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Rezension Zu: Ivana Perica, Die Privat-öffentliche Achse Des Politischen. Das Unvernehmen Zwischen Hannah Arendt Und Jacques Rancière. In: Journal Phänomenologie 46/2017.

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68 68 schen Mode zu finden. Neben all diesen kernphilosophischen Bereichen ist auch Finks Arbeit zur Pädagogik von Bedeutung, welches sich in gewisser Weise parallel zu seinen philosophischen Studien bewegt. Durch eine Vielzahl an Dokumenten wird deutlich, wie sehr sich Fink auch für die Schulpolitik und deren Sache interessiert hat – ein Engagement, welches vonseiten der Lehrerschaft ausdrücklich sehr gewürdigt wurde. Möchte man letztlich zu einer Bewertung dieses »Lebensbildes« kommen, so bleibt Folgendes zu sagen: Dieser Band erlaubt durch seine besondere konzeptionelle Herangehensweise, sich einem Denker auf eine Art und Weise zu nähern, wie es sonstige Einführungen, Biographien und Ähnliches nicht können; sie zeigen den Denker nicht nur als philosophische, sondern zugleich auch als menschliche Gestalt. Man kann Fink als begeisterten Bergwanderer und Bergsteiger sehen, seine Liebe zum Auto, seine vielen Ausflüge und Reisen, man wird ihn als Freund, Ehemann, Familienvater und zuletzt sogar als Großvater sehen; man wird sogar erfahren, dass Eugen Fink bei besonders guter Laune die Mundharmonika aus dem Gepäck geholt und gespielt hat. All diese Aspekte sind nur in einem solchen »Bildband« möglich, welcher dem Leser und Betrachter Seiten einer Person zu zeigen vermag, welche nur mittels Bildern einzufangen sind. Sie formen für den Betrachter dieses besonders umfassende »Lebensbild«, dessen Konzeption und Ausführung Axel Ossenkop, Guy van Kerckhoven und Rainer Fink mustergültig geglückt ist. Für diese Arbeit, die sicherlich Jahre in Anspruch genommen hat, kann man den Herausgebern nur aufrichtig danken. Es wäre zu wünschen, dass solch ein »Lebensbild« noch 68 zu vielen Denkern erscheint, denn eine solche Einführung in das philosophische und private Leben eines Denkers ist von unschätzbarem Wert. Christian Sternad, Leuven [email protected] ▶ Ivana Perica: Die privat-öffentliche Achse des Politischen. Das Unvernehmen zwischen Hannah Arendt und Jacques Rancière. Würzburg: Königshausen & Neumann 2016. 376 S., ISBN 978-3826057120, EUR 49,90. Die Differenz zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen stellt nicht nur eine der umstrittensten Grundunterscheidungen der politischen Philosophie und Theorie dar, sondern strukturiert auch eminent unsere soziale Realität. Dabei zeigt sich an so unterschiedlichen aktuellen Phänomenen wie den Praktiken der Selbstveröffentlichung in digitalen Netzwerken, der Privatisierung und Kommerzialisierung des öffentlichen Raums oder der Delegitimierung der »vierten Gewalt« im Zuge des Erstarkens reaktionärer Gegenöffentlichkeiten ein weitreichendes Verschwimmen der Grenzen des Privaten und des Öffentlichen. Daran anschließend stellt sich auch die Frage, wie emanzipatorische Politik gedacht werden kann, wenn sowohl der klassische liberale Impetus des Schutzes der privaten Willkürfreiheit als auch das traditionelle linke Projekt einer Politisierung vermeintlich genuin privater Lebenssphären angesichts der immer umfassenderen Grauzone zwischen dem Privaten und dem J. Phänomenol. 46/2016 69 concept: 22. Februar 2017 68 68 69 69 Öffentlichen ihre politische Eindeutigkeit und normative Motivationskraft einzubüßen scheinen. Im Rahmen ihrer breit angelegten und kenntnisreichen Studie zum Verhältnis des Privaten und des Öffentlichen bei Hannah Arendt und Jacques Rancière geht Ivana Perica gerade von jenem Schwinden aller Selbstverständlichkeiten sowohl in Bezug auf die Privatsphäre als auch die Öffentlichkeit aus. Weder das Verhältnis der beiden Sphären zueinander, ja nicht einmal ihr jeweiliges »Existenzrecht« können demnach heute ohne weiteres vorausgesetzt werden (S. 23). Zudem ist, wie Perica anmerkt, in Rechnung zu stellen, dass das Private und das Öffentliche nie bloß als neutrale Termini zur Beschreibung der Wirklichkeit fungieren. Vielmehr sind Privatsphäre und Öffentlichkeit immer auch »Wahrheitseffekte unterschiedlicher theoretischer Positionen und ideologischer Ansichten« (S. 7), insofern politische Theorien die Wirklichkeit, die sie beschreiben, zugleich perspektivieren, kategorisieren und ordnen. Diese »polizeiliche« Funktion der Ordnung und Festschreibung der sozialen »Aufteilung des Sinnlichen« in eins mit einer Bestimmung legitimer Diskurs- und Subjektpositionen im politischen Raum, der sich traditionelle Spielarten politischer Philosophie und Theorie verschreiben, steht im kritischen Fokus des Denkens von Jacques Rancière. Für ihn geht jede Theorie, die im Vorhinein den Bereich des Sagbaren und des Sichtbaren begrenzt und festlegt, welche Subjekte politisch in Erscheinung zu treten vermögen, mit einem Ausschluss einher, der gewisse Existenzweisen in den Bereich des Unsichtbaren und des Unsagbaren verdrängt. Das 70 concept: 22. Februar 2017 69 Eigentliche der Politik zeigt sich für ihn nicht in den Deliberationsprozessen, die sich innerhalb einer bestehenden Ordnung vollziehen, sondern in jenen Momenten eines »Unvernehmens«, wenn diejenigen, die innerhalb einer gegebenen Ordnung nicht als Gleiche in Betracht kommen, einen Anspruch auf radikale Gleichheit artikulieren und damit die bestehende Aufteilung des Sinnlichen in Frage stellen. Bedenkt man, dass die Dichotomie des Privaten und des Öffentlichen ein zentrales »polizeilich«-theoretisches Ordnungsdispositiv darstellt, insofern sie nicht zuletzt dazu dient, zwischen dem öffentlichen Raum der Sichtbarkeit einerseits und dem privaten Raum der Unsichtbarkeit andererseits zu unterscheiden, so scheint es, als stünde Rancières Auffassung von Politik in diametralem Gegensatz zum Denken Arendts. Denn schließlich wurde Arendt oftmals als eine Theoretikerin gelesen, die eine rigide normative Grenzziehung zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit befürwortet und – im Zuge ihrer Kritik am Sozialen – jede Verwischung des Unterschieds dieser Sphären vehement kritisiert. Und in der Tat ist Rancière an den wenigen Stellen, an denen er explizit auf Arendt rekurriert, stets um eine klare Abgrenzung seiner Konzeption von Arendts vermeintlich konservativen Überlegungen bemüht. Perica zeigt in überzeugender Weise auf, dass sowohl dieses stereotypische Bild Arendts als auch Rancières strategische Distanzierungsversuche letztlich nur den Blick auf ein komplexes und produktives Spannungsfeld zwischen den beiden Denker_innen verstellen. Es geht ihr folglich nicht darum, den »Linken« Rancière der »Liberalen« Arendt einfach entgegenzustellen. J. Phänomenol. 46/2016 69 69 70 70 Vielmehr werden die beiden Positionen im Zuge einer kontrastiven und zugleich komplementären Lektüre füreinander fruchtbar gemacht. Diese Lektüre, die Perica im dritten Teil ihres Bandes durchführt, wird vorbereitet durch eine konzise Überschau über den Sachstand zum Verhältnis von Privatsphäre und Öffentlichkeit in der politischen Theorie sowie einführende Bemerkungen zu den wesentlichen Hintergründen der Konzeptionen von Arendt und Rancière und den wirkmächtigen Rezeptionslinien ihres Denkens. Darüber hinaus bezieht Perica im Anschluss an Arendts und Rancières politische Ausführungen im engeren Sinne auch deren ästhetische und pädagogische Reflexionen in ihre Untersuchung mit ein. Entgegen dem konservativen Arendt-Verständnis, dem zufolge sie eine strikte Trennung des Privaten und des Öffentlichen vertrete und sich dabei emphatisch auf das problematische, exklusionsbehaftete griechische Polis-Ideal beziehe, argumentiert Perica, dass Arendts »Bewunderung für die antike Konstellation des Privaten und des Öffentlichen« nicht mit der »Befürwortung ihrer Eins-zu-einsÜbertragung auf die modernen Gesellschaften« gleichgesetzt werden darf (S. 103). In ihrer Kritik am Sozialen geht es Arendt demnach nicht so sehr um die Wiederherstellung einer bestimmten Relation von Privatsphäre und Öffentlichkeit oder um eine Ausblendung des Ökonomischen, sondern vielmehr um eine Wiedergewinnung des genuinen Sinns politischen Handelns. Versteht man die »Arendt’sche Polis« nicht als einen bestimmten »(Stadt-)Staat, sondern […] als […] einen Rahmen, der unabhängig von einem konkreten Ort Raum für politisches Handeln eröffnet«, 70 dann kann ihr Denken nach Perica für gegenwärtige Problemlagen produktiv gemacht werden, insofern damit ein »Ausgang aus den Aporien jener linken Demokratie- und Emanzipationstheorien« angezeigt ist, »die nur den einen Weg vom Privaten zum Öffentlichen gegangen sind und es unterlassen haben, die privatisierte Öffentlichkeit und totale Sichtbarkeit anzuprangern« (S. 112). In dieser Perspektive scheint Arendt in der Tat Rancières radikaldemokratischem Anliegen nahezukommen, ein Verständnis genuin politischen Handelns gegen die postdemokratische »Gefährdung des Politischen durch das Ökonomische« in Stellung zu bringen (S. 119). Indem er das Wesentliche der Politik, wie Perica paraphrasierend festhält, als ein »Aufbrechen« der jeweils vorgegebenen Ordnung der Sichtbarkeit durch eine »diskursive Demonstration der Gleichheit« bestimmt (S. 130), zeigt sich für ihn das Demokratische gerade in einer Destabilisierung und Verunsicherung bestehender Erscheinungsordnungen. Sowohl Arendt als auch Rancière wenden sich folglich in ihrem Denken gegen die Alternativlosigkeit einer technokratisch-ökonomisch verwalteten Welt, in der der Mensch nicht mehr als sprechendes und politisches Wesen, sondern bloß noch als Animal laborans in den Blick zu kommen vermag. Nach Perica versperrt sich Rancière dabei jedoch in einer problematischen Weise gegen jede positive Überlegung zu einer Verstetigung, Institutionalisierung und Gründung, die auf eine unvernehmliche Demonstration der Gleichheit zu folgen hätte. Rancière kann demnach das Demokratische nur als Unterbrechung und nicht als auf Dauerhaftigkeit angelegten Neubeginn denken. J. Phänomenol. 46/2016 71 concept: 22. Februar 2017 70 70 71 71 Denn jeder Akt der Gründung, jede Arché setzt für ihn bloß wieder aufs Neue die polizeiliche Ordnung – und damit die Ungleichheit – in Kraft. Dagegen führt Perica mit Arendt ein positives Verständnis einer politischen Arché ins Treffen. Entgegen der Auffassung, dass jeder Akt der Gründung per se gewaltsam und exkludierend sei, verweise Arendts Konzeption der Natalität auf die Notwendigkeit, in jeder Gründung die Faktizität der menschlichen Pluralität zu berücksichtigen und aktiv zu schützen: »Die Pluralität, die sich von der menschlichen Gebürtlichkeit herleitet, ist […] eine präpolitische Pluralität, die […] Institutionen braucht, damit sie versichert und gewährleistet werden kann« (S. 202). Der Sinn der Revolution liegt somit nicht bloß in einer Ersetzung einer (polizeilichen) Ordnung durch eine andere, sondern vielmehr darin, den revolutionären Institutionen den »Neubeginn als ihr Gründungs- und Grundprinzip« selbst einzuschreiben (S. 212). Eine Institution, die sich in dieser Weise einem pluralitätssensiblen Neubeginn verdankt, müsste sich somit Prozeduren ständiger Selbstinfragestellung aktiv aussetzen und von jeder totalisierenden Schließung Abstand nehmen. Damit scheint bei Perica die überraschende These angelegt zu sein, dass Arendts Konzeption der Revolution es ermöglicht, die Rancière’sche Unterscheidung von Politik und Polizei selbst zu dynamisieren: Die Revolution wäre demnach nicht so sehr die Ablösung einer Polizei durch eine andere, sondern eine Politisierung der Polizei, eine institutionelle Einschreibung der egalitärpolitischen Unterbrechung und Infragestellung in die polizeiliche Ordnung selbst. 72 concept: 22. Februar 2017 71 Eine zentrale Stärke von Pericas Darstellung scheint gerade im Aufzeigen der Notwendigkeit zu liegen, die ereignishafte Dimension der Politik nicht nur auf die Frage der Institutionalisierung hin zu öffnen, sondern die beiden Aspekte miteinander intrinsisch zu verschränken. Für Perica wird dies möglich, »wenn Arendts Institutionalismus mit Rancières Egalitarismus vereint wird« (S. 333). Diese Differenz und Komplementarität zwischen dem Egalitarismus Rancières und dem Institutionalismus Arendts findet sich, wie Perica herauszuarbeiten versucht, nicht nur im genuinen Bereich des Politischen, sondern auch im Ästhetischen und im Pädagogischen. So stellt die Kunst für Rancière zwar seit Schillers »ästhetischer Revolution« einen Ort egalitärer Sprech- und Wahrnehmungsweisen abseits des gesellschaftlichen Regimes der Sichtbarkeit dar. Jedoch bedenkt er dabei nach Perica wiederum nicht »die Notwendigkeit der Dauer der neu entstehenden Räume und Sprachen« (S. 251). Dieses Defizit, das sich aus seinem Vorbehalt »gegen jede Archaisierung« (S. 251) ergibt, versucht Perica unter Rekurs auf Arendt wettzumachen. In einer interessanten Überlegung zu Arendts Verständnis des Literarischen entwirft sie die Konturen einer »agonal-politischen Erzähltheorie« (S. 266). Dabei bezieht sie sich auf Arendts Betonung der Relevanz des Narrativen für die Identitätsbildung, die sich in Pericas Augen nicht nur als persönliche, sondern auch als politische Identitätsbildung auffassen lässt. Demnach könnte die Erzählung »die Bedingungen für eine progressiv gedachte Welt schaffen« und politisch handlungsanleitend sein, indem sie »der radikalen Kontingenz der öffentlichen Sphäre mit J. Phänomenol. 46/2016 71 71 72 72 Inseln der Stabilität […] begegne[t]« (S. 272). Während Rancière nach Perica Kunst nur als einen Ort verstehen kann, der zwar egalitäre Artikulationsmöglichkeiten bietet, aber letztlich ohne konkrete politische Konsequenzen bleibt, erlaubt Arendt für sie die Erarbeitung einer neuen Perspektive auf eine Kunst, die durch die Schaffung von traditionsbildenden Narrativen dem politischen Ereignis Kontinuität zu geben vermag. Dieselbe Logik zeichnet Perica auch in Bezug auf die Frage nach einer emanzipatorischen Pädagogik nach: Während Rancière zwar eine dezidiert egalitäre Konzeption des »universalen Unterrichts« proklamiert, in der die Vorstellung einer Wissenshierarchie zwischen dem Lehrer und den Schülern subvertiert werden soll, bieten erst Arendts Überlegungen eine produktive Perspektive für eine Institutionalisierung egalitärer Bildungspraktiken. Insofern es Rancière verabsäume, das Pädagogische in einer zureichenden Weise im Lichte der Anforderungen der Öffentlichkeit zu betrachten, bedarf er der Korrektur durch Arendt, deren scheinbar »liberale« Perspektive es einzusehen ermöglicht, dass »erst die institutionelle Gewährleistung der Freiheit von« den privativen Zwängen der Marktlogik »eine pädagogische Praxis ermöglicht, die die Subjekte zur Freiheit für« genuin politisches Handeln ermächtigt (S. 291). Pericas Studie liefert umfassendes Material für die Untersuchung und kritische Analyse der Differenz des Privaten und des Öffentlichen und bietet eine innovative Perspektive auf Rancière und Arendt. Darüber hinaus ist sie für all jene, die mit phänomenologischen und poststrukturalistischen Konzeptionen in der politischen Theorie und Philosophie arbeiten, eine wichtige Erinnerung an 72 die Dringlichkeit der Frage nach Institutionen und Institutionalisierungsprozessen. Denn gerade diese Konzeptionen sehen sich oftmals mit dem Vorwurf eines »Normativitätsdefizits« konfrontiert, dem zufolge sie bloß an der Verflüssigung und Zerschlagung gegebener Ordnungen interessiert seien, ohne positive Neuentwürfe oder Kriterien zu entwickeln, an denen sich eine emanzipatorische Politik zu orientieren hätte. Arendt vermag dabei in der Tat – das hat Perica gezeigt – als eine unverzichtbare »Altvordere« (S. 187) zu fungieren, die bei aller emphatischen Proklamation der Ereignishaftigkeit des politischen Akts an die Notwendigkeit einer institutionellen Verantwortung für die Welt erinnert. Sergej Seitz, Wien [email protected] ▶ Michel Serres: Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation. Suhrkamp: Berlin 2013. 78 S., ISBN 9783-518-07117-5, EUR 10,–. Michel Serres betrachtet Prozesse der Kommunikation im Lichte eines Netzes. Ähnlich einem Feld ermöglicht ein Netz eine Vielfalt von Punkten und Standorten, aber keinen wahren Ort, keinen Ursprung oder Anfang. Vielmehr bilden Übergänge und Fließbewegung, Gemenge und Gemische, so der Untertitel des Werkes Die fünf Sinne (1985), eine Normalität. Diese ist vielfältig und indirekt, da sie in keiner Ordnung aufgeht. Eine entsprechende Logik des Unscharfen entwirft Serres bekanntlich in Der Parasit. Ähnlich wie Roland Barthes geht es Serres darum, J. Phänomenol. 46/2016 73 concept: 22. Februar 2017 72 72