politischen Druck von der Belegschaft ferngehalten hatte, aber sich nach Meinung der Beschäftigten persönlich bereichert hatte, wurde auf der praktischen Ebene der Betriebsführung in Frage gestellt. Der Leiter von 122 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 STANEX hingegen sollte wegen seines „stalinistischen“ Führungsstils abgelöst werden. Die Beschäftigten erklärten mir im Nachhinein, daß sie es als selbstverständlich angesehen hatten, daß das Ende der Planwirtschaft auch den Fall der verantwortlichen Leiter mit sich bringen würde und daß den Belegschaftsvertretungen eine weit wichtigere Rolle als bisher in der Führung des Betriebes zufallen würde. Die Leiter selbst waren von dieser Entwicklung so verunsichert, daß sie es vorzogen, den Auseinandersetzungen mit der Belegschaft aus dem Weg zu gehen: Der Bereichsdirektor von STANEX ließ sich im Frühjahr 1990, als die wichtigsten Entscheidungen getroffen werden mußten, für einige Wochen krankschreiben, der Direktor von TAGHELL betrat die Werkstatt nicht mehr. Auf den Belegschaftsversammlungen zwischen November 1989 und April 1990 wurden weder radikale Forderungen gestellt, noch wurden die wenigen Beschlüsse, die dort getroffen wurden, konsequent ausgeführt. Trotzdem blieben sie den Beteiligten – den Leitern und den Beschäftigten – auf Jahre hinaus in Erinnerung. Die Beschäftigten, die auf diesen Versammlungen das Wort gegen die Geschäftsleitung ergriffen, brachten zum ersten Mal Fragen vor, die sie sich zu Zeiten der Planwirtschaft nur hinter vorgehaltener Hand zugeflüstert hatten. Allein die Tatsache, daß sie aussprachen, was sie die ganze Zeit gedacht hatten, erfüllte sie mit Stolz und verunsicherte die Leiter zutiefst. Es erfüllte sie mit einem Gefühl der Erfüllung und Befriedigung, daß sie ihren verachteten Herren keine Zeichen der Untertänigkeit mehr entgegenbringen mußten (Scott 1990:208-209). Sogar die aktivsten Belegschaftsvertreter waren allerdings nicht bereit, die Rolle des Leiters zu übernehmen, da sie selbst auch kein Konzept für die Zukunft des Unternehmens entwickelt hatten. Facharbeiter Schuster zog drei Jahre später das Resümee: „Das war im Endeffekt so, daß die Jüngeren noch stärker in dieser Verharrungsphase geblieben sind, als die Älteren. Das hat mich total umgeworfen, daß die gesagt haben: ‚Nur ja nicht!‘ Es hat sich da keine Gruppe mit einem Alternativvorschlag gebildet. Denn es ging ja denjenigen, die was Neues wollten, nicht darum, gegen einzelne Personen vorzugehen und das auch politisch aufzuziehen. Das sollte einfach eine Ablösung sein, die besseres Arbeiten ermöglicht, nach unserer Auffassung, nach Auffassung einiger. Da sich keine Alternative ergeben hat, ist auch nicht gegen einzelne angegangen oder vorgegangen worden.“ (Schuster, Facharbeiter, STANEX, 20.2.1993) Die Ängste der Leiter vor einem Machtverlust standen daher in keinem Verhältnis zu der tatsächlichen Bereitschaft der Belegschaft, ihre Absetzung voranzutreiben. 123 5.2. Vom „volkseigenen“ zum privaten Besitz Die von der Modrow-Regierung eingerichtete Privatisierungsinstitution, die Treuhandanstalt, wurde zum Symbol für die Dominanz des Westens über den Osten und für den Niedergang der DDR-Wirtschaft, für die Übertragung vieler Eigentumsrechte auf westdeutsche Bürger und für die Entmündigung der Ostdeutschen durch arrogante westdeutsche Bürokraten. In der kritischen Phase der Privatisierung jedoch war die Treuhandanstalt für die Beschäftigten bei STANEX und TAGHELL wie eine letzte reglementierende Instanz, auf die sich immer wieder bezogen wurde. „Wir müßten zur Treuhand gehen“, hieß es immer wieder, wenn Mißmanagement im Betrieb aufgetreten war oder wenn die Beschäftigten den Direktor im Verdacht hatten, sich auf Betriebskosten zu bereichern. Den größten Einfluß auf die Machtbeziehungen im Betrieb übte die Treuhand 1990 aus, als sie die alten Direktoren der volkseigenen Betriebe als Geschäftsführer der neugegründeten GmbHs bestätigte. Sie gab ihnen damit die institutionelle Absegnung ihrer Machtposition und übertrug formal die Hierarchien des volkseigenen Betriebs auf die GmbHs. Die Treuhand agierte als Königsmacher in der Übergangsphase zur Privatisierung, als institutionalisierte Formen der Macht die nützlichste Ressource waren im Kampf zwischen Individuen und Gruppen um Macht und Prestige (Lenski 1986:249). Die Geschäftsführer konnten ihre Stellung nutzen, um von vorne herein eine einflußreiche Ausgangsposition im Wettkampf um Posten, Anteile am Betriebsvermögen und Löhne zu haben. 5.2.1. Der Traum vom schnellen Geld Die Privatisierung von TAGHELL zementierte und verstärkte Machtstrukturen, die schon vor der Wende vorhanden waren. Direktor Fechner hatte vor der Wende den Erfolg seines Unternehmens auf den Tausch von Messinglampen gegen Ersatzteile und Materialien und auf Beziehungen des „gegenseitigen FreudeSchenkens“ gegründet. Seine Abteilungsleiter hatten in den Betrieb gewechselt, weil dort „etwas zu holen“ war. Wie mir Kaiser und Saller berichteten, war mit Messingschrott gedealt worden, hatten Lampenladungen nachts den Hof verlassen. 124 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Die Politik, die Fechner nach der Wende verfolgte, als er begann, die Schwächen der staatlich gesteuerten und gestützten Privatisierungspolitik zu durchschauen, stand in dieser Tradition. Nur waren die Mechanismen der Kontrolle, die die soziale Marktwirtschaft vor allem in dieser Übergangsphase besaß, wesentlich weniger wirksam, als es die Kontrolle durch Plan und Partei zu Zeiten der Planwirtschaft gewesen war. Selbst der Betriebsrat hatte weniger Kontrollmöglichkeiten, als es die Konfliktkommission vor der Wende gehabt hatte. In den Jahren zwischen der Währungsreform vom 1. 7. 1990 und dem Konkurs der Firma TAGHELL am 1. 9. 1992 war der Betrieb Schauplatz von versteckten und offenen Machtkämpfen, Intrigen und Schiebereien. Weil die Witwe des früheren Eigentümers noch einen formalen Anteil von 2,4 Prozent an der Firma hielt, wurde der Fall TAGHELL von der Reprivatisierungsabteilung der Treuhand behandelt. Für den Ablauf und die Berechnung von Reprivatisierungsansprüchen waren in den Richtlinien des Einigungsvertrages andere Formeln vorgesehen als für den Verkauf von Volkseigentum an Privateigentümer. Der frühere Eigentümer wurde gemeinsam mit der Treuhand Gesellschafter der GmbH und konnte dann die Reprivatisierung beantragen, die in der Rückerstattung von Eigentum durch die Treuhand und außerdem in einer Entschädigung bestand. Im Gesellschaftsvertrag mit dem Anteilseigner Treuhand war vorgesehen, daß alle Entscheidungen nur einstimmig von den Gesellschaftern getroffen werden konnten und daß auch der Geschäftsführer nur einstimmig abrufbar war. Der Betriebsdirektor erkannte im Laufe des Jahres 1990, welche Vorteile sich für ihn aus einer Reprivatiserung ergeben würden, und er kaufte, ohne den Mitarbeitern der Firma etwas davon zu sagen, der Witwe des früheren Eigentümers ihren 2,4 prozentigen Geschäftsanteil für 5 100,- DM ab. Er wurde dadurch zum Gesellschafter und war nun ohne seine Zustimmung als Geschäftsführer nicht mehr abrufbar. Zum gleichen Zeitpunkt hatte sich eine Gruppe von Beschäftigten zusammengefunden, um den Betriebsdirektor abzuwählen. Die Abstimmung fand nicht mehr statt, denn die Verschwörer erfuhren in letzter Minute, daß Fechner zum Besitzer geworden war. Die Betriebsrätin, Frau Martens, erzählt: „Weil jemand ein gutes Ohr hatte….. Der hat uns dann gewarnt und gesagt: 'Macht das nicht. Ihr könnt ja auch gar nichts mehr machen. Frau Sanders hat alles dem Fechner übertragen.“ (Martens, Vertrieb TAGHELL, 30.7. 1991) Am 27. Januar 1992 gelang es Fechner, auch den Reprivatisierungsanspruch von Frau Sanders zu erwerben, der es ihm gestattete, die Rückübertragung der staatlichen Anteile auf die Firma bei der Treuhand zu beantragen und eine Wiedergutmachung für die Verschlechterung der Ertragslage des Betriebs seit der Ver125 staatlichung des Betriebs 1972 zu fordern. Fechner forderte 11,6 Millionen Mark. Die Treuhand schlug ihm daraufhin eine einvernehmliche Regelung und die Zahlung von 1,7 Millionen Mark vor, die er aber nicht akzeptierte. Er führte einen steten Kampf gegen den Betriebsrat, der sich im Herbst 1990, mit Frau Martens als Betriebsratsvorsitzende gegen die ersten Entlassungen wehrte. Als die Gewerkschaft begann, Schulungen für Betriebsräte einzurichten und sie über ihre Rechten aufzuklären, hatte der Betriebsrat von TAGHELL bereits seine besten Vertreter verloren und sich völlig vom Direktor abhängig gemacht. Vor der Betriebsratswahl im November 1990 sorgte Fechner mit einem Trick dafür, daß Frau Martens sich nicht mehr als Kandidatin aufstellen ließ. Er berief sie und ihre Kollegin, die Leiterin der Materialwirtschaft, Frau Gertz, in die Geschäftsleitung und setzte sie zwei Tage nach der Wahl wieder ab. Frau Martens berichtet: „Auf einer Sitzung oben beim Chef, da erfuhren wir denn, daß wir jetzt mit zur Betriebsleitung gehören. Ich hatte erst den Sinn gar nicht erfaßt. Vielleicht fühlte ich mich auch geschmeichelt in dem Moment ... kann schon sein ... bis ich dann mit meinem Mann zuhause darüber gesprochen habe und der dann sagte: ;Na, weißt Du, das ist ein Trick. Jetzt kannst Du Dich nicht mehr aufstellen lassen, und Du kannst auch nicht selbst mitwählen.‘ Damit war ich raus.“ (Martens, TAGHELL, 30.7.1991) Der neu gewählte Betriebsrat sah seine Rolle eher in der Vermittlung zwischen Betriebsdirektor und Personal. Frau Brandt, die neue Betriebsratsvorsitzende, wurde von Herrn Fechner auch zur Personalsachbearbeiterin und Nachfolgerin von Personalleiter Kabel gemacht. In dieser Doppelfunktion, die im sozialistischen Betrieb üblich gewesen war, war sie bei Personalgesprächen mit dem Betriebsdirektor anwesend, ohne allerdings genau zu wissen, in welcher ihrer beiden Funktionen. „So, dann weiß ich nicht, sitze ich als Betriebsrat da oder als Personalsachbearbeiterin. Die Listen bringe ich mit rein – die Unterlagen, um damit zu arbeiten. Dann kommt aber auch manchmal die Frage: ‚Was sagt denn der Betriebsrat dazu?‘ Ja. Und dann sage ich: ‚Ich kann hier bloß meine private Meinung äußern. Einen Beschluß kann bloß der gesamte Betriebsrat fassen.‘“ (Brandt, TAGHELL, 8.8.1991) Frau Brandt war froh, wenn sie über ihre Funktion als Personalsachbearbeiterin am Rande Informationen aufschnappte über geplante Entlassungen oder Anträge auf Abfindung. Über die Verhandlungen zwischen Treuhand und Betriebsdirektor und über seine Privatisierungsstrategien erfuhr sie nichts. Die Mitglieder des Betriebsrates von TAGHELL rechtfertigten ihr Zögern, zur Treuhand zu gehen, um sich dort direkt zu informieren oder zu beschweren, damit, daß sie es nicht 126 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 schaffen würden, das Haus zu verlassen, ohne daß die Treuhandmitarbeiter vorab informiert würden durch die alten Seilschaften. „Aber sehen Sie mal, in der Treuhand sind alle seine alten Kumpel vom Wirtschaftsrat des Bezirks. Die kommen vom Wirtschaftsrat des Bezirks, die kommen aus der Plankommission, die kommen vom Außenhandel. Mit denen er jahrelang Geschäfte gemacht hat, die sitzen sogar hier... Er hat selber mal in einer Sitzung gesagt, die kennt er ja alle, das sind ja alles seine... vom WDB (Wirtschaftsrat des Bezirks; B.M.).“ (Martens, Vertrieb, TAGHELL, 30.7.1991) Die Treuhand genoß in den Augen der Beschäftigten den Ruf, die Erbin der planwirtschaftlichen Kontrollorgane zu sein, in der sich die Parteigenossen Direktoren der Betriebe und Kombinate gegenseitig schützten. Der „kleine Mann“ fühlte sich rechtlos, weil er seine Rechte nicht kannte und um seinen Arbeitsplatz bangen mußte. Der Betriebsdirektor nutzte die Isolation seines Betriebsrates, um sich den Immobilienbesitz der Firma anzueignen und den Betrieb planmäßig zugrunde zu richten. Trotz neuer Aufträge des schwedischen Großkunden war die wirtschaftliche Lage daher ab 1991 katastrophal. Erst im Juli 1992 übernahm ein neuer westdeutscher Mitarbeiter bei der Treuhand den Fall TAGHELL und versuchte den Privatanteil von 2,4%, der den Verkauf der Firma blockierte, von Fechner zu erhalten. Erst als er ihm mit einer Anzeige wegen Konkursverschleppung drohte, war Fechner bereit, seinen Anteil am 28.8.1992 aufzugeben. Als Ausgleich bekam er bis Ende 1993 ein Anstellungsverhältnis bei der Liquidationsfirma zugesichert oder die Auszahlung des entsprechenden Gehaltes sowie 15% der Erlöse aus der Liquidation der Bestände und Maschinen. Obwohl Fechner in der Gesellschafterversammlung vom 28.8.1992 als Geschäftsführer abgesetzt und ein Liquidator eingesetzt worden war, wurde dieser bis Ende September nicht tätig. Die Mitarbeiter in der Verwaltung wußten von nichts, aber sie bekamen den Eindruck, daß zum 31. August etwas passiert sein mußte, weil viele Vorgänge zum 31. August abgeschlossen werden sollten. Im September 1992 erklärte Fechner dann düster, er wäre jetzt ein Arbeitnehmer wie alle anderen. In den verschiedenen Büros wurden zahllose Briefe geschrieben und auf August zurückdatiert. Die Briefe waren so verstreut, daß sich die einzelnen Schreibkräfte keinen Reim auf den Gesamtvorgang machen konnten. Fechner verkaufte in dieser Zeit die Autos für eine Mark an seinen einstigen Mitarbeiter Bürger und übereignete sich die Computeranlage, die 25000,- DM gekostet hatte. Die Verwaltungsangestellten behaupteten sogar, daß Lastwagen voller Lampen mit unbekanntem Ziel den Hof verlassen hätten. Wie in einem Puzzle 127 trugen die Mitarbeiter die Elemente von Fechners Betriebspolitik zusammen und trauten sich endlich Ende September eine Abordnung zur Treuhand zu schicken, wo sie erfuhren, daß der Betrieb bereits zum 3. September 1992 liquidiert worden war. Durch die Treuhand verständigt, erschien der Liquidator. Für den von Fechner angerichteten Schaden war er nun verantwortlich und mußte dafür haften. Mit Staatsanwaltschaft und Polizei kam er Anfang Oktober in den Betrieb und durchsuchte alles. Am 6. Oktober erschienen der Mitarbeiter der Treuhand und die Liquidationsfirma mit fünf Rechtsanwälten im Betrieb. In Anwesenheit der Rechtsanwälte wurde Fechner unter anderem vorgeworfen 260 000,- DM aus der Betriebskasse genommen zu haben und die Autos für eine Mark verkauft zu haben. Fechner berief sich auf die Entlastung als Geschäftsführer, die die Treuhand zum 28.August 1992 unterschrieben hatte, und gab vor, all diese Vorgänge wären schon im August passiert. Während sich der Liquidator mit seinen Anwälten besprach, fuhr Fechner das Auto vom Hof, das er Bürger für eine Mark verkauft hatte. Der Mitarbeiter der Treuhand versuchte ihm zu erklären, daß die Entlastung nur im Rahmen der kaufmännischen Sorgfaltspflicht galt, die er als Geschäftsführer einhalten mußte. Als er sich in der Folge immer noch keiner Schuld bewußt war, zog der Liquidator eine Straf- und Zivilklage aus der Tasche und erteilte Fechner Hausverbot. Die Firma TAGHELL wurde zum 31. 12. 1992 aufgelöst. Das Drama um die Privatisierung von TAGHELL erscheint extrem, ist aber nicht ungewöhnlich für die Phase der beschleunigten Privatisierung der ostdeutschen Wirtschaft zwischen 1990 und 1992. Betriebsdirektor Fechner ist ein kleiner Fisch im Ozean der kleinen und großen Wirtschaftsskandale, die die Bundesrepublik nach der Wende erschütterten. Die Geschichte von TAGHELL interessiert mich hier auch nicht als Kriminalfall, sondern der Mechanismen von Macht und Ohnmacht wegen, die dabei zutage treten. Weil die Beschäftigten nicht abschätzen konnten, nach welchen Regeln und Gesetzen die neuen gesellschaftlichen und politischen Institutionen funktionierten und warum die Funktionäre der Planwirtschaft dort den Übergang in die Marktwirtschaft verwalteten, mißtrauten sie den Institutionen, die die Vereinigung mit sich brachte, – der Treuhand, den Gewerkschaften. Sie zögerten, die Rechte auf Kontrolle und Mitbestimmung, die sie nun auf dem Papier besaßen, auch tatsächlich einzufordern, denn letztlich erschien ihnen die Treuhandanstalt als unpersönlich, gefährlich, mysteriös. Der Betriebsdirektor hingegen konnte sich auf ein funktionierendes Netzwerk von lang etablierten Beziehungen stützen, die zu Zeiten der Planwirtschaft entstanden waren, um hinderliche Regeln 128 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 und Gesetze zu umgehen. Er erkannte schnell die Schwachstellen der Privatisierungsgesetze und nutzte sie zu seinem Vorteil. In seiner Maßlosigkeit übersah er allerdings, daß die Treuhandanstalt, je mehr sie sich institutionalisierte, ihre gesetzlichen Kontrollmechanismen verfeinerte und schließlich auch die Netzwerke schwächte, auf die Fechner sich gestützt hatte. An seiner Maßlosigkeit scheiterte schließlich die Strategie, auf die er gesetzt hatte. 5.2.2. Die Enklave in der marktwirtschaftlichen Welt Die Beschäftigten des Bereichs Montageautomatisierung von STANEX diskutierten schon bei meinem ersten Besuch im Juni 1990 darüber, sich selbstständig zu machen und sich mit ihrem Bereich aus dem Gesamtbetrieb STANEX auszugründen. Sie hatten zwar nicht die Vorstellung, daß der volkseigene Betrieb ihnen nun als Privateigentum zustand, aber sie konnten sich auch keinen anderen rechtmäßigen Eigentümer vorstellen. Sie sprachen von „ihrem“ Betrieb, den sie mit aufgebaut hatten und von „ihrem Produkt“. „Wir waren aber auch der Meinung, daß wir eigentlich unser Produkt gut finden – wir finden es unheimlich toll – und daß wir sowas auch weiterproduzieren können! Wir stehen einfach dazu!“ (Schuster, Facharbeiter, STANEX, 22.4.1991) Als die Treuhandanstalt im Dezember 1990 die Richtlinie ausgab, die einzelnen Teile des Unternehmens so umzustrukturieren, daß sie verkauft werden konnten, verstärkten sich die Debatten unter den Beschäftigten, den Betriebsteil in Belegschaftsbesitz zu übernehmen. Das Ende des Gesamtbetriebes bedeutete für die einzelnen Bereiche jedoch auch das Ende der Verantwortungslosigkeit für die Rentabilität ihrer Produktion. Die Illusion eines Schutzwalls vor den Härten des Marktes war nun endgültig vorbei, und die Belegschaft wurde sich schmerzlich der Tatsache bewußt, daß die Auftragslage äußerst kritisch war. Während die Kollegen ihre Chancen erwogen, sich selbstständig zu machen, ergriff der Betriebsteildirektor, Dr. Schöpf, im Januar 1991 selbst die Initiative und verteilte an alle seine Mitarbeiter Fragebögen, die sie ausführlich und mit Namen gekennzeichnet beantworten sollten. Er wollte wissen, ob sie Kommanditisten einer selbstständigen neuen Firma werden wollten. Die Fragen, die er stellte, zielten darauf ab, herauszufinden, wieviel Geld seine Mitarbeiter einlegen würden, ob sie 1991 noch in der Firma weiterarbeiten wollten und ob sie ihn als Leiter akzeptieren würden. Die Hälfte der Mitarbeiter wäre bereit gewesen, Kommanditist zu werden, obwohl die meisten gar nicht wußten, welchen rechtli129 chen Status sie damit erworben hätten. Die anderen sahen in dem Fragebogen ein Mittel, unbequeme Mitarbeiter auszusortieren, und beschwerten sich darüber, daß die Befragung nicht anonym gewesen war. Schöpf selbst sah den Fragebogen als „Abstimmung“, die ihn in seiner Leiterrolle bestätigen sollte, um, wie er sich ausdrückte, „rücklings Erschießen zu vermeiden“, damit die Beschäftigten ihm nicht in den Rücken fallen und ihn als „rote Socke“ anschwärzen konnten. Er wollte sich auch vor den Mitgliedern der Belegschaft absichern, die eine aktive Rolle in der Übernahme des Betriebs spielen wollten oder wie er sich selbst ausdrückte: „Die von der Belegschaft, die sich früher in Richtung demokratischer Sozialismus interessiert haben, streben jetzt die ‚Volksherrschaft‘ an“. Born, ein Mitarbeiter der Projektierung, der der Fragebogenaktion kritisch gegenüberstand, erklärte mir die Befragung aus seiner Sicht. „Dann wollte er wissen, ob wir bereit sind, dazu Geld zuzusteuern. Er hat uns vorher auf der Versammlung gesagt: ‚Das heißt aber nicht, daß man das so anlegen kann wie auf der Bank. Wer meint, er kann das Geld damit vermehren und es für sich arbeiten lassen, der sollte lieber auf eine Bank gehen, da kriegt er einen höheren Zinssatz.‘ Das Geld wäre erst mal weg, das wir hier einzahlen. Und selbst wenn es mal ganz gut läuft, dann würden wir also vielleicht 4% kriegen. Denn hat er gleich gewarnt, wenn wir der Meinung sind, man kann ihn weiter mit Seilschaften vergleichen und ihn weiter beschimpfen, das duldet er dann nicht mehr. Hat er den Typen klar gesagt: er ist und bleibt Kommunist, er wird nie ein Marktwirtschaftler werden. Damit hat er also von vorherein gewarnt: ‚Wenn Ihr Euch zu mir bekennt, dann aber auch mit Haut und Haaren, auf der ganzen Linie….‘“ (Born, Projektierung, STANEX, 4.2.1991) In der Befragung ging es nur vordergründig darum, ob die Beschäftigten stille Teilhaber werden wollten. Tatsächlich wollte Dr. Schöpf ein Glaubens- und Treuebekenntniss von seinen Mitarbeitern: Sie sollten ihr Vertrauen in das Produkt bekunden, ihre Bereitschaft zur Solidarität und zu einer Geldanlage, die ihnen keinen Profit einbringen würde, ihr Bekenntnis zu ihm als unbestrittenen sozialistischen Leiter und den Verzicht auf regelmäßigen Verdienst in Krisenzeiten. Kommanditist in dieser von Dr. Schöpf angestrebten Firma zu werden, erforderte also nicht, Geld anzulegen auf Grund von wirtschaftlichen Erwägungen, sondern eher im Gegenteil auf Grund von idealistischen Überzeugungen. Dr. Schöpf wollte, da nun der real existierende Sozialismus in der DDR zusammengebrochen war, – überspitzt ausgedrückt – den „Sozialismus in einem Betrieb“ schaffen, in dem er selbst als Person unangefochten das kommunistische Prinzip verkörperte. Da er von seinen Mitarbeitern nicht mehr erwarten konnte, daß sie ihr Vertrauen in die Richtigkeit der Prinzipien des real existierenden Sozialismus zum 130 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Ausdruck bringen würden, sollten sie nun erklären, daß ihr Produkt gefragt sei. Dies hatte fast die Form eines Glaubensbekenntnisses wider besseren Wissens, denn der Bereich hatte seit der Währungsreform kaum noch Aufträge bekommen. Dennoch hielt es Born, der Dr. Schöpf gegenüber sehr kritisch eingestellt war, für selbstverständlich, die Frage mit „Ja“ zu beantworten. Sein Kollege aus der Fertigung, Schuster, erklärte die Frage nach der „Überzeugung in das Produkt“ später damit, daß Dr. Schöpf es schon zu DDR-Zeiten verstanden hatte, „ein Paket zu knüpfen“ für die Mitarbeiter des Bereichs, in dem der Montageautomat als besonderes Produkt, er, Dr. Schöpf, als erfolgreicher Leiter und der Sozialismus als die einzig richtige Gesellschaftsform untrennbar zusammengehörten. Es war für Born auch „keine Frage“, daß jeder die Frage mit „Ja“ beantworten müßte, daß er mit seinen Kollegen gemeinsam auch in schwierigen Zeiten an einem Strang ziehen wollte. Diese Einschätzung war umso bemerkenswerter, als sich gleichzeitig viele Beschäftigte und auch Born selbst über die Vereinzelung und den Egoismus unter Kollegen beklagten. Dr. Schöpf wollte wissen, ob die Mitarbeiter auch bereit sein würden, Lohnrückstände in Kauf zu nehmen, um schwierige Phasen zu überstehen. Er ließ den Mitarbeitern nicht die Illusion, daß sie mit ihrer Einlage in die Firma Geld verdienen könnten, sondern er betonte, daß ihr Geld erst einmal „weg wäre“. Dies war durchaus in Übereinstimmung mit der Tatsache, daß er sich seinen Mitarbeitern gegenüber als überzeugter Kommunist darstellte, der seine politische Einstellung nicht geändert habe und der auch dann nicht zum „Marktwirtschaftler“ werde, wenn er als Unternehmer agiert. So war es nur konsequent, daß er sich dagegen verwehrte, das Kapital arbeiten zu lassen und auf die Einlagen bei gutgehendem Geschäft Gewinne auszuschütten. Dr. Schöpf wollte, daß sich ihm die Mitarbeiter „mit Haut und Haaren“ verschrieben und nur ihn allein als Leiter anerkannten. Er hätte damit eine Situation geschaffen, die er schon zu Zeiten der Planwirtschaft angestrebt hatte. Nur konnte damals seine Machtfülle nie so vollkommen sein, da er immer mit Vorgesetzten im Betrieb und in der Partei zu rechnen hatte und sich seine Mitarbeiter ihrer Position als qualifizierte und begehrte Arbeitskräfte durchaus bewußt waren. Durch die Fragebogenaktion schaffte er es nun, die Beschäftigten zu vereinzeln, da sie auch untereinander nicht wußten, was der eine oder andere geantwortet hatte. Auch dies entsprach einer Taktik, die er bereits zu Zeiten der Planwirtschaft angewandt hatte, um die Beschäftigten besser kontrollieren zu können. Damals hatte er erfolgreich dafür gesorgt, die charismatischen Figuren aus den 131 Kollektiven zu vergraulen – den Konstrukteur Weber aus der Konstruktion und den Techniker Steffen aus der Fertigung. Born selber sprach sich dagegen aus, stiller Teilhaber zu werden. Er wollte anderthalb Jahren später in Frührente gehen. Vor allem jedoch war er nicht bereit, Geld in einem Unternehmen anzulegen, das von Dr. Schöpf geleitet wurde. Auch wollte er Dr. Schöpf nicht bestätigen, daß er bereit wäre, auf Lohn zu verzichten und während der Kurzarbeitszeit zu arbeiten. Für ihn war ein Betrieb, der von Dr. Schöpf geleitet wurde, kein Gemeinschaftsunternehmen, für das er bereit gewesen wäre, Opfer zu bringen. Auch war ihm klar, daß er als Kommanditist überhaupt kein Mitspracherecht gehabt hätte und Dr. Schöpf völlig ausgeliefert gewesen wäre. Seine Kollegen, vor allem die, die noch weniger mit den Gepflogenheiten der Marktwirtschaft vertraut waren als er, wußten seiner Meinung nach gar nicht, auf was sie sich mit ihren Antworten einließen. „Aber einem Rohwerksbearbeiter, einem Dreher, einem Transporter so etwas anzubieten in der Art und Weise, die wußten doch gar nicht, wovon der redet. Und dann wollte er erläutern, was das bedeutet, Kommanditist werden, welche Recht und Pflichten man hat. Das hat überhaupt niemand verstanden, die Leute, die saßen alle ungläubig da und haben in der Gegend rumgeguckt, haben alle so gezuckt.“ (Born, Projektierung, STANEX 4.2.1991) In der Tat hatte rund die Hälfte der Beschäftigten Dr. Schöpf ihr Vertrauen ausgesprochen und ihm insgesamt 130 000,- DM als Einlagen angeboten. Obwohl die Bereitschaft, Geld in den Betrieb zu investieren, vor allem von den Beschäftigten kam, die um ihren Arbeitsplatz fürchteten und die wegen ihres Alters nur noch geringe Chancen auf dem Arbeitsmarkt hatten, wollte Schöpf den Teilhabern keine Arbeitsplatzsicherheit versprechen. Außerdem wollte er den Betrieb alleine führen und, wie er sich ausdrückte, „Massendiskussionen zu jeder Entscheidung“ vermeiden. In den ersten Monaten des Jahres 1991 realisierten sich die Bestrebungen nach Selbstständigkeit nicht, und der Bereich verbesserte auch seine Auftragslage kaum. Im April hatte der Bereich keine Einnahmen, im Mai nahm er nur 11000,- DM ein. 720 000,- DM, die er im Juli für drei Automaten erhalten sollte, waren schon vom Gesamtbetrieb beliehen. Im Mai gab die Treuhand einer Schweizer Immobilienfirma den Zuschlag zur Übernahme der beiden Berliner Betriebsteile von STANEX mit der Auflage, 241 Mitarbeiter in vier Bereichen – einer davon der Bereich Montageautomatisierung – weiterzubeschäftigen und 1 377 zu entlassen. Die Betriebsteile außerhalb Berlins wurden an andere Firmen verkauft. Im Interessensausgleich zwischen Betriebsrat und Geschäftsleitung 132 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 wurde festgelegt, daß der Bereich Montageautomatisierung 62 von 86 Mitarbeitern weiterbeschäftigen würde. Um sich der Verantwortung für die 241 Arbeitnehmer so schnell wie möglich zu entledigen, bot die Immobilienfirma den Bereichsdirektoren an, sich mit ihren Bereichen auszugründen und den Beschäftigten neue Arbeitsverträge zu geben. Aber auch einige der kritischen Mitarbeiter hatten Interesse, den Bereich zu übernehmen. Kater und Grabher traten in Kontakt mit einer Beratungsfirma für selbstverwaltete Betriebe, um Auskunft über ihre Rechte zu erhalten. Ihr Versuch kam jedoch zu spät. Dr. Schöpf erhielt den Zuschlag, außerdem einen zinslosen Kredit über 900 000,- DM, und er konnte alle Maschinen, Materialien und auf Halde stehenden Automaten für eine Mark übernehmen und die Fertigungshalle zum günstigen Preis von 10,- DM pro Quadratmeter mieten. Auf einer Versammlung der Mitarbeiter seines Bereichs am 4. 6. 1991 stellte er sie vor die Wahl, entweder mit einer Abfindung aus STANEX auszuscheiden oder einen neuen Arbeitsvertrag mit ihm abzuschließen, für den es dann allerdings keinen Sozialplan mehr gab, sollte die Montageautomatisierung pleite gehen. Er kündigte an, daß er nicht dem Unternehmerverband beitreten wolle, daß er außertarifliche Löhne zahlen werde und auch keinen Zuschlag von 22%, wenn die Kurzarbeitsregelung weitergehen würde. Unter Umständen, so erläuterte er, wollte er sogar die Leute zur Arbeit anhalten, die offiziell auf Kurzarbeit wären. Nach seinen Ausführungen fragte Schöpf nach Kommentaren aus der Belegschaft, und keiner meldete sich. Dann verteilte er eine Liste mit Terminen für Einzelgespräche mit jedem Belegschaftsmitglied. Es gab ein allgemeines Stühlerücken und die Leute gingen. Erst draußen machten sie dann ihrer Wut und Frustration Luft. In ihrer Hilflosigkeit fluchten manche auf die Wessis, „die hier alles kaputtgehen lassen“. Das Angebot von Dr. Schöpf stellte die Beschäftigten vor das Dilemma, entweder die Abfindung anzunehmen und den Arbeitsplatz zu verlieren, oder einen unsicheren Arbeitsplatz zu erhalten und jeden Anspruch auf einen Sozialplan zu verlieren. 32 Mitarbeiter des Bereichs schickten daraufhin einen Brief an den Hauptgeschäftsführer von STANEX, Mayer, und an den Betriebsrat und forderten, einen Rückstellungsfonds für Abfindungen einzurichten, sollte die ausgegründete GmbH Montageautomatisierung Konkurs anmelden oder Mitarbeiter entlassen müssen. Die Mitarbeiter des Bereichs Montageautomatisierung, die Schöpf weiterbeschäftigen wollte, versuchten herauszufinden, welche Rechte sie durch das Abkommen zwischen Treuhand und Käuferfirma erwarben. Allerdings erhielten sie auch bei mehreren Besprechungen mit dem Betriebsratsvorsitzenden keine kon133 kreten Informationen. Ja, der Betriebsratsvorsitzende behauptete sogar noch zwei Tage nach der Vertragsunterzeichnung zwischen dem Kombinat, der Treuhand und der Käuferfirma, keine Kenntnis von dem Vertragstext zu haben. Eine schriftliche Antwort auf ihren Brief erhielten sie nicht. Sie waren auf Gerüchte angewiesen und auf mündliche Informationen, die ihnen Dr. Schöpf in Einzelgesprächen gab und die sich teilweise widersprachen. Der Betriebsrat als ihre offizielle Vertretung war in der Tat von der Immobilienfirma „eingekauft“ worden, wie sich später herausstellte, als der Betriebsratsvorsitzende und seine Stellvertreterin gemeinsam mit dem Betriebsdrektor Mayer zu Verwaltern der Beschäftigungsgesellschaft wurden, die die Immobilienfirma in den Räumen von STANEX einrichtete. Ohne Einsicht in die Verträge und ohne wirksame Interessensvertretung standen die Beschäftigten Verhandlungsgegnern gegenüber, die über viel Erfahrung, Rechtsanwälte und gute Verbindungen zur Treuhand verfügten. Der Leiter der Konstruktion, Kallmann, faßte die Situation treffend zusammen. „Das große Problem besteht darin, daß alle wichtigen Leute mit dem Vertragsabschluß zufrieden sind. Dr. Schöpf ist zufrieden, weil er die Bestände und Maschinen kostenlos bekommt, und einen Kredit und eine günstige Miete (10,- DM/m2) dazu. Das Kombinat ist zufrieden, daß es das Problem STANEX los ist. Mayer ist zufrieden, weil er wenigstens noch eine relativ anständige Abfindung für seine 1330 entlassenen Arbeitnehmer herausschlagen konnte. Die Treuhand ist zufrieden, weil sie wieder eine Firma mehr privatisiert hat und noch 4,5 Millionen dafür kriegt. Die Immobilienfirma ist zufrieden, weil sie ein Riesenareal mit neuen Werkshallen in Berlin und ein achtstöckiges Büro- und Fertigungsgebäude 10 Minuten vom Alexanderplatz für 26 Millionen DM kaufen konnte und weil sie die 241 Arbeitsnehmer auf elegante Art und Weise los wird. Da alle zufrieden sind, ist es unheimlich schwer, den Miesmacher zu spielen.“ (Kallmann, Konstruktionsleiter, STANEX, 11.6.1991) Mit der Immobilienfirma als stillem Partner war Dr. Schöpf nun Alleinherrscher über eine Firma, die kaum Aufträge besaß und von deren 62 Mitarbeitern die meisten auf Kurzarbeit waren. Die Gründe, die Dr. Schöpf dazu bewegten, Unternehmer zu werden, oder wie es Fröhlich ausdrückte, „zu seinem eigenen Klassenfeind“, waren nicht nur ökonomischer Natur. Sicherlich war Dr. Schöpf schon über 50 Jahre alt und hätte möglicherweise schwerlich wieder eine ähnlich verantwortungsvolle Stellung bekommen. Aber das finanzielle Risiko, daß er mit der Firmengründung einging, war trotz seines solventen stillen Partners erheblich. Er ging es ein, um seine Machtposition zu erhalten und um den Betrieb, sein Lebenswerk, vor dem Zugriff des Klassenfeindes zu bewahren. Fröhlich erklärte Schöpfs Motive aus seiner Sicht: 134 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 „Die glauben an den Gott Marx, ja! Denk ich schon! Er war ja auch in der Kampfgruppe. Die Leute haben sich am Wochenende in die Natur gelegt mit nem Spaten, da Kämpfe geübt, um den Klassenfeind zu besiegen, und jetzt sind sie es selber! Das kann man eigentlich gar nicht wegstecken! Was passiert denn jetzt? Das ist für mich unerklärlich! Ich meine, die Konsequenz für jeden einzelnen wäre gewesen: ‚Ich habe mich getäuscht, ich muß jetzt irgendwas anderes machen. Aber ich kann um Himmels willen nicht…‘ Ja, die einzige Erklärung ist die, daß sie sich jetzt wieder einreden, für die Leute das Beste machen zu können. Das machen sie aber nicht. In den wenigsten Fällen zumindestens.“ (Fröhlich, Facharbeiter, STANEX, 16.6.1991) Schöpf schaffte sich eine Enklave in einer marktwirtschaftlichen Welt, in der er seine alten Genossen aus der Betriebsparteigruppe weiterbeschäftigen konnte und in dem er sich keinem kapitalistischen Vorgesetzten unterordnen mußte. Er verfolgte mit dem Erwerb exklusiver individueller Besitzrechte vor allem politisch-ideologische Ziele. Er hatte es schon zu Zeiten der Planwirtschaft verstanden, Lücken im System zu finden, die es ihm erlaubten, relativ unabhängig von den Zwängen und Mängeln der Planwirtschaft zu funktionieren. Nun da seine Automaten auf Halde standen und die Kunden hofiert werden wollten, verfiel er auf die umgekehrte Lösungsstrategie aus seinem wirtschaftlichen Dilemma. Er bemühte sich, sämtliche Quellen staatlicher Unterstützung anzuzapfen, um den Betrieb zu erhalten. Er erhielt Kurzarbeitsgeld, ABM-Stellen für Arbeiter auf 100% Kurzarbeit und Subventionen vom Senat von Berlin für die Entwicklung neuer Automaten. Er konnte auf die unbedingte Unterstützung all der Mitarbeiter zählen, die schon zu DDR-Zeiten seine politischen Verbündeten gewesen waren, so wie sein Kampfgruppenkamerad und Fertigungsleiter Voigt, der Konstrukteur Karst und der Gewerkschaftsaktivist Ruland. Für sie war der Betrieb die letzte Bastion gegen den feindlichen Westen. Doch auch die Beschäftigten, die Schöpf gegenüber stets sehr kritisch gewesen waren, wie Born, unterzeichneten den Arbeitsvertrag, weil sie ihre Arbeitsstelle nicht verlieren wollten, bis sie in Vorruhestand gehen konnten. Die neuen Eigentumsverhältnisse wurden von den Beschäftigten und von dem neuen Besitzer als politische Beziehungen empfunden. Dr. Schöpf sicherte sich mit seinem exklusiven Besitztitel die Möglichkeit, sein diktatorisches Regime im Betrieb fortzuführen. Er bereitete, wie Schuster es ausdrückte, den Demokratisierungsbestrebungen der Belegschaft ein Ende und schloß sie von den Entscheidungen im Betrieb und damit von der Kontrolle über ihre eigene berufliche Zukunft aus. Allerdings konnte er diesen Besitztitel nur erwerben, weil das politische Umfeld die bedingungslose Privatisierung begünstigte und er bereit war, das ökonomische Risiko zu tragen, das keiner aus der Belegschaft übernehmen wollte. 135 Der Erwerb exklusiver und individueller Rechte an den Betrieben hatte die beiden Direktoren nicht zu Marktwirtschaftlern gemacht, wie sie der liberalen Vorstellung entsprachen. Stattdessen verlieh er ihnen zumindest vorübergehend so viel Macht, daß sie es sich leisten konnten, nicht zu lernen (Deutsch zitiert in Offe 1994:11). „Die spezifische Kultur mitmenschlichen Verhaltens ehemaliger Wirtschaftskader“ (Dittrich 1994:324), blockierte die Entwicklung im Betrieb. Der Direktor von STANEX baute sich dank seines exklusiven Besitztitels eine politisch-ideologische Enklave in der kapitalistischen Welt, die er bisher mit Hilfe von Staatsgeldern halten konnte. Der Direktor von TAGHELL sah die Chance, zum reichen Mann zu werden und nutzte sie ohne Rücksicht auf den Betrieb und seine langjährigen Mitarbeiter. Die Übertragung exklusiver Besitzrechte auf die Direktoren führte in der Tat zu einer „Enteignung“ der Belegschaft von ihren demokratischen Ansprüchen. Die Beschäftigten beider Betriebe waren voller Bereitschaft, sich für den Betrieb einzusetzen, schreckten aber vor den Unwägbarkeiten der Marktwirtschaft zurück und zögerten, bei STANEX selbst zu Besitzern zu werden, bei TAGHELL die Besitzrechte und Alleinherrschaft des Direktors zu hinterfragen. Ihre kollektive Sorge um den Betrieb und für die Kollegen, mit denen sie vielfältige Beziehungen und eine lange Betriebsgeschichte verband, war weit entwickelter als die der Direktoren, die ihre egoistischen Interessen verfolgten. Ihre demokratische Einflußnahme auf den Privatisierungsprozeß nahm jedoch in dem Maße ab, in dem die westdeutschen Institutionen die Leere füllten und die Treuhand zum Königsmacher wurde. Die Kombination von alten Seilschaften in den Privatisierungsinstitutionen und der blinde Glaube an die Selbstheilungskräfte des Marktes zerstörte das schwache Pflänzchen der betrieblichen Demokratie. 136 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 6. Marktwahn Die hohe Akzeptanz, die die Einführung der Marktwirtschaft Anfang 1990 bei den meisten Beschäftigten fand, lag nicht nur in ihrem Konsumhunger begründet, sondern auch in dem Wunsch nach moralischer Erneuerung und Transparenz nach dem Zusammenbruch des „verlogenen“ Systems der Planwirtschaft. Das reine Marktmodell, abgeleitet von der theoretischen Annahme eines selbstregulierenden Systems des perfekten Wettbewerbs, in dem die konkurrierenden Produzenten die Nachfrage der unabhängigen Konsumenten befriedigen (Preston 1992:61), erfuhr in den Betrieben eine populäre Interpretation und wurde zu einer „little tradition“ (Tambiah 1970:3-4), das heißt zu einer lokalisierten Version einer großen dominanten Tradition. Diese hatte eine stark moralisierende Dimension. Die kommerziellen Transaktionen, die Stellung der Beschäftigten im Betrieb und ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt wurden mit moralischen Kategorien beurteilt und erklärt. Die Beschäftigten stellten sich den Markt als hartes, aber doch faires System vor, das dem „überzogenen Sozialen“ der Planwirtschaft Grenzen setzt, den Fähigen und Hartarbeitenden belohnt und den Faulen und Nachlässigen bestraft. Die Beschäftigten waren von einem Prinzip der fairen und der Gesellschaft nützenden Konkurrenz ausgegangen, die anspornt. In den beiden Betrieben TAGHELL und STANEX, die nicht von westlichen Firmen umworben wurden, hofften die Arbeiter, vom „Wasserkopf“ der Verwaltung befreit zu werden und ihre wahren Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, während die Leitung glaubte, eine stärkere Kontrolle über die „Taugenichtse“ in der Produktion (Senghaas-Knobloch 1992:302) zu bekommen und ihnen einen erhöhten Arbeitsrhythmus aufzuerlegen. Die Beschäftigten waren enttäuscht und desillusioniert, als sie ihr Produkt verbesserten und auch die Produktivität erheblich steigerten, damit aber nicht auf dem Markt Fuß fassten und häufig von einem Konkurrenten ausgestochen und von Zulieferern enttäuscht wurden, die – wie sie meinten – viel hermachten mit glänzender Reklame und gefälligem Design für ein Produkt, das qualitätsmäßig gar nicht besser war. 137 Ihre moralischen Einwendungen wandten sich dagegen, wie sie das neue Wirtschaftssystem erfuhren, nämlich als undurchsichtig, irrational und willkürlich. Ihre Erfahrung unterschied sich erheblich von dem, was neoliberale Ideologen als die Moral des Marktes bezeichnen. Wie Hayek es ausdrückt: „Die Moral des Marktes bringt uns dazu, anderen zu nützen, nicht weil wir es beabsichtigen, sondern weil sie uns in einer Weise handeln läßt, die dennoch diesen Effekt hat.“ (Hayek 1988:81) Die theoretische Annahme, daß der Marktmechanismus oder Preismechanismus Angebot und Nachfrage ins Gleichgewicht bringt, die konkurrierenden Individuen über die Marktbedingungen informiert und sie nach wirtschaftlich rationalen Kriterien miteinander umgehen läßt, fand in ihrer Alltagserfahrung keine Entsprechung. Trotzdem war das neoklassische ökonomische Paradigma, das das menschliche Verhalten auf eine treibende Kraft reduziert – das Eigeninteresse der wirtschaftlich handelnden und rational entscheidenden Individuen – als gängige Erklärung für den Zusammenbruch des realsozialistischen Systems im Betrieb verbreitet. Eine Wirtschaftsform, die auf dem Eigeninteresse der Individuen aufgebaut war, wurde als „natürlicher Zustand“ der menschlichen Gesellschaft interpretiert, während der Sozialismus ihr einen „sozialen Zustand“ aufgezwungen hatte. Resigniert meinte sogar der überzeugte Sozialist Veit Kater, daß die Vernachlässigung der „natürlichen“ Tendenz im Menschen, für sich selbst das Beste zu wollen und mit anderen zu konkurrieren, den Niedergang des sozialistischen Systems mitverursacht hatte. „Was ich vom Marxismus mitgekriegt habe, da ging es nur um den Menschen als soziales Wesen, also gesellschaftliches Wesen. Es ging nie darum, daß er auch biologisches Wesen ist. Darin liegt möglicherweise der Grund, warum das nicht geklappt hat, was sich Marx und Engels so vorgestellt haben.“ (Kater, STANEX, 20.2.1993) Die Marktwirtschaft wurde von den Beschäftigten, die sich Gedanken machten über Sinn und Gerechtigkeit in der neuen Gesellschaft, an den moralischen Kriterien gemessen, die sie in der Kritik an der Planwirtschaft entwickelt hatten und an dem von der Kohl Regierung nach 1989 offiziell verkündeten Anspruch, die DDR in ein blühendes Land zu verwandeln. Trotz aller Kritik an der vergangenen Wirtschaftsordnung sollte das neue System, wie immer wieder gesagt wurde, „auf dem aufbauen, was bereits erreicht ist“. Die praktischen Hindernisse, denen sich die Realisierung einer solchen Vorstellung gegenübersah, waren jedoch schier unüberwindlich. Ein ostdeutscher Betrieb hatte unzählige Hürden zu überwinden, wollte er auf dem Markt Fuß fassen. Die Betriebe hatten zu viele Beschäftigte und völlig überalterte Maschi- 138 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 nen. Sie mußten ihre Produktpalette erst der Nachfrage anpassen, Handelskanäle erkunden und lernen, wie man Gewinne und Verluste errechnet. Zur Lösung all dieser praktischen Probleme stellte der bundesdeutschen Staat relativ rasch Kredite und Subventionen bereit und finanzierte Kurse und Weiterbildungen. Wo weltanschauliche und persönliche Differenzen die ökonomischen Entscheidungen bestimmten, konnten diese staatlichen Maßnahmen allerdings nicht greifen. 6.1. Vermarktung Der Fall der Mauer schaffte zunächst ein Vakuum in der Verantwortung für die Verteilung und Kommerzialisierung von Gütern. Die staatlichen Vermarktungsorganismen hörten auf zu funktionieren oder vertrieben hauptsächlich Westprodukte. Die Manager der DDR-Betriebe waren zum ersten Mal mit der Aufgabe konfrontiert, ihre Produktion auch zu verkaufen und Konsumentenwünschen anzupassen. In Betrieben wie TAGHELL, die einen soliden westlichen Geschäftspartner hatten und in Bereichen wie bei STANEX, in denen ein begehrtes Investitionsgut produziert wurde und die in der DDR-Wirtschaft sehr erfolgreich gewesen waren, gab es vorsichtigen Optimismus. Die Manager erklärten, sie wären froh über das Verschwinden der schwerfälligen Staatsbürokratie, da sie nun in der Lage sein würden, ihre wahren Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Der Leiter der Fertigungsvorbereitung von STANEX, Grabher, erläuterte, warum der Betriebsteil Montageautomatisierung seiner Meinung nach ideale Voraussetzungen gehabt hätte, um in der Marktwirtschaft zu bestehen. „Und da haben wir mit unseren 10 Millionen 2,5 oder 3 Millionen an Gewinn eingebracht und da hat auch die Arbeit in der Projektierung und Konstruktion einen großen Anteil mit dran,… daß wir immer versucht haben, dieses eine Produkt, diese Maschine immer mehr zu systematisieren. Und damit werde ich natürlich immer billiger, ist doch ganz klar! .... Damit waren wir auch ein bißchen vorbildlich – in unserem Betrieb vor allen Dingen, und auch gar nicht schlecht im allgemeinen in der alten DDR-Wirtschaft. Und wir hätten uns, wenn die Bedingungen damals marktwirtschaftliche gewesen wären, wir hätten uns da eigentlich auch behaupten können.“ (Grabher, Fertigungsvorbereitung, STANEX, 7.5.1991) Grabher schloß von den Rationalisierungserfolgen des Bereichs Montageautomatisierung zu DDR-Zeiten auf einen Erfolg in der Marktwirtschaft. Er beurteilte die ökonomische Leistungsfähigkeit mit Zahlen aus der Planabrechnung, und maß sie somit mit einer weitgehend fiktiven Größe, die für die Marktwirtschaft keinerlei Aussagekraft besaß. Nicht nur DDR-Betriebe, sondern auch westliche 139 Investoren überschätzten aus der gleichen Argumentation heraus die Chancen der Betriebe in der Marktwirtschaft. Bis April 1990 lebten TAGHELL und STANEX in der Illusion, sie hätten für die nächsten beiden Jahre gefüllte Auftragsbücher. Aber schon vor der Währungsreform vom 1. Juli 1990 begannen die Befürchtungen zu wachsen, daß ihr Produktionsniveau nicht mit dem von westlichen Firmen Schritt halten könne. Um sich für die Marktwirtschaft zu rüsten, begannen die Leiter vor allem die Schwächen ihrer Betriebe zu verbessern, die sie bisher vor den Kontrollinstanzen der Planwirtschaft verborgen hatten: die niedrige Produktivität und die variable Qualität des Produktes. Sie schätzten ihre Chancen in der Marktwirtschaft auf der Grundlage der Probleme ein, die sie in der Planwirtschaft gehabt hatten und fuhren fort, den Schwerpunkt ihrer Geschäftspolitik auf die Restrukturierung der Produktion zu legen. Zwei von den drei untersuchten Betriebe zogen es vor, die Produktion ohne die Intervention eines westlichen Geschäftspartners zu reformieren. Als der schwedische Großkunde von TAGHELL im Frühjahr 1990 einen Merger vorschlug, weigerte sich der Geschäftsführer in diese Art der engen Kooperation zu treten, die seine Macht und seine Kontrolle über den Betrieb untergraben könnte. Der Bereichsleiter von STANEX, Dr. Schöpf, reagierte ähnlich, als 1990 mögliche Käufer begannen, den Betrieb zu besuchen. Obwohl ein Merger oder ein Kauf die wirtschaftliche Situation des Betriebes möglicherweise verbessert hätte, so hätte er doch den Einfluß der Manager erheblich eingeschränkt, die 1990 noch in einem Machtvakuum operieren konnten, das kleinen und mittleren Betrieben von der Treuhand gelassen worden war. Durch die Ausnutzung von Treuhand-Krediten und durch die Möglichkeit, Kurzarbeit anzumelden, fühlten die Leiter der beiden Betriebe bis Ende 1990 nur geringen finanziellen Druck. Sie kalkulierten, als stünden sie de facto immer noch unter weichen Budgetzwängen, diesmal nicht vom sozialistischen Staat verursacht, sondern von den Strukturmaßnahmen der bundesdeutschen Regierung. Die Finanzen des untersuchten Bereichs von STANEX wurden von der Buchhaltung der Mutterfirma mitverwaltet, als diese im Laufe des Jahres 1991 langsam pleite ging. Ihre Schulden wurden im Sommer 1991 beim Verkauf an eine Immobilienfirma von der Treuhand übernommen. TAGHELL lebte von Krediten der Treuhandanstalt, die der Betrieb nicht zurückzahlen konnte. Nur die dritte Firma VEBLift trat schon ab November 1989 in enge Kooperation mit drei westlichen Partnern, von denen einer die Firma später übernahm. In den Betrieben TAGHELL und STANEX, die keinen westlichen Käufer gefunden hatten, war die Bereitschaft zur Veränderung bei manchen Beschäftig140 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 ten stärker spürbar als bei der Leitung. Die Mitarbeiter der Einkaufsabteilungen zeigten sich begeistert von den neuen Möglichkeiten, neue Materialien und Halbfertigprodukte einzusetzen und bei der Vorfertigung Arbeit einzusparen. Frau Gertz von der Materialwirtschaft von TAGHELL begann sofort Stoffe aus dem Westen für die Lampenschirme zu bestellen. Im Frühjahr 1990, vor der Währungsreform, erlebte die Firma TAGHELL ihren letzten Nachfrageboom. Die Nachfrage von Privatkunden nach den Messinglampen war so stark, daß sich der Betrieb Ende Mai 1990 entschloß, im Erdgeschoss des Betriebsgebäudes einen Lampenladen zu eröffnen. Frau Martens, die ein Diplom als Verkaufstellenleiterin hatte, wurde mit dem Aufbau betraut. Im Juni 1990 florierte der Laden mit Tagesumsätzen bis zu 11 000 DDR-Mark. Frau Martens erzählt: „Ja, es war auch eine schöne Zeit, eine interessante Zeit. Die Kunden waren ja dankbar, daß sie ihr DDR-Geld los wurden. Ab 1.7. gab es ja dann das Westgeld. Die kamen dann nur rein und sagten: ‚Wir haben jetzt hier noch 800 Mark. Nun stellen Sie mal was zusammen. Wir wollen nicht auf die Bank. Wir wollen das nicht mehr einzahlen, das wird uns nicht umgerubelt.’ So. Also wir haben die dollsten Dinger gemacht. Wir haben zusammengestellt und also.... das kann man gar nicht beschreiben. Die Kunden... wir haben eine Flasche Likör gekriegt als Dankeschön. Oft hing mal ein Blumenstrauß dran. Also, die waren so happy! Das hat sich dann auch rumgesprochen, daß wir hier dies und jenes möglich machen. Ja, das war ein toller Monat.“ (Martens, Vertrieb, TAGHELL, 30.7.1991) Frau Martens erlebte im Juni 1990 das letzte Aufleben der Mangelwirtschaft. Die Kunden, die ihre letzten DDR-Mark loswerden wollten, die sie nicht mehr zum günstigen Kurs 1:1 umtauschen konnten, stürmten ihren Laden. Sie wurde beschenkt, wie zuvor ihre Kolleginnen im Absatz, wenn sie „etwas möglich machten“. Der Erfolg des Ladens schien ihr symptomatisch zu sein für die guten Zeiten, die folgen sollten. Am 1. Juli versiegte der Kundenstrom jedoch schlagartig. Frau Martens wurde in die Absatzabteilung versetzt, wo sie nun den Vertrieb der Lampen koordinieren sollte. Mit unverminderter Energie und wieder im Alleingang stürzte sie sich nun in die Vorbereitung der Leipziger Herbstmesse, organisierte einen Fotografen und ließ einen Lampenkatalog herstellen, der aber nie vervielfältigt wurde. Sie knüpfte zahlreiche Kontakte und kam strahlend und voller Optimismus von der Messe zurück. Sie bemühte sich darum, den Namen TAGHELL bekannt zu machen, lancierte Anzeigen in Zeitungen und Lampenkatalogen, veranlasste, daß der Name TAGHELL sogar bei Fußballspielen auf der Bande stand, beschaffte kleine Weckuhren als Werbegeschenk. Ihre Kolleginnen in der Absatzabteilung, die noch aus Zeiten der Planwirtschaft dort arbeiteten, ließen sie machen, aber stellten sich nicht hinter sie. Auch der Betriebsdirektor nahm ihrer Meinung nach die 141 Chancen nicht wahr, die sie für den Betrieb organisiert hatte. Sie experimentierte mit für sie völlig neuen Werbekampagnen und griff auf die alte Strategie der Planwirtschaft zurück, politische Verbindungen für wirtschaftliche Ziele einzusetzen. So war es ihr gelungen, den Berliner Wirtschaftssenator Pieroth auf einer Ausstellung in ein Gespräch zu verwickeln und ihn für den Betrieb zu interessieren. Sie hoffte, mit seiner Hilfe für den Betrieb einen Platz auf der Listung der Warenhäuser zu erhalten, die das Gros der Lampen in der Region Berlin Brandenburg umsetzten. Der Direktor weigerte sich jedoch, einen Brief an den Senator zu schreiben. Auch Frau Gertz, die Leiterin der Materialwirtschaft, bemühte sich auf Bitten von Frau Martens über ihre Parteigenossen von der PDS um Zugang zu den Listungen und war damit erfolgreich. Doch auch ihre „Piste“ wurde vom Direktor nicht aufgegriffen. Als Frau Martens in ihrer Doppelfunktion als Betriebsratsvorsitzende und Absatzleiterin mit dem Betriebsdirektor in Konflikt geriet und abgelöst wurde, waren ihre Kolleginnen der Meinung, daß Frau Martens zwar ein „lieber netter Kerl“ gewesen wäre, aber völlig überlastet mit der Aufgabe, den Vertrieb aufzubauen. Allerdings gab es nach ihr niemanden, der eine ähnliche Dynamik entwickelt hätte und der so erfolgreich neue Marketingstrategien mit dem Ausnützen alter Netzwerke verband. Die anderen Mitarbeiter der Absatzabteilung, die es noch aus Zeiten der Planwirtschaft gewohnt waren, von den Kunden hofiert zu werden, hatten nun Angst vor ihnen und wußten nicht mehr, welches Verhalten sie ihnen gegenüber an den Tag legen sollten. „Ich schrecke schon immer zusammen, wenn ein Kunde kommt: Heute zum Beispiel war da wieder so eine Situation. Erst habe ich einen Anruf gekriegt und dann hat der sich fast angekündigt. Da schiebt mich der Fechner dann auch gerne vor. Das soll ich dann auch noch machen, die Verträge auskaspern. Aber er weiht eben auch keinen richtig ein, daß er mal sagt: ‚Wir setzen uns jetzt an einen Tisch, so und so ist die Linie und das und das machen wir.‘ – Nichts! Da kriegen sie mal irgendeinen Brocken zum Fraß vorgeworfen und dann: ‚Mach das!’. Ich wimmle das ab, wenn jemand kommt, dann schicke ich ihn erst einmal zu ihm.“ (Brandt, Absatz, TAGHELL 31.7.1991) Die Mitarbeiter der Absatzabteilung und der Betriebsdirektor schoben sich gegenseitig die Kunden und damit auch die Verantwortlichkeiten für die Auftragsabwicklung zu. Der Direktor entwickelte Rabattregelungen, die neue Kunden anlocken sollten, die aber jeglicher Kostenrechnung entbehrten. Frau Brandt empfand es als Zumutung, mit einem Kunden zu verhandeln, weil sie keine genaue Richtlinien und Verhandlungsgrundlagen bekommen hatte. Entsprechend willkürlich und wenig zuvorkommend ging Frau Brandt mit den Kunden um. Als in meiner Anwesenheit ein Kunde anrief und sich be142 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 schwerte, daß die Leuchten, die er erhalten hätte, teurer wären als auf der Liste, erklärte ihm Frau Brandt mühsam, daß seine Leuchte noch zu einem alten, höheren Preis in Rechnung gestellt worden war und daß er diesen jetzt auch bezahlen müsse. Kurz darauf fand sie einen Auftrag für eine Hängelampe, bei dem die genaue Typenbezeichnung für das Zugpendel fehlte, und kommentierte: „Jetzt könnte ich gemein sein und das teurere Zugpendel in Rechnung stellen.“ Dies tat sie dann auch. Der Kunde schien für die Mitarbeiterinnen der Absatzabteilung ein Gegner zu sein, den man bekämpft und übers Ohr haut, statt ihn zufrieden zu stellen. Selbst wenn sie die Aussicht hatten, einen guten Kunden zu gewinnen, waren die Mitarbeiter der Absatzabteilung reserviert bis feindselig. Die Umkehrung der Machtverhältnisse zwischen Käufer und Verkäufer war für die Frauen, die zu Zeiten der Planwirtschaft von den Kunden mit Sekt beschenkt und mit Pralinen umworben worden waren, unerträglich. Handeln und Waren verkaufen war im offiziellen Diskurs des real existierenden Sozialismus mit Korruption und Unmoral gleichgesetzt worden. Auch hatten die Beschäftigten sich selbst und auch ihr Produkt in der Mangelwirtschaft nie anpreisen und verkaufen müssen. Die Mitarbeiter der Absatzabteilung waren nun nicht mehr die Umworbenen, sondern sie mußten selber werben um die Gunst ihrer Kunden. Die Geschäftsführer von Lampengeschäften, die früher TAGHELL angefleht hatten, ihnen Lampen zu verkaufen, weigerten sich nun, noch etwas von ihnen zu beziehen. „Die Leute in der Vertriebsabteilung werden so für die Arroganz bestraft, die sie früher an den Tag gelegt haben“, meinte ein Kollege dazu. Dies führte vielfach zu Berührungsängsten mit potentiellen Kunden auch aus dem Westen. „Ich will doch keine Klinken Putzen“, war ein viel gehörter Einwand gegen das Verkaufen. Verkaufen zu müssen, was der Betrieb herstellte, wurde als Erniedrigung empfunden. Die Mitarbeiter der Absatzabteilung warteten auf jemanden, der „Ahnung hatte“. Aber die Absatzleiter wechselten alle Vierteljahre und mit ihnen die Strategie. Erst gab es die Werbekampagnen von Frau Martens, dann wurden diese eingestellt, dann wurde ein Computer angeschafft, um die Kundenkartei zu führen, aber dieser wurde niemals in Betrieb genommen. Schließlich erlaubte es die Konzeptionslosigkeit des Direktors, daß der neue Absatzleiter, Herr Bürger, einer westdeutschen Firma für eine halbe Million Mark einen großen Posten Lampenelemente abkaufte, für die TAGHELL gar keine Verwendung und Nachfrage hatte. Das Gerücht hielt sich hartnäckig, daß er dafür eine kräftige Provision kassiert hatte. Ein Blick in den Katalog, den TAGHELL schließlich seinen Kunden anbot, zeigt auf den ersten Seiten ein gemischtes Sortiment von billigen Lampen, die 143 alle zugekauft waren: Tischlampen mit Zinnfuß, eine Küchenleuchte aus Glas mit goldenem Schleifchen, Stehlampen mit gedrechseltem Bein. Alle diese Lampen fanden nach Meinung des Vertreters bei den Kunden keinen Anklang. Absatzleiter Bürger hatte sie dem Sortiment hinzugefügt, um es, wie er sich ausdrückte, zu „erleichtern“. Die Messingleuchter, die TAGHELL tatsächlich entwickelt hatte und produzierte, erschienen auf den hinteren Seiten, versteckt zwischen Leuchtern aus Zukaufteilen. Der Katalog spiegelte nicht nur die mangelnde Erfahrung sondern auch das mangelnde Zutrauen wider, das die Beschäftigten in den Wert und die Qualität ihrer eigenen Produkte hatten. Auch bei STANEX entwickelten sich die Marketing-Strategien gegen den Willen des Bereichsdirektors. Zwei Mitarbeiter zogen im Frühjahr 1990 auf eigene Faust auf Kundensuche. Während der Bereichsdirektor Dr. Schöpf für fünf Wochen zur Kur war, versuchten die Ingenieure der Projektierung, Herr Born und Herr Schadorf, sich auf dem Westberliner Markt umzusehen. „Wir machten das auf unsere Privatinitiative hin. Mein Freund in West-Berlin, der schon 30 Jahre selbständig ist, hat mir gesagt: ‚Ihr geht zur Industrie- und Handelskammer, dort liegen so'ne Wälzer (Branchenbücher; B.M.) aus. Da könnt Ihr fragen, da gibt es so etwas.‘ Und daraufhin sind wir schnurstracks noch am selben Tag losmarschiert und haben angefangen, Adressen für die Kundenkartei zu sammeln. Wir haben Briefe aufgesetzt. Dann haben wir sie zum Schluß unserem Betriebsdirektor hier, dem Mayer, vorgelegt, der hat dann noch zwei, drei Änderungswünsche gehabt und die sind eingearbeitet worden. Und dann hat er gesagt: ‚So. jetzt unterschreibe ich das als Geschäftsführer. Jetzt kann es raus.‘ Da haben wir es für die ersten hundert Firmen abgezogen, abziehen lassen. Eine Schreibkraft, die gar nicht zu unserem Bereich gehört, von einer ganz andern Abteilung, die hat uns das aus Nettigkeit gemacht. Aber als er aus der Kur kam, da hat der (Bereichsdirektor; B.M.) Dr. Schöpf gesagt: ‚Das kommt nicht in Frage, das geht nicht raus!‘ Und daraufhin haben wir die hundert Dinger wieder zerrissen, und dann war eben Ruhe. Bis heute, bis zum heutigen Tag, ist nichts rausgegangen.“ (Born, Projektierung, STANEX, 4.2.1991) Da ihnen Anhaltspunkte fehlten, wie man sich in der Marktwirtschaft zu verhalten habe, wandten sich die beiden Mitarbeiter der Projektierung an einen alten Freund, der im Westen arbeitete und lebte. Sein Hinweis, zur Industrie und Handelskammer zu gehen und sich potentielle Kunden aus dem Branchenbuch herauszuschreiben, scheint banal, aber es war der konkreteste Hinweis, den die Projektanten zu diesem Zeitpunkt bekommen konnten. Der Markt war für sie ein gänzlich neues System, dessen Gesetze sie nicht beherrschten, aber von dem sie doch schon genug verstanden, um zu wissen, daß sie sofort handeln mußten, um nicht mit ihrer Firma unterzugehen. Während Betriebsdirektor Mayer ihre Initiative unterstützte, verwehrte sich der Bereichsdirektor Dr. Schöpf dagegen, daß in 144 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 seinem Bereich Initiativen ergriffen wurden, die nicht von ihm ausgegangen waren. Im Sommer 1990 untersagte er ihnen, Kunden in Westdeutschland aufzusuchen oder sich die Produktionsstätten der Konkurrenz in Baden-Württemberg anzusehen. Zwei Monate vor der offiziellen Vereinigung der beiden deutschen Staaten argumentierte er damit, Westdeutschland wäre westliches Ausland und seine Mitarbeiter könnten dort nicht hinfahren, weil sie keine Reisekader wären. Dr. Schöpf hing noch an der alten politischen Aufteilung der Welt und wollte sein Produkt nur Kunden in Ostdeutschland und in Osteuropa zugutekommen lassen. Die ostdeutsche elektrische und elektronische Industrie, ihr Hauptkunde, hatte aber seit Mai 1990 fast alle Bestellungen storniert und war seit dem Sommer 1990 in so einer solch kritischen Wirtschaftslage, daß sie nicht an Investitionen denken konnte. „Da hat sich der Doktor kraft seiner Wassersuppe durchgesetzt und hat uns... naja indirekt vergewaltigt, daß wir die ehemaligen DDR-Betriebe aufsuchen. Aber zu dem damaligen Zeitpunkt war uns allen im Prinzip klar, da kann nichts rauskommen, daß das (der ökonomische Zusammenbruch; B.M.) jetzt praktisch die Runde machen würde.... da sind wir teilweise richtig am verschlossenen Betriebstor gewesen, wo eine Kette rumgelegt war und es nicht mal mehr einen Pförtner gab.“ (Mahler, Projektierungsleiter STANEX, 2.5.1991) Dr. Schöpf hatte den Aufbau des Bereichs Montageautomatisierung im Sinne der offiziellen Ideologie immer als Kampf gegen den westlichen Imperialismus gesehen. Seine Automaten sollten die Wirtschaftskraft und damit auch das System der DDR stärken. So war es für ihn nun unvorstellbar, diese westlichen Kunden anzutragen. Dies Verhalten war also in völliger Übereinstimmung mit den Ansichten, die er seinen Mitarbeitern zuvor jahrelang als absolute Wahrheit gepredigt hatte. Die ostdeutschen Kunden allerdings, die noch investierten, konnten sich an den fehlenden Kundendienst und die harten Bedingungen erinnern, denen sie durch Dr. Schöpf ausgesetzt worden waren und waren nicht daran interessiert, mit ihm weiterhin zusammenzuarbeiten. Der Konstrukteur Scheuch erinnert sich: „Da hat nun der Dr. Schöpf entschieden, daß mehrere Gruppen, hauptsächlich die Leute aus der Projektierung, die DDR bereisen, um alte ehemalige Handelspartner aufzusuchen. Einige von denen haben uns gesagt: ‚Solange der Schöpf das macht, kaufen wir kein Stück mehr.‘ Die kannten den Schöpf ja auch alle, und viele waren gar nicht von ihm angetan.“ (Scheuch, Konstrukteur, STANEX, 24.6.1991) Noch bis zum November 1990 blieb der Bereichsdirektor in seiner „geistigen Geographie“ (Darnton 1991) gefangen. Als er dann die Bearbeitung des westli- 145 chen Marktes zur ersten Priorität erklärte, war die wirtschaftliche Lage des Unternehmens bereits so prekär, daß viele potentielle Kunden das Risiko nicht eingehen konnten, eine halbe Million in einen Automaten zu investieren, für den Wartung und Ersatzteillieferung auf lange Frist nicht garantiert werden konnten. Grabher, der Leiter der Fertigungsvorbereitung, kommentiert: „Im Januar (1991 B.M.) da hat der Schöpf sich hingestellt und hat gesagt: ‚Ja, ein halbes Jahr fehlt uns Marktarbeit.‘ Und da habe ich ihm in der Dienstberatung gesagt: ‚Das halbe Jahr hast Du verursacht, das uns jetzt auf dem westlichen Markt fehlt. Du hast uns zurückgepfiffen voriges Jahr zu Ostern, als wir mit dem Absatz diese Aktion angefangen haben. Du hast uns alle und unsere Projektanten nur auf dem Gebiet der alten DDR grasen lassen, statt die Leute – und natürlich kostet das Spesen – in der Bundesrepubliuk rumfahren zu lassen, damit überhaupt der Name STANEX irgendwie bekannt wird.‘“ (Grabher, Fertigungsvorbereitung, STANEX, 7.5.1991) Als sich seine Hoffnungen auf den osteuropäischen Wirtschaftsraum völlig zerschlagen hatten und er keine Kunden bekam, stimmte der Bereichsdirektor im Herbst 1990 zu, Briefe an potentielle Kunden im Westen zu schicken und ihnen sein Produkt vorzustellen. Die Briefe waren jedoch immer noch im alten Befehlston geschrieben, den sich Produzenten den Konsumenten gegenüber erlauben konnten in den alten Tagen der DDR. So schrieb er beispielsweise in der Präsentation eines Kurzangebots: „Wir möchten mit diesem Angebot und durch erste technisch ökonomische Vorstellungen zur möglichen Verwendung von Montageautomaten den Hersteller auf einen weiteren gemeinsamen Lösungsprozess orientieren“ und weiter befehlend: „In diesem Prozeß sind die Angebotsaussagen bis zur Gestaltung von Vertragsgrundlagen weiterzuentwickeln“. Unbeeindruckt von der Tatsache, daß der Kunde in der Marktwirtschaft die Möglichkeit hat, unter verschiedenen Anbietern zu wählen, formulierte Dr. Schöpf seine Briefe immer noch so, als ob er der einzige Produzent von Montageautomaten wäre und als ob ein Angebot automatisch einen Vertrag nach sich ziehen würde. Er wollte nicht wahrhaben, was einer seiner Mitarbeiter treffend ausdrückte: „Früher waren wir hier die einzigen Götter, jetzt gibt es viele.“ „Die Kunden , die wir damals im Westen hatten, wissen Sie, 1986 ... Wer redet da heute noch drüber? Die Zeit ist so schnellebig! Auf dem Markt haben sich da drüben so viele Firmen auch mit diesem Rationalisierungsmittelbau entwickelt, weil es eine Branche ist, die früher auch da drüben vernachlässigt worden ist... Das kann man nur über eine monate- und jahrelange intensive Markbearbeitung machen, daß man da wieder reinkommt, daß man eben Messen besucht und immer wieder Reklame macht und vorzeigt. Den langen Atem haben wir nicht mehr!“ (Grabher, Fertigungsvorbereitung, STANEX, 7.5.1991) 146 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Die Mitarbeiter der Projektierung beklagten sich über die Alleingänge ihres Bereichsdirektors und fühlten sich „rechtloser und geknechteter“ als zuvor. Erst im Frühling 1991 mobilisierte Dr. Schöpf alle Ingenieure, die er entbehren konnte, um mögliche Kunden in Westdeutschland aufzusuchen. Sie wurden nach Angeboten gefragt, aber es folgte lange kein definitiver Auftrag. Da die Projektanten nicht persönlich mit den Kunden sprechen durften, erhielten sie die technischen Details über die Produkte, für die der Automat entwickelt werden sollte, immer nur über Dr. Schöpf, der sich dann auch in alle Details der Ausführung einmischte. Trotzdem erhielt der Betrieb einige interessierte Anfragen, aber nur eine von ihnen führte schließlich zur Bestellung eines Rundschalttischautomaten. Im Sommer 1991, als schon 80% der Belegschaft auf Kurzarbeit war und der Direktor der Besitzer des Unternehmens geworden war, akzeptierte er schließlich, auch kleinere und andersartige Aufträge anzunehmen. Die Schwierigkeiten des Direktor Schöpf zeigten in extremer Form die Schwierigkeiten der Umstellung auf ein marktwirtschaftliches Denken. Die Priorität lag für den Direktor in der Optimierung der Produktion und erst in zweiter Linie in der Vermarktung und Werbung. Er leaste teure NC-Drehbänke und Fräsen, obwohl der Betrieb keine Aufträge hatte, und weigerte sich, Geld in Kataloge oder Dienstreisen zu investieren. Die Überzeugung war tief verwurzelt, daß die Konsumenten eigentlich den Produzenten dankbar sein sollten. Die Haltung der Betriebsmitglieder schwankte zwischen Stolz und hoher Identifikation mit ihrem Produkt und Unsicherheit vor allem westlichen Kunden gegenüber. Für die Verkäufer war es, als verkauften sie mit dem Produkt auch sich selber. Sie fühlten sich selbst, je nach Gefallen oder Nicht-Gefallen ihres Produktes, von den potentiellen Kunden beurteilt. Die Beziehungen zwischen ostdeutschen Produzenten, die nicht verkaufen konnten, und westdeutschen Konsumenten, die ostdeutsche Produkte nicht haben wollten, wurde von vielen als symptomatisch für das deutsch-deutsche Verhältnis nach der Wende angesehen. Nach den ersten Monaten des Enthusiasmus über die Maueröffnung, als westdeutsche Firmen ostdeutsche Hersteller noch freundlich empfingen, war Routine eingekehrt und ostdeutsche Vertreter wurden abgewimmelt, wenn sie nicht interessierten. Herr Mahler, der Projektierungsleiter von STANEX, berichtete mir von den schmerzhaften Erfahrungen, die er dabei machen mußte: „Am Anfang war eigentlich ein relativ gutes Gefühl, war der ganze Trend positiv... als wir dort Interessenten aufgesucht haben. Man hat gemerkt, da war noch ein bißchen diese Euphorie dagewesen. Man hat uns Mut gemacht: ‘Na klar, das schaffen wir schon gemeinsam.’ Aber schon im Dezember fing der Trend an, so langsam umzuschlagen. Man hat vielleicht erkannt, daß wir eine Konkurrenz darstellen können, daß wir vielleicht doch was können und nicht bloß 147 als Almosenempfänger dastehen. Und jetzt ist der Trend, daß man fast das Gefühl hat, es wird einem ein bißchen feindlich begegnet... Es ist sogar schon aufgetreten, als wir zu Partnern hingekommen sind, daß die gesagt haben, wir sollen sie nicht stören, sie müssen ja für uns mitarbeiten“. (Mahler, Projektierungsleiter STANEX, 2.5.1991) Die ost-westdeutschen Vorurteile beeinflußten die Interpretation der Verkaufssituation. Der ostdeutsche Verkäufer hatte das Gefühl, daß er sich gegen das Bild, lediglich ein Almosenempfänger zu sein, zur Wehr setzen mußte oder, wie ein anderer Verkäufer sagte, gegen die Wahrnehmung als Bettler. Er setzte aber gleichzeitig voraus, daß ihn der westdeutsche Käufer als möglichen ostdeutschen Konkurrenten fürchtete und deshalb ablehnte. Indem er auf die Verkaufssituation den Verdacht projizierte, daß Westdeutsche die Ostdeutschen als Konkurrenten fürchteten und sie deshalb ungerechterweise in der Stellung von zweitklassigen Bürgern halten wollen, konnte er sein Selbstwertgefühl wieder aufbauen. Diese Ambivalenz war bei fast allen Mitarbeitern spürbar, die Kunden im Westen suchen sollten. Einige ereiferten sich, daß sie ihr marodes Produkt nicht im Westen verkaufen wollten, nur um kurz darauf zu betonen, daß die Westler absichtlich ihr Qualitätsprodukt nicht kaufen wollten. Die Aussagen verschiedener Verkäufer stimmten darin überein, daß die ostdeutschen Hersteller während der ersten Monate nach dem Fall der Mauer mit dem psychologischen Vorteil der Neugierde und des emotionalen Engagements ihrer westdeutschen Geschäftspartner rechnen konnten. Dieser Effekt verschwand, als die Kosten und Probleme der Vereinigung immer klarer wurden und als die Blüte der ostdeutschen Wirtschaft immer mehr in die ferne Zukunft projiziert wurde. Umgekehrt begann auch bei den Ostdeutschen ein Prozeß der Desillusionierung mit den „aalglatten Westlern“. Immer wieder wurde mir bei TAGHELL berichtet, von welch schlechter Qualität doch der fertig geschliffene Westmessing wäre, wegen dem sie ihre Schleifstraße eingestellt hätten. Eine Spaltung existierte zwischen der Wahrnehmung und der Realität des Marktes. Der Konstrukteur Veit Kater erläuterte den Unterschied zwischen dem theoretischen Lernen der „Gesetze“ der Marktwirtschaft und der Praxis: „Es hat ja keiner von uns so die Erfahrung, denn es ist ja ein ungeheurer Unterschied zwischen diesem Markt, der bei uns war, der im Prinzip darin bestand, einen zu finden, der was liefern konnte, und dem Markt, der jetzt besteht, bei Euch hier immer bestanden hat, jemanden zu finden, der das haben will. Und diesen Sprung, selbst wenn man das gewußt hat, also rein vom Lesen her oder ob man ein halbes Jahr auch so einen Lehrgang besucht, wie ein Außenhandel gehen sollte, dieses Bücherwissen, das ist die eine Seite. Aber das nun wirklich real umzusetzen, das ist ein Riesenunterschied. Da haben sich ja noch ganz andere Leute geirrt.“ (Kater, Konstrukteur, STANEX, 20.2.1993) 148 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Die marktwirtschaftliche Praxis im Betrieb in den Jahren nach dem Fall der Mauer war von Emotionen und weltanschaulichen und persönlichen Differenzen geprägt, die in keinem Lehrbuch vorkommen. Die Umkehrung des Ungleichgewichts der Macht, das in der Abhängigkeit des Verkäufers vom Käufer zutagetrat, und das Gefühl von Unsicherheit und Undurchsichtigkeit prägten die Interpretation der Marktwirtschaft. 6.2. Arbeiten für den Markt Die Abwesenheit von Transparenz in den Marktbeziehungen setzte sich in verstärktem Maße innerhalb des Betriebes fort, wo das alte Management um seine Posten kämpfte und seine Entscheidungen, Informationen und Strategien vor den Beschäftigten abschirmte. Für einen Machthaber, der seine Macht in einer unsicheren Situation halten wollte, war es nicht angebracht, die ihm Untergebenen mit klaren Regelungen in die Möglichkeit zu versetzen, sich selbst ein Bild zu machen oder ihre Rechte einzufordern. Dieser Mechanismus war typisch für postkommunistische Machthaber, deren Macht „zu schwach ist, um sie zu teilen und zu delegieren, indem sie in die Schaffung von Regeln investiert wird“ (Elster/Offe/u.a. 1998:33). Die Beschäftigten verlegten sich aus Mangel an Informationen darauf, zu spekulieren und den wirtschaftlichen Zustand des Betriebes und ihren eigenen Stand darin an den kleinen Details des Betriebsalltags abzulesen. Sie registrierten, daß es kein Toilettenpapier mehr in den Werkstoiletten gab und schlossen daraus, daß der Leitung der Komfort ihrer Mitarbeiter gänzlich gleichgültig geworden war. Sie diskutierten, für welche Aufträge die Kabel waren, die in den Regalen lagen und fragten sich, ob dieser Auftrag wohl umfangreich genug war, um rentabel produziert zu werden. Seit der Wende hörten bei TAGHELL die Gerüchte nicht auf, daß die Vorfertigungsabteilung geschlossen und sämtliche Maschinen verschrottet werden sollten. Durch Umstellungen im Einkauf fielen tatsächlich schon einige Arbeitsgänge weg. Die Arbeiter in der Vorfertigung registrierten genau die Aufnahme von neuen Messinglampen ins Sortiment, für die man die Komponenten im Westen kaufte. Die ersten Messingrohre aus dem Westen lösten im Betrieb eine kleine technologische Revolution aus. Da die neuen Rohre schon fertig geschliffen waren, wurde die Schleifstraße stillgelegt. 149 Als der Betriebsdirektor im Herbst 1990 als Geschäftsführer bestätigt worden war, begann er in großem Maßstab Entlassungen vorzunehmen und den Planerfüllungspakt mit den Beschäftigten aufzukündigen. Die Meister wurden angewiesen, die Produktionsnormen um 15 Prozent zu erhöhen und gröbere Fehler und Ausschußproduktion mit Abmahnungen zu ahnden. Auch die Meister selber erhielten bei Disziplinarverstößen ihrer Untergebenen Abmahnungen. Auf diese Weise versuchte der Direktor möglichst rasch die Zahl der Arbeitskräfte in der Vorfertigung zu reduzieren, ohne lange Kündigungszeiten in Kauf nehmen zu müssen. Der Betriebsdirektor mied den Kontakt zur Belegschaft, wo er nur konnte, und auch der Produktionsdirektor ließ sich kaum noch in den Fertigungshallen sehen. Einrichter Friedemann berichtet: „Jetzt machen sie ja 'nen großen Bogen um uns. Sie gucken vielleicht mal in die Halle rein. „Ach, da sind ja noch welche drin“, aber von wegen reinkommen und ‚Guten Tag’ sagen, oder daß er sich vielleicht mal 'n bißchen mit uns unterhält. Das ist ja nicht drin. Könntest ihm wieder ein bißchen die Ohren volleiern. Dem gehen sie strikt aus dem Weg.“ (Friedemann, Einrichter TAGHELL, 29.7.1991) Allerdings waren die personellen Kapazitäten im Frühjahr 1991 so weit reduziert, daß die Einrichter als Produktionsarbeiter eingesetzt werden mußten. Der Einrichter Friedemann, der vor lauter häuslichen Problemen nicht die Kraft gehabt hatte, sich einen neuen Arbeitsplatz zu suchen, schilderte im Juli 1991 den Betrieb als einen Ort mutwilliger Zerstörung, in dem es an allem fehlte, sogar an Seife und Toilettenpapier. Nach den neuen Aufträgen aus Schweden im Sommer 1991 stand die Vorfertigung wieder unter hohem Druck, aber weitgehend mittellos da. Die Arbeiter, die davon überzeugt waren, daß auch der Verlust ihres Arbeitsplatzes nur noch eine Frage der Zeit war, widersetzten sich in den alten Formen des Planerfüllungspaktes, indem sie sich für keine Zusatzarbeit mehr motivieren ließen. Die disziplinarischen Anweisungen von Seiten der Geschäftsleitung überhörten sie. „Ich muß dir ganz ehrlich sagen, wir haben früher unsern Kaffee getrunken früh um halbe Sieben oder jetzt am Tage. Da ändere ich nichts dran, was soll denn sein? Das wird so beibehalten.“ (Friedemann, Einrichter, STANEX, 29.7.1991) Die Frauen in der Abteilung Montage identifizierten sich stärker mit dem Betrieb und dem Produkt als die Kollegen in der Vorfertigung. Da auch sie von der Geschäftsleitung über die Geschäftslage im Unklaren gelassen wurden, versuchten sie sich untereinander ein Bild von den Marktchancen zu machen, berichteten nach Besuchen in Westberlin von dem Warenangebot in dortigen Lampengeschäften und diskutierten die Chancen ihres eigenen Produktes. Sie waren bereit, 150 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 „den Gürtel enger zu schnallen“ und härter zu arbeiten, um das Überleben ihres Betriebes zu sichern. So erhöhten sie im Herbst 1990 von sich aus ihre Arbeitsleistung bis zu einer Normerfüllung von 140 bis 145%. Einige Frauen kamen statt um sechs Uhr dreißig bereits um sechs Uhr, um ihr Tagespensum zu schaffen. Als die Entlassungen trotzdem weitergingen und die Norm außerdem erhöht wurde, kehrten die Frauen im Frühjahr 1991 zur kollektiven Kontrolle ihrer Arbeitsleistung und zu einer Normerfüllung von 115% zurück. Die Frauen hatten nicht die Möglichkeit des Vergleichs mit anderen Arbeitszusammenhängen in der Marktwirtschaft. Ihre Analysen der wirtschaftlichen Situation des Betriebs beruhten auf Alltagserfahrungen und Gerüchten über die Absichten des Betriebsdirektors. Dennoch waren sie in der Lage, kollektiv zu handeln und ihren Analysen Taten folgen zu lassen, indem sie gemeinsam die Leistung verweigerten oder erhöhten. Als der Meister im Juli 1991 erklärte, daß ein neuer Großauftrag über 25 000 fünfarmige und 9 000 dreiarmige Messingleuchter von dem schwedischen Kunden eingegangen war, der bis Ende Oktober für das Weihnachtsgeschäft fertiggestellt werden sollte, reagierten die Frauen reserviert. Um die Vorgabe zu erreichen, 380 Leuchten am Tag zu fertigen – eine Leistung, die mit 13 Frauen und einer Produktivität von 238 Leuchten am Tag kaum zu leisten war – , hatte der Produktionsdirektor eine Normerhöhung von 10% verlangt und angekündigt, daß zur Unterstützung Angestellte aus der Verwaltung in die Fertigung versetzt würden. Der Meister betonte zwar, daß auf sein Drängen hin die Normvorgabe nur um 5% erhöht werden würde, aber die Frauen machten deutlich, daß sie es inakzeptabel fanden, daß Mitarbeiter aus der Verwaltung in die Fertigung versetzt würden, während drei junge Arbeiterinnen weiterhin auf Kurzarbeit bleiben sollten. Vorschläge von einigen Arbeiterinnen, Sonderschichten einzulegen, oder sich arbeitsteilig wie am Fließband zu organisieren, lösten Unwillen bei der Mehrheit der Frauen aus. Eine Arbeiterin, die jahrelang Vertrauensfrau gewesen war, erklärte mir den Standpunkt der Frauen nach der Versammlung: „Es ist ein Unding. Es sind doch zum größten Teil Frauen, die über 30 Jahre, 35 Jahre im Beruf tätig sind. Wir bringen das nicht mehr ganz so, wie wenn man vielleicht jung ist, wissen Sie? Aber Junge schaffen das nun auch nicht mehr, wie wir feststellen. Die schaffen das ja schon gar nicht mehr. Da muß man sich das halt ein bisserl einteilen. Das ist auch ganz richtig. Man kann ja nicht abends abgeschlafft losgehen und am nächsten Tag schafft man dann nichts, weil man einen Tag wirklich so geackert hat.“ (Schmidt, Montiererin, TAGHELL, 31.7.1991) Die Frauen verlegten sich darauf, „sich die Arbeit einzuteilen“ und keine übermäßigen Anstrengungen für einen Betrieb zu leisten, in dem sie sich als Arbeitskräfte nicht respektiert fühlten. 151 Bei STANEX legte der Fertigungsleiter Voigt ab dem Winter 1990 größeren Wert auf die Einhaltung tayloristischer Tugenden, wie Pünktlichkeit, Ordnung und Respekt Vorgesetzten gegenüber. Da aber die formale Hierarchie in der Fertigung nicht mit einer Hierarchie der Erfahrung und der Qualifikation übereinstimmte, fuhren die Arbeiter fort, sich direkt mit den Ingenieuren abzustimmen und ihre Meister bei Produktionsproblemen nicht zu konsultieren. Gemeinsam mit den Konstrukteuren gelang es ihnen im Frühjahr 1991, einen Automaten in nur drei Monaten zu entwickeln und zu fertigen, für den sie vor dem Fall der Mauer ein Jahr benötigt hätten. Die Beschleunigung der Auftragsabwicklung verbesserte die wirtschaftliche Lage nicht, da STANEX im Frühjahr 1991 keine Aufträge mehr hatte. Das Unternehmen konnte nur dank der immer wieder verlängerten Kurzarbeitsregelung für ostdeutsche Betriebe weiterbestehen. Die Beschäftigten wurden weitgehend über das Arbeitsamt bezahlt und erhielten 70% ihres ostdeutschen Tariflohns, der wiederum 1991 bei 60% des westdeutschen Tariflohns lag. Als die Kurzarbeitsregelung auszulaufen drohte, wählte der Geschäftsführer, und seit Sommer 1991 Besitzer, Dr. Schöpf die Beschäftigten, die er im Unternehmen behalten wollte, weniger nach Qualifikations- denn nach politischen Gesichtspunkten aus. Seine Genossen aus der Kampfgruppe durften bleiben, während einige fähige Facharbeiter und Ingenieure für die Kündigung vorgemerkt wurden. Eine „Versachlichung“ des Führungsstils, wie sie Aderhold (1994:125) bei Managern in privatisierten ostdeutschen Betrieben feststellen konnten, war bei Dr. Schöpf nicht gegeben. Sein Führungsstil blieb autokratisch, ohne Berechenbarkeit und Transparenz. Obwohl die Mehrzahl der Beschäftigten gegen die politische Auswahl opponierten, gaben sie ihrer Empörung auch in Betriebsversammlungen nicht offen Ausdruck. Der Geschäftsführer dieser Geisterfirma war als Herr über den Arbeitsplatz zum uneingeschränkten Herrscher über den Betrieb geworden. „Es wird kaum noch widersprochen. Das ist logisch in der Situation! Jeder hat Angst um den Arbeitsplatz, jeder hat Angst vor der Zukunft, jeder hofft, daß er, wenn er nicht allzu sehr auffällt, die Chance kriegt, daß er auch hier weiter arbeiten kann, wenn‘s bestehen bleibt – ist immer die große Frage, wenn wir bestehen bleiben, daß er zu den Kerls gehört, zu dem Kreis gehört, der das Privileg haben wird, hier weiter dabei sein zu dürfen. Denn Entlassungen stehen garantiert an, wenn nicht ein Wunder passiert, und eine unglaubliche Wendung in der Auftragslage, daß wir sogar mehr Leute brauchen, als geplant sind.“ (Ruland, Facharbeiter, STANEX, 18.4.1991) Die Angst vor Arbeitslosigkeit seitens der Belegschaft brachte für die Meister und den Fertigungsleiter Voigt einen ungeahnten Zuwachs an Macht. Viele Arbeiter, wenn auch längst nicht alle, widersprachen den Meistern kaum noch of152 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 fen, obwohl sie sie als völlig unfähig ansahen. Der Fertigungsleiter Voigt legitimierte seinen Herrschaftsanspruch nicht durch Fachkompetenz, sondern allein mit seinen neuen, ihm durch die Wende zugewachsenen Anweisungsbefugnissen und Sanktionsmöglichkeiten (Aderhold/u.a. 1994:109). „Ein Leiter in der Marktwirtschaft hat es einfacher wie in der sogenannten Planwirtschaft, denn in der Marktwirtschaft ist Arbeit Existenzfrage. In der Planwirtschaft ist die Existenz jedes einzelnen gewährleistet. In der Marktwirtschaft ist es für einen Leiter einfacher zu leiten, seine Aufgaben zu erfüllen und durchzusetzen. Wir waren in bestimmten Dingen in der Planwirtschaft zu sozial. Wenn irgendwelche Probleme aufgetaucht sind: Arbeitsdisziplin, Disziplin am Arbeitsplatz, Einstellung zur Arbeit. Einem staatlichen Leiter in der Planwirtschaft waren bestimmte Grenzen gesetzt gewesen.“ (Voigt, Fertigungsleiter, STANEX, 5.2.1991) Die Beschäftigten fürchteten ihn, aber sie achteten ihn nicht. Horst Fröhlich bezeichnete Voigt weiterhin als „höriges Kontrollorgan“ des Dr. Schöpf und legte sich mit ihm an. Er war der Meinung, daß „ein guter Vorgesetzter durch seine Leistung und seine Ausstrahlung überzeugt, aber nicht mit der Peitsche“. Allerdings gehörte Fröhlich auch zu den Mitarbeitern im Betrieb, auf deren spezielles Wissen im Fördererbau das Unternehmen nicht verzichten konnte. Er war der einzige, der auch in den folgenden Jahren fast durchgehend arbeitete, während seine Kollegen unter der Ungewißheit der Kurzarbeit litten oder den Betrieb verließen. Die Macht der Beschäftigten als unersetzliche Produzenten war zerbrochen. Viele kamen in den folgenden Monaten zur Arbeit, obwohl sie auf null Stunden Kurzarbeit gesetzt worden waren, als Beschäftigungstherapie gegen die Depression und um nicht völlig aus der Übung zu kommen. Für die meisten unter ihnen war der marode Betrieb, „ein Strohhalm, an den man sich klammert“. 6.3. Stimmungsbild nach zwei Jahren Kurzarbeit Ein Nachmittag in der Fertigung von STANEX im Januar 1993 gibt die Stimmung nach zwei Jahren Kurzarbeit wieder: Fröhlich und Ritter saßen allein in der Baugruppenfertigung, wo 1989 noch elf Arbeiter gewesen waren. Nur weil um 14 Uhr eine Betriebsversammlung einberufen worden war, bei der Dr. Schöpf, wie Fröhlich sich ausdrückte, mal wieder etwas zur Lage sagen wollte, war der Kollege Ludwig aus der Baugruppenmontage vorbeigekommen. Er rief schon im Hereinkommen, er wäre das Einkaufen und Wäsche waschen satt, Schöpf solle doch endlich sagen, daß alles vorbei ist, dann wüßte man wenigstens voran man sei. Ludwig schärfte noch 153 schnell vor der Versammlung einen Bohrer, den er von zu Hause mitgebracht hatte. Mir gegenüber betonte er ungefragt, daß sich hier alle mochten, trotz der „beschissenen Lage“. Dann erzählte er von dem Mazda, der seiner Schwiegertochter gestohlen und der in Usedom wiederaufgefunden worden war. Die Kollegen diskutierten die beste Methode, ihr Auto zu sichern, und Ludwig bot Fröhlich einen Sicherungsschalter für seinen Wartburg an. Dann erzählte er von der Couchgarnitur, die sich sein Sohn gekauft hatte. Fröhlich wies mich darauf hin, daß einige von den Sechsen, die ich in der Werkstatt arbeiten sah, in Wirklichkeit auf Kurzarbeit waren und nur in den Betrieb kamen, weil sie es zu Hause nicht aushielten. Ihm selbst würde es schwerfallen, im Betrieb zu sein, weil er da das ganze Elend der fehlenden Aufträge und die Demoralisierung der Kollegen so richtig mitbekäme. Zu Hause ging ihm das nicht so nahe. Allerdings hatte die angespannte Situation auch zu Zerwürfnissen in seiner Familie geführt. Mit dem Vater seiner Frau, der in Westberlin lebt, sprachen sie seit Dezember nicht mehr. Er hatte sich durch die Schilderung ihrer Probleme provoziert gefühlt und sie aufgefordert, das Haus zu verlassen, wenn sie sich nur beschweren wollten. In der Endmontage arbeiteten noch zwei Monteure. Langsam stießen die anderen Kollegen hinzu, die auch zur Versammlung wollten. Der Monteur, der noch 1989 für die Staatssicherheit gearbeitet hatte, war auch dabei. Die Kollegen diskutierten über Überfälle und Einbrüche und malten sich brutale Strafen aus, mit denen man sich an den Einbrechern rächen würde. Einer schlug vor, man solle ihnen mit einer Eisenstange das Rückgrat zertrümmern. Ein anderer Arbeiter, dem seine Laube ausgeraubt worden war, prahlte damit, daß er seiner Versicherung einen neuen Farbfernseher in Rechnung stellen wollte, den er nie besessen hatte. Schließlich kam Ruland und wurde wie die anderen mit Hallo begrüßt. An mich gewendet, erzählte er zutiefst deprimiert, daß ja alles noch schlimmer gekommen sei, als man es sich vorgestellt habe. Zum Glück wären wenigstens auf der Demonstration zum Gedenken an die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg eine Menge Menschen gewesen. Er schätzte 180 000 Teilnehmer und beurteilte die Zahl von 30 bis 40 000, die in den Medien zirkulierte, als pure Desinformation und Lüge. Heute würde man noch mehr belogen als früher unter dem DDR-Regime. Er lebe zur Zeit von 1100,- DM Kurzarbeitsgeld, seine Frau bekomme 280,- DM Arbeitslosenhilfe. Nur seine Kinder „waren fein raus“ und hatten Arbeit. Er betonte, daß er nicht glaube, der Sozialismus sei tot, denn dieser Kapitalismus wäre keine Lösung. 154 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Der Privatbesitz, seine Vermehrung und Sicherung nahm in den Gesprächen der Kurzarbeiter einen großen Platz ein. Die Phantasien, die die Männer dabei entwickelten, waren voller Aggressionen gegen die, die ihnen etwas wegnehmen könnten. In der Tat war der Privatbesitz zum Zentrum ihres Lebens geworden, das die Arbeit nicht mehr ausfüllte, sondern nur noch als Angstfaktor beherrschte. Auch was der bundesdeutsche Staat ihnen als Kompensation für den Verlust der Arbeit anbot, war Geld zum Konsum, denn für eine sinnvolle Umschulung waren die meisten unter ihnen schon zu alt. 6.4. Konsum Manche Arbeiter und Angestellten verfolgten die selben Konsumstrategien, die sie bei ihren Kunden kritisierten. Sie zogen es 1990 vor, die so heiß ersehnte DMark nur für Westprodukte auszugeben. Während sie sich auf der einen Seite Gedanken darüber machten, wie sie mit ihrem verminderten Lohn, bzw. Kurzarbeitsgeld auskommen könnten, wenn die Mietpreise, wie angekündigt, stiegen, schafften sie sich in den ersten drei Jahren nach der Wende all die Gebrauchsgüter an, die sie jahrelang entbehrt zu haben glaubten: Videorecorder, Farbfernseher, eine neue Wohnzimmereinrichtung und oft auch ein neues Auto. Ihre Strategien ähnelten denen von Frau Schmidt aus der Montage von TAGHELL, die einerseits die striktesten Sparmaßnahmen in ihrem Haushalt einführte, um für kommende, schwierige, Zeiten ein überschaubares Maß an festen Ausgaben zu haben, die aber andererseits auch konsumierte, weil es Freude machte. „Aber, nein, also nein, bei uns hat sich eigentlich nichts geändert. Das einzige, was ist: Wir haben uns vor drei Jahren, nein vor zweieinhalb Jahren vollkommen neu eingerichtet, als meine Tochter ausgezogen ist. Da war das notwendig. Schlafzimmer, Wohnzimmer neu. Na jetzt hab ich zu meinem Mann gesagt: ‚Ich kann die Couchgarnitur nicht mehr sehen.‘ Die ist zweieinhalb Jahre alt. Jetzt am Sonnabend fahren wir und gucken uns was Neues an. Meine Tochter nimmt die denn. Die freut sich, wenn se die kriegt, man kann die ja noch nicht wegschmeißen. Das hätte ich früher nicht gemacht, da hätte ich gedacht, naja, Mensch. Aber jetzt, weil man eben doch was Schöneres sieht. Aber nicht etwa, weil man das vielleicht bräuchte oder so.“ (Schmidt, Lampenmontage, TAGHELL, 31.7.1991) So kaufte sie sich eine neue Wohnzimmereinrichtung und gab die alte ihrer Tochter. Alle meine Interviewpartner, die ich zu Hause besuchte, hatten sich ihr Wohnzimmer neu eingerichtet. Ihre Lauben quollen über von ausrangierten 155 Schrankwänden und Coachgarnituren. Gleichzeitig unterhielten sich vor allem die Frauen bei der Arbeit stundenlang darüber, wo man was preiswert bekommt und wie man den immer teurer werdenden Strom und Gas einsparen könnte. Frau Schmidt beschrieb mir, daß sie jetzt kein Obst und Gemüse mehr einkochte, weil der Preis für Gas so gestiegen war. „Also das ist eben echt zu teuer. Wenn ich mir vorstelle, ich koche jetzt oder wecke ein, das dauert doch ein paar Stunden. Wenn ich schon das Gas alleine rechne. Das hab ich billiger, wenn ich das fertig kaufe.“ (Schmidt, Lampenmontage, TAGHELL, 31.7.1991) Allerdings gab es auch die gegenteilige Reaktion des fassungslosen Staunens über die Konsumgesellschaft, in der es fast alles zu kaufen gibt. Nach einem Gang durch das Amsterdamer Nuttenviertel machte sich Scheuch Gedanken über die scheinbare Grenzenlosigkeit des Konsums und kam zu dem Schluß, daß die Menschen, die sich alles leisten können, eigentlich todunglücklich, wie tot sein müßten: „Aber da merkt man erst, wie weit man doch davon entfernt war. Da ist man doch immer wieder noch innerlich geschockt, wenn man jetzt das alles so sieht. Welche Auswirkungen doch der Geschäftstrieb haben kann. Wenn es nichts mehr gibt, was es nicht gibt. Und was ich mir sehr schlimm vorstelle, diese reichen Leute, für die es alles zu kaufen gibt. Die können sich doch wahrscheinlich über nichts mehr freuen. Wenn ich mir alles leisten kann?! Das stellt man sich so vor. Ich weiß nicht, wenn man Millionär ist: Das wird nicht mehr alle. Man spürt, das wird immer mehr durch die Zinsen. Ob das ein schönes Gefühl ist oder...?“ (Scheuch, Konstrukteur, STANEX, 24.6.1991) Nach vierzig Jahren Planwirtschaft, in denen er sich stets geweigert hatte, die Schimäre des Plans zu verteidigen, wollte Karl Scheuch eine moralische Erneuerung seiner Gesellschaft. Er erwartete sie von der Marktwirtschaft, die – wie er dachte – ohne falsche Vorspiegelungen und nach objektiven Gesetzen funktionieren würde. Als dieses Bild des Marktes zerbrach, wurde auch seine Rolle als Konsument ambivalent. Wie viele andere Ostdeutsche mußte er feststellen, daß die Freuden des Konsums längst nicht so groß waren, wie er gehofft und erwartet hatte. Er erfuhr, was Hirschman (1982:46) darstellt: Immer wenn der wirtschaftliche Fortschritt für bestimmte Schichten den Zugang zu Konsumgütern erweitert hat, kommen starke Gefühle der Enttäuschung oder der Feindseligkeit gegenüber dem neuen materiellen Reichtum zum Vorschein. Nach der ersten Begeisterung für die Genüsse und Möglichkeiten der Konsumgesellschaft beschlich Karl Scheuch der Verdacht, daß die neue Gesellschaft nicht hielt, was sie versprach. Eine große Nachdenklichkeit, was die Segnungen der Konsumgesellschaft anbelangt, zeichnet die Mitarbeiter bei STANEX aus. Auch Veit Kater fragte 156 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 sich, nachdem er sich in drei Jahren all die Konsumgüter kaufen konnte, von denen DDR-Bürger jahrzehntelang geträumt haben und die zum Teil auch für Alt-BRD Bürger noch den Reiz der Neuheit haben, ob dies nun tatsächlich Lebensqualität ausmacht. „Also ich habe vor 3 Jahren noch kein Auto gehabt. Ich habe mir kurz vor der Wende einen Farbfernseher, meinen ersten gekauft, ich hatte keinen Videorecorder, den ich jetzt habe und die Hifi-Anlage hatte ich nicht und ich hatte meinen Camcorder nicht und ... Mir geht es jetzt besser als vorher, will ich mal sagen. Aber ob das unbedingt sein muß, mit den Nachteilen, die man sich dazu erkauft, ob das den Leuten wirklich klar ist? Ob klar wird: Was heißt denn eigentlich ‚Lebensqualität‘?“ (Kater, Konstrukteur, STANEX, 20.2.1993) Sein Kollege Horst Fröhlich gibt auf diese Frage eine pessimistische Antwort in Form des häufig in der Ökologiebewegung zitierten Spruches, der einem nordamerikanischen Indianer zugeschrieben wird: „Das kann eigentlich nur da enden, mit diesem Spruch, von diesem nordamerikanischen Indianerhäuptling: ‚Die Menschen werden erst lernen, daß man Geld nicht essen kann, wenn der letzte Fluß versaut ist, der letzte Baum gefällt ist und der letzte Vogel getötet ist.‘ Das hat er doch mal sinngemäß irgendwo gesagt. Da, fürchte ich, läuft das hin. Bloß weiß ich nicht, was ich dagegen tun kann, ich kann eigentlich nur abwarten und darunter leiden, daß ich es weiß!“ (Fröhlich, STANEX, 16.6.1991) Die aktiven, unternehmungslustigen Mitarbeiter von STANEX und TAGHELL sahen sich mit einem doppelten Handicap belastet. Sie beherrschten die Bedingungen der Marktwirtschaft nicht, waren jedoch bereit zu experimentieren, aber ihre Versuche wurden stets von der Geschäftsleitung autoritär zunichte gemacht. Das Laissez-faire der Marktwirtschaft, verbunden mit der Fortschreibung alter Machtbeziehungen, zerstörte kreative Ansätze und beschleunigte den Prozeß der Desintegration der Betriebe. Die Unsicherheit des Arbeitsplatzes untergrub schließlich die Identifikation der Beschäftigten mit ihrem Betrieb und ihr Selbstverständnis. Sie wurden als arbeitende Individuen austauschbar. Statt umworbene Mitglieder der Arbeiterklasse zu sein, deren „Persönlichkeiten“ gefragt waren, waren sie nunmehr nur noch Arbeitskräfte, deren Arbeitsplatz und Betrieb ständig vom Verschwinden 5 6 —————— 5 Das bedeutet jedoch nicht, daß in allen ehemaligen VEBs eine solche Entwicklung eingesetzt hätte. Untersuchungen in Betrieben, die über die ersten drei Jahre nach der Wende hinaus Bestand hatten (Aderhold u.a. 1994: 124), zeigen kooperative und sozialintegrative Orientierungen auf der Managementebene. 6 Ruland, Facharbeiter, STANEX, 18.4. 1991 157 bedroht war. Es entglitt ihnen die Kontrolle über ihre materielle Lebensgrundlage. In dem neuen, sich verändernden politisch-ökonomischen Kontext zeigte sich der Markt als umstrittenes Feld von Machtbeziehungen (Dilley 1992:4), in dem die Arbeiter und Angestellten die Verlierer waren. Manche meiner Gesprächspartner gingen so weit, den ökonomischen Zusammenbruch ihres Betriebs mit „sterben“ zu umschreiben. Ein Meister, dessen Abteilung, geschlossen werden sollte, drückte dies mit, „sie wird totgemacht“, aus. Wenn ein Arbeiter gekündigt werden sollte, kommentierten seine Kollegen: „Er wird wahrscheinlich nicht überleben.“ Den meisten Beschäftigten in den beiden Betrieben TAGHELL und STANEX erschien die Marktwirtschaft durch das Prisma der Herrschaftsstrukturen ihres Betriebs als willkürlich, irrational und gewaltsam. 158 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 7. Weltsichten in der Wende Im Vorfeld der Wende vom Herbst 1989 lag die zukunftsträchtige Perspektive in der Betonung der deutsch-deutschen Gemeinsamkeiten. Mit Spannung wurde in Ost und West der Ruf: „Wir sind ein Volk!“ vernommen. Als die Mauer fiel, lagen sich Tausende West- und Ostdeutsche weinend in den Armen. Wir haben diese Umarmungsszenen zwischen völlig Fremden im Fernsehen gesehen oder sind selbst zur Mauer gelaufen. Aber dieses Einheitsgefühl ist in der Zwischenzeit verloren gegangen. Man könnte fast meinen, es hätte es nie gegeben, der essentialistische Einheitsdiskurs wäre nie die unwiderstehliche Welle gewesen, von der die deutsche Vereinigung gegen alle Zweifel und Sorgen der Nachbarstaaten mit getragen worden war. Im Berlin des Jahres 1991 waren die Unterschiede zwischen Ossis und Wessis Bestandteil jedes Kneipengesprächs. Es wurde ein Sport, die Leute am Nebentisch als Ost- oder Westdeutsche zu identifizieren, an ihrer Kleidung – was zunehmend schwieriger wurde – , ihrer Art zu reden, sich zu bewegen oder zu lachen. In den meisten Erklärungen und Kommentaren zur Wende nahmen auch die Beschäftigten in den Ostberliner Betrieben grundsätzliche Unterschiede zwischen Ost und West an und betonten ihre spezifische ostdeutsche Identität. Wiederholt hörte ich die Behauptung, die Anderson (1983) als konstitutiv für die Annahme von Gemeinsamkeit (suppositious commonality) ansah: Meine ostdeutschen Gesprächspartner meinten, einen ostdeutschen Kollegen oder Geschäftspartner, selbst wenn er in einem Westbetrieb arbeitete, sofort an seiner Art zu reden und sich zu verhalten ausmachen zu können. Manche Ostdeutsche begannen sich als Gegenstück zu einem Bild zu definieren, das sie sich von den Westdeutschen machten. Der ost-westdeutsche Dialog wurde zusehends emotionaler und von Vorurteilen durchzogen. Am Ende des Jahres 1991 hörte ich Charakterisierungen von Westdeutschen als sozial isoliert, besessen von ihrer Arbeit, unfähig zu teilen und gleichgültig gegenüber den Entwicklungen in der ehemaligen DDR. 159 Die selbstreflexiven Tendenzen in der Sozialanthropologie der letzten Jahre (Cohen 1994, Rabinow 1986) haben das Bewußtsein dafür geschärft, daß kulturelle Repräsentationen wie Weltsichten und Selbstdarstellungen unlösbar mit Macht verbunden sind. Die Idee der Konkurrenz zwischen Kulturen, wie zum Beispiel zwischen der ostdeutschen und der westdeutschen, oder der Dominanz einer Kultur über die andere haben auch dem Konzept der Kultur selbst einen totalisierendenden Aspekt gegeben, der in zahlreichen Machtkämpfen auf Mikround Makroebene gebraucht wird. Obwohl „Kultur“ scheinbar problemlos in die Alltagssprache eingegangen ist, hat sie als Konzept eine lange und bewegte Geschichte hinter sich. In der Sozialanthropologie wurde es vor allem auf zwei unterschiedliche Weisen gebraucht. Zunächst existiert ein differentielles Konzept von „Kultur“, das darin besteht, einer bestimmten Bevölkerung Eigenschaften zuzuschreiben, die ihr Sozialverhalten und ihre Vorstellungen über Gesellschaft prägen. „Kultur“ dient dazu, „den anderen“ zu definieren, ausgehend von der Hypothese, daß die Kultur eines Volkes seine Ethnizität oder seine Nationalität, seine Essenz ausmachen. Anders ausgedrückt, bedeutet dies: Die Menschen tun, was sie tun, weil sie sind, was sie sind (Friedman 1994:72). Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Die Wessis „lassen hier alles kaputtgehen“, weil sie Wessis sind. Zum anderen ist „Kultur“ eine menschliche Eigenschaft, die das Verhalten nach Bedeutungsschemata organisiert, im Gegensatz zu einfachen Reaktionen und Instinkten. Es drückt die Fähigkeit der Menschen aus, Pläne und Modelle zu entwickeln, die ihre Absichten leiten und ihre Lebenswege beeinflussen, eine Eigenschaft, die den Menschen von den biologisch determinierten Spezien unterscheidet (Friedman 1994:72). Diese zweite Bedeutung dominiert in der britischen Sozialanthropologie, die ein Konzept von Kultur, als alles, was gelernt ist oder gelernt werden kann und was demnach sich auch verändern kann, vertritt. Die westdeutschen Politiker, Unternehmensberater, Fort- und Weiterbilder widersprachen dem essentiellen Ansatz und gründeten ihre Forderungen nach Anpassung der Ostdeutschen an die westliche Lebens- und Arbeitsweise auf diesem zweiten Konzept von Kultur, das voraussetzte, daß „alles lernbar ist“. Die durch die bundesdeutsche Regierung finanzierten Trainingsprogramme waren darauf ausgerichtet, die Unterschiede zwischen Ost und West so schnell wie möglich durch Ausbildung aufzuheben. Wie es jedoch nicht zuletzt die Auseinandersetzungen um eine west- bzw. ostdeutsche Kultur zeigen, ist „Kultur“ bereits zu einem Konzept geworden, das sich die Akteure zueigen gemacht haben – mit starker politischer Bedeutung. Die Akteure selbst gebrauchen es in unterschiedlicher Weise, entsprechend ihrer 160 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 politischen und ökonomischen Interessen. Ich möchte mich daher, wie Herzfeld es vorschlägt, in die Höhle des Löwen wagen und das stereotypische Reden über die Kultur der „Anderen“ zum Gegenstand machen und es als Instrument analysieren, mit dem Interessen und Strategien verfolgt werden, von denen auch die Autorin selbst nicht frei ist (Herzfeld 1992:67). Obwohl die Ost-West-Stereotypen allgegenwärtig sind, unterscheiden sich die Aussagen von dem, was als typisch ost- oder westdeutsch erlebt wird, erheblich, beziehungswiese kann der Ostdeutsche etwas als typisch ostdeutsch empfinden, was der Westdeutsche als typisch westdeutsch ansieht.7 Unterschiede und Ähnlichkeiten im Lebensstil, in den Überzeugungen, Weltsichten und Werten durchqueren fast systematisch die Trennung zwischen Ost und West. Was bleibt da noch zu untersuchen, wenn der Gegenstand sich scheinbar auflöst? 7.1. Konstruktion zweier deutscher Kulturen Walter Ulbricht sprach auf dem VII. Parteitag der SED von der Herausbildung einer sozialistischen Nationalkultur, die dazu geführt habe, daß sich nunmehr zwei konkurrierende deutsche Kulturen unversöhnlich gegenüberstünden (Meuschel 1992:216 und 400). Hatten die DDR-Bürger diese offizielle Lesart verinnerlicht? War sie tatsächlich auf vierzig Jahren real existierenden Sozialismus zurückzuführen, auf die unterschiedliche gelebte Geschichte, oder hatte sie erst nach 1989 auf Grund der politischen und ökonomischen Erfahrungen Relevanz gewonnen, als mikropolitischer Akt der Abgrenzung von den dominierenden Westlern, von Verwandten, Arbeitgebern oder Bürokraten, etwas, auf das man zurückfallen kann, um ökonomische Interessen zu verteidigen und auch als kulturelle und psychologische Sicherheit (Friedman 1994:76) 8? —————— 7 Ein Beispiel: auf einer Fahrradtour mit einem ostdeutschen Freund durch die Mark Brandenburg wurden wir von einem rücksichtslosen Autofahrer mit Berliner Kennzeichen in den Straßengraben gedrängt. Mein Freund rief aus: „Typisch Ossi!“ Und ich zugleich: „Typisch Wessi!“ Wir hatten wahrscheinlich beide Unrecht, nur darum ging es gar nicht. Denn der Gebrauch der stereotypischen Zuordnung diente in diesem Fall vor allem dazu, uns gegenseitig zu versichern, daß wir keine negativen Vorurteile gegen Ost- bzw. Westdeutsche hatten und in Frieden unsere Fahrradtour fortsetzen konnten. 8 Friedman unterscheidet drei Arten, in denen sich „Kultur“ in das weitere Gesellschaftssystem einschreibt. Die erste Art bezieht sich auf eine „objektive“ Beschreibung des Lebensinhalts der Bevölkerungen „dort draußen“, definiert durch ihre Distanz zu „uns“. Die zweite Art von „Kul- 161 Die ost-westdeutschen Stereotypen, die ich in den Betrieben angetroffen habe, nährten sich aus gelebten Erfahrungen: den Beziehungen zu westdeutschen Verwandten, den Erfahrungen im Verkauf von Waren im Westen, den Umgang mit westlichen Institutionen usw. Ich werde untersuchen, wie sie funktionieren und welche realen Machtverhältnisse sie verdecken, beziehungsweise verarbeiten. Westverwandtschaft Viele meiner Gesprächspartner in ostberliner Betrieben hatten Verwandte oder Bekannte in Westberlin oder Westdeutschland, die vor der Wende ihre Verbindungsglieder mit dem Westen waren, auch wenn der Kontakt zu ihnen nur sporadisch zustande kam, sich auf Päckchen zu Weihnachten beschränkte oder Ansichtskarten aus dem Urlaub. Diese direkten persönlichen Kontakte trugen sicherlich ebenso wie das Westfernsehen dazu bei, vor der Wende ein Bild vom Westen zu schaffen, das nur wenig mit der Realität gemein hatte. Die Rollen waren in diesen Verwandtschaftsbeziehungen meist klar verteilt. Von den Ostdeutschen wurde erwartet, daß sie sich über ihre materielle Situation beklagten und dankbar waren für Geschenke aus dem Westen, während sich die Westdeutschen ihrer Erfolge und materiellen Errungenschaften rühmten. Zu Familienfesten in den Westen reisen zu dürfen, war denn auch immer einer der Konfrontationspunkte mit dem Regime. Es bedeutete weit mehr als eine Familienangelegenheit. Es war die Möglichkeit, sein Weltbild zurechtzurücken und Diskurse an der direkten Wahrnehmung zu messen. Dennoch konnten viele Ostdeutsche erst nach dem Fall der Mauer den Wahrheitsgrad der Erzählungen ihrer Westver- —————— tur“ fasst die Elemente zusammen, die eine Bevölkerung braucht, um sich selbst zu identifizieren, zum Beispiel durch Sprache oder Abstammung. Die dritte Auffassung betrachtet Kultur als Organisator ganzer Lebensabläufe, einschließlich der materiellen Reproduktion. Sie bezieht sich auf ein vorangegangenes Gesellschaftssystem, das nur außerhalb des gegenwärtigen Systems existieren kann. Kultur ist nicht organisiert, um Vorteile innerhalb des System zu genießen, sondern soll im Gegenteil ermöglichen, es zu verlassen (Friedman 1994:88-89). In einer ähnlichen Herangehensweise zieht Stolcke unsere Aufmerksamkeit auf die politschen Hintergründe und die speziellen Beziehungen, die kulturelle Unterschiede begründen (1995:12). Sie unterstreicht, daß Identität, ob sie nun ethnisch, kulturell, national, politisch oder geschlechtsgebunden ist, eine Beziehung herstellt, die logischerweise immer einen Kontrast zum anderen voraussetzt (1995:12). Sie fordert uns auf, dem Dialog zwischen Ideologen und ihren Anhängern zu lauschen und auf den ökonomischen Hintergrund zu achten, vor dem der kulturelle Fundamentalismus blüht. (Stolcke 1995: 21). 162 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 wandten mit eigenen Augen überprüfen, sahen sie mehr von der westdeutschen Wirklichkeit als hübsch gedeckte Kaffeetische in aufgeräumten Wohnungen oder schmucken Einfamilienhäusern. Geschenke aus dem Westen waren ein Mittel, sich zu unterscheiden von der sozialistischen Einheitlichkeit; in vielen ostdeutschen Küchen, die ich besuchte, standen noch zwei Jahre nach der Wende die leeren Kaffeedosen und Alkoholflaschen aus dem Westen zur Zierde auf den Küchenschränken. Nach der Wende empfand es der Meister der Vorfertigung bei TAGHELL, Saller, als große Erleichterung, nicht mehr seinen Westverwandten gegenüber dankbar sein zu müssen. Bei einem Familienfest machte er seiner Nenntante in Westberlin klar, daß er nun verstanden hatte, daß die Geschenke, die sie ihm mitgebracht hatte, gar nicht so wertvoll gewesen waren: „Meiner ‚Tante‘ in Westberlin, in Reinickendorf draußen, der hab ich ja letztens gesagt, wie wir beide hingefahren sind, nachträglich zum Geburtstag war das noch: ‚Ja, eigentlich wollt ich Dir ja ein Pfund Kaffee schenken, wie Du das früher gemacht hast. Aber das war mir echt peinlich, so ein billiges Geschenk zu kaufen.‘“ (Saller, TAGHELL, 21.1.1991) Die Tante nahm die Bemerkung, die in vielen anderen deutschen Familien zu nachhaltigen Spannungen geführt hätte, mit Humor. „Die hat gelacht. Die hat gelacht.“ Seine Frau jedoch wies ihn in meiner Gegenwart zurecht und erinnerte ihn: „Na ja, Du darfst nicht vergessen, früher kam der Kaffee bei uns auf 35 Mark.“ Und er sah sich gezwungen, sich von neuem an eine Dankbarkeit zu erinnern, die er so gerne abgelegt hatte: „Wir haben uns immer gefreut.“ Was seine Frau bestätigte: „Natürlich haben wir uns immer gefreut, wenn wir ein Päckchen Kaffee gekriegt haben. Hatten wir wieder 35 Mark gespart.“ Franz Saller versuchte mit seinem provozierenden Verhalten bewußt gegen ein Stereotyp anzugehen, in dem er sich gefangen sah: dem des „dankbaren ostdeutschen Verwandten“. Vor der Wende dominierte das Stereotyp vom Ostdeutschen in der untergeordneten Rolle des Nehmenden. Als Nehmender vermeintlich kostbarerer Gaben geriet er gegenüber dem westdeutschen Geber in einen Zustand der Abhängigkeit (Mauss 1968:146-147). Selbstverständlich machten auch Ostdeutsche ihren westlichen Verwandten Geschenke, die für sie häufig einen größeren finanziellen und zeitlichen Aufwand bedeuteten, als die Westverwandten für ihre Geschenke aufwenden mußten. Saller berichtete mir ausführlich, welche Mühe er und seine Frau aufgewendet hatten, um ein Porzellanservice für eine Hochzeit im Westen zu kaufen und auszuführen. Das teure Service konnten sie nach der Wende für ein Zehntel des Preises bei Karstadt bewundern. 163 Nach der Währungsunion war es mit diesem Ungleichgewicht des Schenkens vorbei. Saller bediente mit seinen Äußerungen bereits ein neues, seit der Wende entstandenes Stereotyp: das vom „Ossi“, der Ansprüche stellt und undankbar ist. Dieses neue Stereotyp war Saller nicht unbekannt, aber indem er bewußt die Rolle desjenigen annahm, der den Wert der Dinge kennt und der auch undankbar sein kann, verwandelte er das negative Stereotyp in einen Ausdruck des Selbstbewußtseins. Während sich viele meiner Gesprächspartner aus der Abhängigkeit zu ihren Westverwandten lösten, kehrte sich auch die Stoßrichtung ihrer Kritik an den politischen Verhältnissen um. Während sie früher ihrer Kritik an dem politischen Regime in der DDR freien Lauf gelassen hatten, schockierten sie nach dem Fall der Mauer ihre Westverwandtschaft damit, zu betonen, daß „nicht alles schlecht war, was wir hatten“. Vor allem Kritik an den neuen bundesrepublikanischen Verhältnissen war bei vielen Westverwandten verpönt. Scheuch, ehemaliger Konstrukteur bei STANEX, erzählte vom Verhalten seiner Schwägerin, das ihn zutiefst schockiert hatte: „Ich habe einen Bruder, der ist Rechtsanwalt in Westberlin, die Schwägerin macht Lehrerqualifizierung und ist beim Senat angestellt, hat da einen Riesenjob. Sie ist auch ein schönes Mädchen, so 43 ist sie. Ich muß ehrlich sagen, die ist fleißig, ehrgeizig und auch nicht dumm. Alles klar. Aber eben eiskalt. Wir waren unlängst zum Geburtstag, da ist eine Tante von mir 80 Jahre alt geworden. Da waren auch alte Kolleginnen da und Rentner. Na, die haben alle ein bißchen Angst: Da hat die Frau es fertiggekriegt, zu sagen: ‚Ich hab die Schnauze voll. Dieses Rumgestöhne hier geht mir auf den Senkel.‘ Dann ist sie nach Hause gefahren. Soetwas ist für mich unverständlich.“ (Scheuch, STANEX, 24.6.1991) Karl Scheuch bezeichnete seine Schwägerin und die Bekannten seines Bruders als „Karrieretypen“, die ihm unangenehm waren in der Art, wie sie „ihre Ellenbogen einsetzten“. Die verbreitete abwertende Qualifizierung der Westdeutschen als „Karrieretypen“ oder als Menschen, „die nur für ihre Arbeit leben“ machte es leichter, mit einer beruflichen Situation zurechtzukommen, in der die ostdeutschen Beschäftigten, die schon die Vierzig überschritten hatten, selber keiner Karriere mehr machen konnten und Angst haben mußten, ihre Arbeit zu verlieren. Scheuch traf seinen Bruder seit dem Fall der Mauer seltener als in den Jahren davor, als er die Erlaubnis hatte, jeden Monat für zwei Tage seine alte Mutter in Westberlin zu besuchen. Wie Ruland und Fröhlich bemerkte er: „Damals sagten sie: ‚Ach, wenn Ihr doch mal kommen könntet!‘ Und heute, wo man kommen kann, will einen keiner sehen.“ Ruland machte seinen Verwandten zum Vorwurf, 164 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 vor der Wende heftig für die deutsche Vereinigung gesprochen zu haben, nur um sich danach von den „Ossis“ belästigt zu fühlen. „Jetzt kommen die Ossis und machen uns alles kaputt, unsere schöne Bundesrepublik kaputt, die wir uns über so viele Jahre mühsam aufgebaut haben. Wer wollte denn wirklich von den Bundesbürgern die Vereinigung? Von den normalen auf der Straße? Das habe ich meinen Schwestern schon 87 gesagt, am 50sten Geburtstag meines Bruders: ‚Der Gedanke der Vereinigung oder des einheitlichen Deutschlands ist in der DDR wahrscheinlich weitaus mehr entwickelt als bei Euch hier.‘ Da, oh, da habe ich aber einen Proteststurm geerntet. Und jetzt ist die Tatsache da. Solange wie die Mauer noch stand, hieß es: ‚ach könntet ihr doch bloß mal kommen, ach würden se Euch doch bloß verreisen lassen, ach immer wir müssen zu Euch kommen‘ – , und jetzt wo wir reisen können, fragen Sie mal rum, wieviel schon an Familien zerbrochen ist. Jetzt wo die armen Hinterwäldler dauernd angemeiert kommen. ‚Heh, kommen die schon wieder! Bleibt uns bloß von der Pelle.‘ Eine Meinung haben und eventuell noch was gut gefunden haben an der ehemaligen DDR, na das ist ja das größte Verbrechen! Wenn man nicht sagt, das hier ist aber alles Mist und ihr seid immer noch die Größten, dann kommt der Kalfaktor von ganz alleine. Das muß sein, ein bißchen Selbstbewußtsein, ein bißchen Stolz…“ (Ruland, STANEX, 18.4.1991) Robert Ruland fühlte, wie Karl Scheuch und Horst Fröhlich, nicht mehr willkommen bei seinen Verwandten im Westen. Er erklärte die Ablehnung vor allem damit, daß er dem Stereotyp „des armen Hinterwäldlers“, das seine Verwandten hätten, nicht mit einem entsprechenden Verhalten entgegenkam, sondern „selbstbewußt“ das hervorhob, was er an der ehemaligen DDR gut gefunden hatte. Er drehte so das negative Vorurteil, das er bei seinen Verwandten vermutete und das ihn verletzte, um, indem er ihnen nun seinerseits unterstellte, darunter zu leiden, „nicht mehr die Größten zu sein“. Der Facharbeiter und Satiriker Fröhlich, dessen Gedichte einige meiner Kapitel einführen, fühlte sich nicht bemüßigt, in den Auseinandersetzungen mit seinen Westverwandten, vor allem mit dem erfolgreichen Vater seiner Frau in Westberlin, ein rosiges Bild von der ostdeutschen Lebensweise zu zeichnen. Er faßte die essentiellen Gemeinsamkeiten zwischen Ostdeutschen als „Knasteffekt“ zusammen. Über sein Verhältnis zu den Westdeutschen sagte er: „Die sind anders. Und das ist alles herzlich und freundlich und weiß ich nicht. Aber wir haben über Jahrzehnte andere Probleme gehabt und dadurch sind wir geprägt, und das einzige, was wir im Augenblick noch haben, ist die alte „Notgemeinschaft“, in Gänsefüßchen, mit der wir all die Jahre gelebt haben, und damit lebt es sich eben leichter als mit noch so gut gesinnten Westleuten, muß ich mal so sagen. Das geht gegen niemanden persönlich. Jeder mag sich noch so viel Mühe geben, aber das kann nicht dasselbe sein wie mit den Leuten – das ist wieder dieser Knasteffekt – mit denen man gemeinsam in der Zelle gesessen hat und weiß, wie man miteinander umgeht.“ (Fröhlich, Facharbeiter, STANEX, 16. 6. 1991) 165 Im Gegensatz zu den meisten seiner Mitbürger hätte Froberg mit seiner Familie in die BRD ausreisen können im Rahmen der Familienzusammenführungen, aber weder er, noch seine Frau „hatten das Gefühl gehabt, das tun zu müssen“. Sie fühlten sich mit den Menschen in der DDR wesentlich enger verbunden. Sie saßen also, bildlich gesprochen, freiwillig „im Knast“. Für Fröhlich, den Individualisten, war die westdeutsche Gesellschaft nicht unbedingt die bessere Alternative. So war er zutiefst schockiert von der Art, wie ihm sein westberliner Schwiegervater noch vor der Wende im Westen einen Arbeitsplatz besorgen wollte. Fröhlich zitierte ihn: „Na ja, wenn du kommst, ich werde mal sehen, da fliegen da eben mal zwei Mann raus und dann wirst du eingestellt.“ Für Fröhlich war dieses Angebot inakzeptabel, wobei er feststellte, daß so ein Verhalten „heute zur Realität geworden ist“, eine Realität, die ihm jedoch fremd blieb. „Wir fühlen uns wie Leute , die aus dem Knast entlassen worden sind und nicht wissen, wo es draußen langgeht, bloß mit dem Unterschied, daß die echten Knackis vorher mal die Freiheit erlebt haben.“ (Fröhlich, STANEX, 16. 6. 1991) Fröhlich definierte sich und seine Bekannten als Leute, die nicht wissen konnten, die eingesperrt waren und die sich mit ihrer Zwangssituation in einer Art arrangiert hatten, die die Westdeutschen nicht nachvollziehen konnten. Er gab sich selbst damit eine Opferrolle, die im Widerspruch stand zu der Tatsache, daß er freiwillig im Osten geblieben war und auch zu den ironischen Gedichten, mit denen er seine Vorgesetzten provozierte und seine Kollegen erfreute. Sein Kokettieren mit dem Stereotyp des „Knacki“ war nur eine Facette seiner Identität, mit der er sein Zugehörigkeitsgefühl zur Gemeinschaft der Ostdeutschen erklärte. Das Stereotyp vom „faulen Ossi“: Arbeit in Ost und West konstituierte für die Betriebsmitglieder ein von Angst besetztes Feld. Aus Erzählungen der Nachbarn, Verwandten und Bekannten wurde ein Bild des Arbeitsmarktes geschaffen, das Angst machte. Aber gleichzeitig wurden auch Geschichten erzählt von Ostdeutschen, die ihren Westkollegen zeigen konnten, wie leistungsstark sie waren, „daß sie nicht mehr ihren Facharbeiter zu machen brauchen“. Die Geschichten über die Ostdeutschen als Konkurrenten gingen einher mit Erzählungen von Ostdeutschen als ausgebeutete Arbeitskräfte im Westen. 166 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 „Für ein Vierteljahr werden sie eingestellt. Die Probezeit läuft ja bei vielen ein Vierteljahr. Und danach wird der nächste geholt. Wer wagt denn da aufzumucken? Jeder hofft doch, daß er dann bleiben kann, daß er wieder eine Beschäftigung hat. Wer wird denn da zur Gewerkschaft gehen oder zum Betriebsrat? Jedenfalls nicht die Leute aus dem Osten, die eine Anstellung gefunden haben bei einer Westberliner Firma.“ (Ruland, STANEX 18.4. 1991) Warnend erzählte auch Kater, daß viele Westfirmen schon die erste Generation von Ostdeutschen durch noch billigere Arbeitskräfte ersetzen würden, bis hin zur Anstellung von Arbeitskräften aus den ehemaligen sozialistischen Bruderländern, die bereit wären zum Niedrigstpreis zu arbeiten. Diese Geschichten, die nicht von der Hand zu weisen waren und von Kollegen wie Scheuch bestätigt wurden, der kurz nach der Wende im Westen eine Anstellung gefunden hatte, trugen sicher mit dazu bei, daß sich viele Beschäftigte an ihre maroden Betriebe im Osten klammerten, vor allem wenn sie zum Zeitpunkt des Mauerfalls älter als 40 Jahre waren. „Bei allen, die in meinem Alter sind, da wird einfach mal das Geburtsdatum angeguckt, na ja, das war‘s dann wohl. 52? Macht doch keener. Außer, es kommt so in eine Situation, weil viele junge Leute nun schon abgewandert sind, die Abwanderungswelle ja weiter anhält, daß man, woran man fast gar nicht mehr zu glauben hofft, oder kaum mehr glauben kann, daß so eine Situation eintritt, daß das eben in einem dermaßen rasendem Tempo aufwärts geht, daß man sagt: also wir brauchen auch die 50 und 60-jährigen noch…..“ (Ruland, STANEX 18.4. 1991) Walter Schuster und Karl Scheuch, die bereits im Westen gearbeitet hatten, versuchten zu definieren, was sie von ihren westlichen Arbeitskollegen unterschied und was im positiven Sinne ihre Identität als ostdeutsche Arbeiter ausmachte. Nach der Wende hatte Scheuch sich eine Arbeitsstelle im Westen gesucht, weil Dr. Schöpf keine Perspektive für den Betrieb STANEX aufzeigen konnte. Er verließ den Betrieb und vor allem seine Kollegen mir großem Bedauern und hörte auch nicht auf, intensiven Kontakt zu ihnen zu pflegen. Seine Erzählungen von der Arbeitssituation im Westen wurden für viele Kollegen zum Maßstab für das, was sie im Westen zu erwarten hatten. Seine Kritik an den Verhältnissen, die er an seiner neuen Arbeitsstelle in Westberlin vorfand, war allerdings nicht weniger heftig, als sie es bei STANEX gewesen war. Er erzählte, daß seine neuen Vorgesetzten das Personal verschlissen, indem sie Mitarbeiter willkürlich einstellten und nach kurzer Zeit wieder entließen, um möglichst billige Arbeitskräfte zu haben, ohne darauf zu achten, ein funktionierendes Arbeitsteam zu schaffen. Er beobachtete unternehmerische Schwächen im Umgang mit Kunden, wenn sie bei Angeboten Zusagen über Genauigkeiten machten, die der Kunde gar nicht verlangt hatte und die die Fertigung auch nicht halten konnte. Er charakterisierte den Besitzer der Firma als jähzornig und unbe167 herrscht, weil er seinen Ärger an seiner Belegschaft abließ. Scheuch war einer der wenigen neuen Mitarbeiter, der seine Stelle im Betrieb behaupten und es sich erlauben konnte, seinen neuen Chefs vorsichtig Vorschläge zur Verbesserung der Arbeitsatmosphäre zu machen, die jedoch meist ignoriert wurden. Obwohl sie zugeben mußten, daß es nicht an allen Arbeitsplätzen im Westen kalt und unpersönlich zuging, beschrieben Scheuch und Schuster die persönlichen Verbindungen unter den Arbeitenden als gering. Viele Westdeutsche wären so erfüllt von ihrer Arbeit, daß ihr ganzes Leben davon bestimmt schien. „Die Wessis leben, um zu arbeiten und wir arbeiten, um zu leben“, war ein häufig gebrauchtes Stereotyp. Sie betonten die Dinge, die außerhalb der Arbeit ihr Leben bestimmten, und nahmen damit der Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes einen Teil ihrer existentiellen Dimension. Schuster betonte die geringere Trennung zwischen oben und unten in der Hierarchie der Arbeitenden im ostdeutschen Betrieb. „Im Westen ist das ganz anders. Im Westen ist diese Hierarchie ist bei sehr vielen Leuten ganz stark verinnerlicht. Also: Jemand, der einen weißen Kragen anhat und keinen Blaumann, der fühlt sich meistens einfach als was Besseres. Er ist qualifizierter, er ist ein besserer Mensch, er ist überhaupt besser. Das ist ein richtiges Problem. Denn genau das verhindert, daß die Tätigkeit von Konstrukteuren und Arbeitern sich befruchtet. Denn gerade in der Konstruktion haben wir noch den Vorteil, daß wir ein paar Leute haben, die die ganzen mechanischen Fähigkeiten haben, die also selber montieren können, selber lange Zeit gefräst haben. Im Westen es gibt sehr, sehr viele Konstrukteure, die zum Beispiel etwas konstruieren, was ganz pfiffig und toll ist und die dann sagen: ‚In unserer heutigen Zeit kann man alles herstellen, bitte mach das Ding.‘ Und dann werden die wüstesten Sachen da gedrahtet und gesenkt und rundgeschliffen – was weiß ich – , weil irgend jemand sich auf den Standpunkt stellt: ‚Das ist meine Idee – und fertigen muß ich das nicht, man kann es aber machen.‘ Das ist zum Beispiel ein typisches West-Problem.“ (Schuster, Facharbeiter, STANEX, 20.2.1993) Das von Schuster angebrachte Stereotyp vom westdeutschen Angestellten mit weißem Kragen, der sich „als was Besseres“ fühlt, beruht einerseits auf der Wahrnehmung, daß die stärkere Arbeitsteilung zwischen Hand- und Kopfarbeitern die Lösung praktischer Produktionsprobleme erschwerte, andererseits aber auch auf seinem spezifischen Statusproblem als Facharbeiter. Als erfahrenen Facharbeiter, der jahrelang Hand in Hand mit den Konstrukteuren von STANEX gearbeitet hatte, ärgerte es ihn, daß Kopfarbeit im neuen System mehr Prestige brachte und daß Konstrukteure sich so weit von der Fertigung lösten, daß sie schwer zu produzierende Konstruktionsvorschläge machten. Obwohl er die gleiche Leistung wie vorher brachte, wurde sein Beitrag nicht mehr gleich hoch geschätzt. In der Marktwirtschaft war er als Arbeiter nicht mehr so viel wert wie in der Planwirtschaft, wo die Arbeiter ideologisch die tragenden Säulen des Ar168 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 beiter- und Bauernstaates waren und ihr Improvisationsvermögen und ihre Kreativität in der Fertigung ständig vonnöten waren. Den Stolz auf die eigene Leistung und den Wunsch, von den westdeutschen Arbeitgebern als der akzeptiert zu werden, „der er ist“, betonte auch der Konstrukteur Veit Kater. Er hatte sich Ende 1991 bei einigen Westfirmen beworben und hatte sich dafür eigens ein Buch „wie bewerbe ich mich“ gekauft. Wie er erklärte, hatte er sich nicht an die Ratschläge gehalten, weil diese Verhaltensregeln bei Bewerbungsgesprächen letztlich darauf hinaus liefen, daß man seine wahre Persönlichkeit versteckt, er aber wollte, „als er selber“ eingestellt werden. Ein weites Feld für stereotypische Diskurse war auch durch die Einführung zweier unterschiedlicher Tarifgebiete in Ost- und Westdeutschland gegeben. Die niedrige Produktivität der ostdeutschen Betriebe und damit auch die errechnete niedrige Produktivität der ostdeutschen Arbeitnehmer sollte durch ein niedriges Lohnniveau ausgeglichen werden, um die Betriebe wettbewerbsfähig zu halten. Die Einschätzung, die die meisten Beschäftigten von ihrer Produktivität hatten, war hingegen durchweg positiv. Sie waren davon überzeugt, gut qualifiziert und leistungsstark zu sein. Sie unterstellten den Westdeutschen, das Vorurteil zu haben, „die Ossis sind unqualifiziert und unproduktiv“, und setzten dem die Selbsteinschätzung entgegen, leistungsfähig und diszipliniert zu sein. „Dieser Slogan: ‚Die blöden Ossis, die können nichts, die sind nichts‘, das zieht sich ja über alle Bereiche ….. bis Bedarf bei irgendwelchen westlichen Firmen oder Einrichtungen besteht. Dann sind sie auf einmal eigenartigerweise gut ausgebildete Leute. Aber viele Unternehmer, die wissen das auch, daß die Leute, sich noch zu helfen wissen... Weil wir uns die ganze Zeit immer was einfallen lassen mußten...eben aus der Mangelwirtschaft heraus... Diese Schutzbehauptung (die Ossis können nichts; B.M.) – ich seh sie mehr als eine Schutzbehauptung von alteingesessenen Bundesbürgern an – , die auch logischerweise Angst vor der Konkurrenz haben. Denn wir stellen eine Konkurrenz da. Eindeutig! Wir drücken, wir drücken von hier aus auch ganz schön mit (auf die Löhne; B.M.).“ (Ruland, Facharbeiter, STANEX 18.4.1991) Robert Ruland wertete das von ihm unterstellte Stereotyp der Unfähigkeit als „Schutzbehauptung“ um, die ein Ausdruck der Eifersucht und der Angst der westdeutschen Beschäftigten vor ihren potentiellen ostdeutschen Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt war. Er sah, daß die niedrigen Löhne im Osten und die Bereitschaft der Ostdeutschen, für geringere Löhne als die Westdeutschen in Westdeutschland zu arbeiten, eine Konkurrenzsituation schafften zwischen Westdeutschen, die ihr Lohnniveau halten wollten und Ostdeutschen, die das ihre verbessern wollten oder einfach nur eine Arbeit suchten. „Es ist klar, wer bis jetzt nur sechs, sieben oder acht Mark verdient hat, kann auf einmal zwölf Mark verdienen, oder 13 oder 14. Für den ist das sehr lukrativ. Daß für die gleiche Arbeit ein 169 Altbundesbürger, laut Tarif aber dann 18, 20 oder 22 DM in der Stunde dafür kriegt, rechtlich zu kriegen hat. Das ist natürlich eine gefundene Sache für einen Unternehmer, wenn er weiß, da stehen welche, die machen das auch für zwölfe, vierzehn Mark. Also geht der Druck auf den Alteingesessenen, also ein Disziplindruck, kann man sagen, auf den alten Bundesbürger. ‚Wenn Du nicht spurst, hol ich mir ein paar Ossis‘“ (Ruland, Facharbeiter, STANEX, 18.4.1991) Indem Ruland auf der einen Seite einen essentialistischen Diskurs über „die Wessis“ konstruierte, die „die Ossis“ abqualifizierten, rechtfertigte er indirekt die ostdeutschen Arbeitskräfte, die für niedrigeren Lohn auf den westdeutschen Arbeitsmarkt drängten. Gleich darauf verließ er jedoch dieses Argumentationsniveau und gab die „Schuld an dieser Konkurrenz“ nicht den „kleinen Leuten“, sondern denen, die er mit dem unbestimmten Terminus „die“ bezeichnete, die vom Wegfall des konkurrierenden Gesellschaftssystems in der DDR profitierten. „Dieser Gegensatz zwischen diesen beiden Systemen, der ist weg. Die Konkurrenz ist weg, man braucht auf keinen mehr Rücksicht nehmen. Man braucht auf den Osten oder auf das, was die da machen, keine Rücksicht mehr zu nehmen. Jetzt entwickelt sich das meiner Meinung nach gesellschaftlich alles zurück. Und daneben haben die das große Sagen. Mit Erfolg dieses ‚divide et impera‘, dieses ‚Teile und Herrsche‘! Die kleinen Leute auseinander dividieren oder aufeinander hetzen sogar in Gegnerschaft, um damit irgendwie die eigene Macht wirklich zementieren zu können.“ (Ruland, STANEX, 18.4.1991) Bei Ruland erreichte die Konstruktion eines Ost-West-Gegensatzes einen hohen Grad an Abstraktion, der diesen zunehmend unüberprüfbar machte. Die Mächte, die die „kleinen Leute aufeinander hetzten“, wurden nicht mehr benannt und erschienen damit umso bedrohlicher. Ruland war auch der einzige unter meinen Gesprächspartnern, der von einer Kolonisation Ostdeutschlands sprach. In seinem Notizbuch trug er einen Artikel bei sich, dessen Autor, Theodor Storm zitierend, auf die Parallelen zwischen der Situation Schleswig-Holsteins im 19. Jahrhundert und der von Ostdeutschland nach der Vereinigung hinwies. Ruland las vor: „Aber hier: ‚Wie sich doch alles wiederholt: Anfang 1867 nach dem Sieg der Preußen bei Königgraetz wurden die beiden ehemaligen Herzogtümer Schleswig und Holstein dem preußischen Staat einverleibt. Theodor Storm schrieb folgende Zeilen über das System der brutalen Machtherrschaft. Ich habe sie zufällig gefunden und staune darüber, wie sich alles wiederholt. ‚Wir können nicht verkennen, daß wir lediglich unter der Gewalt leben. Das ist desto einschneidender, da es von denen kommt, die wir gegen die dänische Gewalt zur Hilfe riefen und die uns jetzt, nachdem sie jene bewältigen geholfen, wie einen besiegten Stamm behalten. Indem sie die wichtigsten Einrichtungen ohne uns zu fragen hier über den Haufen werfen, und andere dafür nach Gutdünken oktroyieren.‘“( Ruland, STANEX, 18.4. 1991) 170 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Ruland befand die Ähnlichkeiten waren: „Eindeutig! Die Bürokratie, die Hochnäsigkeit, die Überheblichkeit stimmen, – die Arroganz – genau wie heute.“ Vor allem schien sich ihm eine Parallele aufzudrängen, da, wo Storm die Zerstörung der wichtigsten Einrichtungen beklagte und das Oktroyieren von neuen Institutionen, ohne die Bürger des Landes selber dazu zu befragen. Ruland hinterfragte in diesem Zusammenhang nicht die Ausnutzung der neuen institutionellen Strukturen durch den Direktor seines eigenen Betriebs. Ein Verschieben der Verantwortlichkeiten auf eine abstrakte „Kolonialmacht“ enthob ihn dieser Verantwortung. Auffallend ist, daß die Stereotypen, mit denen die ostdeutschen Beschäftigten die ost-westdeutschen Gegensätze konstruierten und sich mit ihnen auseinandersetzten, sich häufig nicht auf die Westdeutschen direkt bezogen, sondern auf die Vorurteile, die diese über „die Ostdeutschen“ entwickelt hätten. Diesen angenommenen Stereotypen wurde dann in einem wiederum schematisierenden Gegendiskurs widersprochen, der positive ostdeutsche Gemeinsamkeiten annahm. Da Stereotypen nicht fest und unverrückbar sind, sondern oft zweideutig und ambivalent, können sie strategisch eingesetzt werden und verdecken gleichzeitig Strategien und Interessenslagen (Herzfeld 1992:67). 7.2. Die Idee des Sozialismus „Bei uns war nicht alles schlecht.“ Dieser recht bescheidene Anspruch auf eine Vergangenheit, die nicht schamhaft verschwiegen werden muß, wirkte sowohl nach außen in der Auseinandersetzung mit der neuen bundesrepublikanischen Wirklichkeit, als auch nach innen in der Bestätigung der eigenen Identität. Er forderte meine Gesprächspartner zu einer Auseinandersetzung mit ihren Idealen der Vergangenheit, der Idee des Sozialismus und einer Reevaluation des sozialistischen Gesellschaftssystems und ihrer eigenen Rolle darin heraus. Diese Selbstreflexion war in keinem der drei Berliner Betriebe so stark wie bei STANEX, wo die weltanschaulichen Auseinandersetzungen schon vor dem Fall der Mauer heftig gewesen waren. Die Kollegen setzten ihre politischen Debatten auch dann noch über die Grenzen des Betriebs hinaus fort, als die Kollegen Scheuch und Schuster bereits in Westberlin arbeiteten. Die Auseinandersetzungen der Mitarbeiter von STANEX mit der Idee des Sozialismus war nicht nur eine ideologische Debatte, sondern sie betraf ihre gesamte Identität. Es ging darum, wie es der 171 Konstrukteur Kater ausdrückte, „man selbst zu bleiben“ in einem sich rasch verändernden sozialen Umfeld. Die Diskussionen um „Sozialismus“ als Gesellschaftsideal griffen die Themen auf, die in den achtziger Jahren zu den tragischen Konflikten in der Konstruktionsabteilung geführt hatten (Kapitel 4). Wieder war der Konstrukteur Scheuch ein Katalysator. An seiner neuen Arbeitsstelle in Westberlin trauerte er seinen Kollegen bei STANEX nach und dem offenen, wenn auch oft konfliktuellen Betriebsklima, das in der Konstruktionsabteilung geherrscht hatte. Nach Arbeitserfahrungen im Westen und Osten entwickelte er eine Interpretation des sozialistischen Gesellschaftssystems, die er mit seinen Kollegen bei STANEX diskutierte. „Ich sage, daß das Experiment Sozialismus nicht widerlegt ist. Ich glaube nicht, daß es nicht machbar ist. Ich glaube es nicht. Denn, daß es in der DDR oder überall schiefgegangen ist, das hat meiner Ansicht nach eine ganze Menge Gründe und in der DDR, wo ich das ja selber so beurteilen kann, hängt es sicherlich oder hing es sehr stark damit zusammen, daß man diese Fachkompetenz totgemacht hat, Widersprüche totgemacht hat. Nicht? Denn ich habe in der Ingenieurschule gelernt – bei dem Unterricht Politik, oder wie nannte sich das? – : Widersprüche fördern die Entwicklung. Und ich gehe auch davon aus, daß es so ist. Wenn ein Widerspruch da ist und der gelöst werden muß, dann kommt das Beste bei raus. Man muß ja irgendwie den Widerspruch lösen. Man kann ihn auch mit Gewalt lösen, aber wenn man den vernünftig löst, ist immer, sagen wir, eine Entwicklung da .“ (Scheuch, STANEX , 24.6 1991) Scheuchs Kritik am Gesellschaftssystem der DDR beruhte auf Dialektik. Entwicklung – so hatte er auf der Ingenieurschule gelernt – ist nur möglich, wenn sich Widersprüche in der höheren Einheit der Synthese gegenseitig aufheben. Was allerdings zur Erklärung des wissenschaftlich-technologischen Fortschritts in den sechziger Jahren noch gelehrt wurde, als Scheuch zur Ingenieurschule ging, galt ab Anfang der siebziger Jahre nicht mehr, als Honecker erklärte, der real existierende Sozialismus als Endstation der gesellschaftlichen Entwicklung sei nunmehr erreicht. Ökonomischer und gesellschaftlicher Fortschritt sollten sich künftig nicht entlang der Linien einer permanenten Revolutionierung der Produktivkräfte entwickeln, sondern aus einer eindeutig politisch von der sozialistischen Einheitspartei bestimmten Evolution folgen (Meuschel 1992:222). Dies bedeutete Negation der Widersprüche innerhalb der real sozialistischen Gesellschaft. Für Scheuch, aber auch für seinen ideologischen Gegenspieler Ruland war es die Negation der Widersprüche, die das Gesellschaftssystem der DDR letztlich zerstörten. Auch Ruland berief sich auf den Marxismus als Philosophie, die ein volles Verständnis von Gesellschaft ermöglicht, die aber durch die Gleichschal172 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 tung der Meinungen in der DDR nicht zum Tragen kommen konnte. Im Gegenteil, so meinte er, die Kapitalisten wären schlau genug gewesen, die Erkenntnisse, die Marx gewinnen konnte, für ihre eigenen egoistischen Interessen zu nutzen, während die Machthabenden in der DDR sie mit Füßen traten: „Denn der Kapitalist hat diese Philosophie voll für sich ausgenützt. Da steht doch alles drin! Über Arbeitsproduktivität, über die Individualität des Menschen, jedes einzelnen. Daß nicht alle in eine Richtung gebracht werden können, daß gegensätzliche Meinungen einfach bestehen ... und daß die Vielfalt der Meinungen zum einigermaßen vernünftigen Zusammenleben führen kann. Das ist doch alles mit Füßen getreten worden. So wie die Kirchenfürsten ihren Herrn und Meister auch mit Füßen treten tagtäglich.“ (Ruland, STANEX, 18.4. 1991) Rulands Vorstellung vom Sozialismus war stark von den Weltanschauungen seines streng katholischen Elternhauses geprägt. Sozialismus und christliche Lehre gehörten für ihn untrennbar zusammen. Die sozialistische Idee zog sich seiner Meinung nach in Variationen durch die gesamte Menschheitsgeschichte als Streben nach mehr „Gerechtigkeit“ und „Lebensqualität für die kleinen Leute“. „Ich möchte sogar so kühn sein und behaupten, wer war denn Jesus Christus? Im Grunde genommen war er ein Sozialist, wenn man mal die Geschichte extrem auseinander pflücken will. Was wollte er denn? Im Grunde ein besseres Leben für die Armen. Er war ja selbst aus einer armen Familie, einer ganz kleinen niedrigen Familie.“ (Ruland, STANEX, 18.4. 1991) Allerdings gab es für ihn eine klare Unterscheidung zwischen den christlichen Idealen und der Herrschaftpraxis der Kirche, die er ebenso ablehnte, wie er sich geweigert hatte, der SED beizutreten. „Ich kannte doch etliche, die diesen Sozialismusgedanken echt mit dem Herzen vertreten haben, die auch nicht in der Partei waren und die sich aus den gleichen Gründen auch nicht dort hingezogen fühlten. Dann habe ich manchmal gesagt, es gibt vielleicht mehr parteilose Sozialisten, als Sozialisten in der Partei.“ (Ruland, STANEX, 18.4. 1991) Als parteiloser Sozialist und Gewerkschaftsmitglied hatte Ruland, der Träger des vaterländischen Verdienstordens in Gold, im Gegensatz zu Scheuch nicht zu den Kritikern des Regimes gezählt. Scheuch hielt auch noch 1991 Ruland für einen Feigling und Zuträger des Regimes, während Ruland selber mittlerweile Scheuch für jemanden hielt, der durch die Verhältnisse im Kapitalismus zum Sozialisten bekehrt worden war. „Das war einer, der früher hier – ich muß allerdings sagen, weitestgehend wollte er auch nur, daß es vorwärts geht in der DDR – einer der extremsten Kritiker war. Vom Sozialismus oder dergleichen wollte der früher nie etwas wissen. Also das war wie ein rotes Tuch, da ist er sofort hochgegangen – Partei sowieso, da konnte ich ihn sogar ein bißchen verstehen. Der sagt, als er 173 das letzte Mal hier war, also ganz leise zu mir, ... weil wir ja oft politisch konträr waren – aber eben in gegenseitiger Achtung wiederum, da sagt er: ‚dieser Gedanke Sozialismus ist meiner Meinung nach noch lange nicht tot.‘ Das war für mich, also aus dem Munde von dem Mann das zu hören, das war irgendwie für mich – also ich weiß es nicht – total schön! […] Was doch, diese neue Situation für Denkprozesse ausgelöst hat, und eigentlich eben auch Bedauern, daß wir aus dieser Idee und aus diesen Anfängen, auch aus der DDR, nicht mehr gemacht haben.“ (Ruland, STANEX, 18.4.1991) Indem Ruland in Scheuch einen Bekehrten sah, fühlte er sich selber bestätigt, als einer der recht hatte und der seine Sicht auf die Welt nicht zu revidieren braucht. Scheuchs Kollege Kater sah das anders und bestätigte Scheuch, einer der wenigen Kollegen gewesen zu sein, die zu ihrer Meinung gestanden hatten und sie nicht nach dem politischen Regime ausgerichtet hatten: „Es gibt ein paar Typen wie den Scheuch zum Beispiel, der hat schon immer eindeutig gesagt, daß er dagegen ist, was hier stattfindet, der hat aber auch einen Standpunkt gehabt von Anfang an, wo er sagte, der Westen ist auch nicht das Goldene vom Ei. […] Und der kommt auch jetzt klar. Der hat auch seinen Standpunkt nicht geändert. Der war früher ein Rechter, der ist jetzt ein Linker, von der offiziellen Betrachtung her. Früher war er so ein ganz Böser und jetzt ist er plötzlich einer, der noch das gleiche sagt wie vorher und dabei aber schon viel weiter links steht als viele andere, die ganz plötzlich nur noch CDU gesehen haben. Aber so wie er ist ein relativ geringer Teil.“ (Kater, STANEX, 25.4.1991) „Seinen Standpunkt nicht ändern müssen“ und „seinen Überzeugungen treu bleiben können“, war in dieser ersten Zeit der Umwälzungen wichtig. Immer wieder betonten meine Gesprächspartner, was sich in ihrem Weltbild nicht verändert hatte. Veit Kater bewunderte seinen Kollegen Karl Scheuch dafür, daß er konsistent bleiben konnte in seinen Meinungen, während er selbst als Parteimitglied bis 1989 und in seiner Jugend doktrinärer Vertreter des Regimes, mehrfach seine politische Praxis in Frage stellen und ändern mußte. Er stellte fest, daß manche Kritiker der Machtverhältnisse des real existierenden Sozialismus auch der bundesrepublikanischen Gesellschaftsordnung wieder kritisch gegenüber standen, während viele Mitläufer des alten Regimes sich rasch auch in das neue einordneten. Veit Katers ehemaliger Parteigenosse Walter Schuster hatte weniger Bewunderung für Scheuch übrig und warf ihm vor, „den richtigen Weg auch nicht begangen zu haben“, das heißt, seine gesellschaftlichen Überzeugungen in der Zeit des Umbruchs auch nicht in die Tat umgesetzt zu haben. Stattdessen hätte er sich eine Arbeit im Westen gesucht und dann seine Kollegen im Osten aufgefordert, lieber alles so zu erhalten wie es war: 174 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 „Er hat aber dann gesagt: ‚Erhaltet das lieber so, wie es ist.‘ Er ist selber weggegangen, aber dann aus der Erfahrung heraus zu sagen: ‚Erhaltet das lieber so wie es ist, das ist besser als das, was ich dort erlebe!‘ Was er heute als Mangel sieht: Daß eben Privatbesitz natürlich auch eine gewisse Brutalität in sich birgt – daß er das damals gar nicht empfunden hat, weil es nicht da war, weil es zu dieser Zeit einfach nicht gewirkt hat. Jetzt wirkt das alles. Jetzt wirkt Geld in seiner Brutalität noch schlimmer als vorher, weil es also diese großen Unterschiede gibt und die platten Nasen, jetzt wirkt Besitz noch stärker und Mangel an Arbeit auch genauso stark, also dieses Nicht-gebraucht-werden, [...] gerade in der Altersgruppe zwischen 45 und 55 oder bis 60, wo es für viele richtig weh tut. […] Das hat alles nicht gewirkt und damit haben sie das nicht zu schätzen gewußt und natürlich auch nicht aktiv an der Verbesserung der herrschenden Situation mitgewirkt, sondern eher immer konsumorientiert geguckt.“ (Schuster, STANEX, 20. 2. 1993) Überfluß nicht nur an Gütern, sondern auch an Menschen charakterisiert Schusters Meinung nach die Marktwirtschaft, und es ist diese Seite der Medaille, die die DDR-Bürger nicht wahrgenommen hätten, als sie das alte System zusammenbrechen ließen, um in die bundesrepublikanische Konsumgesellschaft einzusteigen. Wie viele seiner Kollegen habe Karl Scheuch die Brutalität einer Gesellschaft, die über das Medium Geld organisiert ist, nicht erkennen können, bevor er sie nicht selbst erlebte. Auch Schuster versuchte 1991, „Sozialismus“ auf seine Grundidee von „Gemeinschaft und sozialem Miteinander“ zurückzuführen, mit der er sich identifizieren konnte. „Sozialismus war das eigentlich positive Lebensziel und Kapitalismus das eigentlich überlebte Lebensziel, und meine Überzeugung ist das heute immer noch. Ich kann den christlichen Glauben und alle anderen Weltreligionen nehmen, wenn man sie auf ihre Substanz durchforstet, dann bleibt im Endeffekt Gemeinschaft, soziales Miteinander und nicht Kampf gegeneinander übrig. So, und jetzt ist natürlich immer die Frage, in welcher Form kann ich das verwirklichen und was ist mein Lebensziel. Mein Lebensziel ist nicht, den ganzen Tag in der Fabrik zu malochen, nur damit sich einer ein fettes Leben macht! Das kann einfach nicht so sein! Dagegen sträubt sich meine Intelligenz! Nur weil einer Sohn eines fetten, reichen Typs ist, darf der mehr lernen, geht in eine bessere Schule....“ (Schuster, STANEX, 22.4.1991) Dem eigentlichen Lebensziel „Sozialismus“ stellte er als Kontrast das Stereotyp des „fetten reichen Kapitalisten“ gegenüber, für den er nicht arbeiten mochte. Eine konkrete Vorstellung davon, wie eine sozialistische Gesellschaft auszusehen habe, hatten weder er noch seine Kollegen. Sie waren sich jedoch einig darüber, was sie nicht wollten: keine monolithische Gesellschaft, in der Widersprüche ausgeschlossen waren. Gleichzeitig wünschten sie sich auch eine Gesellschaft der Harmonie und nicht des Kampfes, ein soziales Miteinander. Wie sie diese Vorstellungen verwirklichen wollten, darüber hatten sie – noch – keine praktische Vorstellung. Deshalb blieb „Sozialismus“ bei den meisten auf dem 175 Niveau des Gesellschaftsideals, der Ersatzreligion, die, wenn man an sie glaubt, auch Widersprüche vereinbar werden läßt. Wenn auch das Bedürfnis da war, zu handeln und nicht einfach „alles so zu lassen, wie es ist“, wie Schuster es Scheuch vorwarf, so ergaben die Überlegungen über den Sozialismus noch kein Handlungskonzept auf die Gesellschaft bezogen, in der sie lebten. Freund- und Feindbilder waren in der ostdeutschen Gesellschaft durch den Zusammenbruch der DDR, die Privatisierung der Betriebe, die Differenzierung zwischen Kopfarbeitern und Handarbeitern, in Frage gestellt und mußten neu definiert oder bestätigt werden. Der „andere“ mußte als Partner oder Gegner definiert werden, bevor es möglich war, mit ihm oder gegen ihn zu handeln. Die Schwierigkeit einer solchen Neudefinition zeigt die Beziehung zwischen dem Konstrukteur Scheuch und dem Facharbeiter Ruland. Wo Ruland eine Bestätigung seines Weltbildes und seiner Person zu finden glaubte, sah Scheuch im Gegenteil Charakterschwäche und Feigheit. Das Ideal des Sozialismus, an dem manche Mitarbeiter von STANEX festhalten wollten, konnte nicht dasselbe sein, das sie zuvor in der anderen gesellschaftlichen Realität des realexistierenden Sozialismus verfolgt hatten. „Sozialismus“ mußte jetzt außerhalb der führenden Partei der Arbeiterklasse gedacht werden. Dies erforderte die Entwicklung gänzlich neuer politischer und gesellschaftlicher Strategien, über die die Beschäftigten noch keine gemeinsamen Vorstellungen entwickeln konnten. Die Beschäftigten bei STANEX dachten über sich selber nach im Spiegelbild derer, die sie als „andere“ konstruierten. Indem sie einen stereotypischen Diskurs der Westdeutschen über die Ostdeutschen konstruierten, konnten sie sich dagegen absetzen und positiv formulieren, wer sie waren. Die Angst einflößende Abstraktheit des Gesellschaftssystem „Kapitalismus“ wurde personalisiert und greifbar gemacht in der stereotypischen Figur des „Wessi“. Dieser negativen Figur des „Wessi“ entsprach keine allgemeine Zuschreibung von Charaktereigenschaften zu in Westdeutschland lebenden Menschen, auch wenn einzelne Personen, wie die Schwägerin von Scheuch, konkret aus dem Zusammenhang heraus als kalt und herzlos bezeichnet wurden. Der „Wessi“ ist keine Person, sondern ein kapitalistischer Archetyp, gegen den sich die Beschäftigten, mit denen ich sprach, genauso absetzten wie gegen den Gegentyp des „Ossi“. Der „Wessi“ hatte ambivalente Eigenschaften, „er“ ließ bewußt die ostdeutsche Wirtschaft kaputtgehen, aber „er“ war kein selbstbewußter siegreicher Zerstörer, sondern „er“ hatte Angst vor Konkurrenz, vor den „Ossis“. Den „anderen“ als negativ oder verunsichert zu konstruieren, half die eigene Unsicherheit in den Griff zu bekommen und sich zu befähigen, individuell den Alltag zu bewältigen. 176 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Allerdings führte diese individuelle Alltagsbewältigung noch nicht zu kollektivem Handeln. Erklärungen für den wirtschaftlichen Niedergang und die Zerstörung der sozialen Beziehungen im Betrieb wurden in einem Entweder-Oder gesucht: Entweder die „Wessis“ und die „Marktwirtschaft“ waren schuld oder die alten Machthaber, die immer noch die institutionellen Machtpositionen besetzt hielten. Die Konstruktion eines „Wessi-Archetyps“ verschleierte die Machtbeziehungen innerhalb der neuen Gesellschaftsstruktur und verhinderte Einsichten in ihre Funktionsweise, die es erlaubt hätten, eigene Handlungsstrategien zu entwickeln. 177 TEIL III EINTRITT IN DIE WELTWIRTSCHAFT 178 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 179 In den ersten Jahren nach dem Fall der Mauer fühlten sich die Ostdeutschen durch das dominante gesellschaftliche System der Bundesrepublik Deutschland vereinnahmt. Die Beschäftigten führten die einschneidenden Veränderungen in ihren Betrieben vor allem auf den Einfluß westdeutscher Wirtschaftskraft zurück, gefördert durch westdeutsche Institutionen. Ihrer Wahrnehmung nach handelte es sich um eine Auseinandersetzung mit einem zuvor konkurrierenden politischen und wirtschaftlichen System, an das man sich anpassen wollte oder dem man sich widersetzte. Der „Markt“ wurde verkörpert durch die westdeutschen Konsumenten, die „Privatisierung“ durch die Institution „Treuhand“. Der Gegenpol, ob als Gegner oder als anzustrebendes Ziel, schien erkennbar und wurde personifiziert. Wie die Beschäftigten der Ostberliner Tochterfirma des multinationalen Konzerns HOCHINAUF bald erfuhren, erklärte diese Sicht der Welt nur einen Ausschnitt der neuen gesellschaftlichen Bedingungen. Im Gegensatz zu den Beschäftigten bei TAGHELL und STANEX waren sie beim Aufkauf ihrer Firma durch ein multinationales Unternehmen in einen globalen Unternehmenszusammenhang versetzt worden. Es war nun nicht mehr die Frage, ob sie sich als Westoder Ostdeutsche fühlten – diese Kategorien hatten in der Tat die Tendenz, sich aufzulösen in OWis, das heißt, Ostdeutsche die zu Westtarifen im Westen arbeiteten, und Wossis, das heißt Westdeutsche, die im Osten arbeiteten. Stattdessen waren die Beschäftigten dazu aufgerufen, ihren Identitätsbezug über die multinationale Firma herzustellen, die von den Unternehmensideologen als „Familie“ (die HOCHINAUF-Familie) bezeichnet wurde. Identifikatorisches Denken, das zu DDR-Zeiten auf den Sozialismus und das „Volk der DDR“ gelenkt worden war, sollte sich nun auf das internationale Unternehmen richten. Persönlicher Erfolg und ein positives Selbstgefühl sollten sich einstellen, wenn man nur die Ziele des Unternehmens zu seinen eigenen machte, sich selbst nicht als einfacher 180 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Angestellter, sondern als Unternehmer fühlte, der sich auf dem Weltmarkt gegen andere internationale Konkurrenten durchsetzte. Das multinationale Unternehmen HOCHINAUF gleicht „einem Rennwagen mit einer ständig neuen, ständig besseren Feinabstimmung“, schrieb ein Branchenexperte in New York 1996. Vor rund 20 Jahren hatte das Unternehmen begonnen, ein sich ständig wandelndes Netz von Produktionsstandorten in 38 Ländern aufzubauen und zusammenzuhalten sowie in 220 Ländern Servicestützpunkte zu unterhalten. HOCHINAUF erschien als Unternehmen der Zukunft, das mühelos nationale Grenzen überschreitet, seine Produkte mit den neusten Technologien ausstattet und immer ausgefallenere Modelle für seine Kunden entwickelt und produziert. Seine Unternehmensstrategie steht im Einklang mit unheilvollen Zukunftsprognosen, die ein explosionsartiges Wachstum der Weltbevölkerung voraussehen. Die Landflucht weiter Teile der Erdbevölkerung und das Wachstum der Städte in den sogenannten Schwellenländern sind Faktoren, die in die offizielle Unternehmensstrategie einfließen und positive Umsatzprognosen erlauben. 700 Millionen Menschen mehr in den Städten Südostasiens, das bedeutet mehr Hochhäuser, also auch Nachfrage nach Aufzügen und Fahrtreppen. Auch der Zusammenbruch der Planwirtschaften in Ost- und Mitteleuropa ließ auf Nachfrage nach technologisch hochwertigen Produkten hoffen, und HOCHINAUF dehnte seinen Aktionsradius rasch auf die ehemals sozialistischen Länder aus, um seinen ebenfalls international operierenden Konkurrenten zuvorzukommen. Schon entwickelt sich das Unternehmen weiter. 1997 war die Strategie der lokalen Produktionsstandorte mit einer Vielfalt von Produkten überholt. Der neue Präsident kündigte an, aus HOCHINAUF ein wahrhaft „globales Unternehmen“ zu machen, die Produktvielfalt zugunsten von flexiblen Standardmodellen zu reduzieren, deren vereinheitlichte Komponenten weltweit an den kostengünstigsten Standorten gefertigt werden könnten. Die 45 Fabriken und 19 Engineering Center weltweit sollten bis zum Jahr 2000 auf vier bis fünf Hauptstandorte konzentriert werden. Die geistige Geographie der Angestellten von HOCHINAUF – so war die Fiktion – sollte nicht mehr an den Grenzen eines Landes anhalten, sondern das Netz der weltweiten Firmenniederlassungen einbeziehen. 181 8. Die HOCHINAUF-Mission gen Osten Die Expansion des Unternehmens gen Osten war getragen von der Überzeugung der westlichen Manager, daß HOCHINAUF neben seinen wirtschaftlichen und kommerziellen Zielen auch eine kulturelle, ja zivilisatorische Mission zu erfüllen habe. Gegen das, was sie als die Irrationalität und die Willkür der Planwirtschaft wahrnahmen, setzten die Manager ein aufklärerisches Menschenbild, basierend auf ökonomischem Rationalismus, Optimismus und Individualismus. Da ihrer Meinung nach der Kapitalismus den Wettkampf der Systeme eindeutig gewonnen hatte, wollten sie nun „den Verlierern helfen“, den Sprung in die Marktwirtschaft zu machen und die kulturellen, legalen und sozialen Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. Ihre zivilisatorische Mission wirkte durch die Konstruktion von identitären Kategorien, die die Unternehmensphilosophie zur Grundlage hatten. Die institutionelle Semantik der Betriebsphilosophie des multinationalen Unternehmens spielte mit Polysemie und Ambivalenz. Indem sie auf verschiedene Ebenen zurückgriffen, waren die Schlüsselkategorien – „Konkurrenz“, „Glaube an den Erfolg“, „Familiensinn“ – zugleich widersprüchlich als auch komplementär. Sie bezogen sich nicht nur auf ökonomisches Kalkül, sondern ebenso auf Gefühl und Glauben. Was bedeuteten diese Kategorien für die, die sie produzierten und innerhalb und außerhalb des Unternehmens reproduzierten, und wie wirkten sie? Allen Menschen im Unternehmen die gleichen Chancen einzuräumen, war als einer der Grundsätze der Unternehmenspolitik von der Konzernleitung schriftlich niedergelegt worden. Im Ton einer Konstitution erklärten diese: „HOCHINAUF vertritt den Grundsatz, daß qualifizierten Personen gleiche Arbeitschancen geboten werden müssen, das heißt ohne Rücksicht auf Rasse, Glaubenszugehörigkeit, Hautfarbe, Herkunftsland, Alter, Geschlecht, Behinderung oder andere, nicht mit den Geschäftsinteressen von HOCHINAUF verbundenen Faktoren.“ (Grundsätze der Unternehmenspolitik, nicht datiert) 182 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Nicht mit den Geschäftsinteressen von HOCHINAUF verbundene Faktoren sollten keine Auswirkung haben auf die Karrieren der Mitarbeiter. Umgekehrt hieß das auch, daß das über Finanzen und Bilanzen objektivierbare Geschäftsinteresse von HOCHINAUF der objektive Maßstab war, an dem die Mitarbeiter gemessen wurden. HOCHINAUF verstand sich als Vorreiter einer globalen Zivilisation der Zukunft, die auf vorurteilsloser ökonomischer Rationalität beruht. Gleichzeitig mischte sich zu diesem Diskurs der reinen ökonomischen Rationalität ein anderer, ihm widersprechender Diskurs, der auf Gefühle anspielte und nicht-ökonomische und nicht-maximierende Argumentionen gebrauchte. Wenn die Manager von HOCHINAUF davon sprachen, neue Betriebe in den Konzern zu integrieren, drückten sie es in Umschreibungen aus wie „neue Mitglieder in die Familie integrieren“. Der Begriff „HOCHINAUF-Familie“ erschien auf Werbebroschüren und in internen Informationsblättern für Betriebsangehörige. Er spielte auf Solidarbeziehungen zwischen den Betriebsmitgliedern, auf die Erfahrung von Gemeinschaft und gegenseitiger Verpflichtung an. Die Stärke dieses Begriffs lag in seiner gefühlsmäßigen Kraft und seiner Ambivalenz – er umfaßte hierarchische Beziehungen genauso wie egalitäre. Er schaffte eine affektive Beziehung zum Unternehmen und unterstellte kollektives Interesse. Das Universum der ökonomischen Rationalität verwandelte er in ein Universum der gefühlsmäßigen Unbestimmtheit. Diese „Betriebsphilosophie“ steht im in den USA entstandenen Trend, ein funktionalistisches Konzept von „Kultur“ im Unternehmen zur Anwendung zu bringen. Werte und Normen, die das Arbeitsverhalten in den Betrieben beeinflussen, werden „diagnostiziert“ und „beeinflußt“. Was in den „Herzen und Hirnen“ der Mitarbeiter ist, so die Annahme, kann und sollte im Interesse der Organisation gemanagt werden. Das Ziel ist nicht nur die Unterwerfung unter die Zielstellungen der Firma, sondern auch die Entwicklung von Eigeninitiative im Interesse der Firma. Die Mitarbeiter sollen ihren persönlichen Erfolg an dem Beitrag ermessen, den sie zum Erfolg der Firma leisten, ihre Identität soll eins werden mit der der Firma. Die Unternehmensphilosophie zeigte den Beschäftigten, welches Verhalten und welche Einstellung zum Betrieb erwünscht ist, mit dem impliziten oder auch expliziten Versprechen, daß sie mit dem Erfolg des Unternehmens auch ihre eigene Stellung in der Gesellschaft sicherten. Flexibilität, Kreativität, Leistungsorientiertheit, Teamgeist und Verantwortungsbewußtsein und vor allem die Identifikation mit den Interessen des Unternehmens sind die Verhaltensweisen, die verlangt sind. 183 In ihrem Bestseller für Manager führen Peters und Waterman aus, daß eine starke Unternehmenskultur eine gefühlsmäßige Bindung zum Unternehmen schafft und daß die Verinnerlichung von klaren Unternehmenswerten oft auch formale Strukturen ersetzen kann. Außerdem gibt sie dem Mitarbeiter die Möglichkeit, sich als Individuum hervorzuheben, indem sie ihm eine Philosophie und ein Glaubenssystem als übergeordneten Sinn vermittelt – „eine wunderbare Kombination“ (Peters und Waterman 1982:81). Die idealen Angestellten sind solche, die die Ziele und Werte des Unternehmens, seine „Kultur“, verinnerlicht haben und daher keine strikte äußere Kontrolle mehr benötigen. In der Kontroverse um die gezielte Schaffung einer Unternehmenskultur als Mittel normativer Kontrolle vertreten die Befürworter, daß von ihr sowohl die Angestellten, als auch die Firma profitieren. Die Angestellten sind motiviert, viel zu leisten, und die Firma bietet ihnen „ein gutes Leben“, das heißt eine freundliche, kooperative Arbeitsatmosphäre und die Möglichkeit der individuellen Selbstverwirklichung (Ouchi 1981). Die Kritiker hingegen sehen in der normativen Kontrolle des Beschäftigten eine neue subtile Form der Tyrannei. Bendix (1974) kritisierte sie als schleichende Vereinnahmung der Persönlichkeit der Arbeiter und als Versuch, die Erfahrungen, Gedanken und Gefühle zu kontrollieren, die deren Handeln bestimmen. Es ist die Ambivalenz der „zivilisatorischen Mission“ westdeutscher Manager von HOCHINAUF in Ostberlin, die ich hier näher untersuche: ihre Sicht der Welt und ihr Projekt für die Individuen in der Gesellschaft. Wie fügt sich diese in die Vorstellungen ein, welche die Beschäftigten in der Planwirtschaft entwickelten? 8.1. Strategien der Expansion Priorität hatten bei HOCHINAUF die Aktionäre, die shareholders, die Personaldirektor Pfeiffer als eine „Ansammlung vieler, vieler Kleinaktionäre“ bezeichnete. Die neue Konzernmaxime seit Mitte der neunziger Jahre stand im Gegensatz zum bundesdeutschen „Sozialvertrag“ der siebziger Jahre, als sich Unternehmer und Arbeitnehmer im gegenseitigen Interesse auf Kompromisse einigten. Das Unternehmen war nun nicht mehr primär für seine Mitarbeiter verantwortlich, sondern für die Aktionäre, die ihm ihr „Vertrauen“ geschenkt und ihr Kapital zur Verfügung gestellt haben. Ihr „shareholder value“, das heißt der Gewinn, den die Aktionäre aus dem Unternehmen ziehen können, hatte Vorrang. 184 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Pfeiffer personifizierte die zunehmend abstrakte Größe der Aktionäre, die meist keine erkennbaren Personen mehr sind, sondern Banken, Versicherungsanstalten und zunehmend auch Konkurrenzfirmen und Investment Companies, die „Aktienpakete schnüren“, von denen der individuelle Anleger oft gar nicht weiß, daß er sie besitzt. Er erklärte: „Wir leben in einem Konzernwettbewerb mit anderen. Intern liefern wir zu und wollen, daß Italien, Frankreich usw. unsere Produkte abnimmt. Da kann ich nicht sagen: ‚Aber die Uhren gehen bei uns anders, und, bitteschön, akzeptieren Sie unsere deutlich höheren HOCHINAUFPreise.‘ Gleichzeitig weiß jeder, daß wir eine Gesellschafterin haben und daß die Gesellschafterin wiederum Aktionären gegenüber rechenschaftspflichtig ist. ABC ist eine Ansammlung von vielen, vielen Kleinaktionären; allerdings nicht in Deutschland, sondern in den USA. Warum – jetzt frage ich mal wieder ganz nüchtern: Warum sollen Aktionäre ein Verständnis dafür haben, daß in Deutschland eben deutlich weniger Ertrag, also Zinsen für die Aktionäre erwirtschaftet wird als in anderen Staaten....“ (Pfeiffer, Personaldirektor, HOCHINAUF, 29.8.1996) Die finanziellen Abhängigkeitsstrukturen und die Vorgaben zur Gewinnabführung, die die US-amerikanische Zentrale ihren europäischen Tochterfirmen machte, bestimmten die Geschäftspolitik. Die Gewinne, die jeder einzelne Geschäftsbereich machte, waren die Größe, nach der er bemessen wurde. Abhängig vom oft fluktuierenden Markt der Bauwirtschaft und konfrontiert mit starken internationalen Konkurrenten, kaufte das Unternehmen HOCHINAUF große und kleine nationale Produzenten auf oder erwarb Beteiligungen an ihnen und integrierte sie dann in das Unternehmen. Den lokalen Managern blieb die Aufgabe vorbehalten, die Geschäfte gemäß den lokalen Bedingungen zu führen. Wie sich der Präsident des Unternehmens in einem Zeitungsinterview ausdrückte, hatte HOCHINAUF „Abschied von der Gedankenwelt eines Exporteurs“ genommen und verstand sich nun als Unternehmen mit „vielen Heimatmärkten“, das sich auf das Wissen, die Erfahrung und die kulturellen Verschiedenheiten seiner lokalen Manager stützte. Die Fertigung und der Vertrieb neuer Aufzüge machte allerdings nur einen Teil der Einnahmen des Unternehmens aus, das 1996 in Deutschland seine Haupteinkünfte aus der Modernisierung alter Aufzugsanlagen und aus Serviceleistungen bezog. Der Verkauf neuer Anlagen erweiterte und sicherte allerdings das Netz der Servicekunden und war daher notwendiger Bestandteil des Geschäfts. Nur wenige ausländische Experten wurden eingesetzt, um das Firmennetz zusammenzuhalten, 1996 waren es nur 200 bei 68000 Mitarbeitern weltweit, diese jedoch an strategisch entscheidender Stelle. Sie sollten vor allem darauf einwirken, daß die Finanzen und Bilanzen der lokalen Firmen gemäß den Vorgaben der Zentrale unstrukturiert wurden, um sie für das detaillierte zentrale Informations185 system von der Konzernzentrale aus einsehbar zu machen. Die Experten waren auch Mittler zwischen den nationalen Betrieben und den europäischen oder USamerikanischen Zentralen bei größeren Investitionsentscheidungen. Sie sollten den nationalen Betrieben den richtigen Umgang mit Kunden beibringen und die Mitarbeiter auf die Unternehmensphilosophie einstimmen, so daß sie sich wie „selbständige Unternehmer bemühten, die ‚Zukunftsvision‘ von HOCHINAUF zu verwirklichen“. Das Spannungsfeld zwischen dem Ideal der Eigenständigkeit der einzelnen Mitarbeiter und der lokalen Fertigung einerseits und der Praxis der genauen Überwachung und Bewertung über Finanzkritierien durch die Zentralen andererseits – das heißt zwischen normativer und finanzieller Kontrolle –, zog sich durch das gesamte multinationale Unternehmen. Besonders da, wo Betriebe mit planwirtschaftlicher Logik in das HOCHINAUF-Unternehmen integriert werden sollten, wurden diese Spannungen besonders deutlich. Als HOCHINAUF das ostdeutsche Unternehmen übernahm, verbanden sich in diesem Vorhaben die politischen Ideale und Wertvorstellungen der westdeutschen Manager und das Streben nach Gewinn. Kurz zusammengefasst könnte man die HOCHINAUF-Strategie folgendermaßen charakterisieren: Mehrheitsanteile an bestehenden Firmen übernehmen, die Funktionsweise der Firmen beobachten und sie mit dem multinationalen Unternehmen homogenisieren. Der VEBLift in Ostberlin war gleich nach dem Fall der Mauer von westlichen Firmen umworben worden, die auch Aufzüge fertigten, und die sich Anteile an den Serviceverträgen sichern wollten. HOCHINAUF hatte schon vor dem 9. November 1989 Kontakt aufgenommen, um beim VEBLift einen Teil seiner Aufzüge fertigen zu lassen und strebte nun ein Joint Venture an. Die Beziehungen waren gut gewesen, da das multinationale Unternehmen schon vor der Wende Aufzüge für Interhotels und Parteihäuser fertigte, die dann vom VEBLift gewartet wurden. Die Kontaktaufnahme wurde durch eine Pressemitteilung im Dezember 1990 beschleunigt, in der ein Konkurrent des Konzerns ankündigte, daß er mit dem Kombinat, von dem der VEBLift ein Teil war, zusammenarbeiten würde. Im Januar 1990 fanden erste Gespräche mit den drei konkurrierenden westlichen Aufzugsfirmen statt, die um die Gunst buhlten, mit VEBLift zusammenarbeiten zu dürfen. Gleichzeitig bemühte sich die Konzernleitung um die Direktoren des VEB und lud sie im März 1990 zu einer Rundreise zu den modernsten Fertigungsstätten des Konzerns in Europa und in die europäische Zentrale ein. HOCHINAUF begann auch, seinen umworbenen Partner aktiv in seiner Betriebspolitik zu beraten. So überzeugte er ihn Anfang 1990 davon, alle Wartungsaufträge, die an 186 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 kleinere Firmen vergeben waren, wieder unter seine Verwaltungshoheit zu holen. Im März wurde ein Vorvertrag abgeschlossen, in dem der Konzern den Erhalt von 900 Arbeitsplätzen garantierte. Diese Zusage gab für die neugewählte Betriebsgewerkschaftsleitung den Ausschlag, den Konzern allen anderen Bewerbern vorzuziehen. Der Konzern machte sich in diesem Prozeß gleichzeitig zum Berater von Belegschaft und Geschäftsführung und versuchte, wie sich Pfeiffer ausdrückte, die Konflikte und Personaldebatten auf die Sachebene zu ziehen. Ab 1.7.1990 kam HOCHINAUF dann unter den direkten Einfluß des Konzerns, der nun 60% der Anteile hielt. Ab Juli 1990 schickte der Konzern Berater in den Betrieb und ließ die Servicefahrzeuge der Firma unter seinem Namen fahren; die Produktionsarbeiter und Monteure im Außendienst erhielten mit der „HOCHINAUF-Uniform“ einheitliche Firmenarbeitskleidung. Allerdings hatte die westliche Unternehmensleitung nur eine ungenaue Vorstellung von den Zwängen, unter denen die Beschäftigten zu Zeiten der Planwirtschaft Produktion und Investitionen planen konnten. Bei den Investitionsplanungen war sie von gefüllten Auftragsbüchern ausgegangen und von der Vorstellung, daß die in Ostberlin produzierten Aufzugstypen auch weiterhin auf Nachfrage treffen würden. In den Monaten nach der Währungsreform erlebte das Unternehmen dann eine böse Überraschung. Zahlreiche Aufträge für die alten Aufzugstypen wurden zurückgezogen. Stolz, der westdeutsche Investitionsberater, berichtet. „Es hat ja keiner damit gerechnet, daß die Produkte, die hier erzeugt wurden, eigentlich nichts wert waren, daß die mehr oder weniger mit Einführung der DM und Einführung der deutschen Einheit tot sind. Damit hat man nicht gerechnet. Man hatte ja auch Kundenaufträge und hat auch nicht damit gerechnet, daß ein ganz großer Teil dieser Kunden ihren Vertrag mit HOCHINAUF nicht erfüllen wird.“ (Stolz, HOCHINAUF 9.2.1993) Immer wieder betonte Stolz, daß „keiner damit gerechnet hatte“, daß nun innerhalb kürzester Zeit Arbeit für die Beschäftigten der ostberliner Fertigung gefunden werden mußte. HOCHINAUF hatte der Belegschaft während der Verhandlungsphase das großzügige Versprechen gemacht, 900 Arbeitsplätze zu sichern. Aber bis 1991 waren 50% der Mitarbeiter entlassen oder in Vorruhestand geschickt worden und die Serienproduktion abgeschafft. Zwei der DDRStandardaufzüge wurden zu Sondermodellen umkonzipiert, die in die Palette der HOCHINAUF-Aufzüge integriert werden konnten. Die Modernisierung alter DDR-Anlagen mit neuen Türen, Gegensprechanlagen und Kabinenverschalung wurde ein weiterer Erwerbszweig. Die verbleibenden Mitarbeiter wurden in kleine Arbeitsteams zusammengefasst, die nun gemeinsam die Sonderaufzüge 187 und Aufträge für die auslaufenden Altmodelle montierten. Stolz gab zu, daß das Unternehmen seine Versprechungen den Beschäftigten gegenüber nicht gehalten hatte, meinte aber noch bevor er Berlin 1993 verließ, das Unternehmen habe sich besser geschlagen, als viele andere, in denen 90 bis 95 Prozent der Mitarbeiter entlassen wurden. Die Übernahme des VEBLift durch das multinationale Unternehmen wurde als bruchloses Wiederanknüpfen an eine Betriebsgeschichte dargestellt, die durch 40 Jahre real existierenden Sozialismus‘ unterbrochen worden war. Der VEBLift war die verlorene Firmentochter, die mit offenen Armen wieder in die inzwischen gewachsene Konzernfamilie aufgenommen wurde, und mit ihr all ihre Mitarbeiter. Dieser Mythos der Kontinuität war selbstverständlich eine pure Fiktion, denn die Westberliner Aufzugsfirma, der früher der Ostberliner Betrieb gehörte, war bereits vor Jahren von dem multinationalen Unternehmen mit Hauptsitz in den USA aufgekauft worden. Aber wie jeder Ursprungsmythos sollte auch dieser dazu betragen, realen Beziehungen einen übergeordneten Sinn zu geben und sie zu verschleiern. 8.2. Die Missionare der Marktwirtschaft Der für Osteuropa zuständige Manager in der Europazentrale von HOCHINAUF, Kern, war davon überzeugt, daß die Struktur der Unternehmensorganisation selber, die Einstellung zur Arbeit, die von den Mitarbeitern gefordert war, und die produzierte Technologie beispielhaft waren. Sein explizites Ziel war es, mit den HOCHINAUF-Betrieben neue Strukturen des Zusammenarbeitens in Osteuropa einzuführen, „die die Menschen im Betrieb vorbereiteten auf das Leben in einer Demokratie“. Die Vorstellung, die der Manager Kern damit verband, war die, faire Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, die allen Individuen, Betrieben und Ländern gleiche Wettbewerbschancen ermöglichte. In seiner Zeit als Unternehmenschef in Mexiko sorgte er dafür, daß die Analphabeten unter den Arbeitern auf Betriebskosten Unterricht in Lesen und Schreiben bekamen. In Südafrika ließ er noch vor dem Ende des Apartheidregimes die Mauer zwischen der Kantine der weißen und der schwarzen Mitarbeiter einreißen. Er wandte sich gegen Bevorteilung von Familienmitgliedern im Betrieb sowie gegen Vetternwirtschaft und Korruption. Kern wünschte sich Verständnis und Toleranz zwischen den ver- 188 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 schiedenen Völkern und Nationalitäten und hoffte sie im weltumspannenden Unternehmen HOCHINAUF realisieren zu können. Nachdem der Betrieb in Ostberlin mehrheitlich von HOCHINAUF übernommen worden war, wurde Stolz, ein erfahrener Manager, als Berater ohne festen Geschäftsbereich in den Betrieb geschickt. Er beriet die Tochterfirma in Ostberlin von 1990 bis 1993. Wie er es ausdrückte, trat er in Berlin an, „um Arbeitsplätze im Osten zu sichern“. Er unterhielt sich mit Mitarbeitern und Leitern in allen Abteilungen, beobachtete den Ablauf der Fertigung, ließ sich von den Mitarbeitern Aufgabenbeschreibungen und Stellendiagramme anfertigen, stellte Produktivitäts- und Rentabilitätsrechnungen an, plante Restrukturierungen gemeinsam mit den lokalen Managern und stellte gemeinsam mit ihnen Investitionspläne auf. Stolz hatte sein Leben lang bei HOCHINAUF gearbeitet. Er hatte Erfahrung mit turbulenten Umstrukturierungsphasen und kannte die Manager der europäischen Zentrale persönlich. Seine Laufbahn begann 1957 bei HOCHINAUF in Westberlin als Maschinenschlosser, dann studierte er drei Jahre lang auf der Ingenieursschule. Nach Abschluß seines Ingenieurstudiums fragte er bei seinem Lehrbetrieb nach Arbeit und erhielt sofort eine Anstellung als Werkzeugkonstrukteur. Rasch wurde er Gruppenleiter der Werkzeugkonstruktion und war später zuständig für die gesamte Arbeitsvorbereitung und Investitionsplanung. Anfang der siebziger Jahre erhielt er das Angebot, die Leitung der Engineeringabteilung einer großen Fahrtreppenfabrik des Unternehmens in Westdeutschland zu übernehmen. Drastische Konjunkturschwankungen in der Fahrtreppenfertigung vor allem Mitte der siebziger Jahre machten die Investitionsplanung dort zu einer undankbaren Aufgabe und begründeten Stolz‘ problematisches Verhältnis zu seinem Vorgesetzten. Als sich 1990 die Auseinandersetzungen mit seinem Chef zuspitzten, nahm er das Angebot wahr, nach Berlin zurückzukehren und dort Vorschläge zur Restrukturierung der HOCHINAUF-Betriebe in Ostdeutschland zu erarbeiten. Schließlich übernahm er selbst die Leitung der Produktionsplanung im ostberliner Betrieb und setzte nun seine eigenen Vorschläge in die Tat um. „Ich habe also ein Arbeitspapier erstellt, genau im Juli 1990, wo mehr oder weniger alles das drinsteht, was wir heute hier machen...“ (Stolz, HOCHINAUF, 9.2.1993) Stolz versuchte, wie er sagte, nicht als „Besser-Wessi“ aufzutreten, sondern seine Erfahrungen, die er bei HOCHINAUF gemacht hatte, ins Ostberliner Werk zu tragen. Dabei stand er zwischen der ostdeutschen Belegschaft, die ihn und seine weitgehenden Befugnisse fürchtete, und den westdeutschen Vorgesetzten im 189 Unternehmen, die von ihm hören wollten, wie sich die neuen Mitarbeiter in Ostberlin die Zukunft ihres Betriebes vorstellten. Stolz führte Großraumbüros ein, entwickelte Konzepte zur Maschinenumstellung und Büroverteilung, die die angestammte Ordnung im Betrieb durcheinanderbrachten. Er argumentierte für selbstständiges Arbeiten und dafür, daß sich die Beschäftigten für den gesamten Betrieb und nicht nur für die Belange ihrer Abteilung interessieren sollten. „Das hat irgendwie mit Philosophie zu tun: Ich werde erstmal den Fehler bei einem anderen suchen. Das ist rein menschlich. Aber richtiger wäre es eigentlich zu sagen, was hast Du selbst falsch gemacht? Bin ich auf meinen Kollegen zugegangen und habe gesagt: ‘Hör mal Paule, wenn du mir nicht bald die Unterlagen gibst, dann kommen wir nicht mehr klar.‘ Oder: ‚Du lieber Einkäufer, ich habe hier festgestellt, ich brauche hier dies und das und ich sehe hier immer noch nichts. Sag doch mal, wann kommt denn das?‘ Und nicht: ‚Ich konnte den Kabinenrahmen nicht montieren, weil die Seilscheibe mir nicht angeliefert wurde.‘ Es kommt mir vor, als würden sie sagen, ich bin verhungert, weil man mich nicht gefüttert hat.“ (Stolz, HOCHINAUF, 9.2.1993) Stolz suchte und fand die Schwachstellen in den Strukturen der Zusammenarbeit, machte auf Fehler aufmerksam und bot, gefragt oder ungefragt, Lösungen an. Sein Erscheinen in der Fertigung und in den anderen Abteilungen war sporadisch und seine Bemerkungen und Interventionen nicht unbedingt durch die formale Position in der Produktionsplanung und Investitionsführung gerechtfertigt. Die Kollegen nannten ihn die „graue Eminenz“, ein Titel, den vor ihm der verhasste Direktor für Materialwirtschaft getragen hatte. Kaum einer der ostdeutschen Kollegen aus den Abteilungen kam freiwillig zu einem Gespräch zu ihm. Nur bei wenigen Mitarbeitern traf er auf Zustimmung für den Arbeitsstil, den er von ihnen verlangte. „Ich habe einen hervorragenden Mann. Der arbeitet selbständig, der trifft selber Entscheidungen. Der hat mal prima erzählt. Da stand ich hinter ihm, das hat er nicht gemerkt. ‚Ja, unser Dicker, der setzt sich hin, der nimmt einen Schmierzettel, und macht da ein paar Dinger, und den Rest läßt er uns machen. Und wir wissen, wo der hin will.‘ Das ist doch, ich sage mal, im Endeffekt was positives. Daß Sie sagen: ‚O.k. komm mal her, hier paß mal auf, ich stelle mir das so und so vor, so machen wir die Planung. So, nun mach mal!‘ Und das ist das, was hier im Osten nicht der Fall war. Da haben die Leute wirklich gewartet, bis der Chef ihnen eine Anweisung gegeben hat. Und da der Chef teilweise, und das sage ich einmal ganz krass, nicht der gute Fachmann war, durfte also der arme Sachbearbeiter ewig auf die Anweisung warten.“ (Stolz, HOCHINAUF, 9.2.1993) Stolz stellte sich auf den Standpunkt, daß es keine Probleme gäbe, die nicht zu lösen wären und verlangte deshalb eine positive Herangehensweise von seinen Kollegen und Mitarbeitern. Er gab Anregungen, aber keine vorgefassten Lösungen und verlangte, daß seine Mitarbeiter mit dem Ziel vor Augen mitdachten. 190 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Nur die Kollegen, die die Zielsetzungen des Unternehmens wie Produktivitätsund Qualitätssteigerung akzeptierten und bereit waren, schneller und besser zu arbeiten, konnten in seinen Augen auch Forderungen an das Unternehmen stellen. „Ich sage immer, für mich gibt es keine Aussage, daß jemand sagen kann, das geht nicht oder das erreiche ich nicht. Ich akzeptiere nur, daß einer sagt: ‚O.k., die Zielrichtung ist vorgegeben, ich mache mir Gedanken darüber, wie wir dahin kommen können.‘ Dann ist es legitim, wenn er Forderungen stellt.“ (Stolz, HOCHINAUF, 9.2.1993) Auf die Frage, wie er Mitarbeiter, die nicht an die Ziele oder ihre Erreichbarkeit glaubten, dazu bewegen wolle, ihre Einstellung zu ändern, antwortete Stolz: „Predigen, predigen, predigen. Die Leute an die Hand nehmen und führen. Vormachen, mitmachen.“ Stolz lud die Mitarbeiter der Verwaltung zu zahllosen Einzelgesprächen ein und versuchte auf ihren Führungsstil und ihre Geschäftspraktiken einzuwirken. Gleichzeitig blieb er aber persönlich distanziert und damit auch isoliert. Seine guten Ratschläge waren stets mit der ungeschminkten Drohung verbunden, die Fertigung zu schließen, falls sich Produktivität und Qualität nicht verbesserten. „Wenn Sie immer im Abteilungsleiter-Kreis zusammensitzen und sagen: ‚Wir müssen die Produktivität bei uns verbessern, und Ihr Werkstatt, nun, sorgt mit dafür!‘ Und wenn Sie dann fünf- oder zehnmal die Antwort kriegen: ‚Was passiert denn eigentlich, wenn wir es nicht schaffen?‘ und wenn Sie zehnmal gesagt haben: ‚Wenn wir es nicht schaffen, machen wir den Laden zu.‘ Und das wird nicht begriffen, dann weiß ich nicht, wie oft Sie das noch erzählen wollen.“ (Stolz, HOCHINAUF, 9.2.1993) Unsicherheit war das vorherrschende Gefühl, das bewußt vom Management als Disziplinierungsmittel eingesetzt wurde. Die Ostberliner Arbeiter in der Fertigung fühlten sich von dem ständigen Vorwurf bedroht, den Produktivitätserwartungen der westlichen Eigentümer nicht entsprechen zu können. Dazu kam eine diffuse Unsicherheit, genährt durch Gerüchte über die Umstrukturierung des Gesamtkonzerns, den Abbau deutscher Fertigungsstätten und den Unwägbarkeiten in der Entwicklung der Bauwirtschaft, von der die Aufträge für die Aufzugsbranche abhingen. Stolz war sich dieser Ängste bewußt und setzte sie als Druckmittel ein: „Es gibt viele Mitarbeiter, die noch Riesenängste um ihren Job haben, weil sie nicht durchschauen können, was macht HOCHINAUF eigentlich alles noch in Zukunft. Und das wird erhärtet durch Äußerungen, die wir nicht hinter vorgehaltener Hand machen, sondern ganz offen. Wir sagen, wenn das hier nicht besser wird, wenn die Produktivität nicht besser wird, dann kann das gut möglich sein, daß HOCHINAUF diesen Bereich eben nicht halten kann. 191 Dann bedeutet das, daß wir im Endeffekt gar keinen mehr brauchen.“ (Stolz, HOCHINAUF, 9.2.1993) Stolz zählte sich zu denen, die über den Bedarf an Arbeitskräften entscheiden, und nicht zu denen, über die entschieden wird. Er meinte, aus dem harten Konkurrenzkampf um Arbeitsplätze, innerhalb der Firma und um Marktanteile und Profite auf dem Weltmarkt, Vorteile zu ziehen. Daß andere dabei verlieren, war für ihn die unweigerliche Konsequenz, die sich aus einem Wettstreit, auch wenn er fair geführt wird, ergibt. „Das kann doch eigentlich nicht sein, daß ein paar Millionen Menschen in Europa, ein paar Japanern, und noch ein paar Amerikanern gut geht, und dem Rest der Welt geht es dreckig. Kann das unser Ziel sein? Irgendwas machen wir doch auch falsch. Tja, ich sage mal, ich würde gar nichts anders machen wollen, weil ich Egoist bin, aber nicht so ein scheinheiliger Egoist, sondern ich sage das deutlich, wir tun das so, und wir tun das bewußt so. Ich sage mal, das ist ehrlicher, als daß ich es tue, aber dann nicht zugebe, daß ich es tue. Wenn ich einem anderen sage, ich mache das bewußt, ich mache Dich bewußt kaputt, dann hat der die Chance, gegen mich vorzugehen. Ich kann ja einen ehrlichen Kampf aufnehmen, wie bei einem Boxkampf: ‚Ich will dich k.o. schlagen, du hast dieselbe Chance, Du kannst mich auch k.o. schlagen.‘ Ich lebe hier in dieser Gesellschaft, und werde immer versuchen, da einen gewissen Vorteil für mich rauszuziehen. Das ist klar.“ (Stolz, HOCHINAUF, 9.2.1993) Um seine eigenen moralischen Einwendungen zu entkräften, bezeichnet sich Stolz als „nicht scheinheiligen Egoist“, der „zum ehrlichen Kampf“ herausfordert. Die Rede von Stolz, so roh, wie sie auch klingen mag, geht ebenfalls von einer Fiktion aus: der der Chancengleichheit, die zu einem der Unternehmensgrundsätze des multinationalen Konzerns geworden ist. Damit sein Weltbild „des ehrlichen Kampfes“ nicht bedrohend für ihn selber wird, wird die Fiktion begleitet von dem festen Glauben an den persönlichen Erfolg. Dank dieses Glaubens kann er sich zu denen zählen, die auserwählt sind durch den Mechanismus des „moralischen Darwinismus“, wie Bourdieu es nennt. „Durch den Kult des winner, der in der höheren Mathematik und im Gummitwist geformt wurde, wird der Kampf von Jedem gegen Jeden und der Zynismus zur Norm allen Handelns“ (Bourdieu 1998:116). 8.3. Die HOCHINAUF-Familie Wenn HOCHINAUF-Manager die Integration neuer Betriebe in den multinationalen Konzern meinen, sprechen sie von „der Aufnahme neuer Mitglieder in die 192 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 HOCHINAUF-Familie“. Der Begriff „Familie“ weckt die Assoziation von solidarischen Beziehungen zwischen Mitgliedern und die Erfahrung von Gemeinschaft und gegenseitiger Verpflichtung. Der Begriff HOCHINAUF-Familie ist Teil des offiziellen Diskurses, der allen neuen Mitgliedern vermittelt wird und der das Bild des Unternehmens in Werbebroschüren und Mitarbeiterinformationen nach außen repräsentiert, aber er wird auch von den Beschäftigten selbst verwendet, so zum Beispiel in der Ansprache des Betriebsratsvorsitzenden, der vom Management „Familienverhalten“ einforderte. Es ist die Unbestimmtheit des Begriffs, die seine Stärke ausmacht. Die Selbstdarstellung des Unternehmens als Familie suggeriert, daß es im Interesse aller ist, ihre kreativen Energien und Aktivitäten in eine Richtung zu lenken, die für das Unternehmen profitabel ist. Die HOCHINAUF-Mitarbeiterbroschüre führt aus, welches Verhalten von den Mitarbeitern erwartet wird: „Gut informierte Mitarbeiter, die dazu ermutigt werden, ihre Energie und Initiative zu nutzen, wachsen zu einem wirklichen Team zusammen: Durch enge Zusammenarbeit können sie Probleme in Chancen umwandeln, und mit entsprechendem Training und der Unterstützung der Geschäftsleitung werden sie sich wie eigenständige Unternehmer bemühen, die Zukunftsvision von HOCHINAUF zu verwirklichen und den Herausforderungen der Mitbewerber zu begegnen.“ Die Mitarbeiterbroschüre ist voller Ambivalenz über die unternehmerische Rolle, die die Mitarbeiter erfüllen sollen. Einerseits sollen sie sich wie „eigenständige Unternehmer“ verhalten, andererseits aber keine eigenen unternehmerischen Ziele und Strategien entwickeln, sondern die „Visionen“ des Unternehmens zu ihren eigenen machen und sie verwirklichen. Ähnlich mystisch wie der Begriff „Zukunftsvision“ ist die Formel, die von den Mitarbeitern verlangt, „Probleme in Chancen“ umzuwandeln. Das Mittel dazu ist Teamarbeit, bei der allerdings der einzelne nicht im Team aufgeht, sondern als Individuum seine Energien und Initiativen im dem Team übergeordneten Interesse des Unternehmens nutzt. Ein wirkliches Team im Sinne des westdeutschen Beraters des Unternehmens zeichnet sich aber auch durch einen starken Auswahlmechanismus aus, der schwache Teammitglieder aussortiert. Bei der Übernahme ehemals planwirtschaftlicher Firmen werden mit der Veränderung der Organisationsstrukturen auch kulturelle und psychologische Muster wie Erfolgsdenken und Streben nach Leistung, Verantwortungsgefühl und Kreativität gezielt beeinflußt. Um im Bild zu bleiben: Um ein vollwertiges Mitglied der HOCHINAUF-Familie zu werden, muß der Mitarbeiter erst einmal in den Begriffen von HOCHINAUF denken lernen. Der zentrale Begriff, der gelernt werden soll, ist Erfolg, und die zentrale Orientierung, auf die sich die 193 Mitarbeiter einstellen sollen, ist die, daß jedes Ziel erreichbar ist und daß man sich mit dem Ziel vor Augen die Mittel geben kann, um es zu erreichen. Im weltweiten Wettkampf um Märkte und Gewinne sollen sich die HOCHINAUFMitarbeiter als Sieger fühlen. Stolz erläuterte diesen zentralen Punkt der HOCHINAUF-Philosophie am Beispiel der Landung der Amerikaner auf dem Mond: „Ich bringe immer das Beispiel mit John F. Kennedy. Der hat gesagt: ‚Liebe Nation, ich möchte bis Ende der siebziger Jahre auf dem Mond landen. Macht, daß wir auf den Mond kommen, als erste.‘ Der hat nicht gesagt: ‚Das ist Utopie, wir kommen nicht auf den Mond.‘ Sondern der hat gesagt: ‚Da will ich hin!‘ Und dann haben seine Leute gesagt: ‚Mein lieber John F.! So! Das kostet so viele Milliarden, und das müssen wir machen, und jenes müssen wir machen, dann ist das in Ordnung.‘ Meinen Sie, der wäre da hingekommen, wenn alle gesagt hätten: ‚So ein Quatsch! Da kommst Du nicht hin!‘ Dann wären wir heute noch nicht dagewesen.“ (Stolz, HOCHINAUF, 9.2.1993) Eine zentrale Instanz gibt das Ziel vor, und die Ausführenden finden Mittel und Wege, um es zu realisieren. Stolz erwägt nicht die Möglichkeit, daß die Nation gesagt hätte: „Was um Himmelswillen sollen wir auf dem Mond? Haben wir nicht wichtigere Anliegen, für die wir Milliarden ausgeben könnten?“ Die Ausführenden sollen an die Ziele glauben, die vorgegeben sind. Das Nietzsche Konzept, das den Willen als Motor allen Handelns annimmt, soll für den Erfolg des Betriebs eingesetzt werden. In einer seltsamen Umkehrung des Konzepts des Wollens gab es jedoch die Verpflichtung, an die Effizienz des Wollens zu glauben. Die Philosophie des Wollens wird zur Magie. Die Individuen, die im Betrieb arbeiten, sollen glauben, daß ihr Wille den Lauf der Dinge beeinflußt. Der unbedingte und irrationale Glaube an den Erfolg ist die notwendige Ergänzung, um den zweiten zentralen Begriff, der das Denken der Mitarbeiter formen sollte, erträglich zu machen, den der Konkurrenz. Da die Mitarbeiter von HOCHINAUF sich im Wettkampf begreifen sollten mit allen anderen Aufzugsherstellern auf der Welt, aber auch mit Mitarbeitern von HOCHINAUF an anderen Produktionsstandorten, die möglicherweise billiger und/oder besser produzierten, standen sie unter ungeheurem Druck, der nur dadurch gemildert werden konnte, daß sie daran glaubten, den Wettstreit zu gewinnen. Wie es Stolz ausdrückte, sollte dieser Wettstreit freudig und positiv aufgenommen werden, weil der Gewinner „gut lebte in dieser Gesellschaftsordnung“. „Was heißt Marktwirtschaft, im Endeffekt. Marktwirtschaft, das ist Konkurrenzkampf, besser sein als der andere, dann haben Sie die Chance, zu überleben.“ Er stellte Konkurrenz wie das Naturgesetz des Marktes dar, das auch innerhalb des Unternehmens die Beziehungen bestimmte und auch bisweilen dazu führte, 194 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 daß Betriebe geschlossen und Mitarbeiter entlassen wurden oder, um im Bild zu bleiben, daß Familienmitglieder ausgeschlossen wurden. Die Verpflichtung zum Glauben an Erfolg konnte das Wissen um die Möglichkeit, ausgeschlossen zu werden, nicht aufheben und ließ nur eine ambivalente Identifikation mit dem Unternehmen zu. Der einzelne Beschäftigte bezog Position zwischen manchmal nur vordergründiger Identifikation mit dem Unternehmen und Opposition und Distanz zu ihm. Die normative Kontrolle über das Individuum in der Organisation war nicht total (Goffman 1961). Es besaß immer auch die Freiheit, seine Situation zu interpretieren und seine eigene Bedeutung dafür zu finden. Wie Kunda (1992:215), der das Verhältnis zwischen Unternehmenskultur und Selbst in einem weltweit operierenden Hightech Unternehmen analysierte, zeigte, werden die Freiräume systematisch angefüllt mit der Rhetorik der Managementideologie. Wo Goffman noch die Freiräume des Individuums in der Organisation gewahrte, sah Kunda eine „Kulturfalle“, die normativen Druck mit Verführung und Zwang kombiniert (1992:224). Er charakterisierte das beobachtete Distanzieren und Identifizieren der Mitarbeiter mit der ihnen angebotenen Rolle in der Organisation als Ambivalenz. Er stellte fest, daß die Unternehmenskultur nur ein zusätzliches Kontrollinstrument in den Händen des Managements ist, das andere Mittel ergänzt, die das Management besitzt, um sich der Kooperation der Mitarbeiter zu versichern. Für den Personaldirektor Pfeiffer bedeutete „moralisch entscheiden“, von Einzelschicksalen zu abstrahieren und gemäß den „objektiven“ Gesetzen des Marktes den Produktionsstandort zu erhalten, der am kostengünstigsten fertigte und – wie sein Gegenspieler, der Betriebsratsvorsitzende, mir gegenüber betonte – wo der Betriebsrat weniger gut organisiert war. Er umschrieb die Schließung des Produktionsstandortes Ostberlin, für dessen Beschäftigte er sechs Jahre lang der Personaldirektor gewesen war, mit der neutralen Formulierung „die Rahmenbedingungen ändern“. Er argumentierte, daß die Produktion, die 1996 wegen fehlender Aufträge und Strukturproblemen eine Million Verluste im Monat erzeugte, rechtzeitig geschlossen werden mußte, bevor sich die Schulden akkumulierten und der gesamte deutsche Zweig des Unternehmens und damit noch weitere Produktionsstandorte in Gefahr gerieten. „Für mich ist es auch eine Frage der Moral; ich kann in allen Punkten nicht sagen, die Schließung eines Standortes mit den Folgen für die Betroffenen, die da sind – da machen wir uns nichts vor – gerade in der jetzigen Zeit ist das sicher auch für uns eine unangenehme Situation. Nur ich kann nicht sagen, in Westdeutschland löst das weniger Betroffenheit aus als in Berlin, nur weil die unseren Betriebsräten nicht so nahe stehen. Ich muß das mal ganz nüchtern sagen; 195 ich habe gesagt: ‚Arbeitslosigkeit entsteht hier oder dort als Ergebnis oder mag entstehen als Ergebnis und die ist qualitativ gleich zu bewerten.‘“ (Pfeiffer, HOCHINAUF, 29.8.1996) Wenn Entlassungen oder Betriebsschließungen anstanden, löste sich die Fiktion des Betriebes als menschliche Gemeinschaft – oder in dem Fall als „Familie“ – auf. Zurück blieb die Argumentation der ökonomischen Rationalität, die nun auch die moralische Leere füllen mußte. Die HOCHINAUF-Philosophie schlägt ein komplettes Weltbild vor, bereit, die Leere auszufüllen, die die Ideologie des real existierenden Sozialismus gelassen hat. In dieser Zeit der persönlichen Orientierungslosigkeit und der ökonomischen und sozialen Umbrüche steht die Ideologie des Unternehmens bereit, um dem homeless mind, von dem Marcus (1992:313) spricht, ein neues Heim zu geben. Es ist das Modell des Selfmademan, das auf das Unternehmen übertragen wird, ein Modell, das einen unbegrenzten Glauben in die Kraft des individuellen Willens setzt. Wie Stolz es mit soviel Überzeugung ausdrückte: diesen Glauben zu besitzen, sei im Betrieb keine Möglichkeit, sondern die einzig akzeptable Einstellung. Die Unternehmensphilosophie versucht, unvereinbare Widersprüche in Einklang zu bringen und ein Bild von Durchschaubarkeit, Transparenz, Ordnung und Sauberkeit zu vermitteln, da wo unterschwellig die vom Profitinteresse bestimmte Willkür und das Experimentieren mit menschlichen Schicksalen ausschlaggebend sind, wenn Fabriken in immer schnellerem Rhythmus geöffnet und geschlossen werden. Das Menschenbild der Missionare der Marktwirtschaft zielte einerseits auf die Abstraktion von persönlichen Beziehungen, Passionen und Identifikationen ab und reduzierte die Menschen, die in den Betrieben arbeiten, auf ihre Funktion als Arbeitskräfte. Andererseits stellte es den individuellen Willen der Beschäftigten in den Mittelpunkt, um ihn auf die Interessen des Unternehmens auszurichten und zu instrumentalisieren. Die drei Kategorien „Konkurrenz als Gesetz des Marktes“, „Familiensinn“, und „Glaube an den Erfolg“ wurden nicht nur erfunden, um andere zu überzeugen, sondern sie werden auch von denen geteilt, die die Unternehmensphilosophie produzierten. Sie geben der scheinbar rationellen ökonomischen Praxis einen magischen Aspekt, denn die Steuerung der menschlichen Angelegenheiten allein über den Finanzaspekt ist unerträglich selbst für die, die das multinationale Unternehmen nach diesen Kriterien aufgebaut haben. Der Glaube, daß der Wille zum Erfolg tatsächlich den Erfolg bringt, beruhigt in einer unsicheren Welt. Als der geschätzte Manager Kern, der an HOCHINAUF als Vorreiter einer vorur- 196 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 teilslosen moralischen Weltordnung geglaubt hatte, im Sommer 1997 bei einer Umstrukturierung im Konzerns entlassen wird, erschüttert dies das gesamte europäische Management von HOCHINAUF. 197 9. Zwei Karrieren in der Marktwirtschaft – Anpassung und Verweigerung Der Wille zum Erfolg als Motor des Erfolgs stand 1993 im Zentrum der Kampagne, mit der die Personalleitung auf das Verhalten ihrer Mitarbeiter einwirken wollte. Zum selben Zeitpunkt wurde die Fertigung von Luxusaufzügen in Glas und Chrom mit ihren Arbeitern und Ingenieuren von West- nach Ostberlin transferiert, um sie mit der dortigen Fertigung zusammenzulegen. Damit verwirklichte HOCHINAUF, was einige Manager scherzhaft „die deutsche Vereinigung bei uns im Betrieb“ nannten. Der junge, aus Ostberlin stammende Fertigungsleiter, der die Produktion in Westberlin geleitet hatte, und sein Kollege aus Ostberlin teilten sich nun die Verantwortung. Die Maßnahme sollte nach Meinung der Direktion den Anpassungsprozeß der Ostberliner Belegschaft an das Modell der multinationalen Firma beschleunigen und die Kosten einer Aufzugsproduktion an zwei Standorten reduzieren. Ich möchte in diesem Kapitel untersuchen, wie die Betriebsphilosophie auf Mitarbeiter wirkte, die aus der Planwirtschaft kamen und Erwartungen und Hoffnung in die multinationale Firma gesetzt hatten. Wirkte sie im Sinne einer hegemonistischen Ideologie (Gramsci 1959:344), die die Beschäftigten davon überzeugen konnte, daß die neuen Machtbeziehungen im Betrieb zum Besten aller waren? 9.1. Ein Erfolgsmodell In der neuen Kampagne der Personalführung, die den Beschäftigten das HOCHINAUF-Modell näherbringen sollte, wurden bunte Kartons, die Comics ähnelten, an alle Angestellten in leitender Position verteilt, vom Meister bis zum Fertigungsleiter. In sechs Gegenüberstellungen wurde den Beschäftigten in kurzen griffigen Slogans erklärt, wie man vom Verlierer zum Gewinner wird: 198 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Vom Verlieren zum Gewinnen Die Verlierer sind immer Teil des Problems – Die Gewinner sind immer Teil der Lösung. Die Verlierer sagen: „Dafür bin ich nicht zuständig.“ – Die Gewinner fragen: „Wie kann ich Dir helfen?“ Die Verlierer sehen ein Problem für jede Lösung – Die Gewinner sehen eine Lösung für jedes Problem. Die Verlierer sagen: „Es ist möglich, aber viel zu schwierig.“ – Die Gewinner sagen: „Es ist schwierig, aber möglich.“ Die Verlierer sehen die anderen als Teil des Problems – Die Gewinner sehen die anderen als Teil der Lösung. Die Verlierer haben immer eine Entschuldigung – Die Gewinner haben immer einen Plan. Die kurzen Formeln erscheinen wie Rezepte für Erfolg und Glück. Die Zeichnungen zeigen die Gewinner mit glücklichen Gesichtern, ein breites Lächeln auf den Lippen. Wer mit anderen zusammenarbeitet, seine Kollegen in einem positiven Licht sieht und Schwierigkeiten voller Optimismus angeht, trägt zur Lösung der Probleme bei und hat selber keines. Nichts und niemand kann ihn aufhalten in seinem Bemühen, die Ziele zu erreichen, die sich die Firma gesetzt hat. Aber die Darstellung in Gegensätzen zeigt auch die bedrohliche Seite dieser Anforderungen an das Verhalten der Mitarbeiter. Die Verlierer auf der linken Seite sehen unglücklich aus. Die Haare stehen ihnen zu Berge. Sie haben den Kopf schwer in die Hand gestützt. Ihre Gesichter drücken Angst, Unsicherheit und Streß aus. Die Aussage ist klar: die, die nicht folgen, die, die überall Probleme sehen, sich der Verantwortung entziehen, Risiken und Schwierigkeiten vermeiden und ständig Entschuldigungen suchen für ihre Schwächen, diese werden die Verlierer sein. Es steht jedem frei, sich die Konsequenzen eines solchen Verhaltens auszumalen: Stillstand in der Karriere und im schlimmsten Fall Entlassung. Auch wenn die Darstellung auf diesem Karton auf den ersten Blick wie eine freundschaftliche humorvolle Empfehlung an die Adresse der Mitarbeiter erscheint, ist sie in Wirklichkeit klar auf die Ausübung von Macht im Betrieb ausgerichtet. Positiv denken und handeln, das ist die Norm, die das Unternehmen seinen Mitarbeitern setzt. Sie verlangt eine mentale und psychische Selbstdisziplin von den Beschäftigten. Dieser Verhaltenskodex schien auch eine Antwort darauf zu sein, was die westlichen Manager als die Schwächen der Planwirtschaft sahen. Das Bild des Verlierers zeigte in der Tat Verhaltensweisen, die für 199 einen Manager der Planwirtschaft von strategischer Bedeutung waren, wenn er seine Stellung und sein Unternehmen sichern wollte. Wenn er die Planvorgaben am Anfang des Jahres erhielt, tat er gut daran zu unterstreichen, wie problematisch, unrealistisch und nicht realisierbar sie waren. Er bereitet auf diese Weise den Grund für eine Planrevision, die er im Laufe des Jahre beantragen würde. Außerdem erklärte jede Brigade im sozialistischen Wettbewerb, welchen besonderen Einsatz sie gezeigt hatte, um den Plan zu erfüllen und wies darauf hin, daß es die Schwächen der anderen Abteilungen waren, die ein noch besseres Ergebnis verhindert hatten. Wegen Material- und Arbeitskräftemangel und der schlechten Qualität der Produktionswerkzeuge war die Fertigung ständig auf den guten Willen der Arbeiter angewiesen, die bereit sein mußten zu improvisieren, die aber nicht für das Ergebnis ihrer Bemühungen verantwortlich gemacht werden konnten. Auf Grund all dieser Schwierigkeiten erwarteten die Mitglieder des Unternehmens Hilfe und Unterstützung von anderen nur in Ausnahmefällen, als einen speziellen Gefallen, den sie aber in Zukunft würden erwidern müssen. Das Verhaltensmodell von HOCHINAUF unterbreitete der Belegschaft ein kohärentes Identitätsmodell, das Mittel zum Handeln im Betrieb sein sollte. Der Verhaltenskodex sollte von der Belegschaft freiwillig als Disziplin angenommen werden. Für das konkurrenzfähige moderne Unternehmen reichte es nicht aus, auf die Belegschaft körperliche Disziplin auszuüben, die Foucault als einen Machttyp bezeichnet, der „über das Mittel der ständigen Überwachung“ ausgeübt wird (Foucault 1986:239). Der Verhaltenskodex des multinationalen Unternehmens schrieb bestimmte Attitüden vor im Umgang mit Kollegen und forderte Selbstdisziplin im Verfolgen der Unternehmensziele. Er kommt damit kulturellen Modellen nahe, die europäische Missionen und Kolonialverwaltungen in Ländern einführten, deren Ressourcen und Arbeitskräfte sie in ihrem Interesse verwerten wollten. Am Beispiel der beiden konkurrierenden ostdeutschen Fertigungsleiter, das ich hier entwickeln werde, möchte ich zeigen, auf welche Weise sie sich zu dem disziplinarischen Modell der Firma positionierten, wie sie ihre Vorstellung von sich selbst und ihre Werte und Normen mit ihren Entscheidungen am Arbeitsplatz versuchten in Einklang zu bringen. 200 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 9.2. Anpassung und Verweigerung Im Januar 1993 standen sich im Ostberliner Werk zwei Fertigungsleiter als Konkurrenten gegenüber, die die Marktwirtschaft auf sehr unterschiedliche Weise kennengelernt hatten. Oswald, der bisherige alleinige Leiter der Fertigung in Ostberlin, Anfang Fünfzig, Vater zweier erwachsener Kinder und seit über dreißig Jahren im Ostberliner Betrieb beschäftigt, sah sich Wolpert gegenüber, der von der HOCHINAUF-Geschäftsführung in Westberlin eingesetzt worden war, um die Westberliner Fertigung von Aufzugskabinen mit der Ostberliner Fertigung zu verschmelzen. Wolpert war vierunddreißig Jahre alt, geschieden, Vater einer Tochter, die bei ihrer Mutter geblieben war, als er 1988 von Ostberlin zu seiner Freundin nach Westberlin übersiedelte. Kurz vor dem Fall der Mauer hatte er eine Anstellung bei HOCHINAUF in Westberlin gefunden, wo er rasch vom Qualitätsprüfer zum Leiter der Fertigung aufstieg. Oswald mußte im Januar 1993 die Verantwortung für die Kabinenmontage an Wolpert abgeben. Er blieb zuständig für den Zuschnitt, die Farbgebung und die Fertigung der Kabinenrahmen und der Plattformen. Er erhielt zusätzlich zu den drei neuen CNC-Maschinen noch zwei große CNC gesteuerte Maschinen aus Westberlin und vier erfahrene Arbeiter, die nach Westtarif bezahlt wurden, während er selbst nur Osttarif verdiente. Wolpert wurde zuständig für die gesamte Montage der Aufzugskabinen und für zehn Arbeiter und einen Meister, die bisher unter Oswalds Leitung Kabinen montiert hatten und die im Gegensatz zu Wolperts anderen Mitarbeitern und zu ihm selbst nach Osttarif bezahlt wurden. Allerdings war der größte Teil der vierzehn Beschäftigten, die mit Wolpert nach Ostberlin gekommen waren, selbst aus Ostdeutschland und hatte erst nach dem Fall der Mauer begonnen, bei HOCHINAUF in Westberlin zu arbeiten. Nun wurden sie alle nach Westtarif bezahlt. Wolperts Bereich war als Fertigungszelle konzipiert, in der Konstruktion, Disposition und Fertigung zusammengefaßt waren und die engen Kundenkontakt halten sollte. Als ich die beiden Fertigungsleiter nach der Vereinigung ihrer Fertigungslinien in ihren neuen Büros besuchte, überraschten mich zwei Details. Beide Leiter hatten ihren Schreibtisch und den anschließenden Besprechungstisch in einer Weise angeordnet, wie es für alle Büros in den planwirtschaftlichen Betrieben typisch gewesen war. Nach dem Vorbild von Lenins Büro im Kreml stand der persönliche Schreibtisch des Chefs quer vor der Stirnseite des Besprechungstisches. Während er hinter seinem Schreibtisch saß, konnte der Chef die Mitarbeiter überblicken, die er zur Besprechung versammelt hatte, während sie ihre Au- 201 gen vor allem auf ihn richten mußten. Oswalds Büro war auch zuvor auf diese Weise eingerichtet gewesen. Wolpert hingegen hatte diese Aufstellungsordnung als Produktionschef in Westberlin nicht gebraucht und sie erst wieder eingeführt, als er nach Ostberlin zurückkam. Die Wände seines Büros hatten als einzige Dekoration den bunten Karton mit dem HOCHINAUF-Verhaltenskodex, während dem Karton in Oswalds Büro kein besonderer Platz zugedacht wurde. Oswald benutzte ihn als Schreibunterlage. Oswald Oswald hatte den Fall den Mauer, auf den er, wie er sagte, seit dem Tag des Mauerbaus gewartet hatte, begeistert willkommen geheißen. Damals, am 13. August 1961, war Oswald, der an der Freien Universität in Westberlin Maschinenbau studierte, freiwillig von einem Besuch in Hamburg in sein Elternhaus in Ostberlin zurückgekehrt. Dieser Entschluß besiegelte zunächst seine akademische Laufbahn. Einen Studienplatz im Osten konnte er als „Grenzgänger“ nicht bekommen, weil er vom DDR-Staat als „unzuverlässig“ angesehen wurde. Er erhielt im Sommer 1961 einen Arbeitsplatz beim VEBLift und konnte erst 1964 auf der Abendschule sein Ingenieursstudium wieder aufnehmen, das er 1969 beendete. In den Jahren nach dem Mauerbau rückte für ihn der Westen in immer weitere Ferne, und das Leben in der DDR nahm ihn voll in Anspruch. Noch während seines Studiums erhielt er eine Stelle in der Konstruktion und stieg bald nach seinem Studienabschluß zum Brigadier der Konstruktionsabteilung auf. Im November 1974 wurde ihm die verantwortungsvolle und schwierige Aufgabe anvertraut, für den Betrieb ein Investitionskonzept zu entwickeln und den Bau einer neuen Fertigungshalle und eines Verwaltungsgebäudes zu planen und zu realisieren. 1980 erreichte seine Karriere ihren Höhepunkt, als ihm der Posten des Produktionsdirektors unter der Bedingung angeboten wurde, in die Partei einzutreten. Als er den Parteieintritt ablehnte, war seine Karriere beendet und auch die seiner Kinder in Frage gestellt. Oswald sah sich daher trotz seiner Erfolge als Opfer des DDR-Regimes. Im Frühling 1990, als drei große westliche Aufzugsfirmen den VEBLift umwarben und Oswald die Beschäftigten als BGL-Vorsitzender vertrat, konnte er sich als geschätzter Gesprächspartner der Geschäftsleitung von HOCHINAUF fühlen. Er hatte sich im Frühjahr 1990 zu einem Zeitpunkt in der Betriebsgewerkschaftsleitung des VEB engagiert, als sich die alten Gewerkschaftskader 202 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 zurückzogen und die Macht der alten Direktion von der Belegschaft in Frage gestellt war. Oswald nahm an den Verhandlungen mit den westlichen Käuferfirmen teil und favorisierte HOCHINAUF, weil die Käufer versprachen, den Großteil der Belegschaft weiterzubeschäftigen. In der Annahme, für eine politische Säuberung im Betrieb Verbündete gefunden zu haben, versuchte Oswald, die westliche Geschäftsleitung dazu zu bewegen, die alte Leitung des VEB abzulösen. Er berichtete dem westdeutschen Personaldirektor Pfeiffer über die politische Vergangenheit seiner Vorgesetzten und wies ihn auf die Kollegen hin, die seiner Meinung nach für die Staatssicherheit gearbeitet hatten. Seine Bemühungen waren jedoch erfolglos und der alte Direktor durfte bleiben. Im Herbst 1990 verließ Oswald den Betriebsrat und wurde Fertigungsleiter. Seine erste Aufgabe bestand darin, umfassende Entlassungen unter der Belegschaft durchzuführen, deren Interessen er zuvor als Betriebsratsvorsitzender vertreten hatte. Im Laufe des Jahres 1991 wurde seine Einstellung zur westlichen Geschäftsleitung daher zunehmend kritischer. Als ich im Juli 1991 zum ersten Mal mit ihm sprach, war er bereits voller Kritik und Ressentiments der westlichen Geschäftsführung gegenüber. Seine Kritik richtete sich nicht nur gegen den Bruch der Beschäftigungszusagen, die er selbst ausgehandelt hatte, sondern er warf HOCHINAUF vor, die Marktposition des VEBLift völlig falsch eingeschätzt zu haben, was nun auf Kosten der Belegschaft ging. Allerdings äußerte Oswald diese Kritik nicht seinen Vorgesetzten gegenüber, zu denen er ein zunehmend distanziertes Verhältnis entwickelte. Er war sehr freizügig mit Kritik im informellen Kontext, aber äußerst reserviert, wenn es darum ging, sie offiziell Vorgesetzten vorzutragen. Oswald begründete diese Zurückhaltung damit, daß er fürchtete, seinen Arbeitsplatz zu verlieren, wenn er in offene Opposition trat. Mit derselben Begründung lehnte er es stets ab, mit mir ein Tonbandinterview zu führen. Bei einigen Gesprächen bat er mich sogar, manche Äußerungen nicht mitzuschreiben. Während die Geschäftsleitung in Westberlin Druck auf die Fertigung ausübte, um das Produktivitätsniveau zu steigern, bezog Oswald eine defensive Position und versuchte „seine“ Arbeiter gegen Leistungsanforderungen zu verteidigen, die ihm überzogen vorkamen. 1991 brauchten die Beschäftigten seiner Abteilung mehr als doppelt so lang, als von der Engineeringabteilung vorgegeben, um Fahrkörbe und Plattformen zu montieren. Oswald selbst bezeichnete die Vorgaben mir gegenüber als „unrealistisch“ und spekulierte darüber, ob den Beschäftigten in Westberlin ähnlich hohe Vorgaben gemacht wurden, oder ob den Beschäftigten in Ostberlin mit unerreichbar hohen Produktionsvorgaben gezeigt 203 werden sollte, daß sie unproduktiv waren und daß der niedrigere Lohn für ostdeutsche Beschäftigte gerechtfertigt war. Er fand es ungerecht, daß Ostdeutsche im Allgemeinen als unproduktiv abqualifiziert wurden und nannte immer wieder Beispiele von Mitarbeitern, die nach Westberlin gegangen waren, in der dortigen Aufzugsfertigung zur Zufriedenheit aller arbeiteten und das Doppelte verdienten. In der Personalpolitik stimmte er in vielem nicht mit dem westdeutschen Personaldirektor überein, der von ihm Härte gegenüber den Mitarbeitern verlangte und selbst gegen alle Regeln plötzlich Milde gelten ließ. So erzählte mir Oswald, daß ein Arbeiter der Fahrkorbmontage unentschuldigt vom Arbeitsplatz ferngeblieben und dafür von ihm mit einer Abmahnung bedacht worden war. Bei seiner zweiten weniger langen Abwesenheit gab Oswald ihm nur eine schriftliche Ermahnung, aus der der Personaldirektor aber eine Abmahnung machte. Als der Arbeiter sich ein drittes Mal entfernte, wollte Oswald ihn entlassen, der Personaldirektor aber, von den Tränen des Arbeiters gerührt, räumte ihm noch eine letzte Chance ein. Oswald ärgerte diese Geste sehr, weil sie zum einen seine Autorität und die seiner Meister den Arbeitern gegenüber untergrub, zum anderen seinem Selbstverständnis als Vertreter der Mitarbeiterinteressen widersprach. Auch mit dem Leiter der Investitionslenkung Stolz, der „grauen Eminenz“, wie er ihn nannte, stand Oswald auf Kriegsfuß. Gemeinsam mit den drei Meistern, die zu seinem Bereich gehörten, gelang es ihm 1991, einen neuen Aufstellungsplan für die Maschinen der Fertigung zu vereiteln, der von Stolz und seinen Mitarbeitern vorgeschlagen worden war. Ein westdeutscher Mitarbeiter von Stolz erzählte mir amüsiert, wie Oswald mit seinen drei Meistern, „wie die Cowboys bei High Noon“ bei der Besprechung aufgetreten sei, um das Aufstellungskonzept anzugreifen. Der Aufstellungsplan war von einer Praktikantin ohne Absprache mit Oswald erstellt worden. Er selbst erhielt zur Information nur ein „kariertes Blatt Papier“, auf dem in schlechter Handschrift und mit Durchstreichungen neue Konzepte zur Umstellung erläutert wurden. Daran war ein Zettelchen geheftet, auf dem ohne Anrede ein paar Worte für Herrn Oswald gekritzelt waren und Photokopien des Werkstattplanes, auf die mit der gleichen schlechten Handschrift die Standorte der neuen Maschinen verortet waren. Oswald empfand die Pläne als eine Zumutung und Schlamperei und als einen Mangel an Respekt ihm gegenüber. Die Einstellung zu seiner Position als Fertigungsleiter war ambivalent. Einerseits bezeichnete er es als sein größtes Problem, daß er als Fertigungsleiter in einem Bereich eine „hohe Eigenverantwortung“ hatte, der von allen Seiten unter Druck stand, zum anderen fühlte er sich zurückgesetzt und übergangen, wenn ihm Verantwortungsbereiche abgenommen wurden. So beklagte er sich 1991 bei 204 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 mir, daß die Investitionslenkung, die zu DDR-Zeiten sein Spezialgebiet gewesen war, nun zum Verantwortungsbereich des westdeutschen Managers Stolz gehörte. Als gegen Ende des Jahres 1991 eine zweite Fertigungslinie für Fahrtreppenantriebe eingerichtet wurde, erwartete er, daß der zuständige westdeutsche Meister ihm unterstellt würde, und war enttäuscht, als dieser ihm als Leiter gleichgestellt wurde. 1993 erfuhr er erst eine Woche vor dem Umzug, daß er die Zuständigkeit für die Kabinenmontage an Wolpert abtreten mußte. Es erschien ihm, als ob der Zuschnitt und die Farbgebung, für die er nun ausschließlich verantwortlich war, von allen Seiten unter Druck gesetzt wurde, von der Konstruktionsabteilung, die ihm zu spät die Pläne für die Zuschnitte lieferte und von Wolpert, der die Komponenten für die Kabinenmontage einforderte. Außerdem hatte er Aufträge für die Elektronikdivision in Westberlin zu erfüllen, die zu den Anforderungen von Wolpert in Konkurrenz traten. Oswald fürchtete, wahrscheinlich zu Recht, daß seine Abteilung unter die Leitung von Wolpert gestellt werden würde, falls er mit der Zuarbeit in Verzug geriet. Oswald verfolgte die Strategie, sich nach allen Seiten abzusichern und unangreifbar zu machen. Dies ging so weit, daß er sich 1991, als er noch Leiter der Kabinenmontage war, kleine Vorfertigungsinseln, bestehend aus Fräsen und Bohrern, in die Montagehalle stellte, um die Montage von den Vorfertigungskapazitäten der neuen Abteilung Antriebsfertigung unabhängig zu machen. Als Fertigungsleiter verfolgte er eine Strategie, die möglicherweise in der Planwirtschaft die Zustimmung seiner Untergebenen erhalten hätte. Er bemühte sich, seine Probleme vor den Vorgesetzten zu verbergen und sie bei Schwierigkeiten möglichst nie um Rat zu fragen. Statt Konflikte direkt anzugehen, zog er sich hinter sein Arbeitskollektiv zurück und versuchte die Meister zu seinen Verbündeten zu machen. In der Marktwirtschaft wurde dieses Verhalten von den Meistern allerdings nicht gerne gesehen. Sie hatten das Gefühl, daß Oswald seine Verantwortung auf sie ablud und daß sie damit mit zur Zielscheibe seiner Vorgesetzten wurden. Um das Bild des Versammlungstisches in Oswalds Büro wiederaufzunehmen, könnte man sagen, die Aufstellungsordnung war die gleiche geblieben, aber seine Funktion hatte sich verschoben. Oswald versammelte dort zwar immer noch seine Mitarbeiter, um ihnen Entscheidungen mitzuteilen, die auf übergeordnetem Niveau gefällt worden waren, und um kollektive Strategien gegen den Druck von oben zu entwickeln, aber vor allem auch um sich selbst hinter das Kollektiv zurückzuziehen. Er selbst sah sich allerdings als Verteidiger der Schwachen und Wehrlosen. So hatte er einen geistig behinderten Hilfsarbeiter, der entlassen worden war, wieder eingestellt, nachdem ihn dessen ebenfalls behinderte Frau auf der Straße 205 angefleht hatte, ihren Mann wieder einzustellen, sonst würde sich die ganze Familie umbringen. Allerdings trieb der Hilfsarbeiter, für Aufräumungsarbeiten angestellt, die unproduktiven Stunden seiner Abteilung in die Höhe und ließ sie in der Gesamtabrechnung schlecht dastehen. Oswald erläuterte mir die Härte der heutigen Betriebsgepflogenheiten am Beispiel von drei gekündigten Konstrukteuren, die im dritten Stock bei Kaffee und Streuselkuchen verabschiedet wurden, während unten in der Kantine der westdeutsche Vorarbeiter der Kabinenmontage mit einem rauschenden Empfang seine Pensionierung feierte. „Achtzig Jahre Betriebszugehörigkeit saßen da oben an einem Tisch. Die Stimmung war so gedrückt, daß sich der Chef der Konstruktion nur verstohlen traute, einem der Gekündigten noch ein Geschenk zu geben. Einer der Gekündigten, ein exzellenter Konstrukteur, hatte auch später, als bei Wolpert eine Stelle freiwurde, keine Chance, weil er stotterte.“ (Oswald, HOCHINAUF, 21.4.1993) Oswald war tief in die sozialen Strukturen des ehemaligen VEBLift verstrickt und hatte sich als BGL- und später BR-Vorsitzender auch Feinde gemacht. Dies zeigte sich 1991 in einem anonymen Brief, der dem Personaldirektor zugespielt wurde, in dem Oswald und weitere neun Kollegen der STASI-Mitarbeit bezichtigt wurden. Der Personaldirektor befragte zunächst mich nach Oswalds STASIVerbindungen, stellte ihn dann zur Rede und ließ ihn eine schriftliche Erklärung unterschreiben, daß er nie für die STASI gearbeitet habe. Auch Oswald selbst erzählte mir von dem Verdacht, der auf ihn gefallen war. Er sah sich bedroht und ohne Möglichkeit, sich gegen den Rufmord zur Wehr zu setzen. Wie er meinte, könne nun alles gegen ihn ausgelegt werden, ob er sich gegen die Beschuldigungen wehrte oder nicht. Resigniert meinte er, daß die Leute, die in der Vergangenheit „so richtig gut kratzen und kriechen konnten“, dies heute auch wieder mit Erfolg täten. „Die, die die Revolution bewirkt haben, passen in die neue Zeit auch nicht rein. Sie sind wieder erneut unbeliebt.“ Auch wenn Oswald sich die meiste Zeit als Opfer der Verhältnisse empfand, war er gleichzeitig ein aufmerksamer Beobachter der Strategien seiner Kollegen und Vorgesetzten. Er sah die Beschäftigten, die in Ostberlin geblieben waren, als kollektiv benachteiligt an: durch radikalen Arbeitsplatzabbau, verminderten Lohn und höhere Arbeitszeiten. „Der Unterschied im Einkommen ist, das weiß man ja auch, sehr sehr groß. Zum Beispiel die Wessis arbeiten 36 Stunden, die Ossis arbeiten 4O Stunden. Die Nachmittagschicht endet für den Wessi am Freitag um 17.OO Uhr, für den Ossi um 22.OO Uhr.“ (Beitrag von Oswald an einer öffentlichen Diskussion am 21.4.1993) 206 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Außerdem war er davon überzeugt, daß ihre Leistungen gleichwertig, wenn nicht besser waren als die ihrer Kollegen, die ihr Glück in Westberlin versucht hatten. Er verfolgte mit großer Aufmerksamkeit jede Bemerkung seiner Vorgesetzten, die auf die Absicht hindeutete, die Fertigung in Berlin zu schließen, weil sie zu teuer und zu ineffizient war. Gleichzeitig analysierte er den Diskurs über Schließung und Entlassung als Machtinstrument. Auf der Antrittsrede des neuen Produktionsdirektors im Frühjahr 1993 zählte Oswald, daß dieser achtmal das Wort „Abmahnung“ und dreimal das Wort „Entlassung“ gebraucht habe. „Das erste Instrument für Motivation ist die Angst“, hatte er auf einem Führungskräfteseminar gelernt. Diese Analyse widersprach dem betriebsinternen Kodex vom freiwillig und motiviert schaffenden Mitarbeiter. Statt sich auf der Gewinnerseite zu fühlen, teilte Oswald die Ängste seiner Kollegen vor Arbeitslosigkeit und Statusverlust. Oswald wurde Ende 1994 aufgefordert, seinen Posten zur Disposition zu stellen. Wolpert Wolpert verließ 1988 die Planwirtschaft, um sein Glück in der Marktwirtschaft zu suchen, nicht weil er dem System entfliehen wollte, sondern, wie er betonte, wegen einer Frau. Er war in der DDR kein Oppositioneller gewesen, sondern eher einer, der in seiner Jugend vieles hatte verändern wollen und der sich dann mit dem Regime arrangierte, als er merkte, nichts ausrichten zu können. „Sie können mir glauben, ich war mit 16/17 in irgendwelchen Jugendverbänden drin, und wir wollten alles verändern. Also jetzt nicht in der FDJ, sondern in irgendwelchen autonomen Verbindungen, wir wollten irgendwas verändern, ich habe genauso meine Rudi Dutschke-Zeit, sage ich mal, im Osten gehabt. Oder habe jedenfalls versucht, sie zu haben. Aber wir haben nie was verändern können.“ (Wolpert, HOCHINAUF 15.2.1993) Als er 1988 die DDR verließ, hatte er nicht damit gerechnet, daß sich dort so vieles so schnell verändern würde. Als Kind hatte er die Privilegien gekannt, die sein Vater als hoher Funktionär genoß und später bei seinem dreiwöchigen Praktikum in einer Gießerei unmenschliche Arbeitsbedingungen erfahren, wie er sie sonst nur in dem Science-Fiction-Film „die eiserne Stadt“ gesehen hatte. Er meinte, weil er auch die sozialen Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten in der DDR kennenlernen konnte, war er jetzt weniger versucht als andere, diese zu idealisieren. Er kritisierte vor allem den klientelistischen Charakter des DDRRegimes, in dem Leistung weit weniger wichtig war als Beziehungen. 207 Der Mangel an Anerkennung, die er für seine Leistung bekam, und der langsame Arbeitsrhythmus machten ihm auch auf der ersten Stelle zu schaffen, die er nach dem Studium erhielt. Er verbrachte dort viele Stunden, ohne tatsächlich mit der Arbeit voranzukommen. Die Abteilungen, so meinte er später, hätten dort immer gegeneinander anstatt miteinander gearbeitet. Als er nach seiner Übersiedlung nach Westberlin Arbeit bei HOCHINAUF fand, paßte er sich rasch den Anforderungen der westlichen Firma an. Die Leistungsanforderungen reizten ihn und forderten seinen Ehrgeiz heraus. Er fühlte sich wohl in der Zusammenarbeit mit seinen westlichen Kollegen und schätzte ganz besonders, wie er sich ausdrückte, daß sie bereitwilliger auf seine Probleme eingingen und Verantwortung übernahmen als die Kollegen in Ostberlin, mit denen er früher zusammengearbeitet hatte. „Es gibt weniger Konkurrenz und mehr Zusammenarbeit im Westen als im Osten“, erklärte er. Bei den Arbeitern in Westberlin war er bekannt und gefürchtet für die Arbeitslast, die er ihnen auferlegte. 1992, in den ersten Monaten als Verantwortlicher für die Fertigung in Westberlin, erwirkte er eine Steigerung der Aufzugsproduktion um das Anderthalbfache. Als ich im Dezember 1992 die Fertigung in Westberlin besuchte, kritisierten die Vorarbeiter „die Wolpertschen Reformen“ aufs heftigste. Die Beschleunigung der Produktion ginge auf Kosten der Qualität, meinten sie, und Wolpert würde an Stellen Arbeitskräfte einsparen, wo sie dringend gebraucht würden. Die Arbeiter machten bis zu 10 Stunden Überstunden im Monat, weil die Termine so kurzfristig gesetzt waren. Es ärgerte sie besonders, daß er jedes Beratungsgespräch unter Arbeitern gleich als Bummelei bezeichnete. Der Produktionsdruck verschlechterte die Stimmung und brachte sogar alteingesessenen Arbeiter in Konflikt mit dem Meister. Er führte zu unsinnigen Entscheidungen, wie der, daß der Meister anwies, eine Kabinendecke, die noch nicht verdrahtet war, einzusetzen, obwohl das Verdrahten in der montierten Kabine wesentlich umständlicher war. Die Offenheit, die ihm selbst von seinen Vorgesetzten entgegengebracht worden war, als er in den Westen kam, übertrug er auf seine Mitarbeiter in Westberlin und hoffte, sie auch in Ostberlin realisieren zu können. Bevor er nach Ostberlin ging, erklärte er mir, daß er seine Rolle weniger darin sah, starken Druck auf die Arbeitskräfte auszuüben, als vielmehr einen neuen Wind in den ehemals planwirtschaftlichen Betrieb zu bringen und Offenheit und Freundlichkeit bei der Arbeit zu fördern. „Also ich finde, daß jetzt diese 37 Mitarbeiter, die ab 1. Januar rüber gehen, 'n neuen Wind, 'n frischen Wind in Ostberlin reinbringen. Im positiven Sinne. Eben das Betriebsklima verändern. 208 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Das fängt schon mit Freundlichkeit an. Also ich finde einfach, daß hier mehr Offenheit ist und mehr Freundlichkeit.“ (Wolpert, HOCHINAUF 15.12.1992) Im Ostberliner Betrieb erwartete ihn ein Produktionsrückstand von 18 Aufzügen und Wolpert sah sich gezwungen, unvermindert Druck auf seine neuen Ostberliner Mitarbeiter auszuüben. Er überwachte, gab Ratschläge und kontrollierte ständig, was sich in der Fertigung abspielte, wo er mehr als die Hälfte seiner Zeit verbrachte. Allerdings vermittelte er auch bei Problemen, die die Arbeiter seiner Abteilung mit anderen Bereichen des Betriebs hatten, und scheute auch vor Konflikten nicht zurück. Wie einer der Westberliner Arbeiter bewundernd meinte: „Denn rennt der los. Dann marschiert der. Dann marschiert der wie ein Uhrwerk. Denn klemmt der sich dahinter.“ Häufig entdeckte er, noch bevor es die Meister gemerkt hatten, Produktionsfehler und Fehler in der Handhabung der Maschinen. Mit seinem Maßband stets zur Hand wies er den Arbeitern bis ins kleinste Detail die Richtigkeit seiner Kritiken nach und erklärte den Meistern, wie sie die Arbeit organisieren sollten. „Ich sagte: ‚Sie müssen darauf achten, daß Sie sich selbst und Ihre Mitarbeiter besser organisieren.‘ Da habe ich ihm ein Beispiel gesagt, da sollen zwei Leute zum Beispiel einen Pfosten stellen. Der eine hält den Pfosten fest, und der andere geht dann zu einer zehn Meter entfernten Werkbank, holt da eine Schraubzwinge und schraubt die fest. In der Zeit steht der andere da und hält den Pfosten fest. Dann verbohrt er irgendwas, und der andere guckt immer noch,... also, wissen Sie, solche Dinge, wenn ich eine Arbeit mache, überlege mir vorher, was brauche ich da für Werkzeuge. Ich stelle mir die flexiblen Werkzeugwagen an die Plätze. Ich organisiere meine Arbeit so, daß ich effektiver, einfach besser arbeite.“ (Wolpert, HOCHINAUF, 15.2.1993) Sein Verhalten enthob die Meister eines Teils ihrer Verantwortung. Vor allem der Ostberliner Meister Bierschenk, der zuvor unter Oswald gearbeitet hatte, äußerte sich zufrieden darüber, daß er durch Wolpert von dem übergeordneten Management abgeschirmt war und auf Wolperts Unterstützung bei Autoritätskonflikten mit den Arbeitern rechnen konnte. Bei Wolpert hätte er zum ersten Mal Überstunden bezahlt bekommen, ohne daß er sich darum kümmern mußte. Wolpert verbarg kaum die Verachtung, die er für Oswald empfand. Nach einer ersten offenen Auseinandersetzung, die von Wolpert entschieden wurde, darüber, wer von ihnen den Vorarbeiter der Kabinenmontage zu seinen Mitarbeitern zählen durfte, behandelten sich die Männer nur noch nach außen hin höflich distanziert. Allerdings erklärte Wolpert schon einen Monat nach dem Umzug nach Ostberlin, daß die Aufzugsfertigung einem einzigen Leiter unterstellt werden sollte, um die Koordinationsprobleme zwischen seiner und Oswalds Abteilung zu beheben. Er erwog sogar, die Produktionszellen, die Fertigung, Enginee209 ring und Materialverwaltung zusammenfaßten, für ein zentralisierteres Modell aufzugeben, das seiner Meinung nach der Situation in Ostberlin besser angepaßt war. Wolpert stellte mit einer gewissen Bitterkeit fest, daß er seit seiner Rückkehr nach Ostberlin „hart“ geworden war und daß diese Rückkehr für ihn schwieriger war als damals, 1988, seine Ausreise in den Westen. „Da hat sich nichts geändert. Da haben sie teilweise dieselben Chefs, dieselben Büros, in denen se arbeiten. Da sind noch dieselben Gardinen dran, da ist vielleicht noch der schwarze Fleck an der Wand, wo das Photo von Erich Honecker früher hing, ich überziehe jetzt mal 'n bißchen. Also es hat sich nicht sehr viel geändert. Das Unternehmen hat zwar einen anderen Namen, aber Sie stoßen an die selben Barrieren im Unternehmen, an die Sie früher schon gestoßen sind. Da bleibt vieles noch im gleichen Trott.“ (Wolpert, HOCHINAUF, 15.2.1993) Wolpert sah seine Arbeit in Ostberlin als Mission. Dies wurde deutlich, wenn er davon sprach, „das Bewußtsein seiner Mitarbeiter zu entwickeln“ und ihnen die Zufriedenstellung des Kunden als „das konkrete, faßbare Ziel und Ideal für ihre Arbeit“ zu vermitteln. Wie ein Missionar, der selber erst vor kurzem konvertierte, kehrte er in seinen altbekannten sozialen Zusammenhang zurück und versuchte den Widerstand seiner Ostberliner Kollegen mit einem autoritären Führungsstil zu überwinden, den er aus der Planwirtschaft kannte. Daraus erklärte sich auch die Rückkehr zu einer Büroeinrichtung im sozialistischen Stil. Er kritisierte einige Mitglieder der Belegschaft und vor allem Oswald mit Ausdrücken, die ein Vorgesetzten, einem Untergebenen gegenüber verwenden könnte, die sich aber aus dem Mund eines gleichrangigen Kollegen überheblich anhörten: „Ich setze bei einer Führungskraft voraus, daß sie weiß, daß hinter jedem Termin nicht irgendeine Zahl steht, sondern wirklich ein echter Kunde in Person. Das bedeutet Geld, Arbeitsplätze und so weiter.“ (Wolpert, HOCHINAUF, 15.2.1993) Er versuchte seinen Mitarbeitern beizubringen, eine Beziehung zwischen dem herzustellen, was sie selbst als Konsumenten von einem Hersteller erwarteten und dem, was sie bereit waren, ihren Kunden zu bieten. Das „Geben und Nehmen“ der Marktwirtschaft, die Idee des gerechten Tausches, nahm in seinem Diskurs eine fast universelle Dimension an. Da die Produktion von Aufzügen in Berlin nicht die Produktivitätsvorgaben erfüllte, um kostendeckend zu arbeiten, war die Fertigung in Ostberlin innerhalb des multinationalen Unternehmens in einer prekären Situation. Wolpert hatte ausgerechnet: „Wir machen bei jeder Kabine, ich habe das mal ausgerechnet, 20 – 30 000 DM im Schnitt minus. Eine kleine Firma wäre schon längst pleite. Das rechnet sich, weil dahinter einfach Aufträge stecken, für soundsoviele Fahrtreppen und soundsoviel Servicegeschäfte, die für uns 210 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 das Geld verdienen. Wir, mit dem Laden da, verdienen das Geld nicht. Weil die Produktivität zu schlecht ist, weil die Administration zu groß ist, weil wir mit unseren Konstruktionen zu teuer sind, weil wir einfach Tausende von Problemen haben. Die gilt es, Schritt für Schritt zu lösen.“ (Wolpert, HOCHINAUF, 15.2.1993) Trotzdem zeigte er sich optimistisch. „Ich meine, das ist einfach mein Job, Probleme zu lösen. Ich kann nie sagen, das geht nicht.“ Er arbeitete zwölf Stunden pro Tag und meinte, daß sich die Philosophie der Vorgesetzten auf die Mitarbeiter überträgt. Er stieß jedoch ständig auf Widerstand bei seinen Ostberliner Kollegen. „Man hat immens viel Stolz und will nicht einsehen, daß es wirklich früher hier nicht so toll war. Man sagt immer wieder: ‚Na, das haben wir doch früher alles gemacht, das hatten wir doch früher schon, das ist doch nicht so doll.‘ Verstehen Sie? Na zum Beispiel, ‚mein Produkt für meine Hand oder so 'ne Dinger, Qualitätsbekenntnis, haben wir doch alles schon gehabt.‘" (Wolpert, HOCHINAUF, 15.2.1993) Was er als Neuheit aus dem Westen ankündigte, wurde mit Slogans aus der Planwirtschaft beantwortet. Wenn er den Beschäftigten Verantwortungs- und Qualitätsbewußtsein als die neuen Ideale des Westens vorstellte, bekam er als Antwort einen Slogan aus der Planwirtschaft: „Das kennen wir schon: ‚Plane mit, regiere mit!‘“ Obwohl Wolpert sich reibungslos in das multinationale Unternehmen integrierte und die Ergebnisse brachte, die von ihm erwartet wurden, hegte er im Stillen die Vorstellung, daß weder das System, das er verlassen hatte, noch das, in dem er so erfolgreich war, eine befriedigende Gesellschaftsordnung begründen konnten. Er konnte zwar überzeugend die Logik der Marktwirtschaft als ein Ideal darstellen, dem zu folgen war, und sein Diskurs und seine Verhaltensweise entsprachen dem Modell des Gewinners, wie er vom Unternehmen propagiert wurde. Er gab jedoch zu, daß er die Marktwirtschaft auch nicht als perfektes System ansah und daß er sich bisweilen auf subtile Art ausgebeutet fühlte. Er erklärte, daß „irgendetwas“ ihn dazu trieb, zwölf Stunden im Betrieb zu verbringen und sein Privatleben zu vernachlässigen: „Schon alleine was mich dazu treibt, jeden Tag hier zwölf Stunden zu sitzen und mein Privatleben zu vernachlässigen, das ist irgendwo eine feine Art der Ausbeutung, die ich schon selbst gar nicht mehr richtig unter Kontrolle kriege oder steuern kann.“ (Wolpert, HOCHINAUF, 15.2.1993) Im Gespräch mit mir zunächst äußerst vorsichtig, was seine politischen Überzeugungen anbelangte, kritisierte er zunächst nur die Bürokratie des Sozialsystems der Bundesrepublik aus einer marktwirtschaftlichen Logik heraus als „nicht 211 verbraucherfreundlich“, weil der Bürger dem Staat gegenüber einen hohen Aufwand treiben mußte, um nicht zuviel Steuern zu bezahlen und die sozialen Leistungen zu erhalten, die ihm zustanden etc.. Im Laufe des Gesprächs jedoch knüpfte er an Überzeugungen an, die er, wie er meinte, durch seine „linksorientierte Erziehung im Sozialismus“ gewonnen hatte. „Ich bin nach wie vor der Meinung, sicherlich durch meine linksorientierte Erziehung damals im Sozialismus, daß es noch eine andere Gesellschaftsform geben wird, geben kann, in der Menschen auch leben könnten. Wie die aussieht, kann ich nicht beantworten, aber ich denken, daß es sie gibt. Wo eben Marktwirtschaft und Sozialismus irgendwie...... oder vielleicht ist es auch eine Wunschvorstellung, was weiß ich. Ich denke auf jeden Fall, daß das hier keine Lösung auf Dauer sein kann.“ (Wolpert, HOCHINAUF, 15 2.1993) Obwohl es ihm materiell noch nie so gut gegangen wäre, betonte er, daß er „nicht dafür“ wäre. Auch in dem politischen System der Bundesrepublik sah er sich nicht in der Lage, Dinge zu verändern, die ihn störten. „Ich kann morgen demonstrieren und kann mich politisch artikulieren und äußern, solange ich will, ich kann auch irgendwelche Autoreifen in Kreuzberg anbrennen, werde dafür noch nicht mal groß bestraft, aber ich kann dadurch genauso wenig groß verändern, wie ich es früher konnte. Wir können uns hier die Köpfe heiß diskutieren, und morgen können wir uns überlegen, eine politische Strömung oder Richtung ins Leben zu rufen. Aber es ist wirklich schwer, bestimmte Dinge zu verändern.“ (Wolpert, HOCHINAUF, 15.2.1993) Die Resignation, die er einem möglichen politischen Engagement gegenüber ausdrückte, stand in frappierendem Kontrast zu dem Aktivismus und Einfallsreichtum, den er im Betrieb entwickelte. Im Gespräch über seine politischen Überzeugungen kam er denn auch unwillkürlich auf seine Bemühungen im Betrieb zurück, bei seinen Mitarbeitern ein neues Bewußtsein für die Bedürfnisse des Kunden zu schaffen. Wolpert verließ den Ostberliner Betrieb Anfang 1996, um eine Stelle in der europäischen HOCHINAUF-Zentrale anzutreten, nur wenige Monate bevor die Entscheidung im Juni 1996 fiel, die Fertigung in Ostberlin zu schließen. 9.3. Disziplin und Eigensinn Die HOCHINAUF-Philosophie machte die Unterscheidung in Gewinner und Verlierer zum Programm und beschleunigte den Selektionsprozess im Betrieb zwischen denen, die erfolgreich und erwünscht, und denen, die erfolglos und unerwünscht waren. Disziplin sollte in den Alltag eindringen, in die Wahl der 212 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Handlungen, den Gebrauch von Zeit und Raum und in die Verhaltensweisen gegenüber anderen. Es war nicht rigide und präskriptiv, sondern auf die Selbstdisziplin im Verfolgen vorgeschriebener Ziele bezogen. Die höchste Form der Disziplin war gefordert, die aktive Selbstdisziplinierung. Ist die bewußte Veränderung von Wert- und Normsystemen bei erwachsenen Menschen mit einer langen Arbeitsbiographie durch eine Unternehmenskultur möglich? Kann Disziplin auf diese Weise verinnerlicht werden? Foucault beschreibt die Verinnerlichung einer von außen verordneten Disziplin als einen Machtmechanismus, der die Individuen in Subjekte verwandelt (Foucault 1986:246). Das Subjekt wird durch Kontrolle und Abhängigkeit unterworfen. Durch sein Bewußtsein und durch seine spezifische Selbstinterpretation ist es dann an diese abhängige Identität gebunden. Die Wirkung dieser Machtmechanismen ist jedoch nicht vollständig. Sie treffen auf Widerstand und sind mit den Kämpfen konfrontiert, die das Individuum für seinen Status, seine Identität gegen die Privilegien des Wissens und die greifbaren Konsequenzen dieser Macht führt (Foucault 1986:246). Bei Oswald traf der Verhaltenskodex auf Unverständnis und wirkte auf ihn bedrohlich, weil er seiner Erfahrung im Betrieb nicht entsprach. Er sah sich im Ostberliner Betrieb von äußeren Zwängen umgeben, die von den Arbeitenden nicht zu bewältigen waren. Seiner Meinung nach passte das neue Modell des erfolgreichen Gewinners für Menschen wie seinen Konkurrenten Wolpert. Er war in seinen Augen der erfolgreiche Emporkömmling, beliebt bei seinen Chefs und besessen von Ehrgeiz. „Wolperts Verhalten hat Ähnlichkeiten mit Verhaltensweisen aus dem Tierreich", urteilte er, „der Mann möchte sich in den Vordergrund stellen und er weiß, wie man Karriere macht.“ Wolpert selbst war sich der prekären wirtschaftlichen Lage des Betriebs bewußt und nahm es als seine Rolle an, die Probleme des Unternehmens zu lösen. Er war jedoch auch in der Lage, sich aus der Identifikation mit dem Modell zu lösen und selbstkritisch zu vermerken, daß er „getrieben“ war, zu viel zu arbeiten und sein Privatleben hinter die Interessen der Firma zurückzustellen. Tatsächlich verinnerlichte keiner der beiden Leiter den Verhaltenskodex von HOCHINAUF vollständig. Die Annahme oder Ablehnung der Verhaltensnormen der Wettbewerbsorientiertheit, der Risikobereitschaft, des Erfolgsdenkens und der zielorientierten Kooperation hing von vielfältigen Faktoren ab. Das Unternehmensmodell wurde als Richtschnur angenommen oder ignoriert, je nachdem in welchem sozialen und historischen Kontext die Mitarbeiter standen, welche individuellen und kollektiven Strategien sie verfolgten und welchen Überzeugungen sie anhingen. 213 Außerdem konnten die Werte und Normen, nach denen sich die Mitarbeiter richteten, auch durchaus widersprüchlich sein. Sozialanthropologen untersuchten die Einführung kultureller Modelle in kolonialen Gesellschaften unter dem Begriff der „Akkulturation“, der eine Verbindung herstellt zwischen dem Aufzwingen kultureller Modelle und der Ausübung von Macht. Akkulturation beruht auf zwei Aspekten: dem Aufeinandertreffen zweier heterogener Kulturen und der Dominanz der einen über die andere (Wachtel 1974:125). Im Prozeß der Akkulturation wird nicht nur der Kultur der Eroberten die Kultur der Eroberer aufgezwungen, sondern sie nimmt auch, in einer umgekehrten Bewegung, aktiv Elemente der Kultur der Eroberer auf, ohne dadurch gewisse Eigenheiten ihrer eigenen Kultur aufzugeben (Wachtel 1974:125). Ein Unterschied existiert zwischen der persönlichen Entscheidung, sich als Einzelperson an eine neue Gruppe anzupassen und der Bereitschaft, als Mitglied und Vertreter einer Gruppe die Verhaltensregeln im Sinne eines von außen vorgegebenen Modells zu verändern. Wolpert mußte, um in Westberlin als Einzelperson im neuen Betriebszusammenhang bestehen zu können, die Verhaltensweisen seines neuen Umfeldes erlernen. Die normativen Diskurse der multinationalen Firma dienten ihm dazu als Richtschnur. Mit großem Eifer machte er sich die Zielvorgaben des multinationalen Unternehmens zu eigen und war seinen westdeutschen und ostdeutschen Untergebenen gegenüber kompromißloser als mancher westdeutsche Leiter. Die Rückkehr nach Ostberlin verstand er als Mission, die sich jedoch als schwieriger herausstellte, als angenommen, weil er sich einer Wand von Widerständen und eingefahrenen Verhaltensweisen gegenüber sah, denen er wiederum mit einem Führungsstil begegnete, den er noch aus der Planwirtschaft kannte. Oswald verteidigte als Vertreter der Ostberliner Belegschaft Elemente der planwirtschaftlichen Unternehmenskultur, die ihm als erhaltenswert erschienen und den Gruppenzusammenhang der Belegschaft, der durch die Entlassungen und Umstrukturierungen in Gefahr geraten war. Während er 1990 im Namen der Belegschaft Veränderungen im Betrieb und eine Abrechnung mit dem alten politischen Regime angestrebt hatte, wurde er im Bündnis mit den neuen Besitzern entgegen seinen inneren Überzeugungen für deren Interessen eingesetzt. Als Fertigungsleiter mußte er Entlassungen und Umstrukturierungen mit verantworten, die seinen ursprünglichen Idealen und seiner Tätigkeit als Betriebsratsvorsitzender widersprachen. Der Verhaltenskodex, der den Mitarbeitern das Gefühl vermitteln sollte, sie wären individuell verantwortlich für ihren Erfolg oder Mißerfolg im neuen System, erschien nun als plumpes Propagandamittel, angesichts 214 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 von Entlassungen und Betriebszusammenlegungen, die letztlich ohne Rücksprache mit den ostdeutschen Leitern erfolgten und bei denen das Individuum gänzlich hinter den Interessen der Firma verschwand. Die Werte und Normen, auf die sich die beiden Fertigungsleiter beriefen, waren Resultat einer komplexen Mischung verschiedenster Einflüsse. Vor allem, veränderten sie sich dynamisch mit den Erfahrungen, die die Männer machten und waren keinem Ost - oder westdeutschen Stereotyp zuzuordnen. Wolpert machte sich zum engagierten Sprecher der HOCHINAUF-Firmenphilosophie und leitete gleichzeitig sein Weltbild von seiner links orientierten sozialistischen Erziehung ab. Er kritisierte das DDR-Regime, weil es den sozialistischen Idealen nicht entsprochen hatte und Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten gefördert hatte. Im Westen fand er seine Ideale von einer offenen, freundlichen und kooperativen Gesellschaft eher verwirklicht als im Osten, aber er fühlte sich auch dort als kritischer engagierter Bürger nicht ernst genommen und war, wie er sich sehr unbestimmt ausdrückte, „nicht dafür“. Oswald hatte sich zu DDR-Zeiten zu denen gezählt, die von einer westlichen Arbeitseinstellung geprägt waren und die es abgelehnt hatten, sich vom DDRRegime vereinnahmen zu lassen. Er erhoffte sich von der multinationalen Firma eine moralische Erneuerung und eine politische Abrechnung mit dem sozialistischen Betriebsregime. Als diese ausblieb, beurteilte er die westliche Betriebsleitung als ebenso autoritär und manipulatorisch, wie es die sozialistische gewesen war. Er nahm die HOCHINAUF-Betriebsorganisation im Gegensatz zu Wolpert als Regime der Angst wahr. Für das multinationale Unternehmen zählen die Vorlieben, die Ideale, die Meinungen und politischen Überzeugungen der Belegschaft wenig: Es ist ihr Verhalten der Flexibilität und Selbstdisziplin, das zählt. Der Gewinner kann sogar an der Rationalität der Marktwirtschaft zweifeln, solange er sich wie ein Gewinner verhält. Das kulturelle Modell gibt einen Rahmen vor, aber die Mitglieder des Betriebs können, auch wenn sie sich ihm anpassen, offen bleiben für die Wahl einer anderen Identität, die auch im Widerspruch zum herrschenden Modell des Wachstums und der Konkurrenz stehen kann. Die gesellschaftliche Praxis zeigt die Möglichkeiten, die die Akteure besitzen, um zu atmen, zu denken und zu handeln in einer unabhängigeren Weise, als es Interpretationen in Begriffen der Akkulturation und der Hegemonie vorsehen. Das disziplinatorische Modell der Betriebskultur ist auch für die Gewinner nur eine Regieanweisung auf der Bühne, auf der sich die Unterschiedlichkeiten treffen. 215 Der motivierende Diskurs, der den Selfmademan zum Modell erhob, wirkte vor dem Hintergrund der strukturellen Zwänge, die die deutsche Einigung mit sich brachte. Die historische Situation am Anfang der neunziger Jahre benachteiligte die Beschäftigten, die in Ostberlin geblieben waren, kollektiv den Kollegen gegenüber, die in Westberlin Arbeit gefunden hatten. Sie waren an ihrer gewohnten Arbeitsstelle mit radikalem Arbeitsplatzabbau konfrontiert. Durch die im Einigungsvertrag festgelegte Tarifregelung für Ostdeutschland verdienten sie noch 1993 weniger Lohn und hatten längere Arbeitszeiten. Die Bemühungen der Geschäftsleitung, dem Individuum die alleinige Verantwortung für seinen Erfolg zuzuschreiben verschleierten die Ungleichheiten im Betrieb nur oberflächlich. Sie schafften es nicht, die Herrschaftsbeziehungen als Ergebnis einer fairen Selektion zwischen Gewinnern und Verlierern darzustellen. 216 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 10. Vereinigung und Vereinzelung Als die Industriegewerkschaft Metall im Februar 1993 darum kämpfte, den Stufenplan zur Angleichung der Löhne in Ost- und Westdeutschland beizubehalten, spielten Belegschaftsvertreter und Personalleitung der Firma HOCHINAUF eine medienwirksame Rolle. Der Personaldirektor Pfeiffer war zum Vertreter der Arbeitgeberseite gewählt worden, und die Gewerkschaft stellte den Ostberliner Betriebsratsvorsitzenden von HOCHINAUF gegen ihn auf. Die Ostberliner Fertigung, in der seit Anfang des Jahres 1993 Arbeiter aus beiden Tarifgebieten zu unterschiedlichen Löhnen die gleiche Arbeit verrichteten, stand nun im öffentlichen Interesse. Arbeiter, Manager und Mitglieder des Betriebsrates traten in Fernsehtalkshows unter dem Motto „Berliner erster und zweiter Klasse“ auf. Für die Medien waren die Arbeiter, die nach Tarifgruppe West bezahlt wurden, „Wessi“ und die anderen „Ossis“, auch wenn zahlreiche Arbeiter und Angestellten, die nun als „Wessis“ bezeichnet wurden, erst nach dem Fall der Mauer bei HOCHINAUF in Westberlin Arbeit gefunden hatten und ursprünglich aus Ostberlin kamen. Im Betrieb selber jedoch verlief diese Auseinandersetzung völlig undramatisch, auch nachdem der Tarifvertrag von der Arbeitgeberseite her aufgekündigt worden war. Die Solidaritätsgesten der besser bezahlten Arbeiter aus dem Westberliner Betrieb beschränkten sich auf die einmalige Teilnahme an einer gemeinsamen Kundgebung, und auch die Proteste der benachteiligten Ostberliner Arbeiter waren verhalten und bemüht, kein Aufsehen zu erregen. Warum blieb die Belegschaft trotz gut organisierten Betriebsrats weitgehend passiv? 217 10.1. Leistungsdruck versus wissenschaftlich bestimmbare Produktivität Eines der zentralen Themen, an dem sich das gegenseitige Unverständnis und Mißtrauen zwischen westdeutscher Geschäftsleitung und Ostberliner Belegschaft entzündete, war das der Produktivität. Obwohl und vielleicht auch gerade weil im realexistierenden Sozialismus die Forderung nach Produktivitätssteigerung Bestandteil einer jeden Planvorgabe war, hatte die Belegschaft eine Vorstellung von Produktivität als einer festlegbaren, bestimmbaren Größe, die nur eingeschränkt wurde durch Fehler im Ablauf und im System. Man verpflichtete sich im sozialistischen Wettbewerb, diese Fehler auszuräumen, um die Produktion zu steigern. Zeitnahmen dienten dazu, im Konsens mit den Akkordarbeitern Produktionsvorgaben festzulegen, die erreichbar waren. Der Meister und Brigadier achtete darauf, daß keiner der Arbeiter diese Vorgaben übererfüllte und daß die Brigade im Durchschnitt den Akkordsatz von 115% erreichte. Da der Preis des Produktes ein politischer war, stand er in keinem Verhältnis zu den Produktionskosten und damit auch nicht zur Produktivität. Von der außerbetrieblichen Preiskommission festgelegt, konnte er die Produktionskosten um ein Vielfaches übersteigen oder aber auch weit unter den Kosten liegen. Die Fertigung in Ostberlin hatte nach der Übernahme durch HOCHINAUF keine Anhaltspunkte, an denen sich Produktivitätsvorgaben orientieren konnten. Die Fertigung war von einer arbeitsteiligen Montage von Großserien des immer gleichen Aufzugstyps auf die Herstellung von spezialisierten Einzelaufzügen in kleinen Arbeitsteams umgestellt worden. Statt Akkordlohn wie früher verdienten die Arbeiter nun Zeitlohn auf der Grundlage der für Ostdeutschland ausgehandelten Tarifverträge. Die Marketingabteilung von HOCHINAUF hatte berechnet, daß die Ostberliner Aufzüge zu einem Preis verkauft werden sollten, der um ein Viertel bis Drittel über dem lag, der für die in Frankreich gefertigten HOCHINAUF-Serienmodelle verlangt wurde. Der technische Direktor in Ostberlin, der es als einziger von den ehemaligen Genossen Direktoren gewagt hatte, sich im Frühjahr 1990 von der Belegschaft im Amt bestätigen zu lassen, errechnete aus dem Preis die Stunden, die die Arbeiter für die Montage des Aufzugs maximal benötigen sollten. Diese Zeitvorgabe wurde jedoch 1991 nicht erreicht. Meistens benötigte die Fertigung die doppelte Zeit. Die Frage der Produktivität wurde zum Politikum im Betrieb, an dem sich Kontroversen entspannten und zu dem Strategien entwickelt wurden. Die aus dem Preis errechnete niedrige Produktivität rechtfertigte in den offiziellen Stel218 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 lungnahmen der Westberliner Geschäftsführung den niedrigeren Lohn für Ostdeutsche. Die stehende Redewendung des Leiters der Produktionsplanung und Investitionsführung Stolz war: „Die Ossis sind alle ziel- und antriebslos“. Von der Ostberliner Belegschaft wurde das übersetzt in: „Die Ossis sind faul, also müssen sie weniger kriegen.“ Obwohl die Arbeiter durch die errechnete niedrige Produktivität keine Lohneinbußen hatten, da sie Zeitlohn verdienten, waren sie der ständigen Drohung von Seiten der Geschäftsführung ausgesetzt, daß die Produktion stillgelegt werden würde, wenn sie nicht rentabler würde. Als Reaktion auf diesen diffusen Druck forderten sie präzise Produktionsvorgaben und klar begrenzte Aufgabenfelder, in denen sie überschaubare Verantwortlichkeiten haben konnten. Stolz hingegen argumentierte für selbstständiges Arbeiten und dafür, daß sich die Beschäftigten für den gesamten Betrieb und nicht nur für die Belange ihrer Abteilung interessieren sollten. „Ein Versand kann beispielsweise sagen: ‚O.k., wir versenden alles das, was uns bereitgestellt wird.‘ ‚Wieviel wurde Euch bereitgestellt?‘ ‚Nichts!‘ ‚Dann habt Ihr also nichts versandt.‘ Jetzt kann man die andere Frage stellen: ‚Was habt Ihr eigentlich dafür getan, daß das Material rechtzeitig noch zum Versenden zu Euch kommt?‘ Da gibt es auch Leute, die sagen: ‚Das ist nicht meine Aufgabe. Der andere hat mir das zu bringen.‘“ (Stolz, HOCHINAUF, 9.2.1993) Auf den Gängen wurde getuschelt: „Wir sind hier die billigeren Türken.“ – „Für den Lohn würden die Türken hier nicht mehr arbeiten.“ Die Arbeiter und auch der Fertigungsleiter Oswald vermuteten, daß besonders ungünstige Aufträge und Zuarbeiten von West- nach Ostberlin verlegt wurden. So gab die technische Abteilung für die Plattform, die als Auftragsarbeit für die Luxusaufzüge in Westberlin gefertigt wurde, im Sommer 1991 1126 Arbeitsminuten zu Ostlöhnen vor, die Arbeiter brauchten aber unter Idealbedingungen schon 2600 Arbeitsminuten. Die Arbeiter stellten sich nun die Frage, ob die Arbeiter in Westberlin die Plattform tatsächlich in der kurzen Zeit – ja in noch kürzerer Zeit, denn sie wurden nach Westtarif bezahlt – gefertigt hatten, oder ob die Plattform in der Gesamtzeit für den Glasaufzug enthalten war und nur als unrentabelster und aufwendigster Teil nach Ostberlin vergeben wurde. Ihr Mißtrauen verschärfte sich, als sie zu dem Auftrag Lohnscheine aus Westberlin erhielten, auf denen alte Zeiten durchgestrichen und durch schlechtere Zeiten ersetzt worden waren. Auf der Betriebsratsversammlung im März 1991 verlieh auch der Betriebsratsvorsitzende diesen Sorgen Ausdruck. Er befragte den Personaldirektor: „Herr Dr. Pfeiffer, in diesem Zusammenhang hätten wir gerne die Frage beantwortet: die Kürzung der Vorgabezeiten von HOCHINAUF-Auftragsarbeiten, die bisher bei HOCHINAUF in 219 Westberlin gefertigt wurden, wird uns mit dem vorgegebenen Preis erklärt. Wie ist das möglich, denn bei gleicher Vorgabezeit würde der Preis aufgrund des Lohngefälles schon niedriger liegen. Klagt der Betriebsrat sein Mitbestimmungsrecht zu Vorgabezeiten ein, wird gleich versteckt gedroht, wenn wir nicht zu diesem Preis herstellen, wird an andere Firmen vergeben.“ Und er fügte ganz im Sinne der HOCHINAUF-Philosophie hinzu: „Ist das HOCHINAUF-Familienverhalten?“ (Bericht des Betriebsrates zur Betriebsversammlung am 13.3.1991) Der Ostberliner Betriebsratsvorsitzende benutzte den Begriff „HOCHINAUFFamilie“, der zum emotionalen Standardrepertoire des Konzerns gehörte und signalisierte damit, daß er dazugehörte und berechtigt war, das Management an seinen eigenen moralischen Maßstäben zu messen, da wo sein wirtschaftliches Kalkül offenkundig auf Kosten der Ostberliner Fertigung ging. Gleichzeitig spielte der Appell an das „Familiengefühl“ des Managements von Seiten des Betriebsrates auf den Spott an, mit dem der Begriff im internen Diskurs der Ostberliner Mitarbeiter bedacht wurde. In der Tat glaubten weder der Fertigungsleiter Oswald, noch die Arbeiter der Kabinenmontage, daß die ihnen zugewiesenen Arbeiten in der vorgeschriebenen Zeit zu schaffen waren. Auch die Appelle von Stolz für mehr Produktivität und Leistung stießen bei der Belegschaft auf Skepsis: „Wenn ich irgendetwas gesagt habe, haben die zwar mit großen Augen zugehört, aber innerlich gesagt: ‚Also der belügt uns.‘ Speziell auf dem Gebiet der Produktivität. Wenn ich sage: ‚Herrschaften, wir müssen das in der halben Zeit schaffen‘, hören die das zwar, glauben es aber nicht.“ (Stolz, HOCHINAUF, 9.2.1993) Weil sie keine Orientierungswerte besaßen und darauf angewiesen waren, über die vergleichbaren Leistungen ihrer Kollegen in Westberlin zu spekulieren, ergriffen die Beschäftigten im Frühjahr 1991 die Initiative, Zeitaufnahmen in der Fertigung durchzuführen. In der Annahme, die noch aus ihren Erfahrungen in der Planwirtschaft stammte, daß es objektive, wissenschaftlich erwiesenen Produktivitätsstandards geben könnte, wollten sie feste Kriterien für Produktivität entwickeln. Damit wollten sie nachweisen, daß das Nichterreichen der Produktivitätsvorgaben nicht die „Schuld“ der Fertigung war, sondern auf unzureichende Arbeitsmittel, Schwierigkeiten der Koordination zwischen Abteilungen, Fehler in der Konstruktion und unvollständige maschinelle Ausstattung im Zuschnitt zurückzuführen war. Sie versprachen sich davon das Erstellen „reeller Vorgaben“ und ein Nachlassen des Drucks auf die Fertigung. Zwei Mitarbeiter der Ostberliner Arbeitsvorbereitung, die keine Erfahrung mit Zeitnahmen unter REFABedingungen hatten und ein Betriebsrat, der für diesen Zweck an einem REFA220 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Lehrgang teilgenommen hatte, führten im Sommer 1991 mit Hilfe einer Armbanduhr mit Sekundenzeiger Zeitnahmen in den unterschiedlichen Bereichen der Fertigung durch. Die Westberliner Geschäftsführung ließ sie machen, wenn auch Stolz kritisch bemerkte, die Arbeitsvorbereiter sollten sich lieber über die Optimierung des Fertigungsablaufs kümmern, als Zeitnahmen durchzuführen. Der Westberliner Betriebsrat betrachtete die Bemühungen der Ostberliner Kollegen, objektive Kriterien für die Produktivität festzulegen und damit die Unwägbarkeiten der Marktwirtschaft zu reduzieren, mit Befremden. Für die westlichen Betriebsräte war es klar, daß bei Zeitlohn keine Zeitvorgaben gemacht werden durften und erst recht keine Zeitnahmen durchgeführt werden sollten. Zeitnahmen bei Zeitlohn zuzulassen, bedeutete ihrer Meinung nach, der Geschäftsführung zusätzliche Druckmittel an die Hand zu geben und indirekt Zeitvorgaben zu akzeptieren, die im Tarifvertrag nicht vorgesehen waren und die der Betriebsrat nicht kontrollieren konnte. Der Westberliner Betriebsrat sprach sich für Akkordlohn aus, weil dieser ihm mehr Mitspracherechte erlaubte über Leistungsvorgaben und Arbeitsbedingungen. Bei Zeitlohn fiel diese Mitsprachemöglichkeit weg, während gleichzeitig der Druck, der auf den einzelnen Arbeiter ausgeübt wurde, nicht nachvollzogen werden konnte. Der Betriebsrat war zu der Einsicht gelangt, daß der Freiraum eines Akkordarbeiters, der Kleinserien oder Einzelstücke herstellte, unter kontrollierbaren Arbeitsbedingungen größer war als der eines Zeitarbeiters, der einen Meister im Rücken hatte, der ihn antrieb. „Der Widerspruch ist im Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates. Die Firmen, sowohl die West- als auch die Ost-Firmen, wollen natürlich überall möglichst Zeitlohn einführen. Es gibt keine Mitbestimmung des Betriebsrates mehr über Leistungsvorgaben, die gibt es nur bei Akkord oder Prämien. Das heißt, ich kann einen Zeitlöhner im Prinzip – und wir haben ja auch die Erfahrung gemacht hier – mehr antreiben zur Arbeit als einen Akkordarbeiter. Und der kriegt aber, selbst wenn der erheblich schneller ist, keine müde Mark mehr dafür. Und ein Akkordarbeiter, der hat eine Leistungsvorgabe von 100 Minuten, die kann er in 100 schaffen, die kann er in 70 schaffen, die kann er in 60 schaffen. Und wenn der rumsteht und eine Zigarette raucht und da quatscht ihn ein Meister an, dann sagt der: ‚Was willst Du denn von mir? Ich schaffe das Ding rechtzeitig fertig. Da stehen 100 Minuten drauf, da muß ich das nicht in 40 fertig machen!‘ Aber ein Zeitlöhner hat so eine Chance überhaupt nicht, weil er ja keine Orientierungswerte, nichts hat. Der sagt ihm immer: ‚Schneller, schneller, schneller!‘“ (Betriebsrat, HOCHINAUF Westberlin, 17.2.1993) Mit der Zeitnahme wollten die Ostberliner Beschäftigten die Orientierungswerte schaffen, die ihnen fehlten, um ihren eigenen Wert als Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt einschätzen zu können. Tatsächlich hatte die Zeitnahme allerdings zur Folge, daß die Arbeiter begannen, ihr Verhältnis zu Beschäftigten aus ande221 ren Abteilungen, wie zum Beispiel zur Konstruktion, die fehlerhafte Zeichnungen lieferte, in finanziellen Begriffen zu sehen. Die Arbeiter der Kabinenmontage amüsierten sich über Konstruktionsfehler, die die Gütekontrolle entdeckt hatte, und kommentierten: „Das schreiben wir alles auf und stellen das denen von der Konstruktion in Rechnung. Die müssen uns das bezahlen!“ Sie überlegten weiter, wie sich das Unternehmen überhaupt über Wasser hielt, wenn immer wieder Fehler auftraten und sie an einem Aufzug über drei Wochen arbeiteten. Den Preis könne man doch nicht erhöhen. Die Arbeiter begannen sich Gedanken zu machen über den Zusammenhang zwischen Produktionszeit und Produktionskosten. Gleichzeitig fingen sie an, die Beziehungen zwischen den Abteilungen und zu den Kollegen nach finanziellen Kriterien zu beurteilen. Auf der Suche nach festen Kriterien, an denen sie ihren Wert als Arbeitskräfte messen konnten, trafen sie auf die Essenz der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsweise, auf die Abstraktion von der Person des Arbeitenden und auf seine Bewertung nach der finanziellen Wertschöpfung, die seine Arbeit ermöglichte. Der Versuch, sich ihres Status im Betrieb und ihres Wertes als Personen zu versichern, mußte mißlingen, denn die strukturelle Unsicherheit war die Konsequenz des „flexiblen“ erfolgreichen Wirtschaftens der Firma HOCHINAUF und Bestandteil des marktwirtschaftlichen Systems, in dem sie sich nun zurechtfinden mußten. 10.2. Das Paradies oder die gelungene Integration Nach Gesprächen mit Arbeitern bei TAGHELL, STANEX und HOCHINAUF in Ostberlin, die beklagten, daß die Marktwirtschaft den Konkurrenzkampf der Beschäftigten um die knappen Arbeitsplätze gefördert, den Leitern unbegrenzte Macht in die Hände gegeben und die Freiräume bei der Arbeit zerstört hätte, erfüllte mich der Enthusiasmus der ostdeutschen Arbeiter, die bei HOCHINAUF in Westberlin Arbeit gefunden hatten, mit Verwunderung. Im Vergleich zu ihrem alten Betrieb in der DDR, so meinten meine Gesprächspartner dort, waren die Arbeitsbedingungen bei HOCHINAUF „paradiesisch“. Ein Arbeiter, der zuvor in einer Dresdner Zellstoffabrik gearbeitet hatte, bezeichnete sie sogar als „Himmel auf Erden“. Die Ängste, die sie vor Antritt der Arbeit im Westbetrieb gehabt hatten und die auch von der realsozialistischen Propaganda geprägt worden waren, hatten sich in ihren Augen als unbegründet 222 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 erwiesen. Die neuen Kollegen in Westberlin hatten sie nicht geschnitten, ausgeschlossen und diskriminiert, sondern freundlich aufgenommen:. „Die haben immer gedacht: ‚Da kiekt jeder bloß uff Seins und probiert den Anderen auszutricksen.‘ Das war die Ideologie, die sie einem beigebracht haben. Stimmte alles nicht. Im Gegenteil. Ich kam in die Halle rein in der ersten Woche. Jeder fragte: ‚Na wie gehts und was machst Du denn so?‘ Die haben auch alles erklärt. Die Leute freuten sich selbst. Da konntest Du ein Pläuschchen machen. Da konntest Du Kaffee trinken. Das war alles gang und gebe.“ (Clausen, Facharbeiter HOCHINAUF, 11.2.1993) Seine Kollegen erklärten einhellig, daß es im Westen weniger Konkurrenz unter den Arbeitenden gäbe als im Osten. Was sie als Konkurrenz im DDR-Betrieb empfunden hatten, war das Bestreben der Bereiche des planwirtschaftlichen Betriebs, sich voneinander abzugrenzen, Verantwortung für wirtschaftliche Fehlleistungen von sich fernzuhalten und Forderungen abzuwehren. (Merkens/BergsWinkels/u.a. 1990). Die zielorientierte Kooperation zwischen den Abteilungen bei HOCHINAUF empfanden sie als anspornend und angenehm. Aber sie hatten auch erhebliche Schwierigkeiten, sich an einen Arbeitsstil zu gewöhnen, der dem einzelnen Arbeiter eine umfassende Verantwortung für die Organisation seiner Arbeit übertrug. Altmann, der zuvor bei VEBLift in Ostberlin gearbeitet hatte, beschrieb seine Schwierigkeiten und auch seine Befriedigung über den neuen Arbeitsstil: „Das erste Jahr war für mich sehr schwer gewesen. Weil ich es ja nun gar nicht gewohnt war, daß Du Dich um alle Scheiße selber kümmern mußt. Und da war ich ja wirklich keine Leuchte gewesen. Dir haben sie erstmal beigebracht, selbständig zu arbeiten. Vorher haste deinen Hiwi gehabt, sprich, den Brigadier, der hat Dir alle Teile rangefahren, hat dir deine Papiere hingepackt, der hat Dir auch immer klipp und klar gesagt: ‚Det, det, det machste dann‘. Jetzt kriegst Du bloß vom Alten 'ne Nummer. ‚Kümmer dich mal um die 8606‘, zum Beispiel, und du suchst Dir Deine Teile zusammen, besorgst Dir die Zeichnung, und dann fängste an, das Ding aufzubauen. Und um alles, was dann irgendwie Scheiße ist, da kümmerst Du Dich selber. Das ist ein schönes Arbeiten, weil erstmal die Zeit vergeht. Du machst nicht immer dasselbe, stupide, sondern, wenn alles schön paßt, dann freust Du Dich auch noch. Dann schaffste auch was.“ (Altmann, Facharbeiter, HOCHINAUF, 11.2.1993) Altmann kam aus der tayloristisch organisierten Serienproduktion bei VEBLift, wo man – wie sich ein anderer Arbeiter ausdrückte – auch noch „mit besoffenem Kopf“ zusammenschrauben konnte, in die Montage von spezialisierten Sonderkabinen bei HOCHINAUF. Dort erfuhr er „das Ende der Arbeitsteilung“ (Kern/Schumann 1990): die Rückgabe nicht nur von Know-how, sondern auch von selbstständiger Arbeitsorganisation an die Fertigung. In der Aufzugsmontage in Westberlin war der Arbeiter selbst dafür verantwortlich, die Pläne und Teile 223 zusammenzutragen, die für die Montage der Kabinen notwendig waren. Wenn Fehler auftraten, gehörte es zu ihrer Verantwortung, sich um die Lösung zu kümmern. Dabei wandten sie sich bei kleineren Korrekturen auch direkt an ihre Kollegen im Zuschnitt, ohne den Vorarbeiter oder Meister zu verständigen, oder sie stellten sich selbst an die Maschine. Die Improvisationskünste, die sie in der Mangelwirtschaft der DDR bei unzureichenden Materialien und Ersatzteilen unter Beweis stellen konnten und die auch bei mangelhaftem Resultat immer honoriert wurden, waren in der neuen Arbeitsorganisation ebenfalls gefordert, wenngleich in anderer Weise. Den Facharbeitern wurde bewußt Freiraum gegeben, um eigene Lösungsansätze zu entwickeln, aber sie mußten auch für die von ihnen gefundenen Lösungen die Verantwortung übernehmen. Dies bedeutete, daß sie für die von ihnen gefertigten Teile eine umso größere Verantwortung übernehmen mußten, je weniger ausführlich die Vorschriften waren, die sie von den Technologen erhielten. Hilfestellung erhielten sie von dem alten Vorarbeiter Herrmann, dem die informelle, aber allseits anerkannte Rolle zukam, die Skizzen der Konstrukteure zu interpretieren und oftmals sie auch zu korrigieren. An ihn wandten sich die Arbeiter, wenn sie Schwierigkeiten bekamen. Er war die praktische Instanz, auf die sie sich verließen. Während die Arbeiter in Westberlin den neuen Arbeitsstil als Teil all der Neuheiten akzeptierten, die sie im Westen erwarteten, wehrten sich ihre Kollegen in Ostberlin dagegen, daß die technischen Zeichnungen und Vorgaben nicht mehr so detailliert waren wie zu Zeiten der Planwirtschaft und daß sie nun für Aufgaben verantwortlich gemacht werden konnten, für die zuvor Technologen, Qualitätsprüfer, Brigadiere und Konstrukteure zuständig waren. Während früher auf den Konstruktionszeichnungen sogar die Art der Schweißnaht aufgeführt worden war, die gesetzt werden mußte, erhielten sie zu ihrem Unbehagen heute oft nur eine Skizze und mußten sich selbst überlegen, wie die sie diese ausführten. Als wichtigsten Unterschied zu seiner Arbeit im VEB empfand Altmanns Kollege Bogner allerdings, was er als „das Soziale“ bezeichnete. Er fühlte sich als Person von seinem Meister ernst genommen und bezeichnete ihn „als Respektperson“ und als „totalen Mensch“. Er schätzte an Reimann, daß er nicht nachtragend war, relativ gerecht und bereit, Fehler einzusehen. Er organisierte Gemeinschaftsaktivitäten für seine Arbeiter, kümmerte sich bei Problemen und trat als Mittler bei Schwierigkeiten auf. 224 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 „Es kommt auch immer drauf an, wie man Vergleiche zieht. Wenn es um technische Sachen geht, dann hat er ja auch keine Ahnung. Aber er ist trotzdem auf irgendeine Art Meister, hat Autorität. Wie ich den das erste Mal gesehen habe, mit seiner halben Brille, wie er mich da angeguckt hat von oben bis unten: ‚Na, mmh ham sen gemacht bis jetzt und so....ja, kommen se mal mit.‘ Ich immer hinterher. Aber trotzdem – er ist auch Mensch, ein totaler Mensch. Wenn es ein Mensch ist, geht immer ein Weg weiter. Der geht dir nicht auf'n Geist mit irgendeinem sinnlosen Zeug. Da kommt er und sagt: ‚Also hier, hört zu, Du mußt mir das und das und das, mußt Du mir heute machen. So. Brauchen wir unbedingt.‘ So. Und dann machste und der läßt Dich in Ruhe und alles. Was bei den Ost-Meistern noch ausgeprägt ist, die gehen Dir auf'n Wanst mit sinnlosem Zeug, weil sie's so gewöhnt sind von früher.“ (Bogner, Facharbeiter, HOCHINAUF, 11.2.1993) Die Arbeiter schätzten die kleinen Gesten der Aufmerksamkeit, mit denen sich Reimann um sie kümmerte: ihnen Kaffee hinstellte, wenn sie nachmittags Überstunden machten, ihnen Currywurst kaufte, wenn sie für einen besonders wichtigen Auftrag bis abends im Betrieb blieben. Auf Reimanns Anregung hin wurde der Schrott von Nirostablechen aufgehoben, gesammelt und verkauft, und aus dem Erlös finanzierte die Abteilung ihre geselligen Abende. Die gute Stimmung in der Abteilung hob nach Altmanns Meinung die Motivation der Kollegen und bewirkte, daß sie zu Überstunden bereit waren. „Da looft das Soziale erstmal ab und das ist ja nun das wichtige. Das Umfeld muß stimmen, und dann läuft die Motivation, und dann bist Du auch willig, nicht nur acht Stunden, sondern machst auch zehn Stunden, neun Stunden, zehn Stunden. Da machst du auch die illegalen Dinger zum Beispiel, kennen wir nun… Beschissen! Haben wir alle schon gemacht! Dann bist Du nicht nur zehn Stunden auf Arbeit gewesen, sondern dann hast du zwölf oder vierzehn Stunden gemacht. Wenn das der Betriebsrat mitgekriegt hätte, dann wäre das ein Kündigungsgrund gewesen. Aber Du hast Dir nun 'n Kopf gemacht, das ist ein Termin, die kommen zur Abnahme.“ (Altmann, Facharbeiter, HOCHINAUF, 11.2.1993) Altmanns Arbeitsmotivation schien sich bruchlos in die Arbeitsphilosophie einzufügen, die von der Personalleitung vertreten wurde. Er führte es auf seine gute Beziehung zu seinen Kollegen und Vorgesetzten zurück, daß er motiviert war, sich einzusetzen und das Ziel des Unternehmens, seine Kunden zufriedenzustellen, zu seinem eigenen zu machen. Obwohl er sich bewußt war, daß es „beschissen“ war, Überstunden zu machen, die der Betriebsrat nicht genehmigt hatte, sprach er über die illegalen Überstunden wie über einen gelungenen Streich. Er schien vom Betriebsrat zu erwarten, daß er sich wie früher die Betriebsgewerkschaftsleitung um seine persönlichen Belange, wie günstige Lohnabschlüsse, Parkplatzsorgen und Arbeitsbedingungen kümmerte, sprach aber gleichzeitig von ihm wie von einer übergeordneten Instanz, die Interessen vertrat, die nicht die seinen waren. So empfand er auch keine Verpflichtung, sich an die ausge225 handelten Überstundenregelungen zu halten, die dazu beitragen sollten, die Arbeit gesellschaftlich gerechter zu verteilen. Der Enthusiasmus, den die Arbeiter zur Schau stellten, die aus Ostberlin gekommen waren, wurde nicht unbedingt von ihren westlichen Kollegen geteilt, die sich wesentlich reservierter über ihre Arbeit äußerten und auch über das gesellige Leben im Betrieb. Anders, der Vorarbeiter der Elektriker, der zielstrebig auf eine Karriere im Betrieb zusteuerte, blieb allen geselligen Abenden der Abteilung fern, weil er, wie er sagte, einige seiner Kollegen im besoffenen Zustand nicht ertragen konnte. Sein Kollege Warnher hingegen prahlte mit den Mengen an Alkohol, die er konsumieren konnte und nahm für sich in Anspruch, faul und dumm zu sein und nur zu arbeiten, weil ihn sein Meister dazu trieb. Die Geschichten, die beide erzählten, entsprachen dem distanzierten und wissenden Diskurs von Insidern, den Herzfeld mit dem Begriff „kulturelle Intimität“ (Herzfeld 1997) umschreibt. Beide Arbeiter gaben ein Bild von sich, das ihre Besonderheit unterstrich, oder ihren „Eigensinn“, wie Lüdtke (1989) es ausdrückt, der eine, indem er den Kollegen zeigte, daß er nicht ihr Kumpel sein wollte, der andere, indem er zeigte, daß er den Ansprüchen der Betriebsleitung an kreative verantwortungsbewußte Arbeit nicht entsprach und auch nicht entsprechen wollte. Die kritiklose Begeisterung der Arbeiter, die erst vor ein bis drei Jahren aus Ostberlin gekommen waren, mag darauf hindeuten, daß sie diese Intimität und das selbstverständliche Zugehörigkeitsgefühl ihrer westlichen Kollegen noch nicht teilen und daher auch kein Gegenbild entwickeln konnten. Das heißt, sie konnten jenseits der offiziellen Betriebsideologie nicht die Aspekte der Identität wahrnehmen, die nach außen hin eher peinlich verschwiegen werden, weil sie widersprüchlich sind und Schwächen offenbaren, die aber den Insidern die Gewißheit einer Gemeinschaftlichkeit geben und der Vertrautheit mit den Mechanismen der Macht (Herzfeld 1997:3). Den einzigen ihrer Vorgesetzten, den die Neuankömmlinge offen kritisierten, war der Fertigungsleiter Wolpert, der selber aus Ostberlin gekommen war. Der Ton und das vertrauliche „Du“, das Altmann bei einer solchen Kritik vor allen Arbeitern anschlug, schockierte wiederum die westdeutschen Kollegen, die ihm rieten, sich einem Vorgesetzten gegenüber vorsichtiger zu verhalten. 226 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 10.3. Kollektivität und Konkurrenz Nach zähen Verhandlungen hatte der Westberliner Betriebsrat für die Teile der Westberliner Belegschaft, deren Arbeitsplatz von West nach Ost verlagert wurde, Bedingungen aushandelt, die ihnen ein weit höheres Einkommen garantierte als ihren Ostberliner Kollegen, weniger Arbeitsstunden und bezahlten Urlaub. Sie konnten ihr Recht auf einen westlichen Tariflohn mit Zulagen vertraglich sichern, während die Kollegen nur ostdeutschen Tariflohn verdienten, was Ende 1992 in realen Zahlen nur die Hälfte ausmachte. Die Geschäftsführung beabsichtigte zunächst, die Fertigung mit den Westberliner Beschäftigten unter getrennter Leitung parallel zu der Fertigung mit den Ostberliner Arbeitern laufen zu lassen. Eine personelle Veränderung in der Geschäftsführung von HOCHINAUF im Dezember 1992 brachte dann ein neues Konzept für die Fertigung mit sich. Der neue Produktionsdirektor entschied, das Konzept seines Vorgängers fallenzulassen und trotz der Lohnunterschiede, die beiden Fertigungslinien zusammenzulegen. Die Entscheidung fiel knapp eine Woche vor dem Umzug der Fertigung. Seit der Übernahme von VEBLift waren Investitionen im Wert von 15 Millionen DM getätigt worden. Unter anderem waren auch eine neue CNCAbkantpresse, eine CNC-Stanze und eine CNC-gesteuerte Blechschere gekauft worden. Durch die Zusammenlegung verdoppelte sich dieser Maschinenpark. Nun gab es zwei CNC-Stanzen und zwei Pressen, die ausgelastet werden sollten. Der Leiter der Produktionsplanung und Investitionsführung, Stolz, hatte in seinem Umstrukturierungskonzept für die Fertigungshalle vorgesehen, die Regallager mit den Materialien zwischen die Arbeitsplätze der Montage zu stellen, damit die Wege zwischen Arbeitsplatz und Materiallager verkürzt wurden. Der neue Produktionsdirektor kritisierte auch diese Idee und ließ die Werkstatt wieder umräumen. Die vereinigte Fertigung startete mit einer erheblichen Belastung durch einen Maschinenpark, der zu großzügig bemessen war und mit einem Produktionsrückstand von insgesamt achtzehn Aufzügen. Im Januar 1993, zwei Tage nach dem Umzug der Westberliner Aufzugsmontage nach Ostberlin, erlebte der Ostberliner Betriebsrat eine Überraschung. Fünfzehn neue Arbeiter aus Westberlin kamen in sein Büro und kündigten an, daß sie die Arbeit niederlegen würden, wenn nicht umgehend die neue Gasheizung in der Fertigungshalle überprüft und repariert würde. Die Heizung rußte schon seit Wochen und verströmte einen intensiven Gasgeruch. Die alteingesessenen Ostberliner Kollegen hatten sich zwar schon über die Geruchsbelästigung und auch 227 über Kopfschmerzen beklagt, aber keine konkreten Forderungen oder gar ein Ultimatum gestellt. Der Ostberliner Betriebsrat meinte: „Hier wäre nie einer auf den Gedanken gekommen, die Arbeit niederzulegen. Als Hintergedanken eventuell ja, aber dann wäre es nie jemandem in den Kopf gekommen zu sagen: ‚Los komm, wir gehen jetzt zum Betriebsrat und sagen, wir legen hier die Arbeit still, wenn hier nicht vernünftig geheizt wird.‘“ (Glaser, Betriebsrat, HOCHINAUF, Ostberlin, 10.2.1993) Der Betriebsrat interpretierte die mangelnde Initiative der eingesessenen Ostberliner Arbeiter als alte Gewohnheit: „Wir sind ja gewohnt, mehr oder weniger immer nur abzuducken. Weil wir uns sagen, na ja, hat ja sowieso keinen Sinn, vom Osten aus schon gar nicht... Willst Dir nicht den Mund verbrennen hier.“ (Glaser, Betriebsrat, HOCHINAUF, Ostberlin, 10.2.1993) In der Tat wandten sich die Ostberliner Arbeiter mit ihren Anliegen nur selten an den Betriebsrat, und die freigestellten Betriebsratsmitglieder ließen sich wiederum nur selten in der Fertigung sehen, wie die Arbeiter aus Westberlin sofort kritisch vermerkten. Sie kritisierten, daß es der Betriebsrat nicht für nötig befunden hatte, sich ihnen vorzustellen. „Ich muß eins sagen, dieser Betriebsrat, der ist nicht einmal durch die Halle durchgelaufen. Da waren sie in Westberlin anders gewesen. Da kam wenigstens immer irgendeiner. Wenigstens alle zwei Tage ist mal einer durchgekommen, den konntest Du anquatschen. Hier seit 1 1/2 Wochen – überhaupt noch gar nichts. Noch nicht mal um sich vorzustellen.“ (Altman, Facharbeiter, HOCHINAUF, 11.2.1993) Die neue Konstellation ab Frühjahr 1993 brachte den Betriebsrat in einen neuen Rollenkonflikt. Nach der Zusammenlegung der Kabinenfertigung hatten die Ostberliner Arbeiter rasch das gleiche Produktivitätsniveau wie ihre Kollegen aus Westberlin erreicht, ohne allerdings das gleiche zu verdienen. Die Unzufriedenheit in der Ostberliner Belegschaft verstärkte sich, während gleichzeitig der Ostberliner Betriebsratsvorsitzende als Vertreter der Arbeitnehmerseite gegen den Personaldirektor Pfeiffer der Arbeitgeberseite bei den Tarifverhandlungen in Berlin Brandenburg aufgestellt wurde, die im Februar 1993 mit der Aufkündigung des Tarifvertrags durch die Arbeitgeberseite endeten. Bei der ersten Betriebsversammlung nach der Aufkündigung des Tarifvertrags forderten die Betriebsräte eine Sonderregelung bei HOCHINAUF und eine rasche Anpassung der Löhne und Gehälter, die jedoch von der Geschäftsleitung abgelehnt wurde. Der Westberliner IG-Metall-Vertreter forderte daraufhin die Beschäftigten auf, sich einer Kundgebung der IG-Metall anzuschließen, die einige Straßen weiter stattfand, während der Personaldirektor untersagte, das Betriebsgelände zu verlassen. Nach einigem Zögern schlossen sich den Ostberliner 228 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Kollegen auch die Kollegen aus Westberlin an und verließen das Betriebsgelände. Aber schon einige Wochen später, beim ersten Warnstreik, streikten die Arbeiter, die nur Ostberliner Tariflohn verdienten, allein. Ihre besser bezahlten Kollegen arbeiteten weiter und auch der Ostberliner Betriebsrat ließ sich erst fünf Minuten vor Abfahrt der Busse zur Kundgebung in der Werkstatt blicken. Die meisten der Ostberliner Arbeiter verließen leise den Betrieb, bemüht nicht aufzufallen. Sie meldeten sich bei dem Ostberliner Meister ab, der selber auch nur Osttariflohn verdiente. Ihr neuer Vorgesetzter Wolpert beschrieb den Unterschied zwischen den Beschäftigten, die er aus Westberlin mitgebracht hatte und denen, die er in Ostberlin vorgefunden hatte, nach ihrem Verhältnis zur Autorität. Seiner Meinung nach trauten sich die Arbeiter in Westberlin mehr, ihren Vorgesetzten zu widersprechen, weil sie annehmen konnten, daß ihre Kritik als kreative Idee akzeptiert wurde. „Es ist mir stark aufgefallen, als ich in den Westen kam, daß es hier nicht so eine Vorgesetztenhörigkeit gibt. Das liegt auch an dieser demokratischen Erziehung, wie Sie irgendwo groß geworden sind. Das setzt natürlich auch einen ganz anderen Respekt, Vorgesetzten gegenüber voraus. Ich denke, im Osten, ich sage es jetzt mal extrem, ist dieses Hündische Vorgesetzten gegenüber mehr als im Westen. Ich meine das jetzt nicht so extrem, ‚hündisch‘, ich will damit nur die Richtung sagen.“ (Wolpert, HOCHINAUF, 15.2.1993) Die den Arbeitern unterstellte „alte Gewohnheit sich abzuducken“ ging einher mit scharfen Kritiken an Vorgesetzten, die sie allerdings im Verborgenen austauschten. Im vertraulichen Gespräch bezeichneten sie den alten Betriebsdirektor, der die Verhandlungen mit der westlichen Käuferfirma geführt hatte, als Marionette und verglichen den Einfluß des westdeutschen Managers Stolz mit dem des früheren Produktionsdirektors, der wegen Stasi Mitarbeit entlassen worden war. Sie hinterfragten die Vorgaben und Anweisungen, die ihnen von der Westberliner Geschäftsleitung gemacht wurden und nahmen sie weit weniger selbstverständlich hin, als das ihre Kollegen getan hatten, die nach Westberlin gegangen waren. Sie empfanden sie als willkürlich und als furchterregend, weil bei allen Forderungen nach mehr Produktivität die explizite Drohung der Entlassung oder Betriebsschließung mitschwang. Angst wäre das Mittel, mit dem die Manager aus dem Westen arbeiteten, meinten die Arbeiter und ihre Ostberliner Vorgesetzten übereinstimmend. Die eingesessenen Beschäftigten begegneten ihren neuen westdeutschen Vorgesetzten mit Vorsicht und auch Wolpert zählte, da er aus Westberlin gekommen war, zu dieser Kategorie. Zwischen dem ostdeutschen Meister Biermann und den eingesessenen Monteuren der Kabinenmontage gingen Sprüche 229 und Witze hin und her, während mit dem westdeutschen Meister Reimann nüchtern und sachlich verhandelt wurde. In der direkten Auseinandersetzung mit ihren Ostberliner Vorgesetzten scheuten sich die Arbeiter nicht, ihre Meinung zu sagen, aber sie gaben dieser Meinung keinen öffentlichen Ausdruck. Sie wandten sich damit beispielsweise nicht an den Betriebsrat oder äußerten ihre Kritik in Betriebsversammlungen. Die Tatsache, daß die Beschäftigten ihre Vorgesetzten oder auch die Betriebspolitik nicht öffentlich kritisierten, bedeutete nicht, daß sie keinen Widerstand leisteten oder nicht versuchten, ihre Interessen zu verteidigen. Möglicherweise traf das Zurückhalten ihrer Leistungskraft und die Teilnahme an Streiks und Kundgebungen sogar auf Verständnis, wenn nicht sogar auf Unterstützung bei den Ostberliner Vorgesetzten, die selber auch nur nach Osttarif bezahlt wurden. Auch die plötzliche Erhöhung der Produktivität auf das Niveau ihrer Westberliner Kollegen kann als Form der Selbstbestätigung gegen das Gefühl der Deklassierung verstanden werden, das die Ostberliner Beschäftigten empfanden, als sie Seite an Seite mit den besser bezahlten Kollegen aus Westberlin arbeiten sollten. Die Arbeiter aus Westberlin spürten, daß dem eigenständigen und selbstverantwortlichen Arbeiten durch die eingefahrenen Strukturen im Ostberliner Betrieb Grenzen gesetzt waren. Sie kehrten, wie sie sich ausdrückten, „zurück zum Urschleim“ der planwirtschaftlichen Strukturen, in denen die Abteilungen gegeneinander statt füreinander arbeiteten. Ein ständiger Reibungspunkt war Spohr, der Meister des Zuschnitts – in den Augen der Arbeiter der Gegenpart zu Reimann. Er hatte zwar bei der Reorganisation der Fertigung sein Panoptikum räumen müssen, aber seine Umgangsformen brachten ihm zunehmend Probleme mit den Arbeitern aus Westberlin. Altmann, der ihn noch aus den Zeiten der Planwirtschaft kannte, nannte ihn denn auch „einen Sklaventreiber“. Er beschrieb seinen Führungsstil als willkürlich, gewaltsam, mißtrauisch. Spohr schätzte es nicht, wenn die Arbeiter der Montage in seiner Abteilung nach Teilen für ihre Aufzugskabinen forschten und auf schnelle Erfüllung der Zuarbeiten pochten. Der Monteur Bogner beschrieb so eine Auseinandersetzung folgendermaßen: „Da fehlten aber für die Sockel unten noch Bleche. Die waren falsch gemacht, und da mußte der Hermann wieder zu dem Spohr und dem sagen, daß wir die Bleche noch unbedingt brauchen. Abends um vier war es soweit, daß wir die brauchten. Ich bin rübergegangen, und hab gesagt: ‚Herr Spohr! Wir brauchen die Teile jetzt. Sind die fertig, kann ich die mitnehmen?‘ Guckt er mich so blöd an, schielt auch irgendwie, ich wußte gar nicht richtig, wo der hinguckt. Guckt er mich an und sagt: ‚Wir sind doch keene Bäckerei hier.‘“ (Bogner, Facharbeiter, HOCHINAUF, 11.2.1993) 230 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Die Spannung zwischen den Beschäftigten, die nun Seite an Seite zu unterschiedlichen Löhnen arbeiteten, aber das gleiche leisteten, stieg im Laufe des Jahres 1993. Die Ostberliner Arbeiter grenzten ihr Kompetenzgebiet von dem ihrer neuen Kollegen ab und weigerten sich, ihnen Hilfestellungen zu leisten. Die Arbeiter aus dem Westberliner Betrieb fühlten sich von ihren Kollegen beobachtet, trauten sich kaum noch eine Pause zu machen und wandten sich bei Schwierigkeiten nur noch an ihre Kollegen aus Westberlin. Das Lohnniveau wurde zum Geheimnis, das die Beschäftigten in Ossis und Wessis spaltete und jegliche Solidarität unmöglich machte. Altmann, der vor dem Fall der Mauer selbst beim VEBLift gearbeitet hatte, zog sich nun hinter das Argument des Datenschutzgesetzes zurück: „Als sie nachgehakt haben, sagte ich: ‚Paß uff, mein Meister weeß nich was ich verdiene, und dann brauchst du det ooch nicht zu wissen, wenn et mein Meister noch nicht mal weeß. Weil, et jibt nämlich 'n Datenschutzjesetz,... Das ist schon seit ewigen Zeiten vorbei mit dieser Gleichmacherei, und es jibt 'n Datenschutzjesetz, und danach jehtet. Entschuldige bitte, daß ich so krass bin, aber dat is nunmal so. Kann nüscht anderet dazu sagen.‘ Wenn ich denen erzähle, was ich verdiene, dann fallen die doch auf die Schnauze.“ (Altmann, Facharbeiter, HOCHINAUF, 11.2.1993) Altmann drehte, um sein selbstsüchtiges Verhalten zu rechtfertigen, die Wertregister um, auf die er sich bezogen hatte, als er die Arbeitsbeziehungen im Westberliner Betrieb als „menschlich“ charakterisiert hatte und zog sich auf „das Gesetz des Datenschutzes“ zurück. Er fürchtete zwar den Neid seiner schlechter verdienenden Kollegen, lehnte es aber ab, ihn als legitim anzusehen, da „die Gleichmacherei“ vorbei sei und das neue Gesellschaftssystem nicht mehr auf Gleichheit gegründet sei. Er begründete sein unsolidarisches Verhalten damit, die anderen hätten ja auch die Chance gehabt, wie er ihr Glück im Westen zu versuchen. Sie wären selber schuld, im Osten geblieben zu sein. „Das ganze Geheule nützt nun nichts, trotzdem sage ich mir immer wieder, was du gemacht hast, gleich nach der Wende, hätte jeder andere genauso machen können.“ (Altmann, Facharbeiter, HOCHINAUF, 11.2.1993) Der Diskurs der Arbeiter war voller Ambivalenzen. Einerseits vertraten sie, sie hätten nun verstanden, daß Selbstsüchtigkeit und das Verfolgen egoistischer Interessen der Schlüssel zum Erfolg in der neuen Gesellschaft war. Sie begründeten damit ihre Abgrenzung von den schlechter gestellten Ostberliner Kollegen. Andererseits drückten sie ihre Enttäuschung darüber aus, daß die Kleinen und Schwachen ausgeschlossen wurden von den Vorteilen des neuen Gesellschaftssystems. 231 „Man hat geträumt, von der Freiheit, davon, daß man besser leben kann, irgendwie lockerer, einfacher. Ob jetzt wirklich alles soviel einfacher ist, das ist eine andere Sache. Also, man hat doch gemerkt, daß man Geld braucht, um in dieser Gesellschaft gut leben zu können, sonst stößt alles sehr schnell an Grenzen. Wenn du genug Geld hast, bist du ein ehrenwerter Mensch. Wenn du immer ehrlich, lieb und nett gewesen bist, mitunter, und heute nicht so doll Geld hast oder arbeitslos bist oder sonst was, dann bist du das ärmste Schwein. Das ist es, was man ganz schnell mitgekriegt hat.“ (Bogner, Facharbeiter, HOCHNINAUF, 11.2.1993) Diese Einsicht setzte Bogner jedoch nicht in kollektives Handeln im Interesse seiner weniger privilegierten Kollegen um, sondern versuchte wie seine anderen Kollegen aus Westberlin zunächst seine eigene Position nicht in Gefahr zu bringen. Die Motive der Ost- und Westberliner Arbeiter unterschieden sich, während sich das beobachtbare Arbeitsverhalten beider Gruppen glich. Die Ostberliner Arbeiter betonten immer wieder, „Angst“ wäre das Disziplinierungsmittel, mit dem Wolpert sie zur Arbeit anhielt. Sie verglichen dieses Gefühl mit dem Verhältnis zu Vorgesetzten zu Zeiten der DDR und meinten, damals hätten sie keine Angst zu haben brauchen, und mit ihren Chefs wären sie per „Du“ gewesen. Die Arbeiter aus dem Westberliner Betrieb betonten hingegen, sie hätten keine Angst vor ihren Vorgesetzten und diese würden meist sogar ihre Fehler nicht bemerken. Wie ihre Ostberliner Kollegen beschwerten sie sich über verstärkten Arbeitsdruck und entzogen sich, indem sie hinter halbfertigen Kabinen Ruhepausen einlegten oder längere Zeit verschwanden, um Material oder Werkzeuge zu suchen. Sie waren aber auch bereit, freiwillig Überstunden über das im Tarifgesetz vorgesehene Maß hinaus zu machen. Die Ostberliner Arbeiter hingegen, denen die neue Arbeitsorganisation an ihrem angestammten Arbeitsplatz „übergestülpt“ worden war, hatten die neue Disziplin nicht verinnerlicht. Vielmehr respektierten sie sie aus Angst vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes. Die Ostberliner Arbeiter, die sich in Westberlin einen Arbeitsplatz gesucht hatten, sahen die Organisation der Arbeit, die sie dort antrafen, als im Grundsatz richtig und für die Marktwirtschaft „natürlich“ an. Sie akzeptierten daher auch die geforderte Arbeitsdisziplin und verinnerlichten sie. Sie hatten aber auch weniger Angst vor negativen Konsequenzen ihres Verhaltens. Während die Beschäftigten in Ostberlin keine Vergleichskriterien hatten und somit den Leistungsdruck der Geschäftsleitung nicht einschätzen konnten, kamen die Ostberliner, die in Westberlin anfingen, in ein funktionierendes System, in dem ihre Interessen effektiv über den Betriebsrat vertreten wurden, ohne daß 232 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 sie dafür zu kämpfen brauchten. Die ostdeutschen Beschäftigten, ob sie nun in West- oder in Ostberlin arbeiteten, hatten den Betriebsräten gegenüber ein eher distanziert passives Verhalten. In Ostberlin suchten sie kaum den Betriebsrat auf, wenn sie ein Problem hatten. In Westberlin nahmen sie die materiellen Vorteile, die ihnen der Betriebsrat verschaffte, als selbstverständlich hin. Gemeinsam war die Belegschaft von HOCHINAUF in Ostberlin letztlich handlungsunfähig, weil sie die betriebliche Realität auf gänzlich unterschiedliche, gegensätzliche Weise interpretierte. Die Geschäftsführung hatte es geschafft, die Energien der Belegschaft auf den Vergleich untereinander zu richten. Die Initiativen des Ostberliner Betriebsrates, der bemüht war, in CoManagement mit der Betriebsleitung Lösungen für den Ostberliner Betrieb zu finden, aber von dem Westberliner Betriebsrat in eine Rolle der stärkeren Konfrontation gedrängt wurde, gingen an den Prioritäten der Beschäftigten vorbei. Die eingesessenen Ostberliner Beschäftigten wollten vor allem ihren Arbeitsplatz sichern und neideten den Neuankömmlingen aus Westberlin ihre Privilegien. Die Beschäftigten aus dem Westberliner Betrieb wollten nicht beneidet werden und trotzdem ihren Besitzstand wahren. So richteten die Kollegen ihre Aggressionen gegeneinander, statt gemeinsam um den Bestand des Betriebs zu kämpfen. Die Erfahrungen, die beide Gruppen von Beschäftigten seit dem Fall der Mauer machten, zeigen beispielhaft den Unterschied zwischen der Anpassungsleistung, die Arbeiter und Angestellten erbringen mußten, als sie sich entschlossen, in Westberlin in einem fremden aber funktionierenden Wirtschafts- und Sozialsystem zu leben und zu arbeiten und der Orientierungsleistung, die von der Ostberliner Belegschaft verlangt war, als die politische und wirtschaftliche Ordnung um sie herum zusammenbrach, um einer neuen, fremden, noch unbestimmten Ordnung Platz zu machen. Die einen entschieden sich als Fremde in ein fremdes Land zu gehen. Die anderen wurden – wie viele DDR-Bürger – zu Fremden im eigenen Land. 233 Konklusion Ich wollte mit diesem Buch dazu beitragen, die Vorstellungen von Gesellschaft transparent zu machen, mit denen Beschäftigte in Ostberliner Betrieben den Fall der Mauer willkommen geheißen haben. Ich habe gezeigt, wie sie diese Vorstellungen jenseits der offiziellen Ideologie entwickelten und welche Wirksamkeit sie in der Transformation der ostdeutschen Gesellschaft entwickeln konnten. Mein zweites Anliegen war, die Mechanismen ideologischer Kontrolle in Planund Marktwirtschaft zu analysieren und sie zu den Machtstrukturen im Betrieb in Beziehung zu setzen. Was ich herausgefunden habe, ist im großen und ganzen folgendes: In der DDR-Gesellschaft diente die Planerfüllung, überspitzt ausgedrückt, der Sicherung politischer Herrschaft. Politische Konformität der Bevölkerung hatte deshalb in der Planwirtschaft Priorität vor den wirtschaftlichen Ergebnissen. Die Identitätsmodelle der Planwirtschaft waren darauf ausgelegt, den Menschen vorzuschreiben, was sie denken sollten. Im sozialistischen Wettbewerb sollte die offizielle Ideologie formell reproduziert werden. Eigene Meinungen waren nicht erwünscht und nicht gefragt. Allerdings sollten die Zeugnisse der ideologischen Unterwerfung auch nicht einfach abgeschrieben oder wiederholt werden, sondern sie sollten aktiv geschaffen werden. Die Verfasser von Wandtafeln und Brigadebüchern sollten, wie ich gezeigt habe, eigene Texte verfassen, die aussahen wie ihre eigene Meinung, ohne die Möglichkeit zu haben, eine eigene Meinung auszudrücken. Die Menschen, denen ich in den Betrieben in Ostberlin begegnet bin, waren jedoch meist selbstreflektierende kritische Individuen, die sich Gedanken machten über Recht und Unrecht in der Gesellschaft und über ihren eigenen Anteil an der gesellschaftlichen Entwicklung. Während sie nach außen hin die offizielle Ideologie reproduzierten, schafften sie im Verborgenen eine alternative Lesart zu den offiziellen Weltbildern der Planwirtschaft. Sie versuchten sich vor sich selbst ihres individuellen Eigensinns zu versichern und die Perversion der Mächtigen zu entlarven, indem sie den Unfehlbaren Fehler nachwiesen, den Atheisten ihren 234 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Glauben und den Allwissenden ihre Unwissenheit. Aber auch die widerstrebende Performance der sozialistischen Einheitlichkeit war effizient. Denn auch wenn sie nicht von der offiziellen Ideologie überzeugt waren, so zeigte ihre rituelle Unterordnung unter dieselbe, daß sie keine andere realistische Alternative zur bestehenden Herrschaft sahen (Scott 1990:66). Die kleinen individuellen Fluchten änderten die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht. Die versteckten kritischen Diskurse brauchten ein Publikum, um zu einem Mittel des Widerstandes werden zu können (Scott 1990:118). Während spontane Unmutsäußerungen, ironische Kommentare und politische Witze schon Bestandteil des sozialistischen Betriebslebens waren, wurden politische Debatten, zuvor wenig präsent, ab 1988 immer offener geführt. Einzelne beanspruchten den offiziellen gesellschaftlichen Organisationen gegenüber das Recht auf Widerspruch und traten aus, weil sie nicht mehr bereit waren, sich für eine politische Ordnung zu engagieren, die ihnen nicht traute, wenn sie es wagten, selbständig zu denken. Sie wollten sich Gehör verschaffen und sich selbst ein Bild von der Welt außerhalb der Mauern der DDR machen. Der Slogan: „Wir sind das Volk“, der die Montagsdemonstrationen in Leipzig im Herbst 1989 anspornte, hält die Essenz dieser Forderung fest. Anstatt an die absoluten Wahrheiten zu glauben, die ihnen die Partei vorgab, wollten die Bürger nun selber teilnehmen an den Entscheidungen, die ihr Leben prägten. Die versteckten Diskurse waren öffentlich geworden. Ich habe gezeigt, daß etliche Betriebsmitglieder von TAGHELL, STANEX und HOCHINAUF als handelnde Subjekte präsent waren, als es darum ging, dem Widerspruch im Betrieb als Individuen oder als Gruppe ihre Stimme zu geben. Er richtete sich im Herbst und Winter 1989/90 zunächst gegen die Repräsentanten der realsozialistischen Macht, die Betriebsleiter, die Parteisekretäre und die Betriebsgewerkschaftsleitungen. Allerdings verloren ihre Vorstellungen von Demokratie und Partizipation rasch an Wirksamkeit, als die institutionelle Umstrukturierung der ostdeutschen Gesellschaft nach westdeutschem Vorbild voranschritt und die Demokratisierung de facto vor den Fabriktoren haltmachte. Wenn sie nicht gleich in den ersten Wochen nach dem Fall der Mauer unter dem Druck der Belegschaft von ihren Posten zurücktraten, wurden die ehemaligen sozialistischen Leiter durch die Treuhand in den Führungspositionen der Betriebe bestätigt. Die politische Repräsentanz der ostdeutschen Beschäftigten durch die Gewerkschaften im Privatisierungsprozeß war vor allem im entscheidenden Jahr 1990 weitgehend wirkungslos. Das neue Wirtschaftssystem basierte auf der absolut gesetzten wirtschaftlichen Rationalität ohne Ansehen der Person. 235 Die alten Machthaber füllten die neuen marktwirtschaftlichen Institutionen mit eigenem Leben: der Direktor von STANEX, indem er sich im Betrieb eine politische Nische schaffte, der Direktor von TAGHELL, indem er wilden Abenteurkapitalismus praktizierte. Die noch schwachen und in der Vertretung der Belegschaftsinteressen unerfahrenen Betriebsräte wurden rasch entmachtet, indem sie gleichzeitig zu Personalleitern gemacht wurden oder, wie im Fall von Oswald, zum Fertigungsleiter befördert wurden, der nun über die Entlassung derjenigen befinden mußte, die er zuvor verteidigt hatte. Die Betriebsmitglieder, die einen grundsätzlichen Wandel in der ostdeutschen Gesellschaft angestrebt hatten und die Marktwirtschaft begeistert begrüßten, konnten den Einfluß derer nicht wettmachen, die schon zu DDR-Zeiten die institutionelle Macht innehatten und jede Schwächung ihres Status bekämpften. Mit der Sicherheit ihres Arbeitsplatzes verloren die Beschäftigten auch eine gewisse „Narrenfreiheit“ im Betrieb. Im planwirtschaftlichen Betrieb hatte ihr Hauptinteresse in der Erweiterung ihres Freiraumes im Betrieb gelegen, während sie im marktwirtschaftlich organisierten Betrieb vor allem mit der Sicherung ihres Arbeitsplatzes beschäftigt waren. Die disziplinarische Durchdringung der DDR-Betriebe war weniger entwickelt als die der bundesrepublikanischen. Die Beschäftigten hatten die Produktionsdisziplin nicht im gleichen Maße verinnerlicht – auch deshalb nicht, weil viele das planwirtschaftliche System als nicht rational ansahen, und daher immer wieder versuchten, sich ihm zu entziehen. Die Formen der Überwachung und Kontrolle im DDR-Betrieb waren autoritärer und hierarchischer als im bundesrepublikanischen, aber auch weniger effizient. Bei STANEX und TAGHELL konnten die Leiter in ihrer neuen Machtfülle als Geschäftsführer noch autoritärer wirken. Die moderne westliche Managementideologie, wie sie bei HOCHINAUF verbreitet wird, zielte darauf ab, daß sich die Beschäftigten mit den betrieblichen Interessen und Betriebszielen identifizierten und die geforderte Arbeitsdisziplin verinnerlichten. In den modernen westlichen Fabriken wurde den Arbeitenden in den letzten zwanzig Jahren mehr Verantwortung für ihre Arbeitsgestaltung zugemutet beziehungsweise angeboten; sie sollten davon überzeugt und nicht dazu gezwungen werden, eine höhere Arbeitsleistung zu erbringen (Burawoy 1979:182, Kern/Schumann 1990). Die Ideologie der betrieblichen Harmonie verschleierte aber die vielfältigen Interessensgegensätze im Betrieb und den Eigensinn der Beschäftigten. Die Normalisierung, das heißt, das Alltäglichwerden einer strikten Arbeitsdisziplin im Betrieb war nicht nur das Resultat der Einsicht von Management und Belegschaft in das gemeinsame Interesse am Weiterbestehen des Betriebes. Vielmehr war sie das Ergebnis eines langen, in 236 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 modernen industriellen Gesellschaften immer subtileren Mechanismus von Überwachen und Strafen, der bei den Überwachten ein oft unbestimmtes Gefühl der Angst erzeugt (Foucault 1986:241). Angst erzeugte bei den Beschäftigten nicht die direkte Repression, sondern die Atmosphäre allgemeiner Unsicherheit über den Arbeitsplatz und die Zukunft des Betriebes im Konzern. Gleichzeitig besagte das Identitätsmodell des Gewinners, der Schlüssel zum Erfolg sei der Glaube an den eigenen Erfolg. Dieses Modell pflegte die Illusion, das Individuum im Betrieb sei Meister seines Geschicks, solange es zielstrebig die Interessen des Unternehmens verfolge und seine Kollegen dazu animiere, es ihm gleichzutun. Die Betriebsphilosphie wirkte auf alle Gruppen, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Sie wirkte als Drohung, ausgeschlossen zu werden. Sie wirkte als Modell für den mentalen Verhaltenskodex, und sie wirkte als Legitimation für ein System der Konkurrenz aller gegen alle. Die Botschaft war: „Wer nicht daran glaubt, der Gewinner zu sein, hat selber schuld.“ Wer im Betriebsleben versagte, hatte nicht fest genug geglaubt, war nicht gut genug, hatte also selber Schuld an seinem Ausschluß. Die Betriebsphilosophie folgte einer doppelten Bewegung. Sie verwies die Verantwortung für Erfolg oder Mißerfolg innerhalb des Betrieb oder des Gesamtunternehmens in der Volkswirtschaft an das Individuum und abstrahierte gleichzeitig in der wirtschaftlichen Strategie von den Individuen. Da sie nicht aufgezwungen war oder reproduziert werden mußte, sondern vordergründig wie ein positives Identitätsmodell erschien, war es schwieriger, zu ihr einen kollektiv funktionierenden versteckten Diskurs zu formulieren als zu der realsozialistischen Ideologie. Gegenüber dem individualistischen Modell der Marktwirtschaft, das Konkurrenz und Selbstverantwortung betonte, versuchten die Beschäftigten ein „WirModell“ zu setzen, das sie selbst bestätigte. Während sich die gesellschaftlichen Strukturen radikal veränderten, versuchten sie, konsistent mit ihren eigenen Überzeugungen zu bleiben. Im Gegensatz zum Zusammenbruch der nationalsozialistischen Gesellschaft, der von außen erzwungen werden mußte und aus der die Deutschen als die hervorgingen, die sich ändern mußten, war das zentrale Problem im Prozeß der deutschen Vereinigung, „man selbst zu bleiben“ in einer sich rasend schnell verändernden Gesellschaft. Dazu konstruierten meine Gesprächspartner die Westdeutschen als „andere“, die sich in ihrer Einschätzung der Ostdeutschen radikal täuschten. In dieser Konstruktion eines kapitalistischen Archetyps „Wessi“ waren viele Ambivalenzen möglich. In dem fiktiven Dialog mit dem „anderen“ konnte betont werden, daß die „Ossis“ nicht faul und unfähig wären, wie es ihnen ein fiktiver westdeutscher Gegenpart unterstellte, sondern 237 eine ernstzunehmende Konkurrenz darstellten; daß sie allerdings nicht nach Konkurrenz strebten wie die „Wessis“, sondern nach „Gemeinschaftlichkeit und Brüderlichkeit“. Mit dem real-existierenden Sozialismus war in der DDR ein festgefügtes, eine absolute Wahrheit vertretendes Gesellschaftsmodell gescheitert. Das neue Gesellschaftssystem der Bundesrepublik reduzierte sich mit seiner Betonung der marktwirtschaftlichen Auswahlmechanismen ebenfalls auf eine einfache Wahrheit, die der ökonomischen Rationalität, die in verdinglichender und verstümmelnder Weise das Netz der kommunikativen Beziehungen „kolonisiert“ (Habermas zitiert in Gorz 1990:153). Allerdings sind wir nicht am Ende der Geschichte. Wenn auch die dominierende ökonomische Rationalität selbst in den Alltag derer eindringt, die aus dem Erwerbsleben ausgeschlossen wurden, so entwickeln sich doch gleichzeitig neue versteckte Diskurse. Auf Ausflügen und in der Kneipe debattieren die Kollegen und ehemaligen Kollegen, wie bei STANEX, weiter – immer auf der Suche nach einer Gesellschaft, die den Widerspruch nicht nur zuläßt, sondern ihm auch die Möglichkeit gibt, zu wirken. 238 Birgit Müller, Die Entzauberung der Marktwirtschaft. Frankfurt: Campus 2002 Bibliographie Abu Lughod L. (1993), Writing Women's Worlds, Berkeley: University of California Press. Aderhold, Jens; Brüß, Joachim u. a. (1994), Von der Betriebs- zur Zweckgemeinschaft. Ostdeutsche Arbeits- und Managementkulturen im Transformationsprozeß, Berlin: Ed. Sigma. Anderson, Benedict (1983), Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London: Verso. Arendt, Hannah (1986), „Communicative Power“, in: Lukes, Steven (Hg.), Power, Oxford: Blackwell. Arendt, Hannah (1995), Macht und Gewalt, München: Piper. 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