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Durch das in Klammern hinzugefügte Adverb möchte ich eine dem Titel implizite Bedeutung hervorheben, und zwar die Distanz des Autors zur hier ausdrücklich kritisierten und als «tot» bezeichneten «traditionellen Theorie der Übersetzung».
Benjamin war nicht bloß Theoretiker, und hat dagegen sich selbst mit Baudelaire und Proust als Übersetzer beschäftigt hat.
Es ist tatsächlich schwierig, Benjamin kritisch einzuordnen": Zu den schon angeführten Etiketten" sollte man nämlich auch die von Übersetzer, Publizist, Dramatiker, 'Reiseberichter' und Aphoristiker hinzufügen.
Es ist eben die (schlechthin menschliche) Fähigkeit des Sprechens, die eine Reflexion über das Übersetzen rechtfertigt bzw. verlangt.
Im Übersetzer-Aufsatz ist die von Benjamin verwendete Sprache dicht , rätselhaft, schwierig, dunkel'.
S. Wellbery, David E. u.a., Eine Neue Geschichte der deutschen Literatur, S. 923.
S. Kleine Geschichte der Photographie (1931).
S. z.B. die Texte Gespräch mit Ernst Schoen (1929), Zweierlei Volkstümlichkeit (1931), Theater und Rundfunk (1932).
S. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936).
Benjamins Medientheorie ist von Schöttker als Medienästhetik" charakterisiert worden – und zwar als ein eigener Bereich der Ästhetik und Kunstwissenschaft.
Derrida, Jacques: »Des tours de Babel«. In: Ders.: Psyche. Inventions de l'autre. Paris: Gale 1998 [1987]. 203-236.
Im Einklang mit den Aussagen Benjamins – wie Drumbl hervorhebt -, schreibt Novalis: «Der lächerliche Irrtum ist nur zu bewundern, dass die Leute meinen, sie sprächen um der Dinge willen. Gerade das Eigentümliche der Sprache, dass sie sich bloß um sich selbst bekümmert, weiß keiner.» [Novalis, Schriften, Kohlhammer, Stuttgart 1965, II, 1. 672.]
Meine Hervorhebungen.
Zitiert wird nach: Walter Benjamin, »Die Aufgabe des Übersetzers«. In: Benjamin, Walter: Baudelaire Übertragungen - Kapitel 2. [Gutenberg Projekt-Spiegel Online: http://gutenberg.spiegel.de/buch/6569/2]
Der Leser hat keine Relevanz in der literarischen Übertragung", die sich eben bei Benjamin nicht als solche (= als Übertragung einer Mitteilung) charakterisiert.
Beyme: Auf dem Weg zum Meta-Symbolismus. Symbolistische Tradition bei Arendt und den Dichtern vom Prenzlauer Berg [s.
Literaturliste], S. 89.
Etwa im Sinne der idealistischen Werkauffassung geht Benjamin davon aus, «[d]ass eine Übersetzung niemals, so
gut sie auch sei, etwas für das Original zu bedeuten vermag».
Denn «Eine andere als zeitliche und vorläufige Lösung dieser Fremdheit, eine augenblickliche und endgültige, bleibt den Menschen versagt oder ist jedenfalls unmittelbar nicht anzustreben»: Deshalb ist jede Übersetzung nur ein Provisorium Mittelbar aber ist es das Wachstum der Religionen, welches in den Sprachen den verhüllten Samen einer höheren reift." Obwohl man häufig von dem Messianismus" Benjamins spricht, scheint er uns hier keine Theologie zu treiben: Wichtig ist bei ihm das Verhältnis von Sprache und Erkenntnis.
Vgl. das Konzept von "Sprachbewegung" bei Friedmar Apel [s. Literaturverzeichnis].
Im 2003 erschienenen Buch Mother Tongues stellt die Autorin eine unerwartete (und vielsagende) Relation zwischen Charles Baudelaire, Walter Benjamin und Sylvia Plath fest, und knüpft dabei an ihre frühe Studie über die Defigurationen lyrischer Sprache an. Hier ist auch eine vertiefende Auseinandersetzung mit Benjamins Übersetzer-Aufsatz zu finden.
Dieses Konzept hatte schon ihre Défigurations du language poétique (1979) geleitet, wo sie gezeigt hatte, dass die Prosagedichte Baudelaires als eine wiederholende - und in dieser Wiederholung die Einheit des lyrischen Ichs entstellende - Relektüre der Fleurs du mal angesehen werden sollen.
Mallarmé erkennt, dass Dichtung Entstellung der Sprache" heißt: "de plusieurs vocables refait un mot total, neuf, étranger à la langue".
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Fachbereich: Germanistische Literaturwissenschaft
Übung: Walter Benjamins Medientheorie
Dozentin: Dr. Elke Dubbels
Grundkurs: Mediendifferenz im historischen Prozess" (Mastermodul D9, 15 LP)
Seminararbeit - Sommersemester 2012
Sprachkonzeption und Erkenntnistheorie
im Übersetzungsdenken Walter Benjamins
mit Blick auf den Aufsatz Die Aufgabe des Übersetzers
Verfasserin: Monica Pintucci (Programmstudentin)
Studiengang: M.A. Deutsch-Ital.-Studien
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einleitung: Problemstellung und Zielsetzung S. 3
Schwerpunkte und Gliederung der Arbeit S. 4
Werkbiographischer Zusammenhang S. 4
Vertretene Thesen zum Konzept des Übersetzens: Kritische Erläuterung des Argumentationsgangs S. 9
Sprachverwandtschaft S. 11
Die Metapher des gebrochenen Gefäßes S. 13
4.3 Mauer oder Arkade? Natur und Vermögen der Übersetzung S. 14
4.4 Der Sinn und die Tangente S. 14
Schlussbemerkungen S. 15
Literaturverzeichnis S. 19
Vorwort
Die vorliegende Arbeit ist als schriftliche Ausarbeitung zur Übung Walter Benjamins Medientheorie entstanden, die im Sommersemester 2012 von Dr. Elke Dubbels an der Universität Bonn (Institut für Germanistik) gehalten wurde. Als Studienarbeit konzipiert und geleistet, beinhaltet auch die hier vorgestellte Endfassung des Textes einigen Hintergrund im Hinblick auf die Bandbreite der im Seminar behandelten Themen und versucht dabei, zu den bedeutendsten inhaltlichen Schwer- und Bezugspunkten anzuknüpfen
Ausschlaggebend für die Produktion meines Beitrags war zweifellos das Interesse der Dozentin für Benjamins Übersetzungsdenken als spezifische Seite der medientheoretischen Reflexion des Philosophen, wie es im berühmten Aufsatz «Die Aufgabe des Übersetzers» zum Ausdruck gebracht wird. Für Ihre Bereitschaft, mein Vorwissen und meine Erwartungen als Übersetzerin (beruflich) zu berücksichtigen und für Ihre Angaben zu den Anforderungen der Arbeit, zur Gestaltung der Struktur und der Schilderung einer Verfahrensweise für den wissenschaftlichen Umgang mit Benjamins Überlegungen zur Sprache und zur Übersetzung. Natürlich danke Ich Ihnen ebenso für Ihre wirklich positive Bewertung meiner Arbeit, und hoffe, dass diese leicht revidierte Fassung Sie nicht enttäuschen wird.
Einleitung: Problemstellung und Zielsetzung
Diese kurze einleitende Skizze setzt sich zum Ziel, durch einen allgemeinen Überblick in die sprachphilosophische Reflexion Benjamins über die Natur der Übersetzung bzw. in sein Übersetzungsdenken einzuführen. Ziel ist es dabei herauszuarbeiten, inwiefern Benjamins Überlegungen zur Sprache, zur Übersetzung und zum (menschlichen) Erkenntnisvermögen beim Argumentieren ineinander greifen.
Ausgangspunkt und Fokus der vorgeschlagenen sprach- und literaturwissenschaftlichen Analyse liegen im oben genannten Aufsatz aus den 20er Jahren, der die Kernthesen des Autors in Bezug auf Theorie und Praxis des Übersetzens in einer argumentierenden Konzeption zur Entfaltung kommen lässt und ausführlich darlegt. Diese Arbeit ergibt sich infolgedessen als eine kritisch kommentierte Beobachtung der Argumentation Benjamins und beschäftigt sich dementsprechend tiefgehend mit dem Konzept von Übersetzung und der Rolle, die Benjamin dem Übersetzer zuschreibt, wie die im betreffenden Essay enthaltenen Argumenten hervor heben.
Die vorgeschlagene sprach- und literaturwissenschaftliche Analyse ausführlich darlegt, untersucht und interpretiert Benjamins Kernthesen und Reflexionen zum Konzept >Übersetzung<, wie sie im Essay ausgesprochen werden, dessen wesentliche Bedeutung zum Verständnis von dem, was unter «Aufgabe des Übersetzers» bei Benjamin zu verstehen ist, völlig anerkannt wird.
Auf Basis einer theoretischen Projektanalyse wird folglich eine kohärente begleitende Infrastruktur erstellt, die als unterstützende Basis für die inhaltliche Entwicklung der Arbeit gilt. Mein Hauptanliegen ist dabei, den Text im Zusammenhang mit der Haltung des Autors gegenüber der zentralen, im Titel explizit genannten und auf Thema und Problematik präzis hinführende Fragestellung – Worin besteht eigentlich die «Aufgabe des Übersetzers»? – zu betrachten und deuten. Auf die hypothetischen Ursachen der hohen Auftretenshäufigkeit der theoretischen Reflexion über Übersetzen bei Philosophen und Übersetzern verschiedener Epochen und Kulturen und auf die Relevanz des behandelten Themas wird in den nächsten Abschnitten näher eingegangen.
Im nächsten Abschnitt ist ein Überblick über den Aufbau der Arbeit bzw. die darunter stehende Struktur und die für unsere Ziele eingesetzten Methoden zu finden.
Schwerpunkte und Gliederung der Arbeit
In diesem Abschnitt möchte man die kurze Einführung ins Thema um einige methodischen Hinweise zur Vorgehensweise bzw. zum logischen Aufbau der Analyse erweitern.
Nach Formulierung der These, die als Ausgangspunkt für alle weitere Argumentation dient, und nach einer kurzen ausschnitthaften werk-biographischen Übersicht zur Einordnung des Textes in den Zusammenhang werkbiographischer Gegebenheiten, wird die Argumentationsstruktur des Aufsatzes beschrieben und analysiert.
Im Hauptteil (Kap. 4 und Unterteilungen) wird der Argumentationsgang ausführlich dargestellt: eine kritische Auseinandersetzung mit den Argumenten, die der Autor mit seiner zentralen These in Verbindung bringt, statt findet . Das angesprochene Thema wird in sprachphilosophischer Hinsicht vertieft und perspektiviert. Dies erfolgt durch eine textgebundene Erörterung unter Berücksichtigung der angeführten Primär- und Sekundärquellen, bietet aber darüber hinaus eine aus kreativer Eigenleistung und begründeten, sinnvollen Verknüpfungen entstehende Sicht, die die mehr oder weniger schwache bzw. starke Korrelationen zwischen nebenstehenden Bestandteilen des Textes aufzeigt. Zentral ist dabei der Versuch, den Übergang von einem Argumentationsschritt zu seiner Erläuterung und zum folgenden Schritt hervorzuheben.
Im Anschluss daran werden im abschließenden Kapitel meine Schlussbemerkungen zur angesprochenen Argumentation vorgeführt, wobei Benjamins Kernthesen kritisch zusammengefasst werden. Dabei erfolgt der Übergang von den philosophischen Prämissen zur konsistenten Konklusion, die mit Notwendigkeit aus den durch die Erörterung des Textes gewonnenen Erkenntnissen über Benjamins Denkart und den gegebenen Bedingungen abzuleiten ist. Im Fazit wird somit auf die Fragestellung aus der Einleitung zurückgegangen, um damit auf das vorher Erklärte und Erwägte Rückschlüsse zu zu ziehen, und zwar durch die Ableitung einer allgemeinen Bedeutung und die Formulierung einer kohärenten Aussage, die als zusammenfassende (und zusammenhängende) Charakterisierung der wichtigsten und interessantesten Aspekte des Übersetzungsdenkens Benjamins gilt.
Werkbiographischer Zusammenhang
In diesem Abschnitt werden Benjamins Aussagen über Übersetzung in ihrem werkhistorisch-biographischen Kontext betrachtet. Der betreffende Aufsatz wurde 1921 verfasst und erschien erstmalig 1923 als Vorwort zu Benjamins Übersetzungen von Baudelaires Tableaux parisiens. Der ausgesprochen ästhetisch orientierte Essay ist allgemein als zentrales Werk und entscheidender Höhepunkt in der Entwicklung Benjamins Sprachdenkens anerkannt. Der Text ist in einer Zeit – Anfang der 20er Jahre – entstanden, die für Benjamin durch großen Druck (auch aufgrund finanzieller Schwierigkeiten) gekennzeichnet war. Die namhafte' Baudelaire- Werkausgabe stellte für Benjamin ein wirksames Instrument zur Verbreitung des eigenen Denkens und zur Erreichung des großen Publikums dar. Darüber hinaus verweisen Benjamins übersetzerische Bemühungen um Baudelaire auf die Arbeit eines anderen wichtigen deutschen Baudelaire-Übersetzers, Havemann, der nach Ansicht vieler Kritiker Benjamins Sprachdenken maßgebend beeinflusst hat.
Der deutsche Philosoph, Sprach-, Kultur- und Literaturkritiker Walter Benjamin wurde am 15. Juli 1892 in Berlin-Charlottenburg geboren. Er wuchs in einem großbürgerlichen jüdisch-assimilierten Elternhaus auf. Seine Kindheit, deren Erinnerungen im Buch Berliner Kindheit um Neunzehnhundert festgehalten sind, verbrachte Benjamin überwiegend in Berlin. Nach dem Abitur begann Benjamin 1912 sein Studium der Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte in Freiburg; im folgenden Jahr wechselte er nach Berlin, wo er sich in der »Freien Studentenschaft« engagierte. 1914, zu Beginn des Ersten Weltkriegs, setzte er sein Studium in München, dann in Bern fort, wo er Ernst Bloch und Hugo Ball kennenlernte. 1915 befreundete sich Benjamin mit dem fünf Jahre jüngeren Mathematikstudenten (und späteren Religionsphilosophen) Gershom Scholem. Aus dem Briefwechsel zwischen den zwei Freunden ist eine Sammlung entstanden, Théologie et utopie, Correspondance 1932-1940, die Scholem selbst 1980 bei Suhrkamp veröffentlichen ließ.
verfasste Benjamin den zu seiner Zeit nicht veröffentlichten Aufsatz Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen: Es geht dabei um einen (trotz des Autorwillens) fragmentarischen Sprachentwurf , dessen erste Begründung um eine Erkenntnistheorie, eine Epistemologie (aus dem Griechischen epistḗmē) kreist, und zwar um die grundlegende Bedeutung der Sprache für die Erkenntnis. Benjamin unterscheidet zwischen einem geistigen Wesen und einem sprachlichen Wesen: In der Sprache vermittelt sich das – nicht nur dem Menschen vorbehaltene – geistige Wesen. Es existieren zwar verschiedene »Grade der Mitteilung«: Die Sprache der Menschen – anders ausgedrückt, die von den Menschen besessenen »Gabe der Sprache« - ist in dieser Pyramide drüben, und ist nicht aus dem schöpferischen Wort Gottes entstanden. Gott ist trotzdem implizit/explizit als »Sprachschöpfer« angesehen, als der einzelne, die Dingen schafft und nennt bzw. in ihren Namen erkennbar macht. 1917 heiratete Benjamin Dora Kellner. Die Ehe wurde 1930 geschieden.
1919 promovierte Benjamin in Bern mit einer Dissertation über den «Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik«. Zurück in Berlin, machte sich Benjamin als freier Schriftsteller und Publizist selbstständig.
1921 erwarb er ein Bild von Paul Klee mit dem Titel Angelus Novus; in einer Zeitschrift gleichen Namens wollte er sein erstes, im November desselben Jahres zusammengestelltes Heft veröffentlichen, in dem sich u. a. der Übersetzer-Aufsatz befand. Nachdem sein Vorhaben gescheitert war, ging Benjamin 1923 nach Frankfurt a/M, um sich dort zu habilitieren. Hier lernte er Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer kennen und kam mit dem Frankfurter Institut für Sozialforschung in Kontakt. In seiner Habilitationsschrift über das deutsche Barock-Trauerspiel brachte Benjamin die Bedeutung der Allegorie mit der Kritik am neuzeitlichen Subjektbegriff in Verbindung; akademisch angesehen erwies sich aber die Schrift als unorthodox.
Benjamins Projekt der Übersetzung der Recherche von Proust – nach dem Scheitern seiner Habilitation gleich in Angriff genommen – markiert nach Ansicht vieler Erklärer einen Wendepunkt in seiner intellektuellen Laufbahn. Die geistige Neuorientierung, die zu dieser Zeit (der der verheerenden sozialen, wirtschaftlichen und moralischen Zustände der Weimarer Republik) in Benjamin erfolgte, brachte ein neues, nachdrückliches Bekenntnis zum Marxismus mit sich. Ohne die althergebrachte Entgegensetzung von Marxismus und Theologie fortschreiben zu wollen, darf man einigermaßen auf dieses Bekenntnis den Entschluss zurückführen, von einer bis dahin hermetischen Schreibweise abzurücken zugunsten eines mit den aktuellen politischen Inhalten seines Denkens kohärenten offenen, erläuternden Stils. Er verzichtete auf literarische Esoterik, theoretische Erwägungen und Abstraktionen traten in den Hintergrund. Seine vorangegangene Reflexion darüber, dass in der Sprache vieles unaussprechlich bleibe, ließ ihn jetzt zur Einsicht gelangen, dass alles kommunizierbar sei.
In den am Beginn der 20er Jahre entstandenen Reflexionen und Texten zur Kunst und zum Zusammenhang von moderner Medienentwicklung, Kunstproduktion und Wahrnehmungswandel, findet Benjamins von der Sprachphilosophie bis zur Foto-, Radio- und Filmtheorie reichende Medientheorie Ausdruck. Diese Schriften, die erstmals in den von Schöttker herausgegebenen Medienästhetischen Schriften gesammelt vorgelegt werden, sind zu einem festen Bezugspunkt im Kontext der medientheoretischen Debatten der letzten Jahrzehnte geworden.
1920 verfasste Benjamin den Aufsatz Das Reflexionsmedium und die Kunst – die Kunst als Reflexionsmedium. Die sogenannte kurze Prosa spiegelt auch Benjamins Auseinandersetzung mit den Medien der Moderne und mit der Frage nach der Antwort der Kunst auf die Medienentwicklung wider: Beweis und Beispiel dafür ist die 1928 veröffentlichte Fragmentensammlung Einbahnstraße. Im gleichen Jahr wurde auch Benjamins (abgelehnte) Habilitationsschrift veröffentlicht, unter dem Titel Ursprung des deutschen Trauerspiels.
1925 erschien Benjamins berühmter kunstkritischer Essay über Goethes Wahlverwandtschaften.
1933 emigrierte er nach Paris. Seinen Wohnsitz hier verließ er nur für drei Besuche bei dem Freunden Bertolt Brecht. In diesem Jahr verfasste Benjamin die Lehre vom Ähnlichen und Über das ästhetische Vermögen: In beiden Essays geht es grundsätzlich um den (auch im Übersetzer-Aufsatz entscheidenden) Begriff von Ähnlichkeit im Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Sprachkritik. Im ersten Essay wird Ähnlichkeit als das definiert, von dem keine dauerhafte Erscheinung, sondern nur ein »Aufblitzen« zu erwarten ist: Die Ähnlichkeit ist zwar »was Flüchtiges«, genauso wie die Sternkonstellation im Moment unserer Geburt, aber trotzdem an Rationalität gebunden. Bei der Sprachgestaltung ist jedoch nach Ansicht vieler Erklärer nicht zu bezweifeln, dass die Kabbala eine große Rolle spielt. Ein wichtiger Trieb bei Benjamin besteht vielleicht eben darin, dass er was Magisches in konventionellen, arbiträren Zeichen sieht: Die Schrift bewegt sich zwischen dem Semiotischen und dem Magischen, daher spricht man diesbezüglich von Sprachmagie. Ähnlichkeit muss nach Benjamin nicht weggestrichen, sondern anders erfahren, erlebt werden. Die zwei 1933 entstandenen Schriften stehen im engen Verhältnis zu Adornos Denken. Wenn Benjamin die Mimesis als die «Fähigkeit, Ähnlichkeiten zu produzieren» bezeichnet, so muss man dabei die Unterscheidung von sinnlichen und unsinnlichen Ähnlichkeiten beachten: Nur durch die Letzteren kann der scheinbare Verfall des mimetischen Vermögens in eine Transformierung umgedeutet werden. Sinnliche Ähnlichkeiten, wie jene von Mikro- und Makrokosmos in der Astrologie, sind hinfällig geworden, doch zeigt sich auch in diesem Zeichensystem eine Fortdauer des «mimetischen Vermögens als Fähigkeit [des Produzierenden] unsinnlicher Ähnlichkeiten».
1934 entstand der Text Der Autor als Produzent: Es geht dabei um eine materialistische Literaturanalyse, die eine Reflexion über mediale Techniken einschließt.
Benjamins grundlegender Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit erschien erstmals 1936 in der Zeitschrift für Sozialforschung in einer redaktionell überarbeiteten und gekürzten französischen Übersetzung mit dem Titel L'œuvre d'art à l'époque de sa reproduction mécanisée. Im gleichen Jahr verfasste Benjamin die autobiographischen Texte Berliner Kindheit um 1900 und Berliner Chronik, die erst postum veröffentlicht wurden. Auch das geplante Hauptwerk Paris, Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts erschien postum unter dem Titel Passagen-Werk. In der medientheoretisch-kulturpolitischen Analyse des Kunstwerk-Aufsatzes befasst sich Benjamin, der ein aufmerksamer und scharfsinniger Beobachter seiner Zeit war, mit der Thematik der Veränderung des Kunstwerks durch technische Reproduzierbarkeit und äußert dabei seine grundsätzliche Einstellung zur Auswirkung der Entwicklung technischer Reproduktionsmöglichkeiten auf Erfahrungsformen und insbesondere auf die künstlerischen Darstellungsweisen des reproduzierten Kunstwerks zur Zeit der Einführung reproduktiver Verfahren. Im betreffenden Aufsatz analysiert Benjamin die aus der Möglichkeit der Reproduktion entstandenen Umwälzungen für den Begriff der Kunst sowie für den Umgang mit der Kunst selbst. Dabei wird ein Zusammenhang zwischen dem Verlust der Einmaligkeit eines Kunstwerks durch moderne Vervielfältigungstechniken und der Chance einer dadurch ausgelösten emanzipatorischen Politisierung der Massen hergestellt. Benjamin leitet seinen Aufsatz mit dem ins Deutsche übersetzten Standpunkt von Paul Valery über den Wandel des Begriffs von Kunst ein. Valery stellt zunächst eine Veränderung dieses Begriffs fest, die er durch seine Kontextualisierung begründet: die Gesamtheit der Welt befinde sich in einem Fluss, und einzelne Begriffe, wie der der Kunst, können sich dieser Bewegung nicht entziehen. In diesem Zusammenhang führt Benjamin eine zentrale Kategorie für seine Medienästhetik ein, und zwar die der Aura, die zum vielgenannten Stichwort der Kunst- und Kulturkritik geworden ist: die Aura ist die Idee von etwas, was dem Original innewohnt und somit auch die Reproduktion bzw. die Übersetzung beeinflusst/beeinflussen sollte. Benjamins These des Auraverlustes aufgrund der Reproduzierbarkeit des Kunstwerks hat besondere Beachtung gefunden. Im Kunstwerkaufsatz beschäftigt sich der deutsche Philosoph auch mit dem Film als Apparat" im Hinblick auf die (erforderliche) Neuorganisation der Darstellung, der Wahrnehmung und des Publikums.1972 hat Jacques Derrida in Dissémination die Einsicht Benjamins bestätigt: erst die Übersetzung bringt »entscheidende Unterschiede« hervor, indem sie eine Differenz in dem erzeugt, was zuvor - trügerisch - als Einheit wahrgenommen werden konnte.
Als Antwort auf (oder besser: im Zusammenhang mit) Benjamins Aufsatz über Übersetzung schrieb Derrida 1985 Des Tours de Babel: Sowohl der Text von Benjamin als auch der Aufsatz Derridas nehmen uralte Figuren auf. Schlagworte/Kernbegriffe sind dabei: Einsprachigkeit vs. Mehrsprachigkeit, einzelne Sprache, Logozentrismus, Ausblendung, Differenz, Verschiebung des Zentrums. Der Turm zu Babel dient Derrida bei seiner Demaskierung des europäischen Logozentrismus als Paradigma des Nicht-Ursprungs und des Nicht-Zentrums: Er steht nicht lediglich für die nicht reduzierbare Vielzahl der (begrenzten) Sprachen/Idiomen, sondern zeigt auch eine Unvollständigkeit, die Unmöglichkeit der Vollendung" von irgend etwas auf der Grundlage einer architektonischen, systematisierenden Konstruktion.
Vertretene Thesen zum Konzept des Übersetzens: Kritische Erläuterung des Argumentationsgangs
Um den wissenschaftlichen Diskurs als eine umfassende, strukturierte und möglichst genaue analytische Erläuterung der Aussagen Benjamins zum Thema Übersetzung gestalten zu können und dabei einen reflektierenden Kommentar zu verarbeiten, werden im Folgenden die einzelnen deduktiven Argumentationsschritte in ihrer Abfolge dargelegt und im Zusammenhang der im Text vorgeschlagenen Reflexion betrachtet.
Im Hinblick auf das Verständnis von Übersetzung scheint der Eingang des Textes einer idealistischen Ästhetik des »geschlossenen Kunstwerks« zuzustimmen:
«Nirgends erweist sich einem Kunstwerk oder einer Kunstform gegenüber die Rücksicht auf den Aufnehmenden für deren Erkenntnis fruchtbar", [---] ist sogar der Begriff eines idealen Aufnehmenden in allen kunsttheoretischen Erörterungen vom Übel».
In seinem Eingangsstatement weist Benjamin unmissverständlich die Rezeptionsästhetik als Mittel zur Erkenntnis der Kunst zurück. So wie «kein Gedicht dem Leser gilt», gilt keine Übersetzung «den Lesern, die das Original nicht verstehen». Die Aufgabe des Übersetzers lässt sich daher nicht durch einen rezeptionsästhetischen Ansatz bestimmen.
Ein (literarisches) Werk ist für Benjamin dadurch gekennzeichnet, dass es nichts mitteilt: Das Wesentliche an einer Dichtung «ist nicht Mitteilung, nicht Aussage». «Diejenige Übersetzung [= eine schlechte Übersetzung], welche vermitteln will, könnte nichts vermitteln als die Mitteilung – also Unwesentliches.» Daraus folgt, dass Ziel (und zwar Aufgabe) der Übersetzung nicht die Kommunikation ist.
Was außer der Mitteilung in einer Dichtung steht, ihr Wesentliches, ist «das Unfassbare, Geheimnisvolle, >Dichterische<, [d]as der Übersetzer nur wiedergeben kann, indem er auch dichtet». In ihrer Dissertation über Meta-Symbolismus und die symbolistische Tradition (s. Literaturverzeichnis) hebt Evelyne v. Beyme die Ähnlichkeit der hier festgelegten Richtung Benjamins zur Herausforderung der (post-)symbolistischen Texte hervor – aufgrund ihrer semiotischen Beschaffenheit – für ihre Übersetzer, von denen eine «produktive poetische Eigenleistung gesonderter Art» verlangt wird:
«Der Übersetzer steht vor der Aufgabe, eine geeignete Entsprechung für die Klangassoziationen
des Prä-Textes in seiner eigenen Sprache zu finden."»
Die schlechte Übersetzung kann demnach als «ungenaue Übermittlung eines unwesentlichen Inhalts» bezeichnet werden: «Dabei bleibt es, solange die Übersetzung sich anheischig macht, dem Leser zu dienen.»
Die Übersetzung ist bei Benjamin als eine »ganz eigene Form« aufgefasst - es besteht kein mimetisches Verhältnis zwischen Original und Übersetzung -, die nur durch das Zurückgehen auf das Original erfasst werden kann, indem «das Gesetz der Übersetzung» in der Übersetzbarkeit des Originals beschlossen liegt. Wenn die Übersetzung eine eigene Form ist, so läßt sich auch die Aufgabe des Übersetzers als eine eigene fassen und genau von der des Dichters unterscheiden: Auf dieser grundlegenden Einsicht beruht der ganze Argumentationsgang Benjamins.
Der Philosoph stellt sich zufolge die Frage nach der Übersetzbarkeit eines Werkes doppelt, und zwar sowohl als Frage an die Zulänglichkeit des Übersetzers als auch als Frage an das Werk. Die zwei Fragen lauten:
Wird das Werk unter der Gesamtheit seiner Leser seinen zulänglichen Übersetzer finden? [Diese Frage ist nach Benjamin nur problematisch zu entgegnen.]
Zulässt und (demnach auch) verlangt das Werk eine Übersetzung? [Diese Frage ist dagegen apodiktisch zu beantworten.]
Dabei kommt die Funktion des Lesers ins Spiel, wie vom Umstand gezeigt, dass Benjamin die Frage aufwirft, ob es «unter der Gesamtheit der Leser» einen zulänglichen Übersetzer gibt. Der Übersetzer ist ja doch zunächst ein »Aufnehmender« – wie eben die von Benjamin abgelehnte Rezeptionsästhetik zeigt –, und schon als Rezipient des Werks befindet er sich in einer prinzipiell anderen Position als der Autor. Der »zulängliche Übersetzer« wäre dementsprechend eine Art Grenzgänger, der ständig nach einer erwünschten aber unmöglichen Grenzüberschreitung strebt.
Nach Benjamin «[behalten] gewisse Relationsbegriffe ihren besten Sinn, wenn sie nicht von vorne herein ausschließlich auf den Menschen bezogen werden». Die Übersetzbarkeit sprachlicher Gebilde darf man nicht ausschließen, (auch) wenn diese für die Menschen unübersetzbar wären. Wenn Übersetzung eine Form ist, so sollte «Übersetzbarkeit gewissen Werken wesentlich sein.» Aber diese Behauptung heißt bei Benjamin nicht, dass Übersetzung wesentlich für die Werke selbst ist, sondern, dass sich «eine bestimmte Bedeutung, die den Originalen innewohnt», in der Übersetzbarkeit gewisser Werke äußert. Erst in der Übersetzung kommt eine bestimmte Bedeutung des Werks im Nachhinein zum Vorschein, die zuvor im Verborgenen geblieben war.
Benjamins Argumentieren wirft die dringende Frage des Verhältnisses von Original und Übersetzung/Reproduktion unmittelbar auf: Es besteht ein enger (trotzdem für das Original unbedeutender) Zusammenhang zwischen Original und Übersetzung, der als ein natürlicher Zusammenhang des Lebens anzusehen ist. Das Original-Übersetzung-Verhältnis kann nach Benjamin mit dem Verhältnis zwischen den Äußerungen des Lebens und dem Lebendigen verglichen werden: Die Übersetzung hängt «innigst» mit dem Original zusammen, «ohne ihm etwas zu bedeuten».
Übersetzungen, «die mehr als Vermittlungen sind», entstehen im Fortleben eines Kunstwerks und zwar im «Zeitalter seines Ruhmes». Den Ruhm eines Kunstwerks bezeichnet Benjamin als sein «ewige[s] Fortleben bei den nachfolgenden Generationen», während das Fortleben als ständige «Wandlung und Erneuerung» des Kunstwerks aufgefasst wird: «Es gibt eine Nachreife auch der festgelegten Worte». Die ästhetische Erfahrung kann nicht auf das Motiv der Widerspiegelung zurückgeführt werden, da «das sprachliche Ding» keine feste, statische Begebenheit ist: Sprache ist dagegen ein dynamischer Prozess, der auch literarische Werke bzw. schriftliche Dokumente miteinbezieht, die durch eine nur scheinbare »Unbeweglichkeit« gekennzeichnet sind. Die Übersetzung, so könnte man auch sagen, ist Produkt und Produzent des von Benjamin konstatierten Sprach- und Bedeutungswandel: «[W]ie Ton und Bedeutung der großen Dichtungen mit den Jahrhunderten sich völlig wandeln, so wandelt sich auch die Muttersprache des Übersetzers.» Aufgabe der Übersetzung ist daher, sowohl auf die «Nachreife des fremden Wortes [als auch] auf die Wehen des eigenen zu merken.» Übersetzungen dienen nicht dem Ruhm des Kunstwerks, sondern «verdanken ihm Ihr Dasein». Die Übersetzung ist ein Akt des Lesers, der selbst zum Autor eines sekundären Textes wird, und stiftet eine Nachzeitigkeit des Kunstwerks, eben jene «Nachreife», worin das Fortleben des Originals erfolgt. Wenn der Begriff von Nachreife nicht als Qualität der Sprache, sondern als Bedeutung des literarischen Werks erfasst wird, dann wird es schwierig, die Metapher der Wehen zu begreifen. Benjamins Konzept vom Nachreifen eines Werkes, das eine Veränderung seiner Bedeutung und seines dichterischen Gestus impliziert, muss auf die Sprache bezogen werden: Sowohl die Sprache des Dichters als auch die des Übersetzers sind «in ständiger Bewegung» und verändern sich dadurch, reifen. Durch den Akt der Übersetzung wird eine Erneuerung der Ausgangssprache bewirkt: Daraus entstehen die Wehen, die eine Geburt begleiten, indem sie in die Welt etwas Neues bringen. Ziel des Prozesses der Nachreife und Interaktion der Sprachen (durch unzahlreiche Übersetzungsprozesse) ist es, die einzelne, ursprüngliche, adamitische Sprache (= die reine Sprache) zu erreichen.
Sprachverwandtschaft
Wenn Übersetzung das Fortleben des Originals gewährleistet – was etwa wie eine rezeptionsästhetische Hypothese klingt, dann kehrt sich das Verhältnis zwischen Original und Werk einigermaßen um und lässt sich – etwa im Sinne einer dekonstruktivistischen Lektüre – sogar behaupten, dass die Übersetzung dem Original in gewisser Weise vorangehe, so nämlich, dass es erst die Übersetzung ist, die das Original zum Original bzw. zum Werk macht. Wie in ihrem sprachlichen Gestus manifest wird, stehen Original und Übersetzung in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis zueinander. Benjamin führt hier seine Thesen über Leben und Zweckmäßigkeit und Übersetzbarkeit als Hinweis auf Sprachverwandtschaft vor: So wie «alle zweckmäßigen Lebenserscheinungen [---] nicht für das Leben, sondern für den Ausdruck seines Wesens, für die Darstellung seiner Bedeutung» zweckmäßig sind, ist die Übersetzung dementsprechend «für den Ausdruck des innersten Verhältnisses der Sprachen [zweckmäßig]»: Dieses Verhältnis besteht darin, dass «die Sprachen einander nicht fremd, sondern a priori und von allen historischen Beziehungen abgesehen einander in dem verwandt sind, was sie sagen wollen». So wie Übersetzung auf Sprachverwandtschaft (und nicht auf Ähnlichkeit) hinweist, gilt hingegen Sprachverwandtschaft als Voraussetzung der Übersetzbarkeit: Der Übersetzer erfüllt seine Aufgabe, indem er in der Übersetzung die Übersetzbarkeit des Werks auftauchen lässt.
Benjamin fragt sich, welcher Art das Verhältnis zwischen den zwei ungleichen Dichtungen, zwischen Original und Übersetzung, denn sei. Wie bereits vermerkt, streitet er entschieden ab, dass es sich um ein mimetisches Verhältnis handle, um eine oberflächliche und undefinierbare Relation der Ähnlichkeit. Die ästhetische Erfahrung ist also nicht im Rahmen der (marxistischen) Theorie der Widerspiegelung zu erfassen: Original und Übersetzung sind zwar verwandt, jedoch in dieser Verwandtschaft radikal unähnlich. Die Sprachverwandtschaft, worin das echte Verhältnis zwischen Original und Übersetzung besteht, «bezeugt sich weit tiefer und bestimmter als in der oberflächlichen und undefinierbaren Ähnlichkeit zweier Dichtungen»: Auf diese tiefere Verwandtschaft bezieht sich die Übersetzung, die sich dadurch der reinen Sprache nähert.
Die Beziehung zwischen Original und Übersetzung kann durch die herkömmliche [tote] Theorie der Übersetzung, die sich rund um die Debatte über die Genauigkeit der Übermittlung von Form und Sinn des Originals dreht, nicht erfasst werden. Dagegen ist zu diesem Zweck «eine Erwägung anzustellen, deren Absicht durchaus den Gedankengängen analog ist, in denen die Erkenntniskritik die Unmöglichkeit einer Abbildtheorie zu erweisen hat.» Explizit nimmt Benjamin Bezug auf die Kritik der Abbildtheorie im Bereich der kantischen und nach-kantischen Erkenntniskritik: So wie «in der Erkenntnis keine Objektivität [---] geben könnte, wenn sie in Abbildern des Wirklichen bestände, so [wäre] keine Übersetzung möglich, wenn sie [---] Ähnlichkeit mit dem Original anstreben würde», denn «in seinem Fortleben [---] ändert sich das Original.» Alle Elemente der Sprache entwickeln sich in der Zeit, so dass Leser aus verschiedenen Epochen nicht mit dem gleichen Text' zu tun haben. Es sind zwar nicht die Leser, die sich verändern, wie von der philosophischen Hermeneutik und der Rezeptionsästhetik vermutet, es ist dagegen die Sprache literarischer Werke, die sich verändert. Die Übersetzung ist der Raum, wo sich eine solche Veränderung manifestiert: Während der Leser bloß ein Verhältnis zwischen Sprache und Subjekt herstellt, stellt sich der Übersetzer in den Dienst der Sprache und respektiert dabei ihre Rolle und das Ziel ihres Strebens, nämlich die reine und einzelne Sprache, die dann entsteht, wenn alle Sprachen die Grenzen der eigenen Begrenztheit', und Einzelheit' überschreiben.
Die in der Übersetzung bekundete (überhistorische) Sprachverwandtschaft ist dann nicht auf die Ähnlichkeit von Nachbildung und Original zurückzuführen: «Vielmehr beruht [sie] darin, daß in ihrer jeder als ganzer jeweils eines und zwar dasselbe gemeint ist, das dennoch keiner einzelnen von ihnen, sondern nur der Allheit ihrer einander ergänzenden Intentionen erreichbar ist». Dieser Beschreibung entspricht das schon früher erwähnte Konzept von reiner Sprache, die jenseits der Grenzen der einzelnen Sprachen zu suchen ist. Die Übersetzung macht jene Dimension des Originals sichtbar, in der sich dieses auf die ergänzte Intention bezieht, und zwar auf die Idee der reinen Sprache. Aufgabe des Übersetzers sollte es daher sein, in seiner Übersetzung das Auftauchen der reinen Sprache als Ausdruck der Universalität der Sprache zu ermöglichen. Zur Erfassung des (grundlegenden) sprachphilosophischen Gesetzes der Ergänzung der Sprachen in ihren Intentionen ist nach Benjamin eine Unterscheidung und Trennung zwischen Gemeinten und Art des Meinens erforderlich. Als Beispiel dafür nennt Benjamin das deutsche Wort Brot und das französische Wort pain. Die zwei Worte haben das gleiche Gemeinte (und zwar bedeuten – absolut genommen – das Selbe und Identische), während sie in der (sich in ihnen «einander widerstrebenden, in den beiden Sprachen, denen sie entstammen» ergänzenden) Art des Meinens «dem Deutschen und Franzosen je etwas Verschiedenes bedeuten», und sind demnach «nicht vertauschbar», sondern «streben, sich [---] auszuschließen». In den beiden Sprachen «ergänzt sich [---] die Art des Meinens zum Gemeinten». ist «Bei den einzelnen [unergänzten] Sprachen» ist aber das Gemeinte «niemals in relativer Selbständigkeit anzutreffen»: Es ist «vielmehr in stetem Wandel», und [vermag] aus der Harmonie all jener Arten des Meines als die reine Sprache herauszutreten.«
Sprachen wachsen «bis ans messianische Ende ihrer Geschichte, und auf ihr heiliges Wachstum muss Übersetzung immer von neuem die Probe machen», indem sie sich «am ewigen Fortleben der Werke und am unendlichen Aufleben der Sprachen entzündet». Alle Übersetzung ist nur eine irgendwie vorläufige, und zwar der Kunst unähnliche Art, sich mit der Fremdheit der Sprachen auseinanderzusetzen. Der Übersetzung wohnt die Fähigkeit inne, auf einen «höheren und reineren Luftkreis der Sprache hinzudeuten», «als auf den vorbestimmten, versagten Versöhnungs- und Erfüllungsbereich der Sprachen»: Hierin liegt dasjenige, was an einer Übersetzung mehr ist als Mitteilung. Dieser »wesenhafte Kern« lässt sich «als [das] bestimmen, was an [der Übersetzung] selbst nicht wiederum übersetzbar ist»: Eben auf diesen unübersetzbaren Rest – der paradox Garantie der Übersetzbarkeit ist – «[richtet sich] die Arbeit des wahren Übersetzers. Übersetzung (bzw. Kunst) teilt nichts mit, sondern verweist auf eine prinzipielle Grenze, die zunächst mit medialen und existentiellen Befindlichkeiten als solchen zu tun hat, die durch die »herkömmliche« Übersetzungstheorie nicht zu fassen sind. Diese »Rätselhaftigkeit« der Sprachen setzt dem Verstehen eine prinzipielle Grenze, so dass es paradox vor dem Hintergrund einer prinzipiellen »Fremdheit« basiert bzw. einem Akt des Nicht-Verstehens.
Mit der schwerwiegenden Bestimmung, dass der »Kern« einer Übersetzung «nicht übertragbar wie das Dichterwort des Originals» ist – da das Verhältnis des Gehalts zur Sprache völlig verschieden in Original und Übersetzung ist – wird eine weitere grundsätzliche Differenz zwischen Original und Übersetzung offenkundig, die Benjamin durch die Metapher der Fruchtschale und des Königsmantels erklärt: Während Sprache und Gehalt im Original «eine gewisse Einheit wie Frucht und Schale» bilden, «so umgibt die Sprache der Übersetzung ihren Gehalt wie ein Königsmantel in weiten Falten». Die Sprache der Übersetzung bleibt zwar gegenüber dem »sich ausfaltenden Gehalt« stets »unangemessen, gewaltig und fremd«, und «bedeutet eine höhere Sprache als sie ist». Die andere Seite dieser doppelten Differenz besteht darin, dass die Sprache des Dichters – «beinahe im Sinn der Schillerschen Unterscheidung», wie Müller-Funk betont – «naiv, >erstlich<, anschaulich» ist, die des Übersetzers hingehen »sentimentalisch« im Sinne von «abgeleitet, >letztlich<, 'ideenhaft'».
Benjamins (etwa an Husserl erinnernde) Antwort auf die Frage, worin denn die Aufgabe des Übersetzers liege, lautet: Sie besteht darin, «diejenige Intention auf die Sprache, in die übersetzt wird, zu finden, von der aus in ihr das Echo des Originals erweckt wird». Die Übersetzung «sieht sich nicht wie die Dichtung gleichsam im inneren Bergwald der Sprache selbst, sondern außerhalb desselben, ihm gegenüber, und ohne ihn zu betreten ruft sie das Original hinein, an demjenigen einzigen Orte hinein, wo jeweils das Echo in der eigenen den Widerhall eines Werkes der fremden Sprache zu geben vermag.»
Die Verwandtschaft der Sprachen realisiert sich also nicht durch vage Ähnlichkeit: In der Übersetzung manifestiert sich dagegen Sehnsucht nach einer verlorenen Sprache im Sinne der absoluten Dichtung Mallarmés. Der »endgültigere Sprachbereich« ist die reine Sprache, die »Sprache der Wahrheit«. Wie Drumbl behauptet, hat Benjamin der Begriff von »wahrer/reiner Sprache« dem Buch Genesis und der reichen Tradition der jüdischen Reflexion über die Sprache suggeriert worden. Eine solche Sprache – mit der starken messianischen Konnotation der hebräischen Quellen versehen – findet ihren weltlichen Ausdruck in Mallarmés Reflexionen über Dichtung. Aus seinen Darlegungen folgt, dass die Aufgabe des Übersetzers darin besteht, «in der Übersetzung den Samen reiner Sprache zur Reife zu bringen». Diese Aufgabe scheint «in keiner Lösung bestimmbar» zu sein, solange die Wiedergabe des Sinnes dabei maßgebend ist.
Eine Übersetzungstheorie, «die anderes in der Übersetzung sucht als Sinnwiedergabe», braucht die althergebrachten Begriffe von Treue und Freiheit (»Treue gegen das Wort« und »Freiheit der sinngemäßen Wiedergabe«) nicht mehr. Nach Benjamin «versteht [es] sich von selbst», «wie sehr endlich die Treue in der Wiedergabe der Form [(im Sinne von Wörtlichkeit hinsichtlich des einzelnen Wortes und der Syntax)] die des Sinnes erschwert.» «[D]ie Forderung der Wörtlichkeit [ist] unableitbar aus dem Interesse der Erhaltung des Sinnes.»
4.2 Die Metapher des gebrochenen Gefäßes
Notwendigerweise muss also Forderung der Wörtlichkeit «aus triftigeren Zusammenhängen verstanden werden». Zu diesem Zweck führt Benjamin die Metapher des gebrochenen Gefäßes auf: «Wie die Scherben eines Gefäßes, um sich zusammenfügen zu lassen, in den kleinsten Einzelheiten einander zu folgen, doch nicht so zu gleichen haben, so muss [die Übersetzung], anstatt dem Sinn des Originals sich ähnlich zu machen, [---] vielmehr [---] dessen Art des Meinens in der eigenen Sprache sich anbilden, um so beide wie Scherben als Bruchstück eines Gefäßes, als Bruchstück einer größeren Sprache erkennbar zu machen. «[D]as Original ist [der Übersetzung] nur insofern wesentlich, dass es «den Übersetzer und sein Werk [von] der Mühe und Ordnung des Mitzuteilenden» befreit.
«Dem Sinn gegenüber» muß die Sprache der Übersetzung sich gehen lassen , «um nicht deren intentio» wiederzugeben, sondern um «ihre eigene Art der intentio als Harmonie, als Ergänzung zur Sprache, in der diese intentio sich mitteilt, ertönen zu lassen.»
Daraus folgt, dass die eigentliche Bedeutung des Begriffs von Treue' für Übersetzung darin zu finden ist, dass die große Sehnsucht nach Sprachergänzung aus dem Werke spreche".
4.3 Mauer oder Arkade? Natur und Vermögen der Übersetzung
Benjamin beschreibt die Natur der Übersetzung durch die berühmte Metapher der Mauer und der Arkade, die wieder auf die Differenz von Original und Übersetzung hinweist: «Die wahre Übersetzung ist durchscheinend, sie verdeckt nicht das Original, [---] sondern lässt die reine Sprache [---] durch ihr eigenes Medium [d.h., durch die Arkade des einzelnen Worts, des Urelements des Übersetzers , und nicht gegen die Mauer des Satzes] in transparenter Weise ans Licht kommen und um so voller aufs Original fallen».
Wie bereits festgelegt, bleibt »außer dem Mitteilbaren« in aller Sprache ein «Nicht-Mitteilbares, ein [---] Symbolisierendes oder Symbolisiertes: Symbolisierendes nur, in den endlichen Gebilden der Sprachen; Symbolisiertes aber im Werden der Sprachen selbst», wobei «der Kern der reinen Sprache versucht, sich darzustellen, ja herzustellen». «Das gewaltige und einzige Vermögen der Übersetzung» bzw. das Ziel des Strebens des Übersetzers] besteht darin, die reine Sprache vom »schweren und fremden Sinn« der Gebilde zu entbinden, das Symbolisierende zum Symbolisierten zu machen, [und] die reine Sprache der Sprachbewegung zurückzugewinnen".
Durch die Übersetzung wird eine Erlösung bewirkt, und Aufgabe des Übersetzers ist es genau, die «in fremde [Sprache] gebannte» bzw. «im Werk gefangene» reine Sprache «in der eigenen Sprache zu erlösen» bzw. «in der Umdichtung zu befreien».
4.4 Der Sinn und die Tangente
Was verbleibt dann dem Sinn an Bedeutung für das Verhältnis von Übersetzung und Original? Nach Benjamin «lässt [das] sich in einem Vergleich fassen», nämlich in der Metapher der Tangente: «Wie die Tangente den Kreis flüchtig und nur in einem Punkt berührt, und wie ihr wohl diese Berührung, nicht aber der Punkt, das Gesetz vorschreibt, nach dem sie weiter ins Unendliche ihre gerade Bahn zieht, so berührt die Übersetzung flüchtig und nur in dem unendlich kleinen Punkte des Sinnes das Original, um nach dem Gesetze der Treue in der Freiheit der Sprachbewegung ihre eigenste Bahn zu verfolgen.»
Nach Ansicht des deutschen Schriftstellers, Dichters und Philosophen Rudolf Pannwitz ist »der grundsätzliche Irrtum« des Übersetzers darauf zurückzuführen, dass er «viel bedeutendere Ehrfurcht vor den eigenen Sprachgebräuchen als vor dem Geiste des fremden Werks» hat, und dementsprechend «den zufälligen Stand der eignen Sprache festhält», [indem er «das indische griechische englische verdeutschen (will)], anstatt sie durch die fremde Sprache gewaltig bewegen zu lassen» [d.h: «anstatt das deutsche zu verindischen vergriechischen verenglischen»]. Was muss dagegen der Übersetzer leisten? Die Aufgabe des Übersetzers besteht nach Pannwitz darin, «auf die letzten Elemente der Sprache [zurückzudringen], wo Wort Bild und Ton in eins gehen,» und «die eigene Sprache durch die fremde [zu] erweitern und vertiefen.»
In der von Benjamin vertretenen These der Übersetzbarkeit von Originalen vs. Un-übersetzbarkeit von Übersetzungen, die im Argumentationsgang des betreffenden Textes explizit oder implizit häufig auftritt, gelten Hölderlins Übertragungen der beiden Sophokleischen Tragödien als exemplarisches Beispiel: Durch die Metapher der Äolsharfe, in denen die Harmonie der Sprachen sehr tief ist, versucht Benjamin zu erklären, dass «der Sinn nur noch wie eine Äolsharfe vom Winde von der Sprache berührt wird».
4.5 Heilige Texte und Interlinearversion
Nur im heiligen Text hört der Sinn damit auf, «die Wasserscheide für die strömende Sprache und die strömende Offenbarung zu sein»: «Wo der Text unmittelbar, ohne vermittelnden Sinn, in seiner Wörtlichkeit der wahren Sprache [---] angehört, ist er übersetzbar schlechthin». Daraus folgt nach Benjamin, dass «alle großen Schriften, im höchsten aber die heiligen, zwischen den Zeilen ihre virtuelle Übersetzung [enthalten]». Wörtlichkeit und Freiheit müssen sich in der Übersetzung «in Gestalt der Interlinearversion vereinigen », genauso wie «in jenem heiligen Text Sprache und Offenbarung sich vereinigen». Die Interlinearversion des heiligen Textes gilt deswegen als «das Urbild oder Ideal aller Übersetzung». Nach Ansicht von Drumbl bilden Benjamins apodiktische Eingangs- und Endstatements einen Rahmen rund um den Essay und dienen ihm auch als Schild, in dem sie ihn vor der Ausnutzung durch jene Leser schützen, die auf der Suche nach einfachen Lösungen sind.
Schlussbemerkungen
Im Übersetzer-Aufsatz hat Benjamin ein Konstrukt von Fragmenten einer ästhetisierenden Konzeption der Übersetzung zusammengestellt: Dabei entwickelt er innovative philosophisch-poetologische Konzepte, die aber nicht – etwa in historischer Perspektive – als Bausteine einer umfassenden Übersetzungstheorie und -Methodik' gemeint sind.
Die Arbeit des Übersetzers ist bei Benjamin vom Motiv der Integration der vielen Sprachen zu einer wahren beherrscht, von ihrer Ergänzung und Versöhnung in der Art ihres Meinens. Die Antwort auf die im Titel implizit gestellte Frage lautet zunächst: Aufgabe des Übersetzers ist es, im Dienste der universellen [und wahren] Sprache zu arbeiten, und zwar ein Werk zu übersetzen, ohne dabei das Streben der Sprache nach der reinen Sprache zu hindern. Benjamins Konzept von reiner Sprache – vom Autor selbst mit Mallarmés suprême, immortelle langue verglichen – verweist auf jene ideale Sprache, deren Funktion in der Integration aller Sprachen besteht, die ursprünglich in allen Sprachen enthalten war und »intensiv in den Übersetzungen verborgen« ist; sie ist tatsächlich keine richtige Sprache , besitzt weder eine eigene Grammatik noch einige Wörter, ist absolute Sprache bzw. der endgültigere Sprachbereich. Aufgabe des Übersetzers ist demnach, in der eigenen Sprache – der der Übersetzung – die im Werk verborgene und gefangene reine Sprache zu befreien, das Wesentliche des Kunstwerks zu erfassen und es fortleben, nachreifen lassen. Benjamin scheint hier von einer adamitischen idealen bzw. ergänzten Sprache zu reden, nach der alle einzelnen Sprachen streben. Aus dieser Perspektive ergibt sich die Aufgabe des Übersetzers als Streben nach der Wiederherstellung und –gestaltung der ursprünglichen, absoluten Sprache.
Der Übersetzung wird von Benjamin eine sehr wichtige Rolle zugeschrieben: Dadurch kann man zum Verhältnis zwischen den Sprachen bzw. zur Sprachverwandtschaft gelangen, die Voraussetzung der Übersetzbarkeit ist. Dieses Verhältnis kann man mit dem Verhältnis zwischen den einzelnen Scherben eines gebrochenen Gefäßes vergleichen, die zu einer größeren Einheit (einer höheren Sprache) gehören. Mit diesem Prinzip hat Benjamin dem deutsch-jüdischen Historiker und Philosoph Franz Rosenzweig (1886-1929) das entscheidende Argument für das Wiederaufgreifen der Problematik geliefert: Nach Rosenzweig kann die »Zusammengehörigkeit der Sprachen« nur innerhalb jeder einzelnen Sprache wachsen, und nicht «in den leeren Räumen zwischen ihnen». Benjamin meint, dass die Funktion der Übersetzbarkeit des Werks ist, an der Komplementarität der einzelnen Sprache zu gemahnen, und von ihnen dadurch eine Grenzüberschreitung zu fordern. Bei Benjamin erlebt die Idee der Begrenztheit , Unvollkommenheit der [einzelnen] Sprachen einen Radikalisierungsprozess, indem sie zur ontologischen Qualität der Sprache im Allgemeinen wird: Die Übersetzung ermöglicht die Überwindung dieser Unvollkommenheit und zwar die Rettung der Sprache.
Viele Kritiker, neulich Barbara Johnson in Mother Tongues, decken an dem deutschen Philosoph eine dekonstruktive Seite auf: Benjamins Übersetzer-Aufsatz, der tatsächlich in dekonstruktivistischen Literatur- und Kulturkonzepten eine maßgebliche Rolle spielt, leistet den Theoremen der Dekonstruktion Vorschub trotz der viel kritisierten messianischen Tendenzen. Übersetzung bringt die Frage nach dem Original, dem Einen, und nach der Differenz zwischen Original und Übersetzung ins Spiel: Johnson kommt zu einer Idee des Einzelnen als schadenbringendes Ideal in jedem Lebensbereich. Sexueller Unterschied verhindert dessen Entstehung, und die Pluralität der Sprachen ist Garantie und Beweis dafür, dass wir »mitten in Übersetzung« leben.
Wenn Übersetzung eine »Wandlung und Erneuerung« des Originals bewirken soll, dann besteht die Aufgabe des Übersetzers darin, das Original zu verändern: Damit kehrt Benjamin die traditionelle Sichtweise des Anfangs des Aufsatzes sowie die simple Logik einer gleichsam natürlichen Folge von Original und Übersetzung um. Die Aufgabe des Übersetzers ist nicht auf die Rehabilitierung der [mit Babel verloren gegangenen] Einheit zurückzuführen, sondern auf die fortschreitenden Auflösung dieser vorausgehenden Einheit. Die ursprüngliche Einheit, die sich als Deckung von Signifikant und Signifikat qualifizieren lässt, ist indes selbst schon fraglich. Wie Johnson behauptet, scheint sich die Tatsache, dass überhaupt der Anschein einer Einheit entsteht, dem Akt der Übersetzung zu verdanken: Erst retrospektiv erscheint als Effekt der Übersetzung das Original als Einheit von Signifikant (in Benjamins Terminologie: »Art des Meinens«, und zwar dem arbiträren und konventionellen sprachlichen Zeichen) und Signifikat (»dem Gemeinten« bzw. dem Bezeichneten). Die Übersetzung wird zum entlarvenden Moment jenes Scheins ursprünglicher Einheit, der mit Johnsons «precarious appearance of unity» vergleichbar ist: Die Übersetzung umgibt ihren Gehalt «wie ein Königsmantel in weiten Falten», wohingegen im noch unübersetzten Original eine gewisse «Einheit wie Frucht und Schale» aufbewahrt scheint.
Wie auch der Lyriker und ebenfalls Übersetzer Stéphane Mallarmé erkennt, gründet »der Ruhm der Übersetzung« nicht in seiner mimetischen Treue, sondern in den Defigurationen der Muttersprache. Aus dieser Erkenntnis entsteht eine andere mögliche Formulierung der den Aufsatz strukturierenden Frage: Wie kann die Sprache einer Übersetzung aussehen, die – wie die Dichtung selbst – nicht auf Mitteilung aus ist? Benjamin betrachtet die Aufgabe des Übersetzers als Erlösung der in fremde Sprache gebannten reinen Sprache. Mit Bezug auf dieses »ungreifbare Dritte« bedeutet Übersetzen etwas zu übersetzen, was nicht übersetzbar ist, und was – utopisch – in allen Sprachen zu erblicken ist.
Wie Drumbl auch hervorhebt, enthüllt der hier von Benjamin verwendete konzeptuelle Apparat eine starke Beziehung zur späten Poetik Hölderlins, dessen Übersetzungen der Sophokleischen Tragödien «sich auch zu den vollkommensten Übertragungen ihrer Texte als das Urbild zum Vorbild verhalten». In den Texten Hölderlins erfasst Benjamin einen Entwurf, ein Projekt des Übersetzers, das auf eine den [im Aufsatz angeführten] Äußerungen Mallarmés über eine ideale Sprache entsprechende Idee von Sprache hinweist. Als Vorbild (für spätere Übertragungen) gilt dagegen bei Benjamin (im Vergleich zum Urbild Hölderlins) Borchardts Übersetzung der dritten pythischen Ode von Pindar. Ein zentrales Moment des spekulativen Gedankengangs Benjamins beruht eben auf der Forderung nach einem [ richtigen'/ neuen'] Verständnis der Übersetzungen Hölderlins, worauf das menschliche Sprachdenken fußen sollte. Die Beziehung Hölderlin-Mallarmé-Benjamin ermöglicht eine Verallgemeinerung der dichterischen (und übersetzerischen) Erfahrung zur sprachlichen Erfahrung schlechthin. Die Vorstellung des Strebens nach dem (utopischen) Ziel einer vereinigten, idealen Sprache hat viel mit dem messianischen Denken zu tun. Viele Erklärer sehen tatsächlich eine grundlegende Tendenz dieses Essays im Messianismus Benjamins. Ein weiterer Schwerpunkt, der von den meisten Herausgebern immer stark hervorgehoben wurde, ist die Beziehung zu den von Benjamin übersetzten Gedichten Baudelaires: Die Einsicht, dass Benjamins Reflexion (z.T.) aus seiner praktischen Übersetzertätigkeit entstanden sei, haben jedoch viele andere Kritiker bestritten.
Literaturverzeichnis
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