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Widerstehende Realität Als Kritik Oder Kritik Der Widerstehenden Realität? Jürgen Habermas Und Sally Haslanger Im Vergleich

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Juni 2015 Widerstehende Realität als Kritik oder Kritik der widerstehenden Realität? Jürgen Habermas und Sally Haslanger im Vergleich Federica Gregoratto Goethe-Universität, Frankfurt a.M. -- grober Entwurf -Abstract. In diesem Papier beschäftige ich mich mit den Beiträgen zur kritischen Gesellschaftstheorie, die Jürgen Habermas’ und Sally Haslangers jeweils formalpragmatische und sozialontologische Perspektiven leisten. Diese Kombination könnte auf den ersten Blick merkwürdig vorkommen: Während sich Habermas im Gefolge von der linkshegelianischen Tradition der Frankfurter Schule mit der kontrafaktischen Frage der Möglichkeitsbedingungen sozialer Kritik in den 60er und 70er Jahren beschäftigte, ist die kritische Arbeit von Haslanger, deren theoretische Wurzeln im philosophischen Naturalismus Quines hauptsächlich zu finden sind, größernteils einer konzeptuellen Analyse von konkreten problematischen sozialen Kategorien („social kinds“) wie Geschlecht und Rasse gewidmet. Ich möchte dennoch die Hypothese auffächern, dass es sich aus einer kritisch-theoretischen Perspektive lohnt, Sally Haslangers Bemerkungen über soziale Konstruktion, soziale Realität und ihre Idee der Kritik als eines „debunking project“ (vgl. vor allem Resisting Reality, 2012) mit Habermas’ nicht-epistemische Theorie der Wahrheit, wie er sie in Wahrheit und Rechtfertigung (2004, WR) darstellt, in Zusammenhang zu bringen. Der Vergleich legitimiert sich dank der systematischen Ähnlichkeit zwischen den Konzeptionen von Realität und Objektivität, die Habermas und Haslanger aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven umreißen. Im Papier werde ich in einem ersten Schritt eine solche Ähnlichkeit rekonstruieren und damit zeigen, wie das Verhältnis zwischen den diskursiven und nicht-diskursiven sozialen Praktiken und dem Realen, das die Praktiken in unterschiedlichen Weisen betreffen, aus dem Gesichtspunkt der Gesellschaftskritik einzuordnen ist (1). In einem zweiten Schritt werde ich wie etwa Cristina Lafont (1999) und Steven Levine (2011) die These plausibel machen, dass eine realistische Deutung von Habermas’ formalem Pragmatismus in der Lage ist, das kritische Potential diskursiven Interaktionen zu erklären. Im Gegensatz zur etwas vagen Position Haslangers diesbezüglich, verankert die Habermassche Theorie das Bedürfnis nach Kritik in einer „riskanten“, problematischen Realität, die zur Infragestellung und Revision der geltenden Wahrheitsansprüche bringt (2). Schließlich möchte ich noch behaupten, dass Haslangers Überlegungen zur Rolle und Wirkungsweise sozialer Strukturen schlagkräftige Werkzeuge liefern, die der Habermasschen Theorie fernbleiben, um die systematischen im lebensweltlichen Hintergrund eingesteckten Blockaden der Kritik zu enthüllen. Zwei Gründe würden hier meines Erachtens den Fehlbeitrag von Habermas’ Position erklären: erstens, sein zu „optimistisches“ Bild der diskursiven Praxis, und zweitens, die Trennung zwischen der nicht-epistemischen Wahrheitskonzeption und der epistemischen Richtigkeitskonzeption (3). 0. Einleitung In diesem Papier beschäftige ich mich mit den Beiträgen zur kritischen Gesellschaftstheorie, die Jürgen Habermas’ und Sally Haslangers jeweils formalpragmatische und sozialontologische Perspektiven leisten. Eine solche Kombination könnte auf den ersten Blick merkwürdig erscheinen: Habermas’ Denken hat sich in Auseinandersetzung mit der linkshegelianischen Tradition der Frankfurter Schule entwickelt; nach der Veröffentlichung der Theorie des kommunikativen Handelns in den 80en Jahren hat er sich allerdings – je nach Interpretation mehr   1   Juni 2015 oder weniger eindeutig – vom gesellschaftskritischen Projekt entfernt. Zurzeit setzt sich hingegen Haslanger, deren theoretische Wurzeln hauptsächlich im philosophischen Naturalismus Quines zu finden sind (RR: 13), immer tiefer mit kritisch-theoretischen Modellen, insbesondere mit dem ideologiekritischen auseinander (vgl. z.B. ihre erste Spinoza Lecture, „Ideology and Materiality“, Haslanger 2015.1) Darüber hinaus hat sich Habermas hauptsächlich mit der kontrafaktischen Frage der Möglichkeitsbedingungen sozialer Kritik beschäftigt,2 während die kritische Arbeit von Haslanger größtenteils einer konzeptuellen Analyse von konkreten problematischen sozialen Kategorien („social kinds“) wie Geschlecht und Rasse gewidmet ist. Ich möchte dennoch die Hypothese aufstellen, dass es sich aus einer kritischtheoretischen Perspektive lohnt, Sally Haslangers Bemerkungen über soziale Konstruktion, Realität und die Idee sozialer Kritik als „debunking project“ mit Habermas’ nichtepistemischer Theorie der Wahrheit, wie er sie in Wahrheit und Rechtfertigung (2004, WR) darstellt, in Zusammenhang zu bringen. Der Vorteil einer solchen Auseinandersetzung besteht darin, dass jeder Beitrag, den anderen korrigieren und ergänzen kann. Ich möchte einerseits zeigen, dass Habermas’ formalpragmatische Strategie eine überzeugendere Beantwortung als Haslangers Verpflichtung zu sozialer Gerechtigkeit auf die Frage anbietet, was uns zur kritischen Praxis drängt. Auf der anderen Seite ist Haslangers Methode aber geeigneter, um uns auf die sozial-strukturellen Hindernisse aufmerksam zu machen, die Lernprozesse und emanzipatorische Praktiken blockieren. Der Vergleich legitimiert sich dank der systematischen Ähnlichkeit zwischen den Konzeptionen von Realität und Objektivität, die Habermas und Haslanger aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven beschreiben. Im Folgenden werde ich in einem ersten Schritt eine solche Ähnlichkeit rekonstruieren. Damit wird die Frage eingeführt, wie das Verhältnis zwischen den diskursiven sozialen Praktiken und dem Realen, das die Praktiken in unterschiedlichen Weisen betrifft, von dem Gesichtspunkt der Gesellschaftskritik einzuordnen ist (1). In einem zweiten Schritt werde ich die These plausibel machen, dass eine realistische Deutung von Habermas’ formalen Pragmatismus in der Lage ist, das kritische Potential diskursiver Interaktionen zu erklären. Im Gegensatz zur etwas vagen Position Haslangers diesbezüglich, verankert die Habermas’sche Theorie das Bedürfnis nach Kritik in einer „riskanten“, problematischen Realität, die zur Infragestellung und Revision der geltenden                                                                                                                 Vgl. auch: Kapitel 15 und 17 von RR; Sally Haslanger, “Social Structure, Narrative and Explanation”, in Canadian Journal of Philosophy, 2015. 2 Eine solche Perspektive auf Gesellschaftskritik kann als eine Spezifizierung der folgenden Kantischen Frage, die McCarthy zufolge das gesamte philosophische Programm Habermas’ zusammenfasst: „Wie ist zwischenmenschlichen Verständigung überhaupt möglich?“ (McCarthy, 1991, 130). 1   2   Juni 2015 Wahrheitsansprüche führt (2). Schließlich argumentiere ich, dass Haslangers Überlegungen zur Rolle und Wirkungsweise sozialer Strukturen hilfreiche Werkzeuge liefern, die der Habermas’schen Theorie fehlen, um die systematischen, im lebensweltlichen Hintergrund eingefassten, Blockaden der Kritik zu enthüllen (3). 1. Wahrheit, Objektivität und Realität In diesem Abschnitt entwerfe ich die Ideen von „Objektivität“ und „Realität“, die in Habermas’ Wahrheit und Rechtfertigung (im Folgenden WR) und in einigen im Sammelband Resisting Reality (im Folgenden RR) veröffentlichten Artikeln von Haslanger ausgeführt werden. Der Schlüssel zur Habermas’schen Auffassung von „Objektivität“ und „Realität“ liegt in seinem Wahrheitsbegriff, der Ende der neunziger Jahre eine beträchtliche Revision erfahren hat. In vorherigen Werken verteidigte Habermas nämlich eine diskurstheoretische, epistemische Theorie der Wahrheit, nach der „wahr ist, was unter idealen Umständen als rational akzeptiert werden darf“ (WR, 256), d.h., was in einer idealen epistemischen Situation gerechtfertigt werden kann (Vgl. z.B. WR, 49). Die Auseinandersetzung mit Wellmer, Lafont, Rorty und Putnam bringt Habermas im Nachhinein aber dazu, den epistemischen Wahrheitsbegriff zu verwerfen. In WR – wo Habermas sich mit Fragen der theoretischen Philosophie, und genauer gesagt mit der ontologischen Frage des Naturalismus und mit der erkenntnistheoretischen Frage des Realismus aus einer formalpragmatischen Perspektive beschäftigt (WR, 8)3 – werden Wahrheit und ideale Behauptbarkeit nun auseinandergehalten, ohne aber dass die Verknüpfung zwischen dem beibehaltenen Diskursbegriff der rationalen Akzeptabilität und einem pragmatisch gefassten, nicht-epistemischen Wahrheitsbegriff verloren geht (WR, 51). Wie Habermas in Zwischen Naturalismus und Religion deutlich schreibt, finde nach dieser neuen Auffassung eine Aussage „die Zustimmung aller vernünftigen Subjekte, weil sie wahr ist; sie ist nicht darum wahr, weil sie den Inhalt eines ideal erzielten Konsenses bilden könnte.“4 Sprache, d.h. Kommunikations- und Rechtfertigungspraktiken, und Realität seien Habermas zufolge auf eine für uns unauflösbare Weise verflochten: Es sei nicht möglich, „die                                                                                                                 Die Frage des Naturalismus beschäftigt sich grob gesagt mit dem Problem, wie die Normativität der Lebenswelt mit der naturhaften Entwicklung unserer sozio-kulturellen Lebensformen versöhnt werden kann; die Frage des Realismus, wie wir im folgenden sehen werden, betrifft die Schwierigkeit, die Auffassung einer objektiven Wirklichkeit, die für alle Beteiligten gleich sein muss, mit der nach der linguistischen Wende allgemein akzeptierten Überzeugung in Einklang zu bringen, dass der Zugang zur Wirklichkeit linguistisch vermittelt ist (vgl. Steven Levine (2010), „Habermas, Kantian Pragmatism, and Truth“, in Philosophy & Social Criticism 36(6)). 4 Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2005, S. 48. 3   3   Juni 2015 Beschränkungen der Realität, die eine Aussage wahr machen, von den semantischen Regeln, die diese Wahrheitsbedingungen festlegen, zu isolieren.“ (WR, 246). Was wirklich ist, können wir nur in Begriffen dessen, was wahr ist, erklären. Die Wirklichkeit sei keine „nackte“ Wirklichkeit, sondern selber schon sprachlich imprägniert und wiedergegeben. (WR, 48) Daher ergibt sich eine „interne Beziehung zwischen Wahrheit und Rechtfertigung“(vgl. z.B. WR, 247). Das bedeutet aber nicht, dass ein „epistemisch unhintergehbare[r] Zusammenhang [...] zu einem konzeptuell unauflöslichen Zusammenhang stilisiert wird.“ (WR, 52)5 Wie kann man nun die Unüberschreitbarkeit der Sprache mit einem realistischen, nichtepistemischen Wahrheitsbegriff vereinen? Dazu benötigt Habermas die Idee einer objektiven Welt. Nur eine „erkenntnisrealistische Voraussetzung einer intersubjektiv zugänglichen objektiven Welt“ kann „den epistemischen Vorrang des sprachlich artikulierten lebensweltlichen Horizonts, den wir nicht überschreiten können, mit dem ontologischen Vorrang einer sprachunabhängigen Realität, die unseren Praktiken Beschränkungen auferlegt, in Einklang bringen.“ (WR, 41) Um die Bedeutung der Objektivität zu erläutern, die Habermas als Unterstellung einer intersubjektiv gemeinsamen Welt versteht, werde ich anhand von Steven Levines Interpretation zeigen, dass sich Habermas’ neuere Theorie der Wahrheit auf einen Leitgedanken der klassischen Pragmatismus-Tradition (Peirce, James, Dewey) stützt, der von meisten zeitgenössischen Pragmatisten vergessen wurde. Der Leitgedanke besteht darin, dass, wie Levine erklärt: cognition must be seen as a moment in a larger action-cycle that starts when agents confront problematic situations in the world. In confronting such situations, habitual modes of coping break down giving rise to doubt. To repair this breach and replace doubt with belief [...] agents must undertake higher-order cognition and inquiry.6 In Habermas’ Theorie der kommunikativen Rationalität finden „higher-order cognition and inquiry” im Übergang von unproblematischen alltäglichen kommunikativen Interaktionen zu problematisierenden (und kritisierenden) diskursiven Praktiken statt. Unproblematische Kommunikation gehört zum – sich auf mehr oder weniger impliziten Meinungen gestützten – Netzwerk eingewöhnter Praktiken; solche Meinungen halten wir vor einem breiten background                                                                                                                 5Vgl. auch: „Ein für ‚p’ geltend gemachter Wahrheitsanspruch besagt, dass die Wahrheitsbedingungen für ‚p’ erfüllt sind. Ob das der Fall ist, können wir nicht anders als auf dem Wege der Argumentation feststellen, weil uns ein direkter Zugriff auf uninterpretierte Wahrheitsbedingungen verwehrt ist. Aber der Umstand, dass Wahrheitsbedingungen erfüllt sind, wird nicht selber schon dadurch zu einem epistemischen Umstand, dass wir nur auf dem Wege einer diskursiven Einlösung des Wahrheitsanspruchs feststellen können, ob diese Bedingungen, die wir bereits im Lichte der jeweils geeigneten Sorte von Gründen interpretieren müssen, erfüllt sind.“ (WR, 259) 6 Steven Levine (2011), “Truth and Moral Validity: On Habermas’ Domesticated Pragmatism”, in Constellations, Vol. 18, n. 2, 246.   4   Juni 2015 intersubjektiv geteilter Überzeugungen für wahr (WR, 319). Zweifel kommen nur ausgehend von so einem Kontext zustande, der aus gegebenen Überzeugungen, Handlungsgewissheiten und stabilen Erwartungen besteht. Ein solcher Kontext wird von Habermas als „identisch und unabhängig unterstellte objektive Welt“ (WR, 52) begriffen – eine Welt, die von jedem kommunikativ Handelnden „behandelt und beurteilt“ (WR, 53) werden kann.7 Dieser Alltagsrealismus, der im Gegensatz zu Rortys Kontextualismus und Relativismus so behauptet wird, setzt eine unbedingte Wahrheitskonzeption voraus, die einen „rechtfertigungstranszendierenden Bezugspunkt“ zur Verfügung stellt (WR, 53). Das Ziel von Rechtfertigungspraktiken sei dann, eine Wahrheit herauszufinden, die über solche Praktiken hinausgeht. In diesem transzendierenden Bezugspunkt besteht genau das, was den Fallibilismus von Wahrheitsansprüchen und ihren Rechtfertigungen erklärt: Habermas schreibt: „dabei hängt das fallibilistische Bewusstsein, dass wir uns auch im Falle gut begründeter Meinungen irren können, [...] von einer Wahrheitsorientierung ab, deren Wurzeln in jenen [...] Realismus der Alltagspraxis hinabreichen.“ (WR, 262)8 Wie werden nun Realität und Objektivität von Haslanger begriffen? Es lohnt sich an dieser Stelle, insbesondere die Aufsätze „Ontology and Social Construction“ und „Feminism in Metaphysics” in Betracht zu ziehen: die Verfasserin nimmt sich in diesen Essays vor, die Position in Frage zu stellen, die behauptet, dass die These der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit uns zur Ablehnung der Idee einer teilweise unabhängigen Realität verpflichtet. Haslanger verwirft die These, dass „because knowledge is socially constructed, there is no objective (and so no independent) reality.” (RR, 85) Die von Haslanger verfolgte Strategie stützt sich auf eine Einsicht, die auch der oben skizzierten pragmatischen Theorie der Wahrheit von Habermas zugrunde liegt: dass der „epistemischen Vorrang“ eines nicht überschreitbaren „sprachlich artikulierten lebensweltlichen Horizonts“ – wobei man unter „sprachlich artikuliert“ gleichwohl sozial konstruiert verstehen kann – „mit dem ontologischen Vorrang einer sprachunabhängigen Realität“ in Einklang gebracht werden muss (WR, 41). Einerseits behauptet Haslanger nämlich, dass “there is no way we can ‘step outside’ all                                                                                                                 7 „Verständigung kann nicht funktionieren, ohne dass sich die Beteiligten auf eine einzige objektive Welt beziehen und damit den intersubjektiv geteilten öffentlichen Raum stabilisieren, von dem sich alles bloß Subjektive abheben kann. Die Unterstellung einer objektiven, von unseren Beschreibungen unabhängigen Welt erfüllt ein Funktionserfordernis unserer Kooperations- und Verständigungsprozesse.“ (WR, 249) 8 Wie Lafont richtig bemerkt, “[t]he acknowledgement of the realist sense of the notion of truth – that is, that the only necessary and sufficient condition of the truth of a statement ‘p’ is that ‘p’ be the case – loses its apparently triviality precisely when such condition is situated in the epistemic context of the practices of testing our beliefs. It is precisely because the unconditional validity of truth is not due to epistemic conditions that this notion can play the ‘cautionary’ role of a fallibilist reserve, vis-à-vis the validity of any such epistemic conditions, criteria of justification, and the like.” (Cristina Lafont, 1999, The Linguistic Turn in Hermeneutic Philosophy, Cambridge: The MIT Press, 312-313)   5   Juni 2015 conceptualization to determine which, if any, will provide the resources to capture how the world really is” (RR, 152); anderseits dennoch „even if we grant that the epistemic criteria for applying any term will implicate us in some way, we need not equate such social criteria with the content of our attribution.” (RR, 106) Mit anderen Worten: Auch wenn Haslanger die Existenz einer „unabhängigen Realität“ nicht ablehnen will, ist ihre Analyse – ihre kritische Analyse – einer Realität gewidmet, von der es keinen Sinn machen würde, zu sagen, dass sie von uns nicht geprägt wäre (RR, 95). Nach der Definition, die Haslanger in einem weiteren Artikel, „Social Construction: Myth and Reality“ darlegt,9 kennzeichnet hingegen Objektivität (oder besser ausgedrückt, objectivism about types, oder “kinds”) etwas, das “unser” Produkt, d.h. das Ergebnis einer sozialen Konstruktion sei, das deswegen aber nicht weniger „real“ oder sogar weniger „material“10 sei. Wie sie in mehreren weiteren Artikeln zeigt, sind soziale „kinds“ wie Geschlecht und Rasse „objektiv“ in diesem Sinn. Mit Habermas könnte man dann sagen, dass wir uns auf Dinge in der Welt beziehen, die als „Männer“ und „Frauen“, oder schwarze und weiße Frauen auftauchen, da wir unterstellen, dass es Männer und Frauen, Schwarze und Weiße gibt, ohne eine solche Unterstellung zu problematisieren. Wie im letzten Abschnitt dieses Papiers gezeigt wird, ist Haslanger im Gegensatz zu Habermas ziemlich erfolgreich dabei, zu enthüllen, wie einige von solchen als objektiv unterstellten sozialen Kategorien nicht bloß das Produkt einer sozialen Konstruktion (oder nach dem Habermas’schen Vokabular das Produkt sozialer kommunikativer Praktiken), sondern das Produkt einer Konstruktion sind, die aus Ungerechtigkeits-, Unterdrückungs- und Ausschließungsmechanismen besteht. Bevor wir zu diesem Punkt kommen, müssen wir uns aber zunächst nach der „Quelle“ problematisierender, kritisierender Praxis fragen. Warum, woher weiß man, dass die objektive Tatsache, dass es z.B. ‚Schwarze’ und ‚Weiße’, ‚Männer’ und ‚Frauen’ gibt, eventuell der Kritik und Revision bedarf? 2. Widerstehende Realität und Kritik Die Frage, die mich in diesem Abschnitt beschäftigen wird, kann so formuliert werden: Wie ist gesellschaftskritische Praxis möglich? Was machen wir genau, wenn wir Kritik üben?                                                                                                                 “Type objectivism about Fs takes a stand against those who hold that Fs being a type is ‘due to us’ in a way that makes the type less than fully real. This is compatible with the type being socially constructed.” (RR, 210) 10 In diesem Sinn versteht sich Haslanger als eine materialistische Feministin und Theoretikerin der Rasse, nämlich als jemand, die sich vornimmt, die “Materialität” gegebener Ungerechtigkeiten zu entlarven („debunk“).   9   6   Juni 2015 Haslanger zufolge umfasst soziale Kritik zwei miteinander verwobene Schritte: ein deskriptiver, der die bestehenden sozialen Praktiken in einer Art und Weise beschreibt, dass die relevanten Merkmale für eine normativ-kritische Evaluation hervorgehoben werden; und ein normativer, der geeignete Begriffe ausarbeitet, um soziale Praktiken als gerecht, vernünftig, nützlich, gut, etc. zu evaluieren (RR, 16-17). Eine solche evaluierende Praxis besteht überwiegend aus Ideologiekritik, die Haslangers Auffassung zufolge als Kritik von Gewohnheiten verstanden werden kann (RR, 18), und die wiederum verschiedene Momente umfasst: genealogische Rekonstruktion, Entlarvung von in sozialen Strukturen eingebetteten hegemonialen Diskursen, moralische Evaluation usw. (RR, 19ff.) Die Kritik der „heteronormative Familie“ kann als Beispiel dienen. Eine kritische Theorie einer solchen Institution, die nach Haslanger eine soziale Struktur, und zwar „a complex set of interdependent practices, cultural resources, laws, policies“ sei (RR, 21), würde zunächst deskriptiv verfahren, um die ontologische Bestimmung eines solchen gesellschaftlichen Gegenstands darzulegen. Zweitens könnte man die Geschichte (Genealogie) umreißen, die zur Entstehung und Entwicklung eines solchen Familienmodells geführt hat. Drittens wäre es vielleicht sinnvoll, zu zeigen, wie die mit einer solchen Institution verbundenen Praktiken hegemonial geworden sind, zu zeigen also, wie sich alternative Formen der Familie als unvorstellbar oder unakzeptabel herausgebildet haben. Um der Beschreibung eine normative Bedeutung zu verleihen, muss man sich darüber hinaus beispielsweise fragen, ob die Ausschließung von nicht-heteronormativen Familien falsch und ungerecht ist, und warum, und ob die heteronormative Familie an sich eine falsche und ungerechte soziale Struktur ist, und warum, und so weiter. Warum soll man sich solche normativ-kritischen Fragen stellen? Woraus geht der Drang hervor, diese oder andere soziale Strukturen zu problematisieren? Meines Erachtens bietet Haslanger keine hinreichende Antwort auf diese Frage an; ihre feinen Analysen gehen von der Voraussetzung aus, dass die soziale Realität von ungerechten Strukturen und deren rechtfertigenden Ideologien gefährdet ist; diese Voraussetzung würde also reichen, um uns zur Kritik zu verpflichten. Das lässt sich aus dem Umstand erklären, dass kritische Theorie für Haslanger (wie für andere GesellschaftskritikerInnen) „situierte“ (situated) Theorie sowohl aus einer epistemischen als auch politischen Gesichtspunkt sei: Critical social theory begins with a commitment to a political movement and its questions; its concepts and theories are adequate only if they contribute to the movement. A feminist or racist critical theory does not attempt to be ‘neutral’ on questions of race and gender, but begins with the assumption that current conditions are unacceptable unjust and a commitment to understand and remedy that injustice. […] Critical theories arise out of social activism. (RR, 22)   7   Juni 2015 Ich möchte an dieser Stelle behaupten, dass Habermas’ pragmatistische Einstellung geeigneter ist, um zu erklären, wie das Bedürfnis nach Kritik erzeugt wird. Die Erklärung hängt mit der These zusammen, dass die Entstehung einer objektiven Welt anhand des Fallibilismus von Erkenntnis- und Rechtfertigungspraktiken zu erläutern ist.11 Wie Habermas sich ausdrückt: Wenn sie [Sprachspiele und Praktiken] scheitern, spielt die Welt nicht mehr in der erwarteten Weise mit. An diesem praktisch erfahrenen Dementi eines Misserfolg, mit dem die Welt performativ ihre Bereitschaft zum Mitspielen widerruft, bildet sich der Begriff der Objektivität. Dieser erstreckt sich einerseits auf die Resistenz einer unverfügbaren Welt, die unseren Manipulationen ihren Eigensinn entgegensetzt, anderseits auf die Identität einer für alle gemeinsamen Welt. (WR, 322, meine Hervorhebung)12 Durch unsere Misserfolge beim Umgehen mit der Welt konstituiert sich die Welt für uns als objektiv. Anders aufgefasst, ist es das Problematisch-Werden von einigen Unterstellungen, das unsere gewöhnlichen kommunikativen Praktiken zum Scheitern verurteilt, was zur Entstehung einer (teilweise) „neuen“ Welt führt; diese erneute Objektivität bedarf eines (rationalen) Prozesses der kritischen Behandlung von problematisch gewordenen Überzeugungen und Wahrheitsansprüchen: Aus pragmatistischer Sicht ist die Wirklichkeit nichts Abzubildendes; sie macht sich einzig in den Beschränkungen, denen unsere Problemlösungen und Lernprozesse unterworfen sind, performativ – als das Ganze der verarbeiteten und der zu erwartenden Widerstände – bemerkbar. (WR, 37) Es ist bemerkenswert, dass sich der Impuls zur Kritik in einer Realität verankert, die von Habermas als „widerstehend“ (vgl auch WR, 25) oder „beschränkend“, „riskant(en)“ (WR, 36), d.h. problematisch, „unverfügbar“, d.h. unabhängig, und sogar überraschend (WR, 323) beschrieben wird. Wie Cristina Lafont zeigt, enthalt die Differenz zwischen Wahrheit und rationaler Akzeptabilität eine kritische Funktion. Im folgenden Zitat wird eine solche Einsicht negativ ausgedrückt: The consequence of closing up the gap between truth and rational acceptability [...] is that it will […] be the case that […] our particular way of justifying the statement also cannot be wrong.                                                                                                                 Vgl. Levine 2011, 247. Vgl auch: „Vielmehr führt die konstruktive Lösung von Problemen, die durch eine Störung eingewöhnter Praktiken hervorgerufen werden, zu veränderten, wiederum falliblen und bewährungsbedürftigen Überzeugungen. Aus pragmatischer Sicht ergeben sich ‚Erkenntnisse’ aus der intelligenten Verarbeitung erfahrener Enttäuschungen.“ (WR, 21) 11 12     8   Juni 2015 […] It is in this sense that the notion of idealized rational acceptability unavoidably seems to involve anticipating an end to the argumentation process.13 Wenn wir folglich einen epistemischen Wahrheitsbegriff verteidigen würden, nach dem Wahrheit mit gerechtfertigter Behauptbarkeit gleichwertig wäre, hätten wir den nichtepistemischen Realbezug verloren, den wir als problematisierende und kritisierende Instanz brauchen. Demzufolge würden wir bei einer „antifallibilistischen“ Verpflichtung zur Rationalität landen, die Lernprozesse und soziale Veränderungen blockieren würde.14 Ein realistischer Wahrheitsbegriff erklärt hingegen den Fallibilismus von Rechtfertigungs- und Erkenntnispraktiken, und letztendlich auch die Möglichkeit der Kritik: Es ist nämlich das problemlösende Umgehen mit einer widerstehenden, problematischen unabhängig konzipierten Wirklichkeit, und die Erfahrung derselben, die uns zur Bearbeitung und kritischen Revision unserer die objektive Welt ausmachenden Überzeugungen, Gewohnheiten, und Wahrheitsansprüchen führt.15 Es muss nun zugegeben werden, dass sich Haslanger an manchen Stellen dieser pragmatistischen Intuition nähert. In der Einführung zur Resisting Reality lesen wir z.B.: [Critical] theories offer a response to the needs present in a social context; among other things, they offer a framework of concepts for understanding a domain. […] The point of theory in such cases is not to convince someone that there is a problem, or to prove to an unbeliever that a particular belief in the only rational option, but to answer a question, to address a concern.” (RR, 23; meine Hervorhebung) Im Aufsatz „Feminism in Metaphysics“ spricht sie zudem von einer “aporematic“ metaphysischen Methode, die mit der pragmatischen bezeichnenderweise vereinbar scheint: “Theorizing starts when one finds a particular puzzle, tension, or contradiction in the answers […]. The goal is to resolve these puzzles in order to achieve a broadly consistent set of beliefs.” (RR, 146) Selbst der Titel ihres hier erörterten Sammelbands, Resisting Reality, würde eine bedeutungsvolle Ähnlichkeit zwischen den beiden Verfassern anspielen; Haslanger deutet dennoch den Ausdruck „widerstehende Realität (Wirklichkeit)“ unterschiedlich als Habermas. Während Habermas zufolge die Realität dasjenige ist, was Widerstand gegenüber den Rechtfertigungspraktiken leistet, entspricht das Subjekt des Widerstands Haslanger zufolge ausschließlich den rechtfertigenden Theoretikern oder Kritikern. So plädiert sie dafür, dass wir                                                                                                                 Lafont 1999, 294. Lafont 1999, 296. 15 Es ist beiläufig hier zu bemerken, dass nach Habermas’ pragmatische Einstellung Gedanke und Tat, Theorie und Handeln nicht zu trennen seien. 13 14   9   Juni 2015 derjenigen Wirklichkeit widerstehen, und sie entlarven, kritisieren und bekämpfen, deren „Schwere“ und Undurchlässigkeit von manchen radikalen sozialen Konstruktivisten verleugnet wird (RR, 29-30). Habermas zufolge übernimmt die widerstehende Realität selbst eine kritische Funktion; resisting reality ist hingegen nach Haslanger das, was kritisiert werden muss. In diesem Zusammenhang ist es nicht unbedeutend, zu bemerken, dass Habermas trotz einer solchen realistisch-pragmatistischen Konzeption nicht auf das intersubjektive Paradigma verzichten will. Die „Objektivität der Welt und Intersubjektivität der Verständigung verweisen reziprok aufeinander.“ (WR, 25) Die Erfahrung einer widerstehenden, problematischen Realität zeigt nämlich die Möglichkeit einer intersubjektiv geteilten Erfahrung auf, die in eine kollektive kritische Praxis16 münden soll: Aus dem performativ erfahrenen Widerstand der Realität können wir nur in dem Maße etwas lernen, wie wir die implizit in Frage gestellten Überzeugungen zum Thema machen und von den Einsprüchen anderer Diskursteilnehmer lernen. [...] Der praktische wie der semantische Bezug zu Gegenständen konfrontiert uns mit ‚der’ Welt, während uns der Wahrheitsanspruch, den wir für Aussagen über Gegenstände erheben, mit dem Widerspruch „der anderen“ konfrontiert. (WR, 25)17 Diese intersubjektive Dimension der Auseinandersetzung mit einer problematischen und zur Problematisierung zwingenden Realität, die im Herz des Habermas’schen Projekts liegt und die von Haslanger nicht betont wird, ist aus einer gesellschaftskritischen Perspektive wichtig, da sie eine gewisse Gefahr bewältigt, die man die Gefahr des kritischen Elitismus nennen könnte. Die Tatsache, dass die Erfahrungen und Einwände der Kommunikationspartnerinnen bei dem Umgang mit der Welt konstitutiv sind, demokratisiert das kritische Unternehmen insofern, als es für weitere kritische Ansprüche stets offen bleibt. Die Intersubjektivität der kritischen Erfahrung sorgt dafür, dass es kein Monopol eines einzigen Kritikers, einer einzigen geschlossenen Gruppe von Kritikern oder sogar einer einzigen kritischen Tradition darauf geben kann .18 3. Soziale Strukturen und Hindernisse der Kritik                                                                                                                 Demokratie? (Habermas, Dewey) Vgl. auch: “Erkenntnisse resultieren in der räumlichen Dimension aus der Verarbeitung von Enttäuschungen im intelligentem Umgang mit einer riskanten Umwelt, in der sozialen Dimension aus der Rechtfertigung von Problemlösungen gegenüber Einwänden anderer Argumentationsteilnehmer und in der zeitlichen Dimension aus Lernvorgängen, die von der Revision eigener Fehler zehren.“ (WR, 36) 18 Haslangers Position lässt sich, so vermute ich, nicht als der Intersubjektivität der kritischen Praxis entgegengesetzt verstehen (vgl. z. B. Sally Haslanger (2015), „Social Structure, Narrative and Explanation“, in Canadian Journal of Philosophy, 10-11; RR, 425-426); sie thematisiert die jedoch nicht. 16 17   10   Juni 2015 Ich habe bisher behauptet, dass der theoretische Vorteil von Habermas’ Paradigma zweierlei ist: erstens erlaubt Habermas’ Konzeption der Realität uns, den Trieb der Kritik als einen in der Wirklichkeit verankerten pragmatistischen Revisionsdrang zu begreifen; zweitens fördert seine in einem kommunikativen bzw. diskursiven intersubjektiven Paradigma eingebettete Idee der Objektivität und Realität eine demokratische, fallibilistische und selbst-reflexive Kritikkonzeption. Es gibt dennoch gute Gründe, so werde ich in diesem letzten Abschnitt argumentieren, Haslangers Idee der widerstehenden Realität aus der Perspektive der Gesellschaftskritik erneut zur Kenntnis zu nehmen. Es gibt nämlich gute Gründe, die Wirklichkeit und insbesondere die soziale Wirklichkeit als widerstehend im Sinne einer erstarrten, undurchsichtigen, unterdrückenden Wirklichkeit zu deuten, die unsere Lernprozesse, Veränderungs- und Verbesserungsanstrengungen hindert oder erschwert. In der Einleitung zu Resisting Reality bemerkt Haslanger, dass es „several specific issues concerning social phenomena that make the task of description and evaluation especially challenging“ (RR 20) gibt – „specific issues“, die Habermas tastsächlich nicht berücksichtigt (bzw. berücksichtigen will). Eine Theorie der sozialen Strukturen ist nun besonders geeignet, so argumentiert Haslanger in ihrer jüngsten Arbeit, solche „specific issues“ zu untersuchen. Die sozial konstruierte Realität – was nach Habermanschen Verhältnissen als objektive Welt begriffen werden kann – ist in der Tat in Strukturen organisiert, die sowohl kognitive (und ideologische) als auch materielle Komponenten (RR: 415 ff.) umfassen. In den letzten Aufsätzen von Resisting Reality (Kapitel 15; 17) und in einem vor kurzem veröffentlichen Artikel „Social Structure, Narrative and Explanation“19 definiert Haslanger eine soziale Struktur als ein Bündel von interdependenten Praktiken, die aus „Schemas“ und „Ressourcen“ bestehen. Schemas sind intersubjektive Wahrnehmungs-, Denk- und Haltungsmuster, die als geteilter Cluster von offenen (open-ended) Einstellungen in Individuen verkörpert sind, die uns dazu bringen, Sachen in einer gewissen Art und Weise zu sehen oder unter gewissen Umständen nach gewissen Gewohnheiten zu reagieren. Schemas kodifizieren Erkenntnisse und Erkenntnisfähigkeiten und liefern Interaktionsskripten; die Teil unseres Kommunikationshintergrunds (common ground) sind (RR, 462). „Resources“ sind hingegen „things of all sorts – human, non-human, animate, or not – that are taken to have some (including negative) value“;20 die, so Haslanger, die Materialität der sozialen Struktur zur                                                                                                                 19 20   Haslanger 2015. Haslangers 2015, 4. 11   Juni 2015 Verfügung stellen (RR, 463). Ressourcen und Schemas seien sowohl kausal als auch konstitutiv interdependent. Warum würde eine in dieser Weise sozial strukturierte Realität gegen kritische und transformative Praktiken Widerstand leisten? Schauen wir uns ein Bespiel an: Nehmen wir – auf etwas vereinfachte Weise – das Schema der Geschlechtsdichotomie an, nach dem es unmöglich ist, das persönliche Geschlecht anders als ‚Frau’ oder ‚Mann’ zu bestimmen. Ein solches Schema ist mit einer Reihe von Ressourcen verbunden, z .B. dass es ‚Damen’ und ‚Herren’ Abteilungen in Einkaufzentren gibt; dem Zwang, auf dem Personalausweis das Geschlecht als ‚Mann’ oder ‚Frau’ aufzuführen; die chirurgischen Techniken, die sofort nach der Geburt intersexuelle Körper korrigieren, so dass man entweder ‚männlich’ oder ‚weiblich’ wird. Die eingewohnte Disposition (Schema), nach der wir uns selbst und alle andere entweder als Männer oder als Frauen konzipieren und sehen können, wird von einer aus einem Bündel von Gesetzen, Handlungsmodellen, Gewohnheiten, Warenproduktion, Marketing Strategien, Einrichtung der Räumlichkeiten, etc. der bestehenden „materiellen Welt“ (Ressourcen) reproduziert und verstärkt. Gleichzeitig wird die materielle Welt einem solchen Schema entsprechend geschaffen, damit das Schema (fast) immer empfangen und bestätigt werden kann. So könnte man sagen, dass es in öffentlichen Gebäuden Männer- und Frauentoiletten gibt, weil wir „wissen“, dass es (nur) Männer und Frauen gibt.21 Eine solche Strukturierung der Wirklichkeit stellt ein Hindernis für eine „transgressive“ (übertretende) Erfahrung dar: Die Möglichkeit, dass eine in Habermas’ Sinne widerstehende Realität auftaucht, eine Realität, die sich von unseren Erwartungen unterscheidet, die unsere geschlechtsdichotomische Überzeugung in Frage stellt, wird von dem scheinbar unauflöslichen Geflecht zwischen Schemas und materiellen Ressourcen obstruiert. Lässt sich nun eine solche Konzeption sozialer Strukturen in Habermas’ Modell integrieren? Ich kann in diesem Zusammenhang lediglich eine skizzenhafte Antwort geben. Meines Erachtens ist die kritische Untersuchung von sozialen Strukturen nicht völlig inkompatibel mit Habermas’ Theorie kommunikativer und kritischer Vernunft. Unter den verschiedenen Begrifflichkeiten von Habermas’ kommunikativ-intersubjektivem Paradigma, ist der Begriff der Lebenswelt vielleicht der geeignetste, um die oben dargestellten strukturellen Hindernisse der Kritik zu fassen. Die Lebenswelt prägt sich nach Habermas tatsächlich als ein Netzwerk von holistisch verbundenen Überzeugungen, Normen, Werten, Denk- und Handlungsmuster aus, das den unhintergehbaren, intersubjektiv geteilten Hintergrund unserer                                                                                                                 21   Vgl. etwa RR, 467-468. Vgl. Hier auch das Vergewaltigungsbeispiel. 12   Juni 2015 kommunikativen Praktiken ausmacht.22 Ohne die implizit akzeptierten, faktisch geltenden gegebenen Verständigungen, die einen solchen lebensweltlichen Hintergrund bilden, würde die zwischenmenschliche Kommunikation nicht klappen; ein solcher Hintergrund hat dennoch gleichzeitig eine konservative Funktion: kommunikative Praktiken finden de facto statt, indem die allermeisten gegebenen und akzeptierten Überzeugungen reproduziert werden.23 Die kommunikationsermöglichende und gleichzeitig etwas reflexionsfeindliche Lebenswelt stellt dennoch aus einer Habermas’schen Perspektive keine unausweichliche Sackgasse für die gesellschaftskritische Praxis dar, und zwar aus zwei Gründen. Beide Gründe stützen sich auf die von Habermas verteidigte Unterscheidung zwischen dem Wahrheitsanspruch und dem Richtigkeitsanspruch, und zwar zwischen theoretischen Aussagen über die Welt und praktischen Aussagen über die Gültigkeit von pragmatischen, ethischen und moralischen Regeln, Werten und Normen. Die „Objektivität, die dem ethischen Wissen aus dem ‚objektiven Geist’ der sozialen Umgebung im Sinne verbreiteter Akzeptanz zuwächst“, darf nicht mit der „wahrheitsanalogen Geltung im Sinne rationaler Akzeptabilität verwechselt werden“ (WR, 311). Wenn man eine solche Unterscheidung im Kauf nimmt, würde der „Dogmatismus“ der Lebenswelt lediglich die Überzeugungen über die objektive Welt und nicht die über soziale Normen, Gesetze, Gewohnheiten etc. betreffen. Es scheint nämlich so, dass Habermas davon ausgeht, dass in einem modernen, post-konventionalen Kontext moralische Überzeugungen und Werte von einem höheren Grad an rationaler Reflexivität als theoretische Überzeugungen gekennzeichnet sind. Unterhalten wir uns bezüglich praktischer Fragen (Gewohnheiten, Werte, Normen), seien wir also fähiger, von kommunikativer Interaktion zu Diskursen, die faktisch geltende Überzeugungen problematisieren, unmittelbar und reibungslos zu wechseln. Diese „optimistische“ Voraussetzung, die in post-konventionalen Gesellschaften den praktischen kommunikativen Interaktionen eine höhe Grad der Reflexivität zuschreibt, erklärt sich aus der Einsicht, dass Interaktionen über praktische (pragmatische, ethische, moralische) Probleme als „linguistically mediated all the way down” (Levine 2011, 255) betrachtet werden. Die soziale, normative Welt sei eben nach Habermas in einem Sinn sozial konstruiert, der keinen Raum einer unabhängigen, widerstehenden Realität erlaubt. Oder präziser ausgedrückt, besteht die widerstehende Realität hier lediglich aus den Einwänden der                                                                                                                 Die Begriffe von „Lebenswelt“ und „Welt“ unterscheiden sich vom einander, da mit der Idee der Lebenswelt die Totalität der Überzeugungen und Handlungsmuster gemeint ist, in der sich alle unsere kommunikative Handlungen bewegen, während die Welt nur der Gesamtheit der Tatsachen entspricht, die wir aussprechen. 23 … 22   13   Juni 2015 Kommunikationspartner. Moralische Überzeugungen steuern normativ geregelte soziale Interaktionen auf ähnliche Weise wie empirische Überzeugungen zielgerichtete Interventionen in die objektive Welt. Aber, sagt Habermas „sie bewahren sich implizit auf eine andere Weise“, und zwar „an der konsensuellen Lösung von Handlungskonflikten, die nur vor dem Hintergrund intersubjektiv geteilter normativer Überzeugungen gelingen kann. [...] Der Widerstand geht nicht von unbewältigten objektiven Gegebenheiten aus, sondern vom Fehler einer normativen Übereinstimmung mit Anderen. Die ‚Objektivität’ eines fremden Geistes ist aus einem anderen Stoff gemacht als die Objektivität der überraschenden Realität.“ (WR, 323) Eine solche Unterscheidung zwischen dem praktischen und dem theoretischen Bereich wurde in verschiedenen Weise in Frage gestellt; ich möchte in diesem Zusammenhang vorwiegend betonen – was in diesen Debatten nicht (genug) ausgeführt wurde – dass eine solche Unterscheidung die Konsequenz hat, das kritische Unternehmen zu unterminieren. Eine soziale Wirklichkeit, die bloß als Produkt von sich an Verständigung orientierten kommunikativen Praktiken begriffen wird, würde nämlich aus einer kritisch-theoretischen Perspektive nicht besonders problematisch erscheinen, da die „linguistische Natur“ der Normen, Werten, Regel, Gewohnheiten etc., die eine solche Wirklichkeit ausmachen, deren Revision durch linguistische, kommunikativen Praktiken unschwer macht. Eine solche Einstellung bringt die Kritiker aber dazu, die Schwere, die Intransparenz, die unterdrückende Natur der sozialen Welt zu übersehen, was die kritische Praxis aber beschränkt. Um eine solche Deflation der Kritik anzufechten, bietet die pragmatistische Einsicht24 gute Werkzeuge. Nur indem der pragmatistischen Einsicht zufolge sowohl moralische als auch theoretische Gültigkeit als mit einer Objektivität verbunden gesehen werden, die aus dem Umgang mit einer widerstehenden, widerspenstigen, riskanten, überraschenden Realität entspringt,25 wird es möglich, ungerechte soziale Strukturen einer widerstehenden Realität zu entlarven, in Frage zu stellen und zu ändern. Die Idee der widerstehenden Realität als kritischer Trieb, die Habermas’ nicht-epistemischer Theorie der Wahrheit innewohnt, kann also auf diese Weise mit dem Projekt Haslangers, einer aus verflochtenen sozialen Strukturen bestehende Realität zu widerstehen, zusammengefügt werden. Von einer derartigen                                                                                                                 24 Den Pragmatisten zufolge gehen sowohl Handlung als auch Kognition mit einer „recalcitrant reality” um, “in which facts and values are inextricably intertwined.“ (Levine 2011, 253) 25 „But then why could we not say that just as the revision of our empirical beliefs in the face of a recalcitrant reality gives us a sense of objectivity that circulates upward to guide our truth-directed theoretical claims, so too does the revision of our previously settled moral beliefs in the face of a moral dissensus give us a sense of objectivity, one that circulates upward to orient our moral judgments? Here, instead of categorically differentiating truth and moral validity, we would instead show that both forms of validity are essentially connected to a form of objectivity that has its origin in the constraint faced by action.” (Levine 2011, 251)     14   Juni 2015 Zusammenstellung würde das kritisch-theoretische Unternehmen meines Erachtens nach gefördert.   15