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T. L. Kienlin, Fremdheit – Perspektiven Auf Das Andere. Zur Einführung. In: T. L. Kienlin (ed.), Fremdheit – Perspektiven Auf Das Andere. Cologne Contributions To Archaeology And Cultural Studies 1 / Universitätsforschungen Zur Prähistorischen Archäologie 264. Bonn: Habelt 2015, 1–8.

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Kienlin (Hrsg.) · Fremdheit – Perspektiven auf das Andere Fremdheit — Perspektiven auf das Andere herausgegeben von Tobias L. Kienlin 2015 Verlag Dr. Rudolf Habelt GmbH, Bonn Redaktionelle Bearbeitung: Dr. Leonie C. Koch, Büro für Redaktion und Archäologie, Frankfurt/Köln Satz und Layoutentwurf: Susanne Kubenz M.A., Halle (Saale) Umschlagabbildung: Pyxisdeckel aus Minet el Bheida (vgl. Beitrag von Rüden in diesem Band S. 138 Abb. 1) Gesamtherstellung: Druckerei Martin Roesberg, Alfter-Impekoven Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages und des Herausgebers unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigung, Übersetzung, Mikroverfilmung und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Für den Inhalt der Beiträge sind die Autoren eigenverantwortlich. ISBN 978-3-7749-3950-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detailliertere bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Copyright 2015 by Tobias L. Kienlin, Köln & Dr. Rudolf Habelt GmbH, Bonn VORWORT DER HERAUSGEBER Die Reihe „Universitätsforschungen zur prähistorischen Archäologie“ soll einem in der jüngeren Vergangenheit entstandenen Bedürfnis Rechnung tragen, nämlich Examensarbeiten und andere Forschungsleistungen vornehmlich jüngerer Wissenschaftler in die Öffentlichkeit zu tragen. Die etablierten Reihen und Zeitschriften des Faches reichen längst nicht mehr aus, die vorhandenen Manuskripte aufzunehmen. Die Universitäten sind deshalb aufgerufen, Abhilfe zu schaffen. Einige von ihnen haben mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln unter zumeist tatkräftigem Handanlegen der Autoren die vorliegende Reihe begründet. Thematisch soll darin die ganze Breite des Faches vom Paläolithikum bis zur Archäologie der Neuzeit ihren Platz finden. Ursprünglich hatten sich fünf Universitätsinstitute in Deutschland zur Herausgabe der Reihe zusammengefunden, der Kreis ist inzwischen größer geworden. Er lädt alle interessierten Professoren und Dozenten ein, als Mitherausgeber tätig zu werden und Arbeiten aus ihrem Bereich der Reihe zukommen zu lassen. Für die einzelnen Bände zeichnen jeweils die Autoren und Institute ihrer Herkunft, die im Titel deutlich gekennzeichnet sind, verantwortlich. Sie erstellen Satz, Umbruch und einen Ausdruck. Bei gleicher Anordnung des Umschlages haben die verschiedenen beteiligten Universitäten jeweils eine spezifische Farbe. Finanzierung und Druck erfolgen entweder durch sie selbst oder durch den Verlag Dr. Rudolf Habelt GmbH, der in jedem Fall den Vertrieb der Bände sichert. Herausgeber sind derzeit: Kurt Alt (Mainz) François Bertemes (Halle) Nikolaus Boroffka (Berlin) Peter Breunig (Frankfurt am Main) Philippe Della Casa (Zürich) Manfred K.H. Eggert (Tübingen) Clemens Eibner (Heidelberg) Frank Falkenstein (Würzburg) Ralf Gleser (Münster) Bernhard Hänsel (Berlin) Alfred Haffner (Kiel) Albert Hafner (Bern) Svend Hansen (Berlin) Ole Harck (Kiel) Joachim Henning (Frankfurt am Main) Christian Jeunesse (Strasbourg) Albrecht Jockenhövel (Münster) Tobias L. Kienlin (Köln) Rüdiger Krause (Frankfurt am Main) Klára Kuzmová (Trnava) Amei Lang (München) Andreas Lippert (Wien) Jens Lüning (Frankfurt am Main) Joseph Maran (Heidelberg) Carola Metzner-Nebelsick (München) Johannes Müller (Kiel) Ulrich Müller (Kiel) Michael Müller-Wille (Kiel) Mária Novotná (Trnava) Bernd Päffgen (München) Diamantis Panagiotopoulos (Heidelberg) Christopher Pare (Mainz) Hermann Parzinger (Berlin) Heidi Peter-Röcher (Würzburg) Britta Ramminger (Hamburg) Jürgen Richter (Köln) Sabine Rieckhoff (Leipzig) Thomas Saile (Regensburg) Wolfram Schier (Berlin) Thomas Stöllner (Bochum) Biba Teržan (Berlin) Gerhard Tomedi (Innsbruck) Ulrich Veit (Leipzig) Karl-Heinz Willroth (Göttingen) Andreas Zimmermann (Köln) Kölner Beiträge zu Archäologie und Kulturwissenschaften – Cologne Contributions to Archaeology and Cultural Studies Folgt man dem weiten Verständnis, dass Kultur alles sei, „was im Zusammenleben von Menschen der Fall ist“1, so ist eine Bestimmung der Archäologie als Kulturwissenschaft unabweisbar. Dies gilt umso mehr, als sich die verschiedenen Archäologien schon traditionell auch mit solchen Aspekten menschlicher Kultur befassen – etwa Raum, Materialität oder Medialität –, die erst kürzlich in den Blick anderer Disziplinen der Geschichts-, Sprach- oder Sozialwissenschaften gerieten, als diese begannen, sich im Rahmen als sogenannter turns ausgewiesener Paradigmenwechsel in Teilen neu als Kulturwissenschaften zu bestimmen. Dabei ist oft die problematische Tendenz zu beobachten, ein Selbstverständnis als Kulturwissenschaft gegen ein traditionelleres Fachverständnis in Stellung zu bringen. Turns oder ‚Wenden‘, die eigentlich nur die berechtigte Ausweitung des forschenden Interesses auf neue Aspekte dessen markieren sollten, was Menschen in den verschiedensten historischen Kontexten an kulturellen Ausprägungen hervorbringen, werden zum forschungsstrategischen Kampfbegriff auf einem Markt 1 A. Assmann, Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Berlin: Erich Schmidt Verlag 22008, 13. einander immer rascher ablösender Theoriemoden. Die Archäologien hingegen, deren Zugehörigkeit zu dem weiten Feld der Kulturwissenschaften eigentlich außer Frage stehen sollte, entziehen sich einer solchen Selbstbestimmung oft schlicht durch Mangel an Reflexion. Hier ist ein immer noch vorherrschender Positivismus zu nennen, heute bisweilen gewendet in die Auffassung, wissenschaftlicher Fortschritt sei, wenn nicht schlicht durch mehr Daten, so doch durch die Anwendung immer neuer, meist aus den Naturwissenschaften entlehnter Methoden zu erzielen. Ein Theoriedefizit vor allem der zentraleuropäischen Archäologie wurde oft beklagt, doch muss auch auf gegenläufige Tendenzen hingewiesen werden. Seitens der Klassischen Archäologie arbeitet beispielsweise die in Hamburg beheimatete Zeitschrift „Hephaistos“ seit langem dagegen an. Aus der Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologie sind unter anderem die Arbeitsgemeinschaft „Theorie in der Archäologie“ und das Tübinger Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters mit dem langjährigen Lehrstuhlinhaber Manfred K. H. Eggert zu nennen, dem sich diverse Bände der Reihe „Tübinger Archäologische Taschenbücher“ verdanken. An verschiedenen Standorten sind Archäolo- gien darüber hinaus inzwischen an Clustern oder Sonderforschungsbereichen beteiligt, die sich theoriegeleitet mit kulturwissenschaft­ lichen Fragestellungen befassen. Gleichwohl kann man nicht sagen, dass in den Archäologien inhaltliche Konzepte für eine dauerhaft fruchtbare Aufstellung als Kulturwissenschaft ausreichend bestimmt wären. Vielmehr ist oft ein taktisches Verhältnis zu ‚Theorie‘ festzustellen, etwa bei der Teilnahme an inter- oder transdisziplinären Forschungsverbünden, ohne dass die ‚Antragsrhetorik‘ tatsächlich immer auf Anliegen und Forschungspraxis durchschlagen würde. Vor diesem Hintergrund ist es das Ziel, mit dem Veranstaltungsformat der „Kölner Interdisziplinären Vorlesung Archäologie und Kulturwissenschaften“ sowie mit der Publikationsreihe der „Kölner Beiträge zu Archäologie und Kulturwissenschaften“ ein universitär ver­ankertes Forum zu schaffen, um Themen und Ansätze vertiefend zu erörtern, die die verschiedenen kulturwissenschaftlichen Diszipli­ nen verbinden, und diese Diskussionen als Publikation einem größeren Interessentenkreis zugänglich zu machen. Ohne den Druck unmittelbaren Anwendungsbezugs, auch ohne den Drang, fortwährend neue turns ausrufen zu müssen, bevor noch die Implikationen der jeweils vorhergehenden bedacht sind, soll Erkenntnisgewinn gerade durch das Nebeneinander und die Zusammenschau verschiedener Fachtraditio­ nen, Ansätze und Meinungen ermöglicht werden. Weder wird der Gestus des erhobenen theoretischen Zeigefingers angestrebt noch sollen kontroverse Debatten unter allen Umständen auf einen gemeinsamen Nenner gebracht oder als verbindlich erachtete Forschungsstrategien formuliert werden. Als gewinnbringend erscheint es vielmehr, Differenz in Perspektiven und Herangehensweisen zuzulassen und sichtbar zu machen, um eine Reflexion auf den je eigenen Standpunkt zu erlauben. Ein Beitrag der Archäolo- gien kann dabei in der großen zeitlichen Tiefe ihres Forschungsgegenstands liegen. Ebenso relevant ist ihr spezifisches Interesse an der Bedeutung materieller Kultur für die Kon­ struktion kultureller und sozialer ‚Realität‘ – vermitteln die Dinge doch kulturelle Klassifikationsschemata und habituelle Prägungen und sind gerade deshalb ‚wirkmächtig‘, weil ihr kommunikatives Potential, anders als jenes sprachlicher Aussagen, selten bewusst reflektiert wird. Indem das kommunikative Potential materieller Kultur herausgestellt und die Anordnungen der Dinge in ihren sozialen Handlungsbezügen thematisiert werden, entstehen vielfache Anknüpfungspunkte an andere kulturwissenschaftliche Disziplinen, die sich ebenfalls mit der Rekonstruktion materieller und immaterieller Kommunikationsräume und Diskursfelder befassen. Entsprechendes gilt selbstverständlich auch für alle anderen Themen kulturwissenschaftlicher Theoriebildung, die auf ihre Reichweite in verschiedenen historischen Kontexten hin zu befragen sind. Dabei kann es weder um eine Vereinnahmung der jeweiligen Nachbardisziplinen gehen noch um die Aufforderung, dort entwickelte Ansätze ‚anzuwenden‘. Vielmehr sollen ähnliche Problemlagen ermittelt und zudem aufgezeigt werden, welche Zugangsweisen in unterschiedlichen disziplinären Traditionen beim Umgang mit diversen Quellen bzw. Medien (Text, Sprache, Bild, materielle Kultur ...) denkbar sind. Getragen wird dies von der Überzeugung, dass trotz aller Unterschiede der Fachtraditionen mit dem gemeinsamen Interesse an einem Verständnis der Vielfalt menschlicher Kulturäußerungen eine hinreichende Begründung des Gegenstands kulturwissenschaftlicher Forschung vorliegt. Und dass ferner wir alle als heutige Vertreter europäischer universitärer Disziplinen in unseren Konzeptualisierungen menschlicher Kultur an ähnliche Traditionen und geistesgeschichtliche Prädispositionen an- knüpfen, deren Auswirkungen auf unser Tun es zu reflektieren gilt. Gegenstand der ersten Ringvorlesung „Archäologie und Kulturwissenschaften“ an der Universität zu Köln im Sommersemester 2013, deren Beiträge nun vorgelegt werden können, war aus diesem Grund das Thema „Fremdheit – Perspektiven auf das Andere“. Die Beiträge zur zweiten Veranstaltung der Reihe im Wintersemester 2014/15 unter dem Titel „Emotionen“ befinden sich gegenwärtig in Druckvorbereitung. Mit Blick auf zukünftige Themen ist unter anderem an „Natur und Naturwahrnehmung“ sowie „Kulturkontakt und Postcolonial Studies“ gedacht. Anregungen und Kooperationsvorschläge für zukünftige Ausgestaltungen sind herzlich willkommen. Neben dem Format der Ringvorlesung ist dabei insbesondere auch an Workshops und Tagungen gedacht. Darüber hinaus richtet sich das Angebot zur Veröffentlichung in den „Kölner Beiträgen zu Archäologie und Kulturwissenschaften“ aber an alle, die ein ent­ sprechendes inhaltliches Anliegen teilen und einen Rahmen für ihre Publikationsprojekte suchen. Die Herausgeber freuen sich auf Anfragen und inhaltliche Diskussionen! (TLK) * * * If one agrees with the broad understanding that culture is everything, “which is the case for people living together” (A. Assmann 2008, 13), the identification of archaeology as a cultural study is irrefutable. It is even more so since different archaeological disciplines have already traditionally been concerned with aspects of human culture, such as space, materiality or mediality, whereas these aspects have only recently found their way into the view of other historical, linguistic or social disciplines when these partially redefined themselves as cultural studies in the context of paradigm shifts called turns. In doing so often a problematic tendency to emplace the self-concept as a cultural study against the more traditional understanding of the subject is noticeable. And turns, which were solely meant to mark the reasonable expansion of research interest to new aspects of all the different cultural characteristics humans develop in various historical contexts, now have become a research strategic polemic term on the market of the constantly changing vogues of theories. In contrast, archaeologists, whose affiliation to the broad field of cultural studies should be beyond all question, often elude such a self-determination simply through lack of reflexion. Here one must mention the still predominant positivism, which today is often concealed in the idea that scientific advance can be achieved, if not through more data then by applying new methods, often borrowed from the ‘hard’ natural sciences. This theoretical deficit has oft been lamented, especially for the central European archaeology. However, one should not forget to allude to opposite tendencies. On the part of classical archaeology, for instance, these are localised in the environment of the journal Hephaistos from Hamburg. On the part of prehistoric archaeology they are connected with the activity of the German Arbeitsgemeinschaft Theorie in der Archäologie and with the Department for Pre- and Protohistory, University of Tübingen, under the supervision of the former holder of the chair M. K. H. Eggert (various volumes of the Tübinger Archäologische Taschenbücher series). Nonetheless, one cannot say that central concepts are sufficiently determined in the archaeologies for a permanent and fruitful establishment as a cultural study. In fact, one often notices a tactical relation towards ‘theory’. This shows, e. g. in the matter of taking part in the inter- or transdisciplinary research networks which are so important today, without wordy rhetorics in the applications for funding truly affecting the actual concern and research practice. Against this background, with the ‘Cologne Interdisciplinary Lectures Archaeology and Cultural Studies’ and the publication series ‘Cologne Contributions to Archaeology and Cultural Studies’ it is our goal to create a forum fixed in academic surroundings in order to debate and enhance relevant topics and theories, which link the different disciplines devoted to cultural studies. Without the pressure of direct application and without the urge of constantly having to declare new turns before having fully considered the implications of the previous one, knowledge is to be gained precisely by allowing the coexistence and synopsis of different academic traditions, approaches and views.The gesture of threateningly wagging a theoretical finger is not aspired, nor do controversial debates necessarily need to be reduced to a common denominator or rephrased as binding research strategies. Rather, it is considered profitable to permit differences in perspectives and approaches and to uncover them in order to enable the reflexion of one’s own personal point of view. One contribution archaeology could make would be, for example, of the great temporal depth of its object of research. Its specific interest in the significance of material culture for constructing cultural and social ‘reality’ is just as important, since objects convey cultural meaning and shape our habitus, and just that makes them ‘potent’, as, other than verbal statements, their communicative potential is seldom consciously deliberated. By emphasising the communicative potential of material culture and broaching the issue of its importance for social action, many connecting factors for other cultural study disciplines engaged with the reconstruction of material and immaterial communication spaces and fields of discourse are given. Naturally the same applies for all the other areas of culture and social theory development, which can be continuatively compared and questioned to their range in different historical contexts as well as the different structures of the available sources. And yet, the aim is neither to monopolise neighbouring disciplines for one’s own, nor to prompt an ‘application’ of their models and approaches. Instead, broadly comparable challenges are to be detected and also an effort is to be made to demonstrate the different approaches and methods that are thinkable for dealing with various sources and respectively media (text, speech, image, material culture ...) in different disciplinary traditions. This is supported by the conviction that despite all their differences our academic traditions share an interest in understanding the diversity of human cultural expressions and therefore ample reason for the matter of cultural studies is existent. Even more, with our own conceptualisations of human culture we, who are all representatives of contemporaneous European academic disciplines, are tying in with similar traditions and predispositions of intellectual history, and their impact on our interpretations must be evaluated. The topic of the first lecture series during the summer semester of 2013, which is published in this volume, was thus Fremdheit – Perspektiven auf das Andere (‘Alterity – Perspectives on the Other’).The second course of the series, entitled ‘Emotions’, in the winter semester 2014/15 is currently in prepress. As to future topics we are considering ‘Nature and Perceptions of Nature’ as well as ‘Culture Contact and Postcolonial Studies’. Suggestions for the organisers and/or propositions for cooperation for future arrangements, which may also take the form of workshops or conferences, are very welcome. In addition, the ‘Cologne Contributions to Archaeology and Cultural Studies’ series is open to all sharing our concerns, and the editors welcome any manuscripts suggested for publication be they conference volumes or monographs. (TLK, translation: Maria Heitkamp) Inhalt Tobias L. Kienlin Fremdheit – Perspektiven auf das Andere. Zur Einführung  .........................................................1 Herbert Uerlings Verkehrte Welten. Primitivismus in Literatur und Kunst der Klassischen Moderne  ......................9 Christoph Antweiler Fremdheit, Identität und Ethnisierung: Instrumentalisierung des Anderen und ihre Relevanz für Archäologie und Ethnologie  .................................................................. 25 Thomas Widlok Kulturtechniken: ethnographisch fremd und anthropologisch fremd. Eine Kritik an ökologisch-phänomenologischen und kognitiv-modularisierenden Ansätzen  ........................ 41 Paul Roscoe Ethnographic Gifts: Some Cautions on the Use of Ethnographic Analogies from Contemporary Cultural Anthropology  ............................................................................ 61 Alexandra Karentzos Antikenideal und Alterität. „Echtes Antikisieren“ als künstlerisches Programm des 19. Jahrhunderts  ............................................................................................... 79 Beat Schweizer ‚Griechische Archäologie‘. Eine Archäologie des Fremden?  ...................................................... 93 Christoph Ulf Korrelationen des Wandels. Die Formierung von Identität und Fremdheit bei Thukydides  ..................................................................................................... 109 Dietmar Till Kolonialismus des Geistes. Orientalismus und Geschichtsphilosophie bei Herder und Hegel  ........................................................................................................... 125 Constance von Rüden Minoische Moderne, Thalassokratie und orientalische Despoten. Zwischen Orientalismus und Globalisierung in der Archäologie des östlichen Mittelmeerraumes  ........... 135 Tobias L. Kienlin All Heroes in Their Armour Bright and Shining? Comments on the Bronze Age ‘Other’  ........ 153 Erich Kistler Zwischen Lokalität und Kolonialität – alternative Konzepte und Thesen zur Archäologie eines indigenen Kultplatzes auf dem Monte Iato (Westsizilien: 7. Jh. v. Chr. – 1. Jh. n. Chr.)  .............................................................................. 195 Sebastian Brather Alteritäten und Identitäten. Perspektiven­wechsel in der Frühmittelalterarchäologie  ................. 219 Brigitte Röder Jäger sind anders – Sammlerinnen auch. Zur Deutungsmacht des bürgerlichen Geschlechter- und Familienmodells in der Prähistorischen Archäologie  .................................. 237 Manfred K. H. Eggert Das Rituelle als erkenntnistheoretisches Problem der Archäologie  .......................................... 255 Autorenverzeichnis  ................................................................................................................ 279 Tobias L. Kienlin Fremdheit – Perspektiven auf das Andere. Zur Einführung Unser Wissen über das kulturell Fremde, das gegenwärtige wie das vergangene, stellt eine Konstruktion dar, die als solche in unserer akademischen Sozialisation ebenso verwurzelt ist wie in weiter gefassten Traditionen und zeitgenössischen Denkströmungen. Diese prägen unser Bild von den ‚Anderen‘ bzw. allgemein unsere Dispositionen, das ‚Andere‘ zu bestimmen, beispielsweise als faszinierend und exotisch oder aber als unbekannt und bedrohlich. ‚Fremdheit‘ ist dabei keine ontologische Gegebenheit, sondern ein relationales Konzept. Sie existiert nur in Abgrenzung und als Gegenentwurf zu etwas Eigenem. Und gleich unserer eigenen Identität, der sie entgegen gesetzt wird, ist Fremdheit, sind die ‚Anderen‘ als Kollektiv oder als kulturelles Abstraktum nichts Statisches, sondern befinden sich in permanenter Aushandlung und unterliegen fortgesetzter Neubestimmung. Entsprechend sind die Wahrnehmungsweisen und Beziehungsmodi, die uns mit den ‚Anderen‘ verbinden, wandelbar, historisch situativ und kontextabhängig. Sie können durch Sozialisation in eine Gruppe unreflektiert übernommen oder bewusst manipuliert werden, und sie können höchst unterschiedlich ausfallen: Von antagonistischen Konstellationen, in denen den Anderen Kulturfähigkeit, Geschichtlichkeit oder sogar geteiltes Mensch- sein abgesprochen wird, über den Versuch eines gleichberechtigten Nebeneinanders oder das strategische Ausblenden objektiv gegebener Unterschiede bis hin zu Anverwandlungen des Fremden. Letzteres ist eine Gedankenfigur, die synchron oder diachron gewendet in mehreren Beiträgen dieses Bandes thematisiert wird: ‚sie‘ sind so wie ‚wir‘ sein sollten, ‚sie‘ sind so wie ‚wir‘ einmal waren, positiv oder negativ besetzt doch ohne weitergehenden Bezug, oder ‚sie‘ stehen tatsächlich in einem (angenommenen) ‚genetischen‘ Verhältnis zu ‚uns‘ heute. Die Frage, wie angesichts solch vielfältiger Konstellationen unser Wissen über das – vergangene wie rezente – Fremde zu Stande kommt, ob Fremdverstehen möglich ist bzw. was und auf welche Weise wir überhaupt wissen können, hat eine lange Tradition in der Philosophie, den Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften, etwa im Rahmen hermeneutischer Ansätze. Gleiches gilt für den Versuch, unser einschlägiges Wissen historisch zu kontextualisieren, also für die Frage, durch welche Denktraditionen des frühneuzeitlichen und modernen Westens unsere Fremdbilder jeweils bedingt sind, sei es der ‚edle Wilde‘ oder – im 19. und 20. Jahrhundert durchaus häufiger, jedenfalls bedrohlicher – negative Fremdzuschreibungen an Kollektive, 2 Tobias L. Kienlin die dann auch unmittelbar handlungsleitend wurden. Dass hier in vielen Bereichen ein grundlegender Zusammenhang besteht zwischen der Erzeugung von ‚Wissen‘ und der Ausübung von Macht über die ‚Fremden‘, ist eine grundlegende Erkenntnis der Postcolonial Studies, deren Vertreterinnen und Vertreter hegemoniale Diskurse in ganz verschiedenen historischen Kontexten und sozialen und kulturellen Konstellationen identifiziert haben und zu dekonstruieren suchen. Insofern sind (oder eher schon: waren) ‚Fremdheit‘ oder ‚Alterität‘ durchaus Modethemen, dies freilich um den Preis, dass ähnlich wie bei dem verwandten Feld der Gender Studies sich ein einschlägiger Expertendiskurs etabliert und durchaus auch wieder aus der Mode kommt, während jenseits dessen problematische Repräsentationen des ‚Anderen‘ erstaunlich langlebig sind. Zumindest in der Archäologie, aber vermutlich auch darüber hinaus, ist so zu beobachten, dass im alltäglichen Vollzug, in Forschung und Lehre, das Gemachtsein unseres Wissens um das kulturell ‚Andere‘ immer wieder in den Hintergrund tritt. Dies reicht von der Ebene der sich uns oft zwanglos erschließenden Motivationen prähistorischer Akteure (wahlweise aufgrund der angenommenen biologischen Konstante ‚Mensch‘ entsprechend den unsrigen, oder eben aufgrund der unüberwindbaren zeitlichen und kulturellen Distanz irgendwie ganz ‚anders‘, urtümlich), über die unreflektierte Rede von ‚Kulturen‘, ‚Ethnien‘ oder ‚Völkern‘ und die Versuche einer wesensmäßigen Bestimmung dieser uns fremden Kollektive, als handele es sich um uranfängliche Gegebenheiten, bis hin zu problematischen Epochencharakterisierungen, die Differenz im Rahmen eines evolutionistischen Paradigmas nur als Fortschritt zu denken erlauben. So scheint es, als müsse das Problembewusstsein hinsichtlich unserer Repräsentationen des Fremden und deren möglicher Inanspruchnahmen immer aufs Neue geschärft werden, in der Forschung wie im öffentlichen Diskurs. Im Rahmen der ersten „Kölner Interdisziplinären Vorlesung Archäologie und Kulturwissenschaften“ im Sommersemester 2013 geschah dies, indem unter dem Titel „Fremdheit – Perspektiven auf das Andere“ exemplarisch aus der Perspektive unterschiedlicher kulturwissenschaftlicher Disziplinen nach der Genese und nach den Konsequenzen unserer Vorstellungen des kulturell Fremden gefragt wurde. Neben Unterschieden in Fragestellung und Herangehensweise, zeichnen sich in den hier nun in überarbeiteter Form vorgelegten Beiträgen auch charakteristische Übereinstimmungen ab. Dies betrifft zum Beispiel die Frage, was als problematisch wahrgenommen wird, sowie die rezipierten Theoriebestände, die ein tatsächliches Zusammenwachsen der Kulturwissenschaften oder jedenfalls die Möglichkeit der Verständigung und des fruchtbaren Austauschs unter ihren Teildisziplinen erkennen lassen. Den Band eröffnet ein Beitrag des Germanisten Herbert Uerlings, der sich anhand von Beispielen aus bildender Kunst und Literatur der Klassischen Moderne mit produktiven, auch verstörenden Brechungen weit verbreiteten primitivistischen Gedankenguts befasst. Dabei stehen also nicht westliche Projektionen des ‚primitiven‘ Fremden auf die eigene Vergangenheit oder moderne Orientierungsversuche an vorgeblich geschichtslosen Naturvölkern und idealisierten Naturzuständen im Mittelpunkt, sondern frühe Versuche mit künstlerischen Mitteln solche Konstruktionen von Fremdheit und ihre Instrumentalisierungen als problematisch zu entlarven. Uerlings arbeitet heraus, wie solche selbstreflexiven Impulse wegweisend wurden für neuere kulturwissenschaftliche Debatten, von Bronislaw Malinowkis Betonung direkter Beobachtung statt primitivistischer Spekulation bis zu den gegenwärtigen Postcolonial Studies. Sein Beitrag eröffnet diesen Band als nachdenkliche Demonstration der Wirkmacht von Texten Fremdheit – Perspektiven auf das Andere. Zur Einführung und Bildern, die immer eine reflektierte ‚Lektüre‘ erfordern, aber auch von deren subversivem Potential, durch Verweigerung vertrauter Lesarten den kritischen Blick zu schärfen. Aus der Ethnologie, traditionell der „Wissenschaft von dem kulturell Fremden“, stammen die anschließenden drei Beiträge, wobei sich zunächst Christoph Antweiler von einer solchen Selbstbestimmung gerade distanziert aufgrund der damit verbundenen Ontologisierung eines ganz ‚anderen‘ Fremden. Antweiler betont statt dessen den immer relationalen Charakter des ‚Fremden‘, das nie für sich allein existiere, sondern immer als Resultat einer Ausoder Abgrenzung im Rahmen der Ausbildung und Konstruktion kollektiver Eigen-Identitäten anzusehen sei. Am Beispiel der Ethnizität wird dargelegt, wie trotz postmoderner Versuche, ‚Kultur(en)‘ als abgrenzbare Entitäten aufzulösen, Kollektive dennoch Gemeinsamkeiten betonen, Grenzen ziehen und handlungsleitende Vorstellungen über ‚uns‘ und die ‚Anderen‘ entwickeln. Der Umgang so konstruierter Wir-Gruppen mit dem angenommenen Fremden kann ganz unterschiedlich ausfallen, und so beschließt den Beitrag Antweiler der Versuch einer Systematisierung oder ‚Typologie‘ der Umgangsweisen und Beziehungsmuster mit den ‚Anderen‘. Generell zeichnet ja die Ethnologie ein seit langem etabliertes kontroverses Nachdenken über die Möglichkeit und die Berechtigung ethnographischer Repräsentationen des Fremden aus, und diesen Diskurs mögen die folgenden zwei Beiträge von Thomas Widlok und Paul Roscoe exemplifizieren, die je eine relativ aktuelle ‚Modeströmung‘ in den Blick nehmen. Beide Beiträge können dabei jeweils auf ihre Weise als Mahnung dienen, dass auch im weitesten Sinne postmoderne, emanzipatorische Ansätze, das ethnographische Andere frei zu machen von dem kolonialisierenden, westlichen Blick zu problematischen, weil essentialisierenden (Miss-)Repräsentationen eines möglichst exotischen ‚Fremden‘ führen 3 können. Widlok entwickelt diesen Gedanken am Beispiel der einflussreichen Differenzierung von Tim Ingold zwischen externalisierter, moderner westlicher ‚Technologie‘ und sozial eingebetteten, indigenen ‚Kulturtechniken‘. Er erkennt hier eine problematische Dichotomisierung in ‚wir‘, die wir Technologie haben, während die ‚Anderen‘ über verleiblichte Fertigkeiten (embodied skills) verfügten. Er setzt dem das Konzept der generellen ‚anthropologischen Fremdheit‘ in der natürlichen und kulturellen Umwelt entgegen, die alle Menschen zu überwinden hätten, ohne dass sich dabei – am Beispiel der Weltbeherrschung durch die Erzeugung von Artefakten und andere ‚Kulturtechniken‘ – analytische ‚Abstandshaltung‘ oder ‚involvierte Einbettung‘ jeweils unterschiedlichen kulturellen ‚Entwicklungsstufen‘ oder ‚technisch‘-materiellen Kontexten zuweisen ließen (‚wir‘ als die Vertreter der Moderne vs. die indigenen ‚Anderen‘). Ganz ähnlich gelagert ist die Warnung von Paul Roscoe, dass das zunehmende Interesse in den Kulturwissenschaften an relationalen Ontologien, die damit verbundene Kritik an westlichen Konzepten von Individualität und die Aufwertung agenshafter Dinge in diesem Kontext trotz gegenteiliger Behauptungen Ausdruck eines problematischen und letztlich orientalistischen Diskurses über das exotische ‚Fremde‘ sind. Die Attraktivität solcher Ansätze gründet demnach auch in Defiziterfahrungen des modernen westlichen Betrachters und in der faszinierenden Fremdartigkeit einer Welt, in der Personen von der Begrenztheit ihrer Individualität befreit und nebst den Dingen als Teil eines Kosmos allgemeiner Bedeutsamkeit erscheinen. Eine problematische Repräsentation der ethnographischen ‚Realität‘ liegt hier Roscoe zufolge insofern vor, als indigenen (menschlichen) Akteuren die Fähigkeit zu metaphorischem Sprachgebrauch ebenso abgesprochen wird wie Reflexion über kulturelle Zeichensysteme und die Möglichkeit strategischen Handelns. Im Grunde werden 4 Tobias L. Kienlin also Einsichten aus der Rezeption handlungstheoretischer Ansätze zugunsten eines idealistischen Weltbildes revidiert. Indigene Akteure werden herabgestuft zu passiven Rezipienten oder ‚Ausführenden‘ einer anregend fremdartigen Ontologie oder Weltsicht. Neben kolonialen Kontaktsituationen mit außereuropäischen Völkern seit Beginn der frühen Neuzeit kommt für die Selbstvergegenwärtigung des modernen ‚Westens‘ dem Bezug auf die klassische Antike paradigmatische Bedeutung zu. Dies aber bekanntermaßen gerade nicht, indem vor allem das griechische Altertum als irgendwie fremd begriffen worden wäre, gleich der ethnographischen Gegenwart, sondern in Form der Aneignung und des Anspruchs auf direkten Traditionsbezug. Die moderne westliche Zivilisation fußt aus dieser Perspektive auf Kernwerten, die von so wahrgenommenen ‚klassischen‘ Idealen abgeleitet sind, etwa Philosophie und Rationalität, die Vorliebe für bestimmte Ästhetiken oder auch Vorstellungen über das Wesen und die politische Verfasstheit der Gesellschaft. Und aus der Antike, die erstmals auf uns gekommene schriftlich fixierte ‚Ethnographien‘ hervorbrachte und klar formulierte, wenngleich oft fiktionale Vorstellungen des ‚Anderen‘, stammt auch das – neben den außereuropäischen ‚Wilden‘ – große Gegenüber unserer eigenen westlichen Zivilisation: der ‚Orient‘. Der Beitrag der Kunsthistorikerin Alexandra Karentzos, der diesen Themenabschnitt eröffnet, blickt in beide Richtungen, indem historistische Vereinnahmungen der griechischen Antike im 19. Jahrhundert neben orientalistischen Diskursen am Beispiel der ambivalenten Person Kleopatras – hellenistische Herrscherin oder orientalische Pharaonin und Verführerin – behandelt werden. Im Vergleich beider Fallstudien zeigt sich die Bandbreite der diskursiven Strategien und Resultate der medialen, hier bildlichen Repräsentation des ‚Anderen‘ wie auch der parallel laufenden Bestimmung des ‚Eigenen‘: von dem Versuch der Vereinnahmung einer idealisierten griechischen Antike als Referenzpunkt für die kulturelle Selbstbestimmung des modernen Westens und sich ausbildender Nationalstaaten, bis hin zu dem ‚Brüchigwerden‘ solcher Konstruktionen, wenn dem ‚befremdlichen‘ Orient immer etwas Verlockendes, Faszinierendes anhängt und so auch eigene Identitäten potentiell labil bleiben. Ganz entsprechend beschreibt auch der Klassische Archäologe Beat Schweizer seine Wissenschaft – in der traditionellen Selbstwahrnehmung – gerade nicht als eine ‚Archäologie des Fremden‘. Vielmehr handele es sich aus dieser Perspektive um eine Disziplin, die mit der Erschließung der materiellen Hinterlassenschaften und vor allem der idealisierten Kunstwerke und Architektur der Antike einen Beitrag zum Verständnis des Ursprungs unserer eigenen Kultur leisten wolle. Wenn die ‚Griechen‘ inzwischen doch befremdlich wirken, so mag dies an dem Wegbrechen eines bildungsbürgerlichen Milieus liegen, und – so Schweizer – an einem zunehmend theoriegeleiteten Zugriff, der Identitätsstiftung durch Rückgriff auf die doch zeitlich weit zurückliegende und sozial und kulturell durchaus fremdartige Antike problematisch erscheinen lässt. Exemplarisch vorgeführt wird diese bewusste Distanzierung unter anderem am Beispiel der Athener Akropolis, heute ein auf wenige klassische Dekaden ‚purifizierter‘ Ort, in unserer Vorstellung ästhetisiert und still gestellt auf Kosten all dessen, was dem Bild der ‚edlen Einfalt und stillen Größe‘ Winckelmannscher Tradition entgegen steht. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang etwa die zahlreichen, auch kontroversen Handlungsoptionen, die ein solcher Ort bot, oder die vielfältigen, auch chaotischen bis widerwärtigen Sinneseindrücke, die er hervorrief – bis hin zu dem Brüllen der Opfertiere und dem Gestank der Opferfeuer. Als früheste voll schriftliche Kultur Europas liegen von den ‚Griechen‘ umfangreiche Eigenäußerungen vor, die dieses Kollektiv im Fremdheit – Perspektiven auf das Andere. Zur Einführung Prozess der Abgrenzung, Identitätsbildung und fortgesetzten Neubestimmung des jeweiligen ‚Eigenen‘ und ‚Fremden‘ zeigen – prominent natürlich die Perserkriege, während derer man sich überhaupt erstmals geeint sah als Griechen, und die bis heute im Rahmen orientalisierender Diskurse wirkmächtigen Vorstellungen von dem ‚Orient‘ gegen die ‚barbarischen‘ Perser in Stellung brachte. Dass es nicht bei diesen monolithischen Blöcken blieb, sondern andauernd Identität und Fremdheit auf verschiedenen Ebenen ausgehandelt wurden, zeigt der Althistoriker Christoph Ulf an dem komplexen Beispiel der Darstellung des Peloponnesischen Krieges bei Thukydides. Ulf arbeitet heraus, wie es strategischem Kalkül folgend zu einen explizit politischen Gebrauch der Kategorie der Fremdheit und zu Verschiebungen der Unterscheidungsmerkmale des Eigenen und Fremden kam, etwa der Freiheit, um Gegner auszugrenzen und zu delegitimieren, verschränkt mit einer zunehmenden Aufladung binnengriechischer ‚ethnischer‘ Differenzen – die ‚Dorier‘ gegen die ‚Ioner‘. Weit über die Antike hinaus weist der bei den Griechen angelegte Gegensatz zwischen Okzident und Orient, den Edward Said, ein Vordenker der Postcolonial Studies, unter dem Stichwort des ‚Orientalismus‘ als einen hegemonialen Diskurs und eine akademische Form kultureller Diskriminierung analysierte. Das frühneuzeitliche und moderne westliche Nachdenken über den ‚Orient‘ fügte sich demnach zwanglos in das Projekt der kolonialen Aneignung, indem imperiale Unterwerfung mit einer ideologischen Rechtfertigung versehen und auch ganz pragmatisch das für eine effiziente Ausbeutung der Anderen erforderliche Wissen verfügbar gemacht wurde. Den Rhetoriker Dietmar Till interessiert an einer solchen Konstellation, wie durch Kommunikation Einfluss ausgeübt werden kann und ein allgemein akzeptiertes ‚Normalwissen‘ über die Anderen hervorgebracht wird, das im konkreten Fall strategische Relevanz nicht 5 nur für die ideelle, sondern auch für die faktische Kolonisation des Orients erlangte. Till entwickelt dies am Beispiel orientalistischen Gedankenguts in den geschichtsphilosophischen Arbeiten von Johann Gottfried Herder und Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Sichtbar werden an dieser Paarung zweier Autoren, die nur durch wenige Dekaden getrennt sind, die durchaus vorhandenen Unterschiede in der Bewertung des ‚Anderen‘ und seiner Bedeutung für den Fortgang der Geschichte. Solche Einschätzungen hängen immer auch von der Weltsicht oder der Philosophie eines Autors ab und sind nicht pauschal mit dem Orientalismus-Vorwurf an eine ganze geistesgeschichtliche Epoche zu erfassen und abzuhandeln. Zum anderen zeigen sich aber natürlich auch Konstanten in der latent abwertenden und essentialisierenden Charakterisierung des ‚Anderen‘, etwa die Antriebsarmut und der Aberglaube des Orientalen, der Despotismus und die fehlende Rationalität des Orients, die eingebettet in ein sinnstiftendes historisches Narrativ um so wirkungsvoller werden: hier insbesondere die Vorstellung eines Fortschreitens der geschichtlichen Entwicklung von Ost nach West hin zum eigentlichen Ziel der Geschichte, der modernen westlichen Zivilisation. Postkoloniale Ansätze im weitesten Sinn widmen sich der Dekonstruktion solcher Narrative und beleuchten das Spannungsfeld zwischen Identitätsentwürfen und der dafür notwendigen Ausgrenzung des ‚Anderen‘. In die Kritik geraten dabei Ontologisierungen des ‚Eigenen‘ wie des ‚Fremden‘, und an die Stelle statischer Dichotomien, oft in Verbindung mit einem geschichtslosen oder passiven Gegenüber, treten differenziertere Konzeptualisierungen kultureller Kontaktsituationen und fremdkultureller Aushandlungsprozesse. Hier sind es nicht mehr die zivilisatorisch überlegenen Kolonisatoren – heute die Vertreter des modernen Westens, früher etwa die bronzezeitlichen Hochkulturen des mediterranen Raumes, die antiken Griechen oder 6 Tobias L. Kienlin Römer –, die einer unterlegenen und bedingungslos aufnahmebereiten indigenen Bevölkerung entgegen treten. Statt dessen wird den ‚Anderen‘ agency zuerkannt und die Möglichkeit kreativen oder strategischen Umgangs mit dem ‚überlegenen‘ kulturellen Angebot. ‚Hybride‘ Neuschaffungen materieller Kultur oder allgemein kultureller Ausdrucksformen geraten dabei ebenso in den Blick wie neue Bedeutungszuweisungen an fremde Objekte oder Güter und deren Rekontextualisierung in ‚indigenen‘ Gruppen. Auf einer solchen theoretischen Grundlage widmen sich die folgenden drei archäologischen Beiträge der im Ostmittelmeerraum tätigen Prähistorikerin Constance v. Rüden, des Herausgebers und des Klassischen Archäologen Erich Kistler mit jeweils unterschiedlichem Schwerpunkt kulturellen Kontaktsituationen im bronzezeitlichen bzw. antiken Mittelmeerraum und dessen Randgebieten. Der bronzezeitliche ostmediterrane Raum ist nachgerade ein Paradebeispiel für ‚transkulturelle Verwobenheit‘, das sich eindeutigen kulturellen Zuweisungen entzieht, wie v. Rüden eingangs anhand eines Pyxisdeckels demonstriert, der ‚orientalische‘ und ägäische, d.  h. vorgeblich ‚europäische‘ Elemente zu vereinen scheint. Aufgrund seiner Ambivalenz und Offenheit für unterschiedliche Lesarten erschien dieses Stück besonders geeignet, um auf dem Umschlag des vorliegenden Bandes zu erscheinen. Obwohl also schlichte Ost-WestDichotomien zu kurz greifen, durchzieht den Ostmittelmeerraum traditionell eine ebensolche Bruchlinie zwischen Europa und dem alten Orient als dem ‚vergangenen Anderen‘, und v. Rüden arbeitet am Beispiel des minoischen Kreta heraus, wie eine weit zurückliegende bronzezeitliche Kultur schrittweise dem europäischen ‚Eigenen‘ anverwandelt wurde. Dieser Prozess beginnt bereits mit Arthur Evans, dem Ausgräber von Knossos, der handfeste forschungspolitische Interessen verfolgte, indem er den „Palast des Minos“ dem mytho- logischen Bildungshorizont seiner britischen Leser einschrieb bzw. weitergehend die kretische Zivilisation zum Vorläufer des modernen Westens erklärte. Es folgten immer neue Essentialisierungen und Hervorhebungen des spezifisch ‚Europäischen‘ im Minoischen im Gegensatz zu den Hochkulturen des alten Orients, die doch aus heutiger Sicht eigentlich Pate standen für Schriftlichkeit und Palastkultur Kretas: sei es die spezifische ‚Modernität‘ der minoischen Fresken und Frauentrachten, oder die das britische Empire vorwegnehmende minoische Thalassokratie. Einen im weitesten Sinne diskursanalytischen Ansatz verfolgt auch der Beitrag des Herausgebers, in dem eine populäre Repräsentation der europäischen Bronzezeit als Epoche bedeutenden gesellschaftlichen Aufschwungs, getragen von kriegerischen Eliten, und der Angleichung an mediterrane Hochkulturen kritisch hinterfragt wird. Hier sind vielfältige Strategien des Othering einerseits und der Aneignung andererseits festzustellen, sei es der tendenziöse Gebrauch ethnographischer Analogien als ‚Beleg‘ für das Interesse bronzezeitlicher Eliten an exotisch-esoterischem Wissen, oder die Rückübertragung uns vertrauter homerischer Helden der frühen Eisenzeit in einen gänzlich anderen sozialen und kulturellen Kontext der mykenischen Spätbronzezeit. Das entstehende Gesamtbild ist suggestiv, doch ebenso manipulativ, so das Fazit des Beitrags, und operiert durchgängig mit problematischen Essentialisierungen (die ‚Mykener‘ etc.) sowie einem Konzept passiver ‚Peripherien‘ am Rande überlegener mediterraner ‚Zentren‘, das aus Sicht postkolonialer Theoriebildung hinter einer sehr viel komplexeren einstigen Wirklichkeit zurückbleibt. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt der Klassische Archäologe Erich Kistler, dessen von Ansätzen der Postcolonial Studies inspirierte Arbeit auf dem antiken Kultplatz des Monte Iato in Westsizilien zu einem differenzierten Bild des Umgangs indigener Akteure mit fremden, hier griechischen Fremdheit – Perspektiven auf das Andere. Zur Einführung Objekten und Praktiken führt. Weit entfernt von einer schlichten Übernahme griechischer Keramik und der Sitte des Symposions werden beide in einen lokalen Diskurs einbezogen und Bestandteil komplexer Aushandlungsprozesse und Legitimationsstrategien, die teils auf das fremde Neue, teils auf lokale Traditionen rekurrierten, ohne dass langfristig eine Auflösung lokaler Identitäten zu beobachten wäre. Im archäologischen Befund fassbar wird hier der materielle und räumliche Niederschlag der Inszenierung unterschiedlich legitimitierter Machtdiskurse und Traditionsbezüge, konkret eine räumliche Trennung und der differenzierte Gebrauch traditioneller einheimischer und fremder griechischer Waren in unterschiedlichen Kontexten. Ebenfalls eine Stärke archäologischer Ansätze ist die Möglichkeit, den Wandel solch materiell vermittelter Verständigungen über traditionelle Identitäten und die Handlungsoptionen ambitionierter gesellschaftlicher Teilgruppen diachron über lange Zeit zu verfolgen. An einer Systematisierung des in der bisherigen Forschung oft unreflektierten Umganges mit Identitäten und Alteritäten im frühen Mittelalter ist dem anschließenden Beitrag des Frühmittelalterarchäologen Sebastian Brather gelegen, der damit in mancher Hinsicht auch in Bezug zu dem weiter vorne im Band stehenden Text von Christoph Antweiler zu lesen ist. Auch Brather vertritt einen relationalen Begriff von Identität und Alterität, die zwingend aufeinander bezogen seien, widmet sein besonderes Augenmerk aber der Komplexität und Vielschichtigkeit von Identitäten und Identitätsgruppen, die situativ aufgerufen werden und jeweils unterschiedliche Bedeutung für das Individuum erlangen könnten, wobei Ethnizität zum Beispiel mit Zugehörigkeiten aufgrund von Religion, Alter, Geschlecht, Verwandtschaft, Rang oder Tätigkeit ‚konkurriere‘. Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist der Befund, dass ähnlich anderen Beispielen, etwa der griechischen Antike, das frühe Mit- 7 telalter an sich oft gar nicht als ‚fremd‘ angesehen werde, sondern als ‚Wegbereiter‘ Europas, aber eben diese vorgebliche Vertrautheit zu problematischen Projektionen der modernen Situation auf die Vergangenheit führe: Während Identität mit der Gegenwart empfunden werde, werde Alterität zum Beispiel zwischen merowingerzeitlichen Gruppierungen vermutet und oft vorschnell mit ethnischen Begriffen von ‚Stämmen‘ und ‚Völkern‘ belegt, die eher eine moderne nationalstaatliche Wirklichkeit reflektieren als die in dieser Hinsicht sehr viel heterogenere Welt des frühen Mittelalters. Besonders deutlich werde dies, so Brather, am Beispiel der Gräberarchäologie, die oftmals auf ethnische Zuweisungen fokussiere, also auf eine sehr spezielle Ausprägung frühmittelalterlicher Alterität, ohne dass die sehr viel komplexeren Identitäten in den Blick gerieten, die tatsächlich das damalige Leben geprägt haben dürften und potentiell in den Bestattungssitten zum Ausdruck gebracht werden konnten. Dem anschließen lässt sich der Beitrag der Prähistorikerin Brigitte Röder, die mit dem Einfluss des bürgerlichen Geschlechter- und Familienmodells auf unsere Interpretationen urgeschichtlicher Lebensverhältnisse eine ganz wesentliche der auch von Brather angesprochenen Dimensionen von Identität in den Blick nimmt und dabei ebenso eine zu große ‚Nähe‘ als interpretatorisches Problem ausmacht: So erschließe sich selbst bei den ‚Urmenschen‘ des weit zurückliegenden Paläolithikums, und ebenso für alle jüngeren urgeschichtlichen Perioden zwanglos, wie sich das Zusammenleben der Geschlechter gestaltet habe, nämlich in der Konstellation von Vater, Mutter und Kindern, also in Form der ‚klassischen‘ Kernfamilie, die zugleich die grundlegende Wirtschafts- und Koresidenzeinheit dargestellt habe. Hier nun handelt es sich, so Röder, um eine durchaus historisch spezifische Erscheinung, nämlich das Familienmodell der bürgerlichen Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts, mit dem die Vorstellung, die mono- 8 Tobias L. Kienlin game, heterosexuelle Paarbeziehung bilde den Normalfall und die Grundeinheit der Gesellschaft, auf die Urgeschichte projiziert werde. Es handelt sich um eine Denkbewegung, die zum einen die Vergangenheit unserer Gegenwart anverwandelt, während doch ethnographisch zahlreiche Alternativen zu unseren Geschlechterrollen und Modellen des Zusammenlebens belegt sind, deren Auftreten in der Vergangenheit zumindest zu erwägen wäre. Zum anderen wird so als immer schon da gewesen naturalisiert, was unseren gesellschaftlichen Normen, wenn auch nicht mehr unserer tatsächlichen Realität entspricht – die lebenslange monogame Paarbeziehung. Röder plädiert aus diesem Grund abschließend für mehr Fremdheit, für eine bewusste analytische Distanzierung, um möglicherweise von unserem Erwartungshorizont abweichende Konstruktionen von Geschlechterordnung und Familie überhaupt erst wieder in den Blick zu bekommen. Den Band beschließt ein Beitrag des Prähistorikers Manfred K. H. Eggert über das ‚Fremdartige‘ in der Urgeschichte schlechthin, Religion und Ritual, in dem ältere Ansätze einer ‚Religionsarchäologie‘ unter Verweis auf die große Variabilität ethnographisch belegter Kultpraktiken aus erkenntnistheoretischer Perspektive kritisch beurteilt werden. Die Veröffentlichung dieses Bandes erfolgt in der Hoffnung, dass die hier vorgelegten Beiträge einmal mehr den Blick schärfen mögen für die Problematik unserer Repräsentationen des ‚Anderen‘. Besonderes Augenmerk verdient immer noch die Frage, wie solche Fremdbilder instrumentalisiert werden, welche Strategien ihres Gebrauchs vorliegen, um in öffentlichen Diskursen Geltungsansprüche durchzusetzen, Ordnungen und Werte zu sta- bilisieren oder gegebenenfalls zu delegitimieren und zu untergraben. Dass dabei seitens der Archäologie gerade vergangene und rezente, so genannte ‚primitive‘ oder traditionelle Gesellschaften und das Bild, das sich der Westen von ihnen in den verschiedenen Medien macht, ins Blickfeld gerückt werden, liegt auf der Hand. Darüber hinaus bestehen jedoch, auch das zeigt der vorliegende Band, vielfältige Berührungspunkte mit anderen Disziplinen, genannt seien neben der Ethnologie nur die Kunstwissenschaft, die Germanistik oder die Geschichtswissenschaft(en). Schließlich begegnen hier jeweils ähnliche Diskurse, die auf dieselben Wurzeln zurückzuführen sind, zum Beispiel auf den frühneuzeitlichen kolonialen Kontakt mit außereuropäischen Völkern und die darauf aufbauenden eurozentrischen Konzeptualisierungen des Fremden. Inhaltlich reicht dies von der positiven Verklärung durch Primitivismus oder Exotismus, über die tendenzielle Abwertung im Rahmen fortschrittsgläubiger evolutionistischer Diskurse mit ihrer Fokussierung auf die Entstehung von Hochkultur bzw. Zivilisation bis hin zur Legitimation europäischer Vorherrschaft. Unabhängig von den jeweiligen disziplinären Besonderheiten besteht eine gemeinsame Verantwortung, unsere Konstruktionen des Fremden zu reflektieren und zu kontextualisieren, die wahrzunehmen in keiner Weise eine Abwertung unserer Aussagen über kulturelle Phänomene darstellt. Im Gegenteil: Wissenschaftlichkeit äußert sich gerade in dem Bewusstsein der Bedingtheit solcher Aussagen über das kulturell Fremde – und nicht in dem Anspruch auf zeitlos gültige Wahrheiten.