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“beethovens „unsterbliche Geliebte“. Des Rätsels Lösung,” In: österreichische Musikzeitschrift 64/2 (2009): 4-17.

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4 T H E M A BEETHOVENS „UNSTERBLICHE GELIEBTE“ Des Rätsels Lösung R I TA S T E B L I N D ie Lösung des Rätsels um Beethovens „Unsterbliche Geliebte“ wurde zuerst in englischer Sprache unter dem Titel „Auf diese Art mit A geht alles zu Grunde.“ A New Look at Beethoven’s Diary Entry and the „Immortal Beloved“ in den Bonner Beethoven-Studien 6 (2007) veröffentlicht. Dort sind ausführliche Fußnoten mit weiteren Quellenangaben. Aus Platzgründen müssen wir hier darauf verzichten. Eine deutsche Fassung wurde im Juni 2008 für die Literarische Gesellschaft Mödling gelesen und als Gastvortrag am Institut für Musikwissenschaft der Universität Regensburg gehalten. Folgende Darstellung aller Beweisstücke ist eine stark gekürzte Version. Die Vorgeschichte wurde von der Autorin bereits in einem Aufsatz über Josephine Gräfin Brunsvik-Deyms Geheimnis im Heft „Wer war Beethovens ‚Unsterbliche Geliebte‘?“ der Österr. Musikzeitschrift 6 (2002) präsentiert. Beethovens Brief an die „Unsterbliche Geliebte“, der von einem Geheimnis umgeben ist, hat eine große Faszination in der Musikwelt ausgeübt. Beethoven verfasste das dreiteilige Schreiben am 6. und 7. Juli 1812 in Bad Teplitz, wo er auf Kur war, nachdem er ein paar Tage in Prag verbracht hatte; er nannte die Adressatin aber nicht. Der Brief beginnt: „Mein Engel, mein alles, mein Ich. – nur einige Worte heute, und zwar mit Bleystift – (mit deinem).“ Der Text lautet weiter: „ – Kann unsre Liebe anders bestehn als durch Aufopferungen, durch nicht alles verlangen, kannst du es ändern, daß du nicht ganz mein, ich nicht ganz dein bin“. „Abends“ am 6. Juli schrieb er: „Du leidest du mein theurestes Wesen“ und dann weiter „mache daß ich mit dir leben kann, welches Leben!!!! so!!!! ohne dich.“ Der dritte Teil fängt gleich mit „Guten Morgen am 7ten Juli“ an und lautet weiter: „schon im Bette drängen sich die Ideen zu dir meine Unsterbliche Geliebte, [...] leben kann ich entweder nur ganz mit dir oder gar nicht“ [...] nie eine andre kann mein Herz besitzen, nie – nie – [...] Der Schluss des Briefes lautet: „sey ruhig – liebe mich – heute – gestern – Welche Sehnsucht mit Thränen nach dir – dir – dir – mein Leben – mein alles – leb Wohl – o liebe mich fort – verken nie das treuste deines Beliebten L.[udwig] ewig dein ewig mein ewig unß.“ Wer war die Frau, die Beethoven so leidenschaftlich liebte? Nachdem die bevorzugtesten Kandidatinnen im 19. Jahrhundert – zuerst Julie Gräfin Guicciardi und dann ihre Kusine Therese Gräfin Brunsvik – widerlegt wurden, behauptete Marie Lipsius (La Mara) 1920, dass Josephine Brunsvik-Deym-Stackelberg (1779–1821) Beethovens Geliebte gewesen sei. Die Kandidatur Josephines Dr. Rita Steblin, gebürtige Kanadierin, lebt seit 1991 als freie Musikwissenschaftlerin in Wien (Spezialgebiete sind biographische und ikonographische Forschungen, vor allem zu Beethoven und Schubert). wurde damals nicht ernsthaft akzeptiert. Weil eine Frau die Recherchen machte? Erst 1954 entwickelte ein Schriftsteller aus Israel, Siegmund Kaznelson, diese These weiter und suggerierte sogar, dass Josephines siebentes Kind Minona Stackelberg, geboren am 8. April 1813, genau neun Monate nachdem Beethoven den berühmten Brief geschrieben hatte, das leibliche Kind des Komponisten gewesen sein muss. Diese Überlegungen erschienen dem damaligen Leiter des Beethoven-Archivs, Joseph Schmidt-Görg, als zu skurril und er lehnte diese Idee als Sensationsjournalismus ab. Zur gleichen Zeit aber tauchten 13 völlig unbekannte Liebesbriefe von Beethoven an Josephine auf (ein 14. Brief kam später dazu; alle Briefe beJosephine Gräfin Deym finden sich im Beethoven-Haus Bonn), die wahrscheinlich zwischen Herbst 1804 und 1809 geschrieben worden sind. Obwohl Beethoven ganz ähnliche Ausdrücke wie „meine einzige Geliebte“ oder „Engel meines Herzens“ in den neuen Briefen verwendete und seine langjährige Treue betonte, wurde Josephine als „Unsterbliche Geliebte“ disqualifiziert – weil die Liebe 1812 angeblich schon vorbei war. Also schlug man andere Kandidatinnen vor. 1972 kam Antonie Brentano, vorgestellt von Maynard Solomon, an die Reihe. Obwohl Harry Goldschmidt und Marie-Elisabeth Tellenbach versucht hatten, diese These zu widerlegen, waren die Mitglieder des Beethoven-„Establishment“ davon nicht abzubringen. Sogar im New Grove Dictionary of Music (2001) kann man lesen, dass Solomon die endgültige Lösung fand. Der Buchstabe „A“ Die rätselhafte Bemerkung „Auf diese Art mit A geht alles zu Grunde“ befindet sich in einem Tagebuch, das Beethoven 1812 zu schreiben begann. Der erste Abschnitt beginnt: „Ergebenheit, innigste Ergebenheit in dein Schicksal“ und schließt: „Du darfst nicht Mensch seyn, für dich nicht, nur für andre; für dich gibts kein Glück mehr als in dir selbst in deiner Kunst – o Gott! gib mir Kraft, mich zu besiegen, mich darf ja nichts an das Leben fesseln. – Auf diese Art mit A geht alles zu Grunde“ (Solomon 1990, S. 39). Der dritte Abschnitt, geschrieben am 13. Mai 1813, heißt: „Eine große Handlung, welche seyn kann zu unterlassen und so bleiben – o welcher Unterschied gegen ein unbeflissenes Leben, welches sich in mir so oft abbildete – o schreckliche Umstände, die mein Gefühl für Häuslichkeit nicht unterdrücken, aber deren Ausübung[,] o Gott, Gott[,] sieh’ auf den unglücklichen B. herab[,] laß es nicht länger so dauern“ (S. 41). Solomon komBeethoven an die junge Witwe Josephine: „Damit das liebste – was für mich auf der Welt ist …“ Beethovens Brief vom 6./7. Juli 1812 „Mein Engel, mein Alles, mein Ich.“ mentierte dazu (übersetzt von Sieghard Brandenburg): „Dieser [1. Abschnitt] und der Eintrag Nr. 3 werden gewöhnlich als Ausdruck der Empfindungen angesehen, mit denen Beethoven auf das Liebeserlebnis mit der ‚Unsterblichen Geliebten‘ Mitte 1812 reagierte. ‚A‘ könnte der Anfangsbuchstabe des Namens der Adressatin sein, an die Beethovens Brief an die ‚Unsterbliche Geliebte‘ [...] gerichtet war.“ (S. 125). Einige Stellen im berühmten Brief weisen darauf hin, dass sie eine verheiratete Frau sei, z.B. „mache daß ich mit dir leben kann“ oder „nur durch Ruhiges beschauen unsres Daseyns können wir unsern Zweck zusammen zu leben erreichen“. Wenn die Dame ledig gewesen wäre, hätte der Komponist sie wohl gebeten, ihn zu heiraten. Als Beethoven die traurigen Gedanken in sein Tagebuch schrieb, waren seine Hoffnungen auf ein glückliches Zusammenleben mit der Geliebten aufgegeben. Entweder war es der Frau nicht möglich, die Wünsche Beethovens zu erfüllen, oder sie hat ihre Meinung geändert. Auf die Bedeutung der Eintragung „Auf diese Art mit A“ wurde zuerst 1909 von Thomas-San-Galli hingewiesen. Er glaubte, dass der Buchstabe „A“ auf die Sängerin Amalie Sebald hindeutete. 1927 wies Oscar Georg Sonneck diese Kandadatin als ungeeignet nach und beschrieb dann das zu lösende Problem wie folgt: „The task then would be to discover a woman other than Amalie Sebald with the initial A in her name to whom all circumstantial evidence, whether of a chronological, topographical or psychological nature, would apply. [...] Until that woman is discovered, the answer to the question ‚who was Beethoven’s Immortal Beloved?‘ will remain: Unknown.“ (S. 67) Seitdem wurden eine Menge von Frauen vorgeschlagen, deren Namen mit „A“ beginnen. Darunter sind Antonie Brentano und Almerie Esterházy. Letztere wurde 2000 von Oldrˇ ich Pulkert und Hans-Werner Küthen vorgestellt. Diese Autoren konnten aber keinen einzigen Beweis dafür vorlegen, dass Beethoven diese Dame je kannte. Bezüglich Antonie schrieb Solomon 1988: „inasmuch as no data speaking against her candidacy has emerged since her name was put forward in 1972, the case in her favor has advanced from plausibility to near certainty.“ (S. 157) Der Berliner Solomon-Verehrer Klaus Martin Kopitz veröffentlichte 2001 neue Brentano FamilienBriefe, die jedoch zeigen, dass Antonie nicht Beethovens Geliebte gewesen sein kann. Im Jahre 1812 war sie glückliche Ehefrau und Mutter von vier Kindern. Sie kam am 3. Juli in Begleitung ihres Ehemannes, einer Dienstmagd und ihrer fünfjährigen Tochter Fanny in Prag an. Dort verbrachte sie den Abend, um einen Erzieher für ihren elfjährigen Sohn Georg zu finden, und alle reisten am nächsten Tag um 6 Uhr früh wieder von Prag ab. Wie hätte sie in dieser Nacht Zeit gehabt, ein Verhältnis mit Beethoven einzugehen? Klaus Kropfinger deutete 2001 in seinem Beitrag über Beethoven für MGG an, dass die Vorstellung Solomons, Beethoven habe von Ende Juli bis Anfang September 1812 eine „menage à trois“ mit dem Ehepaar Brentano in Karlsbad geführt, das heißt, eine Liebesaffäre mit Antonie vor den Augen ihres Ehemanns, psychologischer Unsinn sei (S. 125). Die Buchstaben „M“ und „T“ Auch zwei andere Buchstaben wurden öfters als wichtige Hinweise herangezogen: „M“ und „T“. Das „M“ schrieb Beethoven in einer Notiz ohne Jahr [Abb. unten], die aber wegen des Wasserzeichens mit 1807 datiert wird: „Nur liebe – ja nur Sie vermag dir ein glücklicheres leben zu geben – o Gott – laß mich sie – jene endlich finden – die mich in Tugend bestärkt – die mir erlaubt mein ist – Baaden am 24ten juli als die M. vorbeyfuhr und es schien als blickte sie auf mich“ (BGA 320). Goldschmidt (1977, S. 58) erklärte überzeugend, dass „die M“ auf die Mutter von Josephine hinweist. Gräfin Anna Brunsvik wurde regelmäßig in der Familien-Korrespondenz als „die M“ – eine Abkürzung für „die Mutter“ – bezeichnet. Diese Mutter reiste Ende Juli 1807 im eigenen Wagen nach Baden, um dort ihre Tochter und Enkelkinder zu besuchen. Es ist unmöglich, dass das „M“ auf Maximiliane, die Tochter von Antonie Brentano, hinweist – wie Solomon (1977, S. 175) u.a. behauptet. Dieses Brentano-Kind war 1807 erst vier Jahre alt und wohnte in Frankfurt /Main. Der rätselhafte Buchstabe „T“ erscheint in Beethovens Tagebuch zweimal im Jahr 1816. Der erste Eintrag lautet: „Wegen T. ist nichts anders[,] als Gott es anheim zu stellen, nie dort hin zu gehn, wo man Unrecht aus Schwachheit begehen könnte“ (S. 95); Der zweite: „Jedoch gegen T. so gut als möglich[;] ihre Anhänglichkeit verdient immer nie vergessen zu werden – wenn auch leider nie davon vortheilhafte Folgen für dich entstehen könnten.“ (S. 99) Goldschmidt löste auch dieses Problem, indem er das „T“ in Zuhammenhang mit Therese Brunsvik brachte. Josephines Schwester kam 1816 wieder nach Wien, um die Geschäfte des Deym’schen Hauses zu führen, und sie notierte Beethovens Adresse in ihrem Tagebuch. Tellenbach konnte beweisen, dass der Komponist im gleichen Jahr viele Bücher von Therese ausborgte. Goldschmidt erklärte: „Die Auflösung des Buchstaben ,T‘ würde ergeben, daß im Hintergrund noch ein zweiter, unausgesprochener, nämlich ,J‘, verborgen war, der den Ausschlag gab.“ (1973-77, S. 145) Wenn Beethoven von „vortheilhaften Folgen“ schrieb, meinte er wohl die Fürsprache Thereses in Hinsicht auf Josephine. Es ist unmöglich, dass „T“ auf Toni Brentano hinweist, wie Solomon (1977, S. 173) angibt. Diese Frau lebte seit Herbst 1812 wieder in Frankfurt. Beethoven gab aber zu verstehen, dass er in persönlichem Kontakt mit „T“ in Wien war. „M“ in Beethovens Notiz: „Nur liebe, ja nur Sie“ 7 B E E T H O V E N „Auf diese Art mit A geht alles zu Grunde“ Das Tagebuch Beethovens ist nur in Abschriften überliefert. Zuerst kannte man nur die Fassung von Joseph Fischhof, worin der Buchstabe „A“ unklar ist [links-o.] Kaznelson schrieb (S. 252): „Diese Chiffre, die der Kopist zögernd als A gelesen hat, kann in Wirklichkeit ein J (Josephine), P (Pepi), B (Brunsvik), D (Deym), S (Stackelberg) oder sonst der Anfang eines Kosenamens gewesen sein, den Beethoven Josephine beigelegt hat.“ Goldschmidt meinte 1977 (S. 310): „War der erste Buchstabe hingegen kein ,A‘, kann es sich nur um ein falsch gelesenes ,J‘ gehandelt haben.“ 1978 entdeckte man im Nachlass von Ludwig Nohl eine frühere Fassung von Anton Gräffer. Dieser Wiener Schriftsteller wollte die erste Biographie von Beethoven herausbringen und machte bereits 1827 eine Kopie des Tagebuches. In dieser ältesten Abschrift erscheint aber der fragliche Buchstabe eindeutig als „A“ [Bild o. - rechts]. 1988 veröffentlichte Goldschmidt weitere Gedanken über die neue Sachlage, konnte aber nicht glauben, dass Beethoven mit diesem „A“ Solomons Antonie meinte. Beethoven nannte sie normalerweise „Toni“; die Eintragung müsste also heißen: „Auf diese Art mit T geht alles zu Grunde“. Stattdessen hielt sich Goldschmidt an Sonnecks These, dass Beethoven hier an eine gescheiterte Heirat mit Amalie Sebald dachte. Weil aber Beethovens sonstiger Briefwechsel mit Amalie so „zahm“ war, wäre es undenkbar sie sich als „Unsterbliche Geliebte“ vorzustellen. Goldschmidt stimmte daraufhin mit Sonneck überein, dass Beethoven gleichzeitig in zwei Frauen verliebt war: die „Unsterbliche Geliebte“ und „A“. Sonneck formulierte diese These so: „There must have been two women who at about the same time filled Beethoven with love. Who they were, we do not know but, if my argument is correct, then not one love-riddle confronts us but two.“ (S. 66) Als ich 2005 Gräffers Arbeitsweise näher studierte, kam ich zu anderen Ergebnissen. Sein Abschreiben eines Textes war nicht akribisch genau. Tellenbach (S. 123) erwähnte bereits einige fehlerhafte Übertragungen im Tagebuch, wie „R“ statt „K“, wo Beethoven den Neffen Karl meinte, oder sogar „Susanna“ statt seiner Schwägerin „Johanna“. Meiner Meinung nach machte Gräffer auch hier einen Fehler: Der Buchstabe „A“ ist kein „A“ – er ist aber auch kein „J“. Betrachten wir das Problem aus einem ganz anderen Blickwinkel. Warum sollte dieser Buchstabe unbedingt auf eine Frau hinweisen? Angenommen, die „Unsterbliche Geliebte“ war verheiratet, wäre dann nicht die Person, durch die „alles zu Grunde geht“, ihr Ehemann? Die Briefe im Nachlass Deym zeigen, dass Josephines zweiter Gatte, Baron Christoph Stackelberg (1777–1841), regelmäßig durch die Chiffre „St“ gekennzeichnet wurde. Namen schrieb man damals mit Lateinschrift; auch Beethoven verwendete diese Schrift für Namen bzw. deren Abkürzungen. Einige Tafeln mit der Handschrift Beethovens wurden von Max Tafeln von Max Unger zur Identifizierung von Beethovens lateinischer Handschrift Unger veröffentlicht [oben]. Hier sehen wir die großen Buchstaben „A“ und „S“ sowie auch das kleine „t“, alle auf Lateinschrift. Unger bot jedoch kein Beispiel von Beethovens „St“ an. Man sucht auch vergebens nach dieser Chiffre im Vorwort zur neuen Briefwechsel-Gesamtausgabe. Dennoch fand ich einen Brief Beethovens, in dem zwei Wörter mit den lateinischen Initialen „A“ und „St“ vorkommen [Bild unten]. Der Brief wurde an Erzherzog Rudolph im August 1812, also fast zur gleichen Zeit wie die Tagebucheintragung, in einer – für Beethoven – extrem sauberen Hand verfasst. Trotzdem kann man die Ähnlichkeit zwischen den Buchstaben „St“ am Anfang des Namens „Staudenheim“ (Beethovens Arzt) und dem Buchstaben „A“ am Anfang des französischen Wortes „Akademie“ sehen. Weil der Buchstabe „St“ in der Handschrift Beethovens ziemlich selten vorkommt, meine ich, dass Gräffer diesen Buchstaben mit Beethovens „A“ verwechselt hat. Josephine und Prag. Wo war sie Anfang Juli 1812? Wo sind die Beweise für meine Vermutung, dass Josephine das wahrscheinlich am 3. Juli 1812 in Prag angedeutete Vorhaben, ein gemeinsames Leben mit Beethoven zu führen, aufgegeben hat und wieder mit ihrem Ehemann zusammen lebte? Betrachten wir zuerst eine Chronologie ihres Lebens. Der erste Ehemann, Joseph Graf Deym (1752–1804), stammte aus Böhmen. Er führte das berühmte Wachsmuseum am Rotenturm in Wien: Mozart, Haydn und Beethoven komponierten Werke für die dort ausgestellten Flötenuhren. Nach der Hochzeit am 29. Juli 1799 in Ungarn wurden die Flitterwochen in Prag verbracht. Entgegen der herkömmlichen Meinung war diese Ehe sehr glücklich. Die 108 erhaltenen Ehebriefe beinhalten erotische Stellen, die den Anreiz, die Anmut, die Persönlichkeit von Josephine als „femme fatale“ beweisen. Als sie im Mai 1799 zum ersten Mal das Museum Deyms betrat, entschloss er sich: „diese muß meine Frau werden.“ Josephine besaß eine zauberische Ausstrahlung, die die Männer – auch Beethoven – in ihren Bann zog. Mitte 1803 übersiedelte Vgl. „St audenheim“ / „A kademie“ in Handschrift Beethovens an Erzherzog Rudolph 1812 10 T H E M A das Ehepaar nach Prag, wo Deym Ende Jänner 1804 starb. Das Sterbehaus existiert noch heute, in der Mikulandská 6. Diese Stelle ist vom ehemaligen Gasthaus „Zum schwarzen Roß“, wo Beethoven vermutlich die Nacht am 3. Juli 1812 mit seiner „Unsterblichen Geliebten“ verbrachte, nur ein paar Straßen weiter entfernt. Josephine wurde sehr unglücklich mit ihrem zweiten Ehemann, dem estnischen Baron Christoph Stackelberg. Sie lernte ihn Ende 1808 bei Pestalozzi in der Schweiz kennen und engagierte ihn als Erzieher für ihre beiden Söhne Fritz und Karl Deym. Nach einer Liebesaffäre mit ihm im April 1809 in Pisa kam das fünfte Kind, Maria Laura, unehelich zur Welt. Die Hochzeit fand erst im Februar 1810 in Gran statt. Neun Monate später wurde das zweite Kind Stackelbergs, Theophile, in Wien geboren. Danach war Josephine lange krank; ihr Briefwechsel mit Therese (Nachlass Deym, Jindrˇ ichu˚v Hradec) weist auch darauf hin, dass sie von ihrem Ehemann getrennt schlafen wollte. – In einer Art Tagebuch schrieb Josephine am 8. Juni 1812: „Ich habe heute einen schweren Tag. – Die Hand des Schicksals ruht düster auf mir – Ich sah nebst meinem tiefen Kummer auch noch die Entartung meiner Kinder und – fast – aller Muth wich von mir –!!! Doch Gott. Du wirst mir helfen wenn ich innig zu dir flehe!!!“ Ein anderes Heft, fast durchgehend mit Bleistift notiert, belegt die wichtige Tatsache, dass Josephine eine Reise nach Prag plante: „Ich will Liebert in Prague sprechen. ich will die Kinder nie von mir lassen. [...] Ich bin selbst an allen Schuld[,] erhebe meinen Geist o Herr [...] Ich habe Stackb zu liebe [mich] physisch zugründe gerichtet indem ich die wenige Gesundheit welche mir durch meine Lebensart mit Deym und meine hieraus entsprungenen Sorgen für vier Kinder – noch so viele Kummer und Krankheit durch ihn zugezogen habe.“ (beide Nachlass Deym, Karton 4). Obwohl diese zweite Eintragung undatiert ist, setzt Josephine die gleichen Gedanken über ihre Sorgen mit Stackelberg und den Kindern fort. Sie erwähnt auch ihre schlechte Gesundheit. Beethoven bemerkte im Brief an die „Unsterbliche Geliebte“: „Du leidest du mein theuerstes Wesen“ – eine Anspielung auf ihre Krankheit? – und er schrieb mit ihrem Bleistift. Therese bezeugt, dass Josephine und Stackelberg eine ernsthafte Ehekrise im Juni 1812 hatten. Am 9. Juni 1812 schrieb sie in ihr Tagebuch: „Bleibe standhaft Joseph[ine]“ (Czeke, S. 430). Danach füllt sie mehrere Seiten mit einer Analyse des Charakters von Stackelberg, nachdem sie seine Tagebücher gelesen hatte. Sie beschreibt ihn als schwach, untätig, unverantwortlich und egoistisch. Therese hätte diese Tagebücher nur lesen können, wenn Stackelberg das Haus verlassen hätte. Sie erklärte später in ihren Memoiren: „[Josephine] wollte [Stackelberg] zwingen, thätig zu werden, verschloß seine Kleidungsstücke und Wäsche – er, zornig, machte eine Scene und verließ das Haus. Wir [Therese und die Kinder] sahen ihn sechs Monate nicht. Er erzählte später, er hatte ein kleines Zimmer gemiethet, sich auf sein Bett geworfen, in Thränen und Ringen nach Erleuchtung und Hilfe innigst zu Gott gebetet.“ (La Mara 1909, S. 103). Die nächste datierte Tagebuch-Eintragung von Therese heißt: Stackelbergs Tabelle zu tugendhafter Lebensführung, 1812 „Dornbach, 6t. August 1812“ und beinhaltet ausführliche Bemerkungen über das Thema Kindererziehung. Zu dieser Zeit war Therese mit Josephines Kindern in Dornbach bei Wien allein. Wo aber war Josephine Anfang Juli? Ein merkwürdiges Dokument wird öfters in der Literatur erwähnt [Abb.], weil es genau in der Zeit verfasst wurde, als Beethoven den berühmten Brief schrieb. Es stammt aus dem Nachlass von Therese und enthält eine Tabelle, auf französisch geschrieben, mit einer Art „Lebensplan“ (Czeke, S. 432). Der Leitsatz heißt: „Vom 5. Juli bis zum 12. Entschluß. Seid entschlossen zu tun, was ihr sollt, und tut ohne zu säumen, wozu ihr euch entschlossen habt.“ Auf der Tabelle oben sind die Wochentage von Sonntag bis Samstag vermerkt, in den Rubriken links kommen zehn moralische Kategorien wie Entschlossenheit, Ordnung, Reinlichkeit, usw. vor. Kaznelson (S. 155) schrieb 1954, also zu einer Zeit, als Therese Brunsvik noch als die „Unsterbliche“ von früheren Forschern favorisiert wurde, diese sarkastische Bemerkung darüber: „Die Vorstellung nun, daß Therese, die angebliche Unsterbliche Geliebte Beethovens, gerade diese Tabelle auf die Reise nach Prag mitgenommen und am Freitag, den 3. oder am Sonnabend, den 4. Juli 1812 in Prag sozusagen als den „Fahrplan“ ihres moralischen Lebenswandels für die kommende Woche aufgestellt hat – wohl in der Hoffnung, besonders in die Rubriken „Chasteté“ (Keuschheit) und „Modération“ (Mäßigung) gute Zensuren eintragen zu können! – diese Vorstellung kann nur Heiterkeit bei dem heutigen Leser hervorrufen.“ Goldschmidt stimmte mit Kaznelson überein: diese Tabelle sei der endgültige Beweis, dass Therese nicht die „Unsterbliche Geliebte“ sei. Sie habe in ihrer Selbstkasteiung diese Ordnung für sich angelegt (1977, S. 173). Die Versoseite des Dokuments, das beide genannten Forscher nicht gesehen hatten, auf Deutsch in einer bisher unbekannten Hand, beginnt mit der Überschrift: „Fragen die jeder, die Hand auf seine Brust gelegt, beantworten mußte, wenn er in die Gesellschaft aufgenommen werden wollte“ und stammt aus Herders Briefe zur Beförderung der Humanität (Riga 1793). Nach vier Punkten kommt wieder eine Überschrift: „Fragen zur Errichtung einer Gesellschaft von Benjamin Franklin“ und weitere 20 Punkte. Warum wollte sich Therese mit der Begründung einer Männergesellschaft beschäftigen? Als ich das Original in der Ervin Szabó Bibliothek (Budapest) näher studierte, erkannte ich sofort die eigenartige Kurrentschrift von Stackelberg. Auch die Tabelle wurde von ihm geschrieben – in seiner Lateinschrift. Hier ist also ein wichtiges Indiz, dass Stackelberg im Juli 1812 von Josephine getrennt lebte und in dieser Zeit alleine über sein Leben nachdachte – wahrscheinlich in seinem gemieteten Zimmer. Und Josephine? Sie war auch allein – Stackelberg ließ sie sitzen, wie wir von Therese wissen – und musste die ganzen Geschäfte der Familie besorgen. 12 T H E M A Dass die Geld-Probleme der Familie gravierend waren, wird allgemein zugegeben. Im April 1811 z.B. machte Stackelberg eine plötzliche Reise nach Prag, um Geld bei einem Bankier Markus Zdekauer auszuborgen. Der Kurs stieg aber innerhalb sechs Monaten von 32 auf 50 Gulden, und es ergab sich bei diesem Geschäft ein Verlust von mehr als 300,000 Gulden Banko Zettel. Nach den Memoiren von Therese: „war Stackelberg aufs äußerste gereizt. Der Ehefriede war endlich zerstört [... er] wollte auch nichts ergreifen, sein Geist war gelähmt durch zu viele Widerwärtigkeiten. Die Verwaltung des Hauses [...] gedieh nicht. Josephine nahm nach und nach alle Theile wieder an sich [...] er, zornig, machte eine Szene und verließ das Haus“ (S. 103) – und schrieb den Fahrplan für seinen Lebenswandel. Ich stimme der These Tellenbachs zu (S. 111), dass Josephine Ende Juni 1812 eine Reise nach Prag machte – wie ihr Mann ein Jahr davor, um den drohenden finanziellen Ruin abzuwenden. Wahrscheinlich hatte sie gehofft, mit dem Kaiser selbst reden zu können (nach dem Tode von Deym hatte Kaiser Franz versprochen, ihr in der Not beizustehen) oder mit dessen Bruder Ferdinand, dem Großherzog von Würzburg, der im Winter 1805 in Budapest eine enge Freundschaft mit Josephine schloss. Beide Monarchen reisten aber unerwartet am 1. Juli von Prag ab. Vielleicht wollte Josephine nachher zur Kur nach Karlsbad fahren, wie sie dies im Jahr davor mit ihrer Tochter Viky tat. Therese erwähnte in ihrem Tagebuch am 15. Februar 1812 einen Plan Josephines für die nächste Zeit: „1812 im May nach Karlsbad und Eger; [Josephine] mit einem Kinde; wir Übrigen in der Nähe von Wien ein Landhaus“ (Czeke, S. 410). Der Aufenthalt Thereses in Dornbach im August 1812 erfüllte also einen Teil dieses Plans. Meiner Meinung nach änderte Josephine jedoch ihre Absichten, nachdem sie die finanziellen Probleme in Prag nicht lösen konnte, und kehrte nach Wien zurück. Es macht offenbar keinen Sinn, nach ihrem Namen in der Kurliste von Karlsbad zu suchen. Sie war nicht dort, und in ihrer Abwesenheit hatte der traurige Beethoven Trost bei der Familie Brentano gesucht. Ich glaube auch, dass die Liebesnacht, die Josephine vermutlich mit Beethoven in Prag verbrachte, zu ihrem Entschluss führte, die geplante Reise nach Karlsbad abbrechen zu müssen. Diese Nacht war so unerwartet, wie Beethoven es selbst in einem Brief vom 14. Juli 1812 an Varnhagen von Ense aussprach, möglicherweise aber mit erwartungsvollen Konsequenzen, dass Josephine ihre Pläne schnell ändern musste. Ich vermute, dass Josephine Angst hatte, dass sie nach der Nacht in Prag wieder schwanger sein könnte. (Betrachten wir die Geschichte ihrer Geburten. Das erste Kind, Viky, kam neun Monate nach der Hochzeit mit Deym zur Welt. Die nächsten drei Kinder wurden innerhalb der drei folgenden Jahren geboren. Maria Laura kam unehelich zur Welt. Theophile wurde neun Monate nach der Hochzeit mit Stackelberg geboren.) Sie hätte in diesem Fall einer vermuteten Schwangerschaft sofort nach Hause zurückkehren müssen, um ihre Ehe mit Stackelberg liebevoll fortzuführen. Diese These wird nun aus einer bisher unbekannten Quelle gestützt. Die Memoiren von Fritz Deym (1801–1853) Der älteste Sohn von Josephine begann als 20-Jähriger im November 1821 eine Art Familien-Geschichte für seine 15-jährige Braut zu schreiben (Nachlass Deym, Karton 6). Innerhalb von zehn Wochen hatte er bereits 84 eng geschriebene Seiten verfasst. Obwohl er damals, als viele Ereignisse stattfanden, noch sehr jung war, ist seine Chronologie genauer als die von Therese. Über den Sommer 1812 schrieb er: „so brachten wir einen Theil des Sommers in der Brühl, in Weinhaus, und in Dornbach zu, ohne jedoch unsre Aeltern die Geschäfte halber in der Stadt blieben bei uns zu haben, sondern unter Aufsicht unserer Tante Therese.“ Der 11-jährige Fritz hatte also die Eltern im Sommer nicht gesehen, wusste wahrscheinlich auch nichts von deren Trennung. Er erzählt weiter: „Im Spätherbst, zogen wir in eine geräumige Wohnung, in Herrnals, mit unsern Ältern, und Therese übernahm die Verwaltung der Geschäfte u des Hauses in der Stadt wohin auch sie allein gezogen war. Theils wegen der Schwangerschaft meiner Mutter die ihrer Kränklichkeit Ruhe bedurfte, theils unsrer bedrängten Finanziellen Laage wegen, aus Erspahrniß, hier wurden unsre noch übrigen 3 Wagenpferde verkauft, und dafür blos ein Lohnwagen gemiethet, eine Köchin u eine Magd waren die einzigen Dienstleute, und außer den gewöhnlichen Voräthen, durfte in Küche, in Baarem Gelde täglich für eine Famillie von 8 Personen und zwei Dienstbothen nur 2 fl W: W: ausgegeben werden – und doch waren wir damahls recht glücklich. – März zogen wir in die Stadt, der Geschäfte wegen die Therese allein zu schlichten nicht im Stande war, [und] der nahenden Entbindung der Mutter.“ Dann beschreibt er die glückliche Zeit um die Geburt von Minona, am 8. April 1813, und „die heiße Zärtlichkeit unsrer Aeltern, die durch ein neues ungereißliches Band der Natur, sich innig aneinandergezogen fühlten.“ Die spätere Geschichte lautet: Im Sommer 1813 waren alle Kinder, samt dem Baby Minona, wieder allein mit der Tante Therese, diesmal im Schloss Hacking bei Wien. Am 8. Mai 1814 entführte Stackelberg nach neuen Streitigkeiten mit Josephine die drei kleinen Mädchen und brachte sie in die Obhut eines Pfarrers in Trautenau, Böhmen. Im Herbst 1814 nahm Josephine einen dubiosen Lehrer, Karl von Andrehan, ins Haus. Er sollte die beiden Söhne in Mathematik unterrichten – stattdessen wurde Josephine erneut schwanger. Sie versteckte sich „in einer Bauernhütte unter den erborgten Nahmen v Meiersfeld,“ zuerst in Kalksburg, danach in Gießhübl. Am 16. September 1815 kam das achte Kind, Emilie, zur Welt. Josephines Mutter und Stackelberg, der wieder in Wien war, suchten vergebens nach ihr. Sie wussten nichts von Emilie. Eine Woche nach der Geburt überlässt Josephine das Kind dem Vater, Andrehan. Er schrieb später hunderte von bittenden Briefen, Josephine wollte ihn aber nicht mehr sehen. Emilie starb am 6. September 1817 an Masern. Welche Schlüsse können wir aus den neuen Memoiren ziehen? Es ist auffallend, wie Fritz die neue Zärtlichkeit zwischen seiner Mutter und Stackelberg im Herbst 13 B E E T H O V E N 14 T H E M A 1812, also vor der Geburt von Minona, betont. Offenbar bemühte sich Josephine zu dieser Zeit sehr, ihre zerstörte Ehe zu kitten und ihrem Ehemann das zu erwartenden „Kuckucks“-Kind als das Seine glaubhaft zu machen. Beethoven musste die geänderte Lage bemerkt haben, als er erst im November 1812 zurück nach Wien kam. Meiner Meinung nach war es die neue Zärtlichkeit Josephines mit Stackelberg, die Beethoven zur verzweifelten Tagebuch-Bemerkung führte: „Auf diese Art mit [St] geht alles zu Grunde“. Weitere verschlüsselte Bemerkungen Beethovens Andere rätselhafte Andeutungen sind auch öfters in Zusammenhang mit der „Unsterblichen Geliebte“ gebracht worden – wie z.B. Beethovens Tagebuch-Eintragung vom 13. Mai 1813: „Eine große Handlung, welche seyn kann zu unterlassen und so bleiben“ [siehe oben]. Goldschmidt erklärte 1988, dass das Wort „Handlung“ nur ein Heiratsprojekt bedeuten kann, und dass „seit Thayer [es] auch nie anders gelesen wurde“ (S. 12). Das Projekt wäre aber zerstört worden, und Beethoven entschloss sich daraufhin, ledig zu bleiben. Die einzige Frau, die in Frage käme, wäre Amalie Sebald – weil ihr Name mit dem Buchstaben „A“ beginnt. Ich möchte nun diese Eintragung in Bezug auf Josephine interpretieren. Am 8. April 1813 kam Minona zur Welt – wie ich glaube das Kind Beethovens. („Minona“ war auch bei Ossian die Tochter eines Musikers – ein Bezug, den die literarisch hoch gebildete Josephine offenbar herstellen wollte.) Die „Handlung“, die der Komponist einen Monat später unterlässt, wäre der öffentliche Schritt gewesen, sich als Vater zu bekennen. Das wäre aber ein großer Skandal, besonders für Josephine, gewesen. Sie konnte offenbar ihren Ehemann überzeugen, dass Minona von ihm sei. Beethoven entschied sich daher, nichts zu unternehmen. Andere Anhaltspunkte unterstützen diese Interpretation. Beethoven schrieb an Joseph von Varena am Tag der Geburt von Minona: „Leider wird Vien nicht mehr mein Aufenthalt bleiben können.“ Warum? Hat er gefürchtet, dass ein Skandal um die Vaterschaft von Minona ihn zwingen würde, Wien zu verlassen? Vier Tage später machte Beethoven den Antrag, legaler Vormund seines Neffen Karl zu werden. Das Datum des Ansuchens, den 12. April 1813, erscheint mir als verdächtig. Nach dem Verlust der Tochter Minona, hatte Beethoven tiefe psychologische Gründe, den Neffen als Ersatz haben zu wollen. Noch ein weiterer Beweis: Ende 1819 kam Stackelberg wieder nach Wien, um Josephine die drei Mädchen vorzuführen. In einem Konversationsheft vom Januar 1820 wird über Vormundschaftsprobleme gesprochen. Beethoven schrieb darin diesen merkwürdigen Satz: „Einen einzigen Fehler begieng ich, aber sowenig man einem vater (u. das war ich u bin ich) seine Kinder wegnimmt [...]“ (BKh 1, S. 193). Meiner Meinung nach, schrieb Beethoven „ich bin ein Vater“ in Bezug auf Karl, und „ich war ein Vater“ in Bezug auf Minona. Eine weitere Spur kommt durch das Gespräch, das Giannatasio del Rio mit Beethoven im September 1816 in Baden führte. Die Tochter Fanny, die in einiger Entfernung zuhörte, schrieb in ihrem Tagebuch: „Er liebe unglücklich! Seit fünf Jahren hätte er eine Person kennen gelernt, mit welcher sich näher zu verbinden er für das höchste Glück seines Lebens gehalten hätte. Es sei nicht daran zu denken, fast Unmöglichkeit, eine Chimäre. Dennoch ist es jetzt wie den ersten Tag. Ich hab’s noch nicht aus dem Gemüt bringen können, waren die Worte, welche mich schmerzlich ergriffen.“ (Kaznelson, S. 114). Bis jetzt haben die Biographen diskutiert, ob Fanny die Wörter „seit fünf Jahren“ richtig verstanden habe. Diese Zeitspanne weist auf die Begegnung mit der „Unsterblichen Geliebten“ 1812 hin, würde aber Josephine ausschließen, weil Beethoven sie seit 1799 kannte. Ich möchte dieses Problem wieder von einem ganz anderen Blickwinkel betrachten. Ich glaube, dass Fanny „seit fünf Jahren“ richtig hörte. Vermutlich gebrauchte Beethoven das Wort „(er)kennen“ im biblischen Sinne: „Und Adam erkannte sein Weib Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain“. Der leidenschaftliche Ton des Briefes von 1812, wie auch die Verwendung des intimen „Du“, weisen auf eine Liebesnacht hin. So wird der Brief allgemein interpretiert. Beethoven hatte Josephine seit 1799 „kennengelernt“, aber er „erkannte“ sie erst seit 1812. Fanny war eifersüchtig auf Beethovens „ferne Geliebte“ – er komponierte den berühmten Liederkreis Op. 98 im April 1816 (offenbar für Josephine). Im September 1816 fand Fanny ein Blatt Papier an Beethovens Schreibtisch in Baden, auf dem stand: „Mein Herz strömt über beim Anblick der schönen Natur – obschon ohne sie!“ Dies würde bedeuten, dass er kurz vorher die Natur in Baden mit der Geliebten genossen hat. Ein Brief Beethovens an Ferdinand Ries, geschrieben am 8. Mai 1816 aus Baden, unterstützt diese Interpretation: „Alles schöne an ihre Frau – leider habe ich keine, ich fand nur eine, die ich wohl nie besizen werde.“ Wieder betont Beethoven, dass er nur eine Frau liebte. Tellenbach (S. 148) fand, dass Josephine am 1. Juli 1816 unter den Kurgästen in Baden als: „Frau Gräfinn von Deym, aus Wien, wohnt in der Parkstraße Nr. 173“ eingetragen wurde (Abb. rechts). Die Memoiren von Fritz beinhalten weitere Beweise. Nach der Geburt von Josephine als Kurgast in Baden an 1.7.1816 15 B E E T H O V E N Emilie in September 1815 wohnte Josephine mit den vier ältesten Kindern wieder in Wien. Sie verwendete aber immer noch das Pseudonym „von Meiersfeld“. Fritz T schrieb: „Im May 1816 ging meine Mutter mit ihren Kindern allen nach Baden, H noch immer unter unserm verborgten Namen welcher uns schon mehr als der E eignen gewehrt war, wir brachten diesen Theil des Sommers recht vergnügt zu u M errinerten uns unsrer Jugend da wir auch in Baden gewesen waren /:der Sommer A 1807:/.“ Als ich im Badener Rollett Museum die Kurlisten näher studierte, fand ich eine Eintragung vom 30. April 1816: „Frau Gräfinn v. Mayersfeld-Dejm, aus Wien, wohnt in der Alleegasse Nr. 106.“ [Abb.] (Dieses Haus steht heute noch, am Brusatti Platz, gleich in der Nähe des BeethovenMuseums.) Josephine war also Anfang Mai 1816 in Baden und Beethoven hätte mit ihr spazieren gehen können. Sie wäre die „eine“ Frau, die er am 8. Mai erwähnte. In September war sie bereits weg und Neu entdeckt: Josephine als Kurgast in Baden 30.4.1816 Beethoven vermisste sie sehr. Therese schrieb in ihren Memoiren: „Nach noch 2 1/2 Jahren kömmt endlich Stackelberg [Ende 1819] mit der nun schon sechsjährigen Minona und ihren Schwestern nach Wien. Merkwürdig hatte sich das Kind entwickelt. Ohne schön zu sein, war sie stark und imponirte dermaßen ihren ältern Schwestern, daß wir sie immer die Gouvernante nannten. Es zeigte sich auch später, daß sie das meiste Genie unter den Schwestern hatte.“ (La Mara 1909, S. 105). Mitte Dezember 1819 richtete der Sekretär Oliva an Beethoven im Konversationsheft: „Weil Sie immer von der Frau sprechen, so wird der Gemahl an jenem seine[r] Kinder das Musiktalent besitzt Ihr Kind erkennen.“ (BKh 1, S. 149) Es ist schon merkwürdig, dass genau zur Zeit, als Stackelberg mit Minona in Wien weilte, Beethoven so oft von einer Frau spricht, dass Oliva fürchtete, der Ehemann könnte Verdacht schöpfen, dass das Kind mit Musiktalent Beethovens leibliches Kind sein könnte. Es gibt auch Hinweise, dass Minona musikalisch war. In einem Brief aus 1854 bestellt sie ein Bösendorfer-Klavier für ihre Verwandten in Prag, und hofft den jungen Joseph Hellmesberg als „Musik-Dirigent, Lehrer, Salon-Virtuos &c.“ für den Sommer in Nemischl – das Gut der Familie Deym in Süd-Böhmen – engagieren zu können. Minona starb ledig in Wien am 21. Februar 1897 und ist am Zentralfriedhof begraben worden – wie auch Beethoven. Zusammenfassend: Alle rätselhaften Aspekte um Beethovens Affäre mit der „Unsterbliche Geliebten“ können nur gelöst werden, wenn man Josephine als diese anerkennt. Warum trauen wir nicht dem Wort Beethovens, dass es nur eine Frau für ihn gab? Durch die hier dargelegten neuen Dokumente und Forschungen lässt sich die These bestätigen, dass Josephine Brunsvik-Deym-Stackelberg Beethovens Geliebte war. 16 Josephine Brunsvik-Deym-Stackelberg 28. 3. 1779 – 31. 3. 1821 LITERATUR: Wien Besuch, Klavierstunden mit Beethoven 5.-19.5.1799 1. Ehe mit Joseph Graf Deym Martonvásár /H 29.6.1799 *Kind 1: Victoire (Viky) Deym Wien 5.5.1800 *Kind 2: Friedrich (Fritz) Deym Wien 3.5.1801 *Kind 3: Karl Deym Nußdorf /Traisen 27.7.1802 Reise nach Nemischl und Prag Juni 1803 - Feb. 1804 Tod von Joseph Deym Prag 27.1.1804 *Kind 4: Josepha (Sephine) Deym Wien 24.2.1804 Beethovens 14 Liebesbriefe an Josephine Wien 1804-09 Josephine in Baden bei Wien Juni - Juli 1807 Reise nach Prag, Gotha, Würzburg, Yverdon mit Therese, Fritz und Karl Frühling - Winter 1808 Liebesverhältnis mit Stackelberg Genf 1/1809; Pisa 4/1809 *Kind 5: Maria Laura (unehelich) ?Weizen (Vác) /H ?12/1809 2. Ehe mit Christoph Baron Stackelberg Gran /H 13.2.1810 Landsitz-Ankauf: Wittschap, Mähren Wien 22.5.1810 *Kind 6: Theophile Stackelberg Wien 30.11.1810 Stackelberg reist schnell nach Prag um Geld von Zdekauer zu borgen Mitte April 1811 Josephine und Viky in Karlsbad 12.-28.8.1811 Therese & Kinder verlassen Wittschap Ende Dez. 1811 Stackelberg verlässt Josephine in Wien Juni 1812 Therese & Kinder in Brühl & Dornbach Juni - Herbst 1812 Beethoven sieht die „U. G.“ in Prag 3.7.1812 Beethoven in Teplitz, schreibt an die „U. G.“ 6.-7.7.1812 Josephine, Stackelberg, Kinder in Hernals 10/1812 - 3/1813 *Kind 7: Minona Stackelberg Wien 8.4.1813 Therese mit 7 Kindern in Hacking 3.6.1813 - 1814 Stackelberg entführt die 3 Mädchen Nr. 5-7 Wien 8.5.1814 *Kind 8: Emilie (von Andrehan) ?Gießhübl 16.9.1815 Josephine mit 4 Deym Kindern in Baden Mai - August 1816 Tod von Emilie (von Andrehan) Leopoldstadt 6.9.1817 Tod von Josephine Stackelberg Wien 31.3.1821 Tod von Minona Stackelberg Wien 21.2.1897 Ludwig van Beethoven, Konversationshefte [Bkh], Bd. 1-11, Karl-Heinz Köhler / Grita Herre / Dagmar Beck (Hg.), Leipzig 1972-2001. Ludwig van Beethoven, Briefwechsel. Gesamtausgabe [BGA], Bd. 1-7, Sieghard Brandenburg (Hg.), München 1996-1998. Ludwig van Beethoven, Der Brief an die Unsterbliche Geliebte, Sieghard Brandenburg (Hg.), Veröffentlichungen des Beethoven-Hauses in Bonn, Bd. 15, Bonn 2001. Scott G. Burnham, Beethoven [...] Bibliography, in: The New Grove Dictionary of Music and Musicians, London 2001, Bd. 3, S. 87. 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