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Siegfried Kracauer. Das Sehen Und Die Gesellschaft.

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Siegfried Kracauer. Das Sehen und die Gesellschaft. Mattia Iunco. Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung. 2 2. Das Feuilleton. 3 2.1 Entstehung - Definition. 3 2.2 Feuilleton und Pressefreiheit in Deutschland. 6 2.3 Kracauers Konzeption des Feuilletons. 7 3. Die Wartenden 9 4. Die Hotelhalle 16 5. Der verbotene Blick. 20 7. Fazit und Schlussfolgerungen. 24 Literaturverzeichnis 26 2 1. Einleitung. Siegfried Kracauer ist ein vielfaltiger Autor und als er Redakteur an der Frankfurter Zeitung zwischen 1921 und 1933 war, hat er mit seinen feuilletonistischen Artikeln und Essays diese Zeitung geprägt. In seinem Werk wird seine ex-zentrische und Persönlichkeit widergespiegelt, auch wenn die Themen sehr unterschiedlich sind, bleibt immer im Zentrum seiner Arbeit der Versuch die moderne Gesellschaft zu verstehen und dieses seiner Leserschaft zu erklären. Während seines Lebens hat Kracauer sich mit der Architektur, Kunst, Soziologie, Filmkritik u.a. Themen beschäftigt. Ziel dieser Hausarbeit ist: drei Texte dieses Autors zu untersuchen – Die Wartende, Die Hotelhalle und Der verbotene Blick. Von diesen drei sind der Erste und der Letzte in der FZ als Feuilletonartikel erschienen und der zweite Text wurde Teil des Buches Detektiv-Roman. Ein philosophischer Traktat. Diese drei Schriften stellen die Entwicklung der Philosophie Kracauers dar und sind in der Reihenfolge thematisch verbunden. Sie weisen eine Bewegung von einer allgemeinen philosophischen Reflexion (Die Wartenden) zu einer Verwendung in der praktischen Analyse der Gesellschaft in zwei besonderen Orten, Das Hotel (Die Hotelhalle) und die Kneipe (Die verbotene Blick), auf. Das Thema ist hier die Vereinsamung der Menschheit in Folge der modernen leeren Gesellschaft und hier wird ein neues Sehen von dem Autor entwickelt, welches die gesellschaftliche Oberfläche verstehen kann und damit durch die Analyse der Fragmente und banalen Dinge die verlorene Wirklichkeit wiederfinden kann. 3 2. Das Feuilleton. 2.1 Entstehung - Definition. Das Feuilleton als Begriff wurde erstmals im Jahr 1738 in einer französischen Zeitschrift als abgetrennter Besprechungsteil für Bücher nachgewiesen, aber eine feste Einrichtung wurde erst gegen Ende des 18. Jahrhundert mit dem Journal des Débats gegeben. In Deutschland wird das erste Feuilleton der Kölnische Zeitung zugeschrieben, wo seit 1838 »unter dem Strich« Berichte verschiedener Art regelmäßig erschienen.1 Als Geburtsstunde des Feuilletons mit einer politischen Charakterisierung im deutschsprachigen Raum gilt das Jahr 1848 mit der Entstehung des politischen Wiener Feuilletons.2 Die wichtigsten Zentren der feuilletonistischen Produktion waren die modernen Metropole,3 welche sich zu dieser Zeit stark entwickelt hatten und stellten den Ort dar, wo sich die kommunikative Macht der Massenmedien am besten äußern konnte. Das Feuilleton hatte eine zentrale Rolle in der europäischen Zirkulation der Ideen und Stilgesten. Diese Städte sind um 1900 die Zentren des nationalen und internationalen Literaturbetriebs. Sie bilden die geographischen Sammelpunkte, an denen die Schriftsteller der Epoche zusammenkommen, um mehr oder weniger dauerhafte Gruppen und Bündnisse zu formen. Mit ihren Clubs und Kaffeehäusern, Theatern, Zeitungen und Verlagen stellen sie Komunikations- und Publikationsstrukturen bereit […]. Über diese Funktion als räumlich-institutioneller Rahmen des literarischen Lebens hinaus geht die Großstadt allerdings auch in die Literatur ein. Sie wird selbst zu einem bevorzugten Darstellungsgegenstand und setzt die Suche nach neuen, spezifisch urbanen Schreibweisen in Gang.4 1 Vgl. Todorow, Almut: Feuilleton. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3. Tübingen 1996, S. 260261. Und Drews, Jörg: Feuilleton1. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Berlin / New York 1997. S. 582-584. 2 Vgl. Püschel, Ulrich: Feuilleton2. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Berlin / New York 1997. S. 585. 3 Die wichtigsten Feuilleton erschienen an dieser Zeit in Paris, Wien, London, Frankfurt am Main, Berlin, Zürich und Prag. 4 Kimmich, Dorothee; Wilke Tobias: Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende. WBG. Darmstadt 2006. S. 48. 4 Die modernen Zeitungen hatten zwei „Hauptaufgaben: 1. Interesse zu erregen, 2. Stimmung zu machen.”5 Und die spezifische Rolle des Feuilleton war dieses Interesse hervorzurufen. Dank dieser Funktion gestaltet sich das Feuilleton als Übergangsraum zwischen Internationalität und Lokalität und damit wurde die binäre Opposition von Nationalismus und Kosmopolitismus wegfallen.6 Das Feuilleton hat zwei Definitionen: einerseits als Teil einer Zeitung oder Zeitschrift, und andererseits als journalistisch-literarische Gattung. Die medienwissenschaftliche Definition steht im Zusammenhang mit der festen Verortung des Feuilletons innerhalb der Zeitung (Anfang des 19. Jahrhundert): In diesem Sinn bestimmt der Feuilletons Begriff „eine redaktionelle Sparte mit dem entsprechendem Ressort der Tages- und Wochenzeitung.”7 Die Ordnung „wird in die Blattordnung zumeist durch eine horizontale Linie abgegrenzt und in anderer, kleiner Type gesetzt.”8 In diesem neuen Raum der Zeitung, ,Unter dem Strich’, „organisiert sich […] eine gestaltete Kontaktzone des Blattes, in der all das Platz findet was als Nachricht oder ,fair divers’ zweifelhaft, unseriös oder auch nur unentschieden ist.”9 Mit dieser Linie werden die feuilletonistischen von den politischen Inhalten, welche >über den Strich< liegen, getrennt. Die literarische Definition bezeichnet nach Todorow „eine publizistische, subjektiv erzählerisch gehaltene Textgattung die sogenannte ”10. Das Feuilleton als Kleine Form entspricht einer Vielzahl unterschiedlicher Gattungen11. Das heißt, dass das Feuilleton „grundsätzlich […] allen Themen, allen 5 Meyer, Richard M.: Deutsche Stilistik. Berlin 1913. S. 208. Kernmayer, Hildegard, Barbara von Reibnitz und Erhard Schütz: Perspektiven der Feuilletonforschung. Vorwort. In: Zeitschrift für Germanistik 22 (2012). H. 3. S. 499. 6 Vgl. Oesterle, Günter: Unter dem Strich. Skizze einer Kulturpoetik des Feuilletons im neunzehnten Jahrhunderts. In: Jürgen Barkhoff; Gilbert Carr und Roger Paulin (Hg.): Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von Eda Sagarra im August 1998. Tübingen 2000. S. 246. 7 Todorow, Almut: Feuilleton. S. 259. 8 Gustav, Frank und Scherer, Stefan: Zeit-Texte. Zur Funktionsgeschichte und zum generischen Ort des Feuilletons. In: Zeitschrift für Germanistik 22 (2012), H. 3. S. 524. 9 Ebd. 10 11 Todorow, Almut: Feuilleton. S. 259. Todorow rechnet unten die Textgattungen des Feuilletons: Meinungsartikel (Rezensionen, Kritik, Essay, Glossen, Aphorismen, Satiren, usw.); unterhaltender Art (Skizzen, Anedokten, Rätsel, Erzählungen, etc.) und eher informativer Art (Berichte, Reportagen, Reden, Interviews, Nachrichten, usw.). (Vgl. Ebd. S. 260). 5 Wirkungstheorien und allen rhetorischen Stilarten offen”12 steht. Wegen seiner hybriden Ausformung ist für die jüngere Forschung eine präzise Bestimmung des Feuilletons als literarische Gattung noch schwierig13, weil alle Klassifizierungen immer partiell schienen. Die Feuilletonisten unterschieden sich von den Kollegen die Über den Strich nicht nur in den Themen worüber sie schreiben, sondern auch als Sozialtypen mit einem besonderen Habitus: „Der Über-dem-Strich-schreibende Journalist ersucht den regierungsamtlichen Nachrichtenvermittler zu beerben, sich als seriöser Bote zu gerieren, der Unter-dem-Strich-schreibende Feuilletonist tritt noles volens das Erbe des Kolporteurs, Curiositätenausrufers, Grüchteverbreiters und Klatschkenners an.”14 Dieser Typ von Journalist soll „Unter-dem-Strich-Schreiben und Auf-den-Strich-Gehen”15 und das bedeutet vor Allem durch die moderne Stadt zu vagabundieren. Die Bewegung bezeichnet vor allem das spezifische Verhältnis zu Raum und Zeit und nach Benjamin bildete „die großstädtische Konfiguration der ,Flanerie’ die epistemische und ästhetische Grundlage feuilletonistischer Poetik.”16 Dieser bewegende Charakter stellt einer der wichtigsten Merkmale dieser literarischen Form dar, die ihren Anfangspunkt in der Beobachtung und Analyse von den Resten und Randzonen der Stadt und modernen Gesellschaft fand. Was in den Feuilletons geschrieben wurde, war oft rationell in wenigen Stunden und zielgruppengenau produzierte Ware, täglich frisch, konfektioniert, allgemeinverständlich, mundgerecht und appetitlich. Die Feuilletons lieferten oft das tägliche »Bildungsdessert«, das das Medienerzeugnis beim gebildeten und bildungsbedürftigen Publikum beliebt machen sollte.17 12 Ebd. 13 »Wo das Wort […] den Begriff eines literarischen Genres abgeben soll, verdeckt man leicht, welche unterschiedlichen Textsorten dieser Begriff subsumieren muß. Es läßt sich schlechterdings nicht definieren, welche textimmanenten Merkmale (der Thematik, des Stils, der Technik) einen Text als Exemplar dieses Genres ausweisen.« (Preisendanz, Wolfgang: Der Funktionsübergang der Publizistik. In: W.P. Heinrich Heine. Fink. München 1973. S. 28. In: Oesterle, Günter: »Unter dem Strich«. S. 231.). 14 Oesterle, Günter: »Unter dem Strich«. S. 243. 15 Ebd. S. 242. 16 Vgl. Benjamin, Walter: Paris, die Hauptstadt des XIX Jahrhunderts. In: Ders: Das Passagen-Werk. Tiedmann Rolf (Hrsg.). Frankfurt a.M. 1982. S. 45-59. In: Kernmayer, Hildegard: Sprachspiel nach besonderen Regeln. Zur Gattungspoetik des Feuilletons. In: Zeitschrift für Germanistik 22 (2012). H. 3. S. 521. 17 Stadler, Helmut: Siegfried Kracauer. S. 78. 6 Dieser Charakter des Feuilletons als “Bildungsdessert” und seine selbstsreflexive Form haben die Kritik über den literarischen Status dieser kleinen Form bestimmt. Die meistens der heftigen Kritiker des Feuilletons waren die Feuilletonisten selbst. Einerseits wurde das Feuilletons wegen seiner Vergänglichkeit, die Texte waren für die Zeitung und nur für einen Tag gedacht, heftig kritisiert, vor allem von Karl Kraus und Herman Hesse: Kraus in seiner Heine und die Folgen von 1909 bestimmte das Feuilleton als Ergebnis der Franzosenkrankheit und der Liebe für l’art pour art18. Bei Hesses Roman Glasperlenspiel werden die Feuilletonisten nicht so stark kritisiert, sondern eher als Opfer19 einer Medienindustrie, die nach kommerziellen, banalen und entpolitisierten Inhalten fragte, gesehen.20 Schwierig war auch der Feuilletonisten beruflich zu “klassifizieren”, weil sie weder Journalisten noch keine Schriftsteller waren, sondern wie ihre Schriften, die gleichzeitig sowohl Artikel, als auch Essays waren, befanden sie sich in einem Schwellenraum zwischen diesen zwei Berufsgruppen. Im Raum der Zeitung konnten sie ihre „kleine[n] Oasen innerhalb der industrialisierten Medienöffentlichkeit”21 finden, wo sie über vielartige Themen und Problematik der Gesellschaft ohne die Pflicht des Amtsberichts des Journalisten schreiben konnten. 2.2 Feuilleton und Pressefreiheit in Deutschland.22 Im 19. Jahrhundert erschienen in Deutschland, auch wegen der regionalen Zersplitterung, eine Vielfalt von Zeitungen, die meist von einem Familienbesitz und 18 Kraus, Karl: Heine und die Folgen. In: Ders.: Untergang der Welt durch schwarze Magie. Werke Bd. 8. Fischer, Heinrich (Hg.). München 1960, S. 189. In: Stadler, Helmut: Siegfried Kracauer. S. 79. 19 »Man sang stimmungsvolle Feuilletons über das nahe Ende der Kunst, der Wissenschaft, der Sprache, man stellte mit einer gewissen Selbstmörder-Wollust und der Feuilleton-Welt, die man selber aus Papier gebaut hatte, eine vollständige Demoralisierung der Geistes, eine Inflation der Begriffe fest und tat, als sähe man mit zynischer Gelassenheit oder bacchantischer Hingerissenheit zu, wie nicht bloss Kunst, Geist, Sitte, Redlichkeit, sondern sogar Europa uns >die Welt< unterging.« (Hesse, Herman: Das Glasperlenspiel. Suhrkamp. Frankfurt a. M. 1972. S. 23. In: Stalder, Helmut: Siegfried Kracauer. S. 80.). 20 Vgl. Stalder, Helmut: Siegfried Kracauer. S. 80. 21 Ebd. 22 Vgl. Ebd. S. 21-41. 7 einer geringen Auflage bestimmt waren.23 Dieses Jahrhundert wurde auch in Deutschland von einer Politisierung der Presse bestimmt und aufgrund der Radikalisierung des sozialen Konfliktes wurde nach der französischen Juli-Revolution von 1830 die Zensur gegen politisch-kritischen Zeitungen verstärkt. Mit der Märzrevolution gab die Bundesversammlung jedes Gliedstaates die Möglichkeit der Einführung der Pressefreiheit zu gewährleisten, aber sie wurde schon im Dezember desselben Jahres verkündet. Im Jahr 1878 versuchte Bismarck, ohne Erfolg, mit dem Sozialistengesetz die politisierte Presse und Publizistik, insbesondere die sozialistische, zu unterdrücken. Während des Ersten Weltkrieges wurde die Pressefreiheit wieder suspendiert. Mit der Weimarer Verfassung 1919 wurde versucht die Pressefreiheit gesetzlich zu schützen, aber wegen der Radikalisierung der Presse und des Lebens wurde bald ein Gesetz »Zum Schutze der Republik und zur Befriedigung des politischen Lebens« eingeführt. In diesem Panorama einer scharfen und radikalisierten Auseinandersetzung im öffentlichen Leben hielt die im Jahr 1856 von Leopold Sonnemann und Heinrich Bernhard Rosenthal gegründet Frankfurter Zeitung ihre eigene liberale Einrichtung und stellte sich als Aufgabe den Schutz und die Verteidigung der Republik gegen allen politischen Extremismen. Aus diesem Grund wurde sie, wie die anderen liberalen Zeitungen nicht von den Beschränkungen betroffen. Die letzte Ausgabe erschien am 31. August 1943. Mit der nationalsozialistischen Machtergreifung fing der Untergang des Feuilletons als Genre und der FZ an, auch weil die meisten der berühmtesten Feuilletonisten jüdischer Herkunft waren. 2.3 Kracauers Konzeption des Feuilletons. Siegfried Kracauer ist im Jahr 1889 in Frankfurt am Main in eine jüdische Händlerfamilie geboren worden. Er studierte Architektur in München und promovierte im Jahr 1915 in Berlin. Er übte den Beruf für 10 Jahre aus und nahm am 23 Um 1914 gab es rund 4200 Zeitungstitel, die im Durchschnitt einer Auflage von 8600 Exemplare hatten. (Vgl. Stalder, Helmut: Siegfried Kracauer. S. 25). 8 Ersten Weltkrieg teil. Das Studium der Architektur hat eine Spur in seinem Schreibstil hinterlassen und auch die Freundschaft mit Aby Warburg hat seine Arbeit stark beeinflusst. Vom Warburg Kreis nahm er das Interesse für die kleinen, unsichtbaren und “banalen” Dinge, welche die Verbindungen und Verhältnisse zwischen der sichtbaren Oberfläche und der unsichtbaren Tiefe beleuchten können.24 Anders gesagt: Kracauers Beobachtung und Arbeitsweise ist das Ergebnis seiner psychischen Disposition für den Begriff der Wirklichkeit und als Flaneur machte er diesen Begriff zentral und die Flanerie wurde damit in einem neuen Sehen realisiert.25 Zwischen 1921 und 1933 war Kracauer an der Frankfurter Zeitung als Redakteure tätig und ab 1924 ist er für die Filmabteilung zuständig gewesen. Kracauer als Journalist und Redakteur hat diese beiden Rollen neu interpretiert.26 Das Ziel seiner Arbeit war die Randzonen im Blick der Hochkultur wiederzubringen. Die unscheinbaren Dinge des großstädtischen Alltags wurden der Stoff seiner literarischen Produktion. Seine Feuilleton-Texte haben als Ziel nicht nur die Suche nach der Wirklichkeit, sondern auch nach einer neuen journalistischen Methode. Die Frühtexte von Kracauer sind von starken impressionistischen Eigenschaften gekennzeichnet, aber im Verlauf seiner Praxis werden sie präziser in der Beobachtung und von einem scharfen Ton geprägt.27 Das Merkwürdigste an Kracauers Journalismus ist, dass solch philosophisch unterbaute und anspruchsvolle Reflexionen gesellschaftlicher Wirklichkeit in einer Tageszeitung erscheinen konnten und offenbar gelesen und vermutlich auch geschätzt wurden. […] [Kracauer] wollte das Feuilleton zu einem Ort philosophischer Auseinandersetzung machen, zu einem Feld gesellschaftlicher Selbstreflexion, zum Instrument gesellschaftlicher Aufklärung und Veränderung, zum Platz auch für den utopischen Entwurf.28 24 Vgl. Schöttker, Detlev: Bild, Kultur und Theorie. Siegfried Kracauer und der Warburg-Kreis. In: Grunert, Frank und Kimmich, Dorothee (Hg.): Denken durch die Dinge. Siegfried Kracauer im Kontext. München 2009. S. 208f. 25 »Der Flaneur öffnet sich den Dingen, und dadurch werden sie zum Leben erweckt. Genauer gesagt: Erst wenn man sich den Dingen öffnet, ohne sie zu bedrängen, lassen sie einen an ihrem Eigenleben teilhaben, sonst bleiben sie ewig verschlossen und stumm.« (Stalder, Helmut: Siegfried Kracauer. S. 235.). 26 Vgl. Stalder, Helmut: Siegfried Kracauer. S. 81-84. 27 Vgl. Stalder, Helmut: Das anschmiegende Denken. Kracauers Erotik der Wirklichkeit. In: Frank Grunert und Dorothee Kimmich (Hg.): Denken durch die Dinge. Siegfried Kracauer im Kontext. München 2009, S. 76-77. 28 Stalder, Helmut: Siegfried Kracauer. S. 15. 9 Trotz seiner äußerst produktiven journalistischen Aktivität mit circa 2000 Aufsätze wurde seine Arbeit, wie im Fall Benjamins, für lange Zeit von der Forschung nicht als feuilletonistisch, sondern als essayistisch bezeichnet.29 3. Die Wartenden Es gibt gegenwärtig eine große Anzahl von Menschen, die, ohne voneinander zu wissen, doch alle durch ein gemeinsamen Los verbunden sind. Jeglichem bestimmten Glaubensbekenntnis entronnen, haben sie sich ihren Teil an den heute allgemein zugänglichen Bildungsschätzen erworben und durchleben im übrigen wachen Sinnes ihre Zeit.30 Mit diesen Worten eröffnete Kracauer seinen Feuilletonsartikel Die Wartenden, der am 12.03.1922 in der FZ erschien. Mit diesem Incipit zeigt der Autor auch seine Fähigkeit als Kommunikator, welcher das von ihm benutzte Medium ganz beherrschen kann. Dieser Essay ist der zweiten philosophischen Phase des Autors zuzuschreiben31 und stellt einen „epochale[n] Artikel”32 dar, weil infolge seiner Ernüchterung von der Soziologie sich ihm eine neue Methodik eröffnet hat, die in diesem Aufsatz seine erste präzise Erläuterung fand.33 In diesem Text wird aber auch die eigene Orientierungslosigkeit und Unentschlossenheit des Autors, welche eine Folge seiner Umorientierung ist, deutlich ausgedrückt.34 Das Ziel dieses Texts ist eine Gemeinschaft des Wartenden aufzubauen, die aus allen sozialen Sichten stammen. Anders gesagt: Die Wartenden sind die Zeitungsleser und das heißt die Adressaten seiner Überlegungen und Artikel. Diese Masse ist vom Chaos der Gegenwart 29 Kernmayer Hildegard; von Reibnitz, Barbara; Schütz, Erhard: Perspektiven der Feuilletonforschung. S. 497. 30 Kracauer, Siegfried: Die Wartenden. In: Ders.: Werke. Bd. 5.1. Essays, Feuilletons, Rezensionen. Hg. von Mülder-Bach, Inka; Belke, Ingrid. Suhrkamp. Berlin 2011. S. 383. (Die folgende Zitate aus diesem Werk werden direkt im Text mit „W.” und Seitenangabe gegeben.). 31 Die Entwicklung Kracauers Denken ist von Stalder in drei Phasen geteilt: 1. Die phänomenologische und soziologische Phase. 2. Die materialistische Wende. 3. Die marxistische Umorientierung. (Vgl. Stalder, Helmut: Siegfried Kracauer. S. 113f.). 32 Ebd. S. 128. 33 Vgl. Ebd. S. 126. 34 Vgl. Ebd. S. 115. 10 abhängig, weil sie einerseits infolge des Verlusts welcherlei Beziehungen mit der „religiösen Sphäre” (W. S. 384) von einem metaphysischen Leiden verbunden und bestimmt sind, und andererseits weil sie in einer „Beziehungslosigkeit zum Absoluten” (W. S. 385) stehen und „ihre Tage […] zumeist in der Einsamkeit der großen Städte” (W. S. 383) verbringen. Aber wenn sie in den Mittelpunkt ihres Wesen zurückziehen, befällt sie tiefe Traurigkeit, die dem Wissen und ihr Eingebanntsein in eine bestimmte geistige Situation entwächst und am Ende sämtliche Wesenssichten überwuchert. Es st das metaphysische Leiden an dem Mangel eines hohen Sinnes in der Welt, an ihrem Dasein im leeren Raum, das diese Menschen zu Schicksalsgefährten macht. (W. S. 383) Die entleerte Masse ist von einem radikalen Relativismus bestimmt, welcher auch in Folge der Philosophie Georg Simmels35 auf die Spitze getrieben wurde. Und sie kann mit den alten philosophischen Modellen nur „als Vereinzelte […] die unendliche Mannigfaltigkeit geistiger Phänomene, die Welt der Geschichte, der seelischen Ereignisse, des religiösen Lebens” (W. S. 383) durchqueren ohne eine Antwort, die sich jetzt in der Tiefe unter der Oberfläche versteckt hat, zu finden. Der Autor stellt sich hier eine zentrale Frage, „wie es zur Entleerung des uns umfangenden geistigen Raumes gekommen ist” (W. S. 383) und um eine Antwort zu finden, soll man einen jahrhundertlangen Prozess verfolgen, der die abendländische Gesellschaft als auch Philosophie geprägt hatte. Anders gesagt: Um die heutige Gesellschaft zu verstehen, soll der Beobachter an die Zeit der Gebundenheit zwischen Gott und Gotteswelt zurückdenken und damit die Zäsur zwischen Ewigkeit und die sinnentleerte, oberflächliche Vorläufigkeit der Moderne erkennen. „Wesentlicherer als die Aufrollung geschichtlicher Probleme ist in diesem Zusammenhang die Entfaltung der seelischen Lage, in der die [Wartenden] sich befinden.” (W. S. 384) Die Lage, welche von der Leere bestimmt ist, ist der Transzendenzverlust, der als Folge des Prozesses der Säkularisierung in der Geschichte eingetreten ist. Im Ablauf des 35 In diesem Artikel wird Kracauer sich von der Simmels Philosophie abstand nehmen. Und das bezeichnete auch einer Entfernung von seinen Frühschriften, die von der Lehre von In dieser ersten Phase, die biografisch die Zeit von 1907 bis 1921 umfasst, ist von der Georg Simmels und Max Schlerers phänomenologische Philosophie geprägt sein wurden. Diese zwei Philosophen hatten in der jungen Kracauer das Interesse an Soziologie als Disziplin, welche die Wirklichkeit untersuchen könnte, hervorgerufen. Diese „Beschäftigung war eine theologisch motivierte Hoffnung, dass eine phänomenologisch vorgehende Soziologie einen Weg aus dem Sinnvakuum und dem Realitätsverlust der Moderne eröffnen könne.” (Ebd. S. 115). 11 Geschichtsprozesses, der seinen Anfang in einer sinnerfüllten Epoche (Mittelalter) fand, hat die Masse sich zuerst mit der Aufklärung und ihres „zeitlosen VernunftIch[s]” (W. S. 384) von der geistlichen und ewigen Einheitlichkeit losgerissen, dann hat sich die Masse in der Romantik in das sogenannte Genie, oder die „[einzigartige] Persönlichkeit” (W. S. 384) und ihren Verehrer parzelliert „und später, im Zeitalter des Materialismus und Kapitalismus, immer mehr teils sich atomisiert, teils zum willkürhaften Zufallsgebilde entartet” (W. S. 384): Das ist die Zeit der Obdachlosigkeit der Moderne36, welche eine Folge des Wegfalls von allen den religiösen Dogmen ist. Nach dieser Einleitung, wo der Journalist versuchte das Interesse bei seinen Lesern zu erwecken, folgt eine Darstellung der drei möglichen philosophischen Wege und folgenden Menschentypen, um das „[h]orror-vacui - der Schrecken vor der Leere” (W. S. 386), das diese Menschen bestimmt, aufzulösen. Der erste Typ ist der Anhänger der anthropologischen Lehre, der zweite die »messianischen Strum- und Dranggeister kommunistischer Färbung« und der dritte gibt der Wartende. Alle diese drei Typen sollen sich mit den selben Problemen beschäftigen, d.h. mit dem Problem des Vakuums infolge der Zerstreuung zwischen Menschheit und religiöser Sphäre und mit ihrer folgenden Puppenhaftigkeit. Die drei philosophischen Lösungen des Problems der Vereinsamung sind unterschiedlich und für Kracauer kann nur eine allgemeingültig sein: Der erste und der zweite Weg sind für Kracauer von einer metaphysischen “Krankheit” bestimmt und seine Kritik handelt nicht nur von abendländlichen Religionen (Katholizismus, Protestantismus und zionistischer Judentum), sondern richtet sich auch gegen die Mystik der Sekten und der östlichen Lehre.37 Jede der drei verschiedenen philosophischen Abhandlungen in der Abwesenheit eines hohen Sinns entspricht einer bestimmten Art des Verhaltens: Die erste Art ist des prinzipiellen Skeptikers, der seinen massgebenden Vertreter vielleicht in Max Weber gefunden hat. Gemeint ist der Mensch, der den unheimlichen Ernst der Situation klaren Blicks erfasst, zugleich aber die Überzeugung in sich trägt, dass er und seinesgleichen sich ihr nicht entringen können. Sein intellektuelles Gewissen empört sich 36 Der Begriff der Obdachlosigkeit der Moderne würde von Georg Lukács in seiner Theorie des Roman (1920) begründet. 37 Vgl. Stalder, Helmut: Siegfried Kracauer. S. 131. 12 gegen das Beschreiten der ringsum sich darbietenden Wege zu mutmasslicher Erlösung, die ihm als ebenso viele Abwege und unstatthafte Rückzüge in die Sphäre willkürlicher Begrenzungen erscheinen. So entschliesst er sich denn aus innerer Wahrhaftigkeit dazu, dem Absoluten Rücken zu kehren, das Nichtglauben-Können wird bei ihm zum Nichtglauben-Wollen. (W. S. 389) Der erste Typ, welcher als „intellektueller Desperado” bezeichnet wird, fand nach Kracauer seinen Vertreter in den Soziologen Max Weber. Dieser Menschentyp „macht sich, angetrieben vom Hass gegen alle Glaubensschwindler, an die »Entzauberung der Welt«.38 Er ist ein „prinzipielle[r] Skeptiker” (W. S. 392) und ist von einer intellektuellen Rebellion gegen alle metaphysischen Konstrukte geprägt. Seine Philosophie ist zum Scheitern verurteilt, weil er mit seinen Erkenntnissen an der Oberfläche verbleibt. Der zweite Typ ist im Unterschied zum ersten bestimmt von einem Selbstbewusstsein über seine lästige Lage und infolgedessen nimmt er die Haltung der „Kurzschluss-Menschen” (W. S. 392) ein, die „Hals über Kopf der Öde und dem Draussen entfliehen, um schnell in ein bergendes Gehäuse hineinzuschlüpfen” (W. S. 390). Der Glaube ist bei diesem Menschentyp „mehr ein Wille zum Glauben als ein Weilen im Glauben” (W. S. 390) und seine Reaktion auf das göttliche Vakuum ist eine „methaphysiche Feigheit”. Worin besteht doch der Kurzschluss, den sie begehen und dem sie zum Opfer fallen? Er besteht dran, dass sie aus dem Wissen um die Notwendigkeit des Glaubens heraus voller ungeduldiger Sehnsucht in einem Glaubensbezirk einbrechen, in dem sie sich, da es ihnen zu seiner wahrhaften Eroberung an den umfänglichen Voraussetzungen fehlt, nur künstlich und kraft unfreiwilligen Selbstbetrugs zu behaupten vermögen, und dass sie derart alles in allem eine Frucht pflücken, die nicht für sie gereift ist und der sie nicht entgegengereift sind. (W. S. 391) Dieser Typ schien Kracauer schlechter als der erste, weil er auch aufgrund seiner Angst „vor dem [katastrophalen] Zusammenbruch des allzu hastig aufgeführten Gebäudes” (W. S. 391) einen Fanatiker werden kann. In dieser Haltung sind auch die Wurzeln des politischen, philosophischen und religiösen Fanatismus oder Extremismus der Weimarer Zeit zu finden. Was an der Leserschaft Kracauers zwischen Skeptiker und Kurzschluss-Mensch zu wählen bleibt, ist nur die Haltung des Wartens. 38 Ebd. S. 132. 13 Wer sich zu ihr entschliesst, der versperrt sich weder wie der trotzige Bejahet der Leere den Weg des Glaubens, noch bedrängt er diesen Glauben wie der Sehnsüchtige, den seine Sehnsucht hemmungslos macht. Er wartet, und sein Warten ist ein zögerndes Geöffnetsein in einem Allerdings schwer zu erläuternden Sinne. (W. S. 392) Eine genauere Beschreibung dieses Wartens fällt Kracauer aber schwer und aus diesem Grund fing Kracauer zunächst mit der negativen Seite dieser Haltung an.39 Der Wartende hat als Berührungsstellen mit dem intellektuellen Desperado die Tapferkeit gemein, aber seine Skepsis ist keine prinzipielle Skepsis, weil er alle Beziehungen zum Absoluten ablehnt. Nach der positiven Seite bedeutet das Warten im Unterschied zur negativen Seite „ein [nicht zögerndes] Geöffnetsein” (W. S. 392-393) für einen Sprung, zu dem religiösen Wort und gar zu der auf der Glaubensgemeinsamkeit berührenden Verbundenheit der Menschen, und wer so weit abgetrennt vom Absoluten weilt wie der Mensch des leeren Raumes, hat es unendlich schwer, die von ihm selbst geforderte Wendung zu vollziehen. (W. S. 393) Dieses Warten ist nicht eine passive Haltung sondern eine philosophische Fähigkeit, welche die Bildung eines “anderen Mensch” verwirklichen kann. Es gelte deshalb im aktiven Warten, den Schwerpunkt von dem theoretischen Ich auf das gesamtmenschliche Ich zu verlegen und aus der atomisierten unwirklichen Welt der gestaltlosen Kräfte und der des Sinnes baren Grössen einzukehren in die Welt der Wirklichkeit und der von ihr umschlossenen Sphären. (W. S. 393) Ausgangspunkt des Wartens ist auch eine neue religiöse Haltung, welche ihren Kern in der Wahrnehmung der blitzhaften Wirklichkeit hat. Wer versucht, in sei einzuschwingen und sich mit ihr zu befreunden, der gelangt natürlich nicht ohne weiteres zu einem sie konstituierenden Sinn und einem Sein im Glauben, er entdeckt jedoch vielleicht die eine oder andere Bindung in ihr, es zeigt sich ihm etwa, dass das Leben mit dem Nächsten, dass überhaupt die wirkliche Welt in ihrer ganzen Breite mannigfachen Gesetzlichkeiten unterliegt, die weder theoretisch-begrifflich ausmessbar, noch beglich die Frucht subjektiver Willkür sind, und so mag er sich denn langsam umstellen und emportasten in vormals ihm unzulängliche Bezirke. (W. S. 393) 39 Vgl. Ebd. S. 133. 14 In diesem Text, auch wenn sich der Autor mit seinem Text gegen alle metaphysisch-mystischen Konstrukte stellt, wird am Ende von Kracauer noch eine religiöse Lösung herbeigewünscht. Trotz der metaphysischen Nuance stellt der Aufsatz einen theoretischen Verdienst dar, der von Mülder-Bach als Umschlag der Negativität40 definiert wurde, dass nicht nur das philosophische und berufliche Leben Kracauers geprägt hat, sondern eine der höheren Spitzen des philosophischfeuilletonistischen Journalismus der Weimarer Zeit kennzeichnete. Die religiösen Charakteristika der Haltung des Wartens tauchen zuerst implizit in der Methodik (exnegativo) auf, um eine philosophische Definition dieses Menschentyps zu finden, auch weil das Warten etwas „schwer zu erläutern” (W. S. 392) ist, und weil es sich „nicht als Wissen vermitteln” (W. S. 393) lässt. Außerdem steht am Ende des Textes eine Frage, zu der Kracauer keine Antwort geben kann, weil sie außerhalb des menschlichen Verständnis steht: Muß noch hinzugefügt werden, daß das Sicherheiten nur Vorbereitung des Nichterzwingbaren: der Wandlung und der Hingabe ist? An welchem Punkte dies Wandlung nun eintritt und ob sie überhaupt eintritt, das steht nicht in Frage und darf auch die SichMühenden nicht kümmern. (W. S. 394) Diese Unfähigkeit einer positiven Bestimmung ist außerdem zentral in der Phänomenologie Kracauers, weil er damit eine neue Bewertung der Negativität realisiert hat und diese für die philosophische, soziologische und auch kulturwissenschaftliche Untersuchung jeder existenziellen Phänomene produktiv gemacht hat. Die neue Methodik sollte nicht nur auf das philosophische Denken eingeschränkt werden, sondern Kracauer wollte damit auch etwas neues in seine Aktivität bringen, welche Ausdruck eines philosophischen Journalismus sein sollte. Für Kracauer ist die „Wirklichkeit […] eine Konstruktion”41, welche nur durch die „Analyse der unscheinbaren Oberflächenäußerungen, Deutung des unbewussten 40 Mülder-Bach, Inka: Der Umschlag der Negativität. Zur Verschränkung von Phänomenologie, Geschichtsphilosophie und Filmästhetik in Siegfried Kracauers Metaphysik der ‚Oberfläche’. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 61 (1987). S. 359-373. 41 Kracauer, Siegfried: Die Angestellten. In: Schriften 1. S. 216. In: Stalder, Helmut: Das anschmiegende Denken. Kracauers Erotik der Wirklichkeit. In: Frank Grunert und Dorothee Kimmich (Hg.): Denken durch die Dinge. Siegfried Kracauer im Kontext. München 2009, S. 74. 15 Traumbildes, Entzifferung von Symbolen, Metapher, Gleichnissen, von Personifizierungen, lebenden Bildern und Allegorien”42 in einem Bild verschiedener Realitätspartikel montiert werden kann und damit im Text übertragen wird. Diese Oberflächenäßerungen wurden zunächst von Kracauer in seinem programmatischen Essay Das Ornament der Masse dargestellt: Der Ort, den eine Epoche im Geschichtprozeß einnimmt, ist aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenäußerungen schlagender zu bestimmen als aus den Urteilen der Epoche über sich selbst. Diese sind als der Ausdruck von Zeittendenzen kein bündiges Zeugnis für die Gesamtverfassung der Zeit. Jene gewähren ihrer Unbewegtheit wegen einen unmittelbaren Zugang zu dem Grundgehalt des Bestehenden. An seine Erkenntnis ist umgekehrt ihre Deutung geknüpft. Der Grundgehalt einer Epoche und ihre unbeachteten Regungen erhellen sich wechselseitig.43 Die neue literarische Form, die zu einer Wiederentdeckung des Alltags führen kann, ist nicht eine Reportage, sondern ein Denkbild, welches aus Benjamins Theorie des dialektischen Bildes stammt.44 Das Bild stellte für Benjamin den dialektischen Stillstand dar und infolge dieser Paradoxie entstand das Denkbild.45 Wenn diese neue Form in die journalistische Praxis übertragen würde, wird damit die Wirklichkeit für einen Augenblick blitzhaft erhellt und daher entsteht das Denkbild.46 Diese Konfiguration des Denkbilds als eine temporäre Erhellung der Wirklichkeit bestimmt nicht nur eine feste Abgrenzung von der journalistischen Form der Reportage47, sondern ist auch eine Ablehnung der Photographie und des Dokumentarfilms, weil 42 Ebd. S. 72 43 Kracauer, Siegfried: Das Ornament der Masse. (1927), in: Ornament. S. 50. In: Mülder-Bach, Inka: Der Umschlag der Negativität. Zur Verschränkung von Phänomenologie, Geschichtsphilosophie und Filmästhetik in Siegfried Kracauers Metaphysik der ‚Oberfläche’. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 61 (1987). S. 360. 44 Vgl. Stalder, Helmut: Das anschmiegende Denken. Kracauers Erotik der Wirklichkeit. S. 47–84. 45 »Zum Denken gehört ebenso die Bewegung wie das Stillstellen der Gedanken. Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation zum Stillstand kommt, da erscheint das dialektische Bild. Es ist die Zäsur in der Denkbewegung. Ihre Stelle ist natürlich keine beliebige. Sei ist, mit einem Wort, da zu suchen, wo die Spannung zwischen den dialektischen Gegensätzen am größten ist.« (Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. Bd. 1. S. 595. In: Stalder, Helmut: Das anschmiegende Denken. S. 69.). 46 47 Stalder, Helmut: Das anschmiegende Denken. S. 69. »Ergibt sich diese Wirklichkeit der üblichen Reportage? Seit mehreren Jahren genießt in Deutschland die Reportage die Meistbegünstigung unter allen Darstellungsarten, da nur sie, so meint man, sich des ungestillten Lebens bemächtigen könne. Die Dichter kennen kaum einen höheren Ehrgeiz, als zu berichten; die Reproduktion des Beobachteten ist Trumpf« (Kracauer, Siegfried: Die Angestellten. In: Schritten 1. S. 216. In: Stalder, Helmut: Das anschmiegende Denken. S. 72.). 16 beide nur Abbilder der Realität sind, die infolge ihrer Abhängigkeit einer arbiträren Perspektive niemals objektiv sein können. Die Unterschiede liegen nicht nur in dem Verhältnis zur Wirklichkeit, sondern auch in den Methoden ihrer Analyse und Darstellung.48 4. Die Hotelhalle Das Essay Die Hotelhalle wurde im Jahr 1924 geschrieben, aber es ist nicht als Feuilletonartikel in der Zeitung erschienen, sondern es ist Teil des philosophischen Traktats Der Detektiv-Roman (1922-1925) geworden. Sowohl das Essay als auch das Band sind der zweiten Phase zuzuschreiben. Das Essay stellt einen Versuch dar, die neue Methodik, welche in Die Wartende nur theoretisch vorgestellt wurde, in Praxis umzusetzen. Der Aufsatz bleibt einerseits den Motiven der Wartenden treu (Religion, Säkularisierung, binäres Denken, Hoffnung auf Erlösung), aber andererseits entwickelt es schon einige Denkfiguren und Themen, die im Zentrum weiterer Texte stehen. Insbesondere das Thema des Hotels wird auch in anderen feuilletonistischen Texten der 20er und 30er Jahre auftauchen. Dieser Ort verkörperte für Kracauer den Treffpunkt zwischen seiner Arbeit als Filmkritiker und als Beobachter der modernen Architektur.49 Das Hotel, von dem auch das Weimarer Publikum fasziniert war, war in den 20er Jahren die Szene für zahlreiche Verfilmungen gewesen und dank einer massiven Werbekampagne wurde die Hotelhalle bestimmt, als Ort, wo sich alle Träume verwirklichen können und wo es auch eine soziale Möglichkeit gab, das eigene Leben zu verbessern.50 Das Gebäude wird wegen dieser werblichen Verzauberung seine ursprüngliche Bedeutung als Ort der Gastlichkeit verlieren und wird immer mehr nur eine Kulisse, wo sich ein ziel- und beziehungsloses Leben abspielen lies. 48 Vgl. Stalder, Helmut: Das anschmiegende Denken. S. 74-77. 49 Vgl. Katz, Marc: The Hotel Kracauer. In: Differences: A journal of Feminist Cultural Studies. 11 (2), 1999. S. 135-136. 50 Ebd. S. 139. 17 Dem Orte verbleibt nur eine mehr dekorative Bedeutung, wenn die Menschen aus der Beziehung getreten sind, die ihn gründet. Versinkt er ins Nichts, so mag darum doch die zu Ende konstruierte zivilisierte Gesellschaft ausgezeichnete Stätten besitzen, die für ihre Nichtexistenz ähnlich zeugen wie das Gotteshaus für die Wirklichkeit Verbundenen.51 Infolge dieses Erfolgs im der kollektiven Imaginären ist der Krimi-Roman auch als Spiegelbild der Gesellschaft zu verstehen. Ohne Kunstwerk zu sein, zeigt doch der Detektive-Roman der zivilisierten Gesellschaft ihr eigenes Antlitz reiner, als sie es sonst zu erblicken vermöchte. Ihre Träger und ihre Funktionen: in ihm legen sie Rechenschaft ab über sich und geben ihre verborgene Bedeutung preis. (H. S. 176) In Die Wartende wurde der Übergang von der Soziologie zu einer Soziologie der Realität theoretisiert. Die Hotelhalle stellt eine Entwicklung des theoretischen Prozesses und eine Anwendung im Raum des Alltagslebens dar. Im Zentrum steht auch hier eine Zuwendung zur Wirklichkeit, aber die Arbeit wird durch eine konkrete Analyse und Übersetzung der Oberfläche geführt. Die Oberfläche ist nach Kracauer der Ort wo das tiefliegende kollektive Unbewusste der Gesellschaft wiedergefunden werden kann und dank eines räumlichen Denkens, welches das Spiegelbild des Makrokosmos (die moderne Gesellschaft) in einem Mikrokosmos (Die Hotelhalle) ist, wird für Kracauer die Analyse von Räumen als Manifestationen des kollektiven Unbewussten gelten. Die typische Struktur, die das vom Detektive-Roman dargebotene Leben erhält, deutet darauf hin, daß das ihn produzierende Bewußtsein kein individuellzufälliges ist, sie verrät zugleich, daß die metaphysisch erscheinenden Züge herausgegriffen sind. Wie der Detektiv das zwischen den Menschen vergrabene Geheimnis aufdeckt, so erschließt der DetektivRoman im ästhetischen Medium das Geheimnis der entwirklichten Gesellschaft und ihrer substanzlosen Marionetten. Seine Komposition wandelt das sich unfassbare Leben zum übersetzbaren Gegenbild der eigentlichen Wirklichkeit. (H. S. 177) Der Protagonist nicht nur dieses Genre, sondern auch der neuen Methodik Kracauers ist die literarische Figur des Detektivs, der dank seines scharfen Blicks die Wirklichkeit der Realität verstehen kann. Er bleibt nicht wie die Polizisten an der Oberfläche, wie Fotografie und Reportage die immer nur ein subjektives Abbild der 51 Kracauer, Siegfried: Die Hotelhalle. In: Ders.: Werke. Bd. 5.2. Essays, Feuilletons, Rezensionen. Hg. von Mülder-Bach, Inka. Suhrkamp. Berlin 2011. S. 177. (Die folgende Zitate aus diesem Werk werden direkt im Text mit „H.” und Seitenangabe gegeben.). 18 Realität vermitteln können, sondern er schreitet mithilfe eines dialektischen Prozess es des Erwachens und Erkennens der Oberfläche über und geht runter in die gesellschaftliche Tiefe, um die symbolischen, metaphorischen und allegorischen Codierungen zu entziffern.52 Als Grenzgänger ist der Detektiv gewissermaßen spiegelbildlich zu Kracauer zu sehen, weil sich beide nicht von den gesellschaftlichen Denkweisen und ideologischen oder philosophischen Mustern abgrenzen lassen. Der Detektiv weckt auch aus diesem Grund das Interesse des Autors insofern diese literarische Figur einen Verbrecher entlarvt, aber zunächst interessiert ihn sein Blick, welcher von seiner Distanz zur Gesellschaft geschärft wurde.53 Das Beobachten stellte für Kracauer eine der wichtigsten Fähigkeit eines Journalisten dar, und besonders wichtig schien ihm die Beobachtung der normalen Leute – egal ob während des Wartens, des Spaziergangs oder im Kino. Kracauers Interesse handelt vom Publikum oder in diesem Fall von der Hotelgästen, wo sich ein Moment transzendentaler Subjektivität erfahrbar werden kann.54 Infolgedessen ist Kracauer ein sogenannter „Hotel Flaneur”55, weil er mit den Gästen verschmilzt „und […] gleichzeitig [tritt er] als ihr ‘observateur’ auf, erhebt sich also über die Masse.”56 Dank dieser Haltung wird sich der Journalist/Flaneur/Detektiv in einem Schwellenraum zwischen den vertikalen der höheren Sphäre der Religion und den horizontalen der niederen Sphäre der Masse und der Passage/Hotelhalle stellen. Aufgrund dieser Zwischenposition, wo die Spannung und die Leere (Spannungslosigkeit) in der Welt zusammen hinein brechen, wird die Hotelhalle als negatives Kehrbild des Gotteshaus verstanden.57 Die typischen Merkmale der im Detektiv-Roman immer wieder auftauchenden Hotelhalle zeigen an, daß sie als Kehrbild des Gotteshauses gemeint sei. Sie ist eine negative Kirche und kann in diese transformiert werden, wenn man nur die Bedingungen berücksichtigt, denen die verschiedenen Sphären unterstehen. (H. S. 178) 52 Die Anmerkungen von Stalder über Kracauers Analyse der Wirklichkeit können auch für eine Bestimmung des Detektivs verwendet werden. (Vgl. Stalder, Helmut: Das anschmiegende Denken. S. 77.). 53 Vgl. Thums, Barbara: Kracauer und die Detektive. Denk-Räume eine „Theologie im Profanen“. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 84 (2010). H. 3. S. 395. 54 Vgl. Schlüpmann, Heidi: Ein Detektiv des Kinos. S. 74. 55 Katz, Marc: The Hotel Kracauer. S. 135. 56 Neumeier, Harald: Der Flaneur. Konzeption der Moderne. Würzburg 1999. S. 69. 57 Vgl. Katz. S. 140f. 19 Als Kirche der modernen kapitalistischen Gesellschaft, die leer und zweckfrei ist, wird sich die Masse der Besucher in der niederen Sphäre verirren: In den Sphären minderer Wirklichkeit schwindet mit dem existenziellen Zug das Bewußtsein von Existenz und den eigentlichen Gegebenheiten, und getrübter Sinn verirrt sich in dem Labyrinth des verzerrten Geschehens, um dessen Verzerrung er nicht mehr weißt. (H. S. 175) Und wie in jeder Kirchgemeinde gibt es auch hier einen Gott und das ist der Hotelmanager, der dieses mal Dank der Technologie, die das Hotel in einem Panoptikon verwandelt hat, eine untrügliche Kontrolle ausüben kann. Hier und dort stellt man sich zu Gaste ein. Gilt aber das Gotteshaus dem Dienste dessen, zu dem man sich in ihm begibt, so dient die Hotelhalle allen, die sich in ihr zu niemanden begeben. Sie ist der Schauplatz derer, die den stetig Gesuchten nicht suchen noch finden, und darum gleichsam in Raume an sich zu Gaste sind, in Raume, der sie umfängt und diesem Umfangen allein zugeeignet ist. Das unpersönliche Nichts, das der Manager repräsentiert, tritt hier an die Stelle des Ungekannten, in dessen Namen sich die Kirchengemeinde versammelt. Und während diese, um die Beziehung zu erfüllen, den Namen anruft und dem Dienste sich widmet, nehmen die in der Halle Zerstreuten das Inkognito des Gastgebers ohne Frage hin. Sie sind die schlechthin Beziehungslosen, die in das Vakuum mit der gleichen Notwendigkeit eintopfen, mit der die nach und in der Wirklichkeit Trachtenden sich aus dem Nirgendwo zu ihrer Bestimmung erheben. (H. S. 178) Als negative und profane Kirche kann die Hotelhalle durch eine Folge von Merkmalen, die im Gegensatz zum Gotteshaus stehen, beschrieben werden. Wenn die höhere Sphäre von einer sakralen und transzendentalen Aura bestimmt ist, stellt die niedere Spähre einen Ort des Profan und der Immanenz dar. „Auch die spannungslosen Figuren in der Hotelhalle repräsentieren die ganze Gesellschaft; nicht aber, weil hier die Transzendenz zu sich emporraffte, sondern weil das Getriebe der Immanenz sich noch verhüllt.” (H. S. 185-186) Auch die ewige Wahrheit wird von einer eindimensionalen Wahrheit ersetzt. Ist die Stilisierung der eindimensionalen Unwirklichkeit durchgeführt, so gliedert er kraft seiner Existentialität, die sich nicht in Kritik und Forderung, sondern in ästhetische Kompositionsprinzipien umsetzt, die nun den konstitutiven Voraussetzungen genügend Einzelgehalte einem geschlossenen Sinnzusammenhang ein. (H. S. 177) 20 Die Hotelhalle ist sowohl das Gegenbild der Kirche als auch ein Abbild der modernen Gesellschaft, wo die Menschen zu Larven geworden sind (Vgl. S. 169), und sich als vereinzeltes Ich ziellos in der Leere bewegen. Auch die Analyse der Gesellschaft und die Literatur sollen sich dem anpassen. Die Literatur, welche der höheren Sphäre angehörte, ist nicht mehr gültig, um die Wirklichkeit und Wahrheit herauszufinden, weil diese zwei Begriffe in der Moderne unzugänglich geworden sind. Während also am oberen Sphärenort der Künstler eine Wirklichkeit bestätig, die sich selber vernimmt, wird in den niederen Regionen sein Werk zum Künder einer Mannigfaltigkeit, der es an jedem lösenden Wort gebricht. Seine Aufgaben mehren sich in dem Maße, als die Welt sich entwirklicht, und der eingekapselte Geist, dem die Wirklichkeit unzugänglich ist, drängt ihm schließlich die Rolle des Erziehers auf, des Sehers, der nicht nur sieht, sondern prophetisch voraussieht und verknüpft. (H. S. 176) Der Schriftsteller/Beobachter braucht ein neues Sehen, das sich infolge seiner Verortung in der mittleren Sphäre entwickeln kann. Wie in Die Wartende, wo die einzige Möglichkeit eine blitzhafte Erscheinung der Wirklichkeit ist, soll der Journalist/Detektiv zwischen der Masse von puppenhaften Menschen warten, um sie zu begreifen. Nur die exzentrische Haltung des Detektivs, der sich zwischen der vertikalen und horizontalen Dimension der Passage und der Hotelhalle bewegt, kann die nebensächlichen Dinge, die auf der Oberfläche erschienen sind, sehen, um so die “verzerrte” bzw. “verschleierte” Wirklichkeit zu entschleiern. Blickwispern erfüllt die Passagen. Da ist kein Ding, das nicht ein kurzes Auge, wo man es am wenigsten vermutet, aufschlägt, blinzelnd schliesst, siehst du näher hin, so ist es verschwunden. Dem Wispern dieser Blicke leiht der Raum sein Echo: >Was mag, in mir, so blinzelt er, sich wohl ereignet haben?58 5. Der verbotene Blick. Der Text Der verbotene Blick ist als Feuilletonartikel am 20.11.1926 in der FZ erschienen und hier thematisiert Kracauer ein anderes wichtiges Thema seines Denkens: „Die Dialektik des Erwachens, die sich einstellt im Moment des Übergangs 58 Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. Bd. 2. S. 1050. In: Stalder, Helmut: Siegfried Kracauer. S. 235. 21 vom traumhaften Erleben zum wachen Entziffern.”59 Die Verbindung zwischen Freud und Kracauer steht in dem Moment in dem die Träume eintreten und infolgedessen die Kontrolle des Bewusstseins eingrenzen. Traumhaft nennt [Kracauer] die Raumbilder als unzensierte Manifestationen der Gesellschaft. Die Erscheinungsbilder werden von der Wirklichkeit selber hervorgebracht, ohne dass sie einer bewussten sie einer bewussten Steuerung oder Zensur unterliegen.60 Wenn Träume den Moment darstellen, wo die verborgenen Wünsche eines Individuums auftauchen können, sind sie umgekehrt in der Gesellschaft Raumbilder, die nicht die Wünsche der Masse, „sondern die ideologisch verschleierten Gesellschaftsstrukturen”61 darstellen. Die Aufgabe des Journalisten ist daher nicht diese räumlichen Traumbilder nur oberflächlich zu beschreiben, sondern er soll wie ein Detektiv oder ein Historiker das unterliegende Bild entziffern und deuten, um die Wirklichkeit, welche in der Tiefe liegt, wieder zu finden. Aus diesem Grund soll man eine Dialektik des Erwachens verwenden. Dialektische Struktur des Erwachens: Erinnerung und Erwachen sind aufs engste verwandt. Erwachen ist nämlich die dialektische, kopernikanische Wendung des Eigendenkens. Es ist ein eminent durchkomponierten Umschlag der Welt des Träumers in die Welt der Wachen […] Die neue dialektische Methode der Historik lehrt mit der Schnelligkeit und Intensität von Träumen in Geiste das Gewesene durchzumachen, um so die Gegenwart als Wachwelt zu erfahren, auf die zuletzt sich jeder Traum bezieht.62 Die Dialektik des Erwachens Benjamins und das folgende Verständnis des Erkenntnispotenzials der Träume des Kollektivs wurde von Kracauer grundsätzlich übereinstimmt.63 Nach Kracauer erscheint das traumhafte Raumbild als Hieroglyphe oder Chiffre64 und er wurde von Benjamin als „politische[r] Traumdeuter” bezeichnet, der auf „jene surrealistischen Überblendungen ausgeht, die nicht nur, wie von Freud 59 Vgl. Stalder, Helmut: Siegfried Kracauer. S. 173. 60 Ebd. 61 Ebd. 62 Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. Bd. 2. S. 1058. In: Stalder, Helmut: Siegfried Kracauer. S. 171. 63 Vgl. Stalder, Helmut: Siegfried Kracauer. S. 171. 64 Vgl. Ebd. 175. 22 erfahren haben, den Traum, nicht nur, wie wir von Klee und von Marx Ernst es wissen, sie sinnliche Welt, sondern eben auch die soziale Wirklichkeit kennzeichnet.”65 Im Text Der verbotene Blick wird der Übergangsmoment zwischen traumrauschhaften Erleben und wachenden Traum von dem Autor untersucht. In diesem Text taucht die Erkenntnis auf, dass das moderne Leben nicht lebend ist. In ihm verliert das Wissen um die Liquidierung des Lebens durch das kapitalistische System seine Abstraktheit. Dieser Blick ist vergleichbar mit der Erfahrung des Wartenden: aber während dort die gesellschaftliche Gewalt als Erkenntnisschranke wahrgenommen wurde,die Welt in die Ferne gerückt, ist der Schleier hier gerissen, die Welt nahe, aber tot.66 Der Journalist trat während seines nächtlichen Flanierens in einer Kneipe ein und unterhielt sich mit den betrunkenen Gästen. Während des Gespräches wird er erfahren, dass jeden Abend in der Kneipe ein Phantom erscheint. Das Phantom wird aber nicht sofort auftauchen und der Autor führt mit einem dreifachen „Das ist es nicht” den Leser in eine Atmosphäre, die immer mehr von Pathos beladen ist, ein. Wie in einem Krimi-Roman wird sich der Leser auf die Details konzentrieren, weil er das Treffen mit dem Phantom erwartet, aber trotz dieses Wunsches ist er von dem gewünschten Erscheinen verängstigt und fürchtet sich davor. Das Phantom ist nicht der Kellner, welcher mit seinem weißen Hemdbrust wie angestrahlt ist. Es ist auch nicht das technologische Monstrum der Jukebox und ist es auch nicht der Tanzpaare. Das Phantom ist etwas anders, es ist noch etwas schrecklicher: Eben noch zauberisch verstrickt in das unachtsame Gewoge, erwachst Du urplötzlich aus dem Traum; aber Du erwachst nicht zur Wirklichkeit, sondern eine Hülle reißt, und jetzt erst, genau jetzt erscheint das Phantom. Wie angewurzelt steht es vor dir für Augenblicke, die eine Ewigkeit währen. Nur zu dieser Stunde überhaupt kann es erscheinen, zu der Stunde, da Du auf der Scheide von Traum und Wirklichkeit nachtwandlerisch dich verärgerst. Es ist die Stunde, in der das Nichts die Gestalt sich erschwindelt, die Stunde der unerlaubten Blicke, die an das schlüpfrig Bodenlose sich heften. Die Paare, mit denen du tanzest, leben nicht mehr noch auch sind sie abgeschieden bereits zu verstaubten Mechanismen - sie sind Phantome, festgebannt vor dem Verschwinden. Wie du selber jenseits des Gaukelbreichs der Träume umherirrst, ohne dem wirklichen Dasein schon anzugehören, so befinden sie sich unerlöst an einem Zwischenorte, gestorben zweifellos, aber nicht durchaus tot […]. Magie zwingt sie, die für gewöhnlich unsichtbar sind, in 65 Benjamin, Walter: S. Kracauer. Die Angestellten. In: Ders.: GSIII, S. 226 f. In: Stalder, Helmut: Siegfried Kracauer. S. 172. 66 Schlupmann, Heidi: Das Gang ins Kino. S. 84-85. 23 diesen Augenblicken herauf; in diesen Augenblicken herauf; in diesen Augenblicken gerade, in denen das Nirgendwo dich bei sich hält, trifft die flüchtigen Passagiere der verbotene Blick. Da aber ist es: daß eine Begegnung hier statt hat zwischen Wesen, die nicht eigentlich existieren, daß du, der du auch nur Phantom bist in der nichtigen Leere, heimgesucht wirst von verwunschenen Figuren, die den Durchgang verwehren und dich hineinziehen in ihre Verlorenheit.67 Der Moment, in dem das Phantom auftauchen wird, fällt mit dem dialektischen Umschlag zusammen, und der Betrachter wird nur jetzt erkennen, dass das Phantom die Puppenhaftigkeit des Betrachters ist, oder anders gesagt: Es ist sein entleertes Dasein. Er hat das Phantom gesucht in allem was ihm Fremd war, aber er hatte vergessen, dass als Teil der Masse er sich selbst verfremdet hatte und alles was während seiner Überlegungen, oder such nach dem Monstrum, passiert ist, war nur eine selbstbedingte Illusion: Verlassen fährst du hin über die verlassene Welt […]. In jener gläsernen Phantasmagorie erkennst du ihr Sinnbild, und vergangen in der Uferlosigkeit des Hohlraums verwirfst du alle Seligkeiten, die du besessen hast, die du nie mehr besitzen wirst. Die gefräßige, nichtsnutzige Zeit entblößt sich dir, und du schauderst vor ihrem Ergebnis: dem Gebrauch der erborgten Moden und Embleme dem Larventanz durch die Jahrtausende.68 In der Sekunde, in dem der Traum des Tanzpaares zerschnitten wurde, wird ihn der Zustand aufklären, er ist Opfer seiner Einsamkeit, welche die Folge seines sinnentleerten Daseins in einer sinnentleerten Zeit ist. In diesem blitzschnellen Bruchteil zwischen unbewusster Zensur (gesellschaftliche Erkenntnisverbot) und bewusstem Traum liegt das Erkenntnispotential des Traumes, Rausches, oder Flanierens.69 Und dieses bewusste Erkennen innerhalb des Traumes kann durch die Dialektik des Erwachens literarisch und philosophisch produktiv gemacht werden, um die moderne Gesellschaft zu verstehen und aufzuklären. Die Konstruktion, die hier thematisiert wird, gilt nicht nur für eine Analyse der Gesellschaft, sondern liegt auch jeder Filmkritik zugrunde.70 67 Kracauer, Siegfried: Der verbotene Blick. In: Ders.: Werke. Bd. 5.2. Essays, Feuilletons, Rezensionen. Hg. von Mülder-Bach, Inka. Suhrkamp. Berlin 2011. S. 226. 68 Ebd. S. 226-227. 69 Vgl. Schlüpmann, Heidi: Der Gang ins Kino. S. 85. 70 Vgl. Ebd. S. 86. 24 7. Fazit und Schlussfolgerungen. Kracauer stellt sich mit seinen Überlegungen und Aufsätzen immer an den Rand der Gesellschaft, er ist wie ein Obdachlosen in der Moderne und er kann keiner philosophische, religiöse, ideologische oder utopische Lösung seiner Zeit vertrauen. Aber auch in der schwierigen hoffnungslosen Zeit der Weimarer Republik hat er niemals auf seiner intellektuellen Unabhängigkeit verzichtet. Er hat sich mit seiner ex-zentrischen Position und Haltung niemals an die zahlreichen Extremismen seiner Zeit angepasst. Kracauer zu formulieren „eine deutliche Absage an jede Form von Philosophie […], die ihre Probleme in abstrakter Allgemeinheit löst oder sich darauf beschränkt, ihre Gegenstände einem begrifflich zu subsumieren. Gegen den verallgemeinernden Zugriff von außen setzt er die Versenkung in die anschaulich gegeben, sinnlich erfahrbaren Erscheinungen als einzigen Weg zur Sicherung sachhaltiger Erkenntnis.71 Ein Bild, welches die Person Kracauers verdeutlichen kann, ist der Titel seines semiautobiographischen Romanes Ginster. Diese Pflanze wächst nur auf ariden Böden und sieht fragil aus, aber sie ist eine sehr starke Pflanze, welche eine große Widerstandskraft hat, um gegen alle möglichen Übergriffe zu kämpfen und zu überleben. Kracauer ist wie diese Pflanze während der Zeit der Weimarer Republik gewesen. Er ist am Rand geblieben, um sich nicht mit etwas, was er nicht frei und ganz akzeptieren konnte, zu identifizieren. Seine Texte versuchen immer die dunkele Seite der Gesellschaft zu beleuchten, aber sie geben keine einfache Antwort, weil die Wirklichkeit in der Tiefe verborgen ist. Wo diffuse Übersicht an die Stelle perspektivischer Konstruktion tritt, macht es keinen Sinn mehr, zwischen Oberfläche der Wirklichkeit und ihrer Tiefe und unterschieden. Gerade das aber tut Kracauer. Er möchte den “Gründgehalt” seiner Epoche aus ihren “unscheinbaren Oberflächeäußerungen” ablesen.72 Die Moderne kann nur mit der Haltung des Wartenden und des Detektivs verstanden werden und, um dieses Ziel zu erreichen, muss man ein neuen Blick entwickeln, 71 Mülder-Bach, Inka: Der Umschlag der Negativität. S. 360. 72 Ebd. 25 welcher auf die banalen Dinge aufmerksam machen soll. Man soll nicht vor der Fremden Angst haben, sondern man soll die eigene Fremdheit und Einsamkeit in der Masse verstehen, um sich nicht an die falsche Gottheit oder Ideologie anzupassen. 
 26 Literaturverzeichnis Primärliteratur - Kracauer, Siegfried: Die Wartenden. In: Ders.: Werke. Bd. 5.1. Essays, Feuilletons, Rezensionen. Hg. von Mülder-Bach, Inka; Belke, Ingrid. Suhrkamp. Berlin 2011. S. 383-394. - Kracauer, Siegfried: Die Hotelhalle. In: Ders.: Werke. Bd. 5.2. Essays, Feuilletons, Rezensionen. Hg. von Mülder-Bach, Inka. Suhrkamp. Berlin 2011. S. 175-188. - Kracauer, Siegfried: Der verbotene Blick. In: Ders.: Werke. Bd. 5.2. Essays, Feuilletons, Rezensionen. Hg. von Mülder-Bach, Inka. Suhrkamp. Berlin 2011. S. 224-227. Sekundärliteratur - Drews, Jörg: Feuilleton1. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1. Berlin / New York 1997. S. 582-584. - Frank, Gustav und Stefan Scherer: Zeit-Texte. Zur Funktionsgeschichte und zum generischen Ort des Feuilletons. In: Zeitschrift für Germanistik 22 (2012). H. 3. S. 524-539. - Katz, Marc: The Hotel Kracauer. In: Differences: A journal of Feminist Cultural Studies. 11 (2), 1999. S. 134-152. - Kernmayer, Hildegard: Sprachspiel nach besonderen Regeln. Zur Gattungspoetik des Feuilletons. In: Zeitschrift für Germanistik 22 (2012). H. 3. S. 509-523. - Kernmayer, Hildegard, Barbara von Reibnitz und Erhard Schütz: Perspektiven der Feuilletonforschung. Vorwort. In: Zeitschrift für Germanistik 22 (2012). H. 3. S. 494-508. - Kimmich, Dorothee; Wilke Tobias: Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende. WBG. Darmstadt 2006. S. 48-77. - Mülder-Bach, Inka: Der Umschlag der Negativität. Zur Verschränkung von Phänomenologie, Geschichtsphilosophie und Filmästhetik in Siegfried Kracauers Metaphysik der ‚Oberfläche’. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 61 (1987). S. 359-373. - Neumeier, Harald: Der Flaneur. Konzeption der Moderne. Würzburg 1999. - Oesterle, Günter: Unter dem Strich. Skizze einer Kulturpoetik des Feuilletons im neunzehnten Jahrhunderts. In: Barkhoff, Jürgen; Carr, Gilbert und Paulin, Roger (Hg.): Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von Eda Sagarra im August 1998. Tübingen 2000. S. 229-250. - Püschel, Ulrich: Feuilleton2. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1. Berlin / New York 1997. S. 584-587. - Schlüpmann, Heidi: Ein Detektiv des Kinos. Studien zu Siegfried Kracauers Filmtheorie. Basel und Frankfurt/Main 1998. 27 - Schöttker, Detlev: Bild, Kultur und Theorie. Siegfried Kracauer und der Warburg-Kreis. In: Grunert, Frank und Kimmich, Dorothee (Hg.): Denken durch die Dinge. Siegfried Kracauer im Kontext. München 2009. S. 207–224. - Stalder, Helmut: Das anschmiegende Denken. Kracauers Erotik der Wirklichkeit. In: Grunert, Frank und Kimmich, Dorothee (Hg.): Denken durch die Dinge. Siegfried Kracauer im Kontext. München 2009. S. 47–84. - Stalder, Helmut: Siegfried Kracauer. Das journalistische Werk in der ‚Frankfurter Zeitung‘ 1921-1933. Königshausen & Neumann. Würzburg 2003. - Todorow, Almut: Feuilleton. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3. Tübingen 1996. Sp. 259-266. - Thums, Barbara: Kracauer und die Detektive. Denk-Räume eine „Theologie im Profanen“. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 84 (2010), H. 3. S. 390–406.