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"über Die Freuden Kollektiver Filmerfahrung Bei Filmfestivals" (2015)

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Skadi Loist ÜBER DIE FREUDEN KOLLEKTIVER FILMERFAHRUNG BEI FILMFESTIVALS Filmfestivals sind Begegnungsorte, D iskursmaschinen, performative Formationen, Großevents, Marktplätze und cinephile Zauberwelten. Sie lassen sich vielfältig als Netzwerke, Diskursfelder, Distributionskanäle theoretisieren. ' 3 Trotz aller technischer Innovationen, digitaler Kanäle und flows, die im medialen Wandel zunehmend auch Festivals bestimmen und immer wieder Fragen nach ihrer Notwendigkeit aufkommen lassen, zeigt sich ein grundsätzlicher Faktor, der Festivals als Begegnungsort und für Filmerleben einzigartig macht: die körperliche Präsenz der Akteure. Erst durch das physische Zusammentreffen der Filme, Filmschaffenden, Verleiher, Kritiker_innen, Stars und Zuschauer_innen an einem bes„timmten Ort in einer begrenzten Zeit entsteht die Atmosphäre, die den Zauber und Sog der Festivals ausmacht. Während der Tod des (Programm)Kinos beschworen wird, ist eine stetige Proliferation von Filmfestivals zu verzeichnen. Der (anspruchsvolle) Film hat es immer schwerer auf die große Leinwand zu kommen, die Zahl der Zuschauer_innen bei Filmfestivals aber steigt stetig an. Wie ist das zu erklären? Warum gehen Leute gern zu Festivals, wenn sie die Filme im ubiquitären digitalen Zeitalter des legalen streaming und der Piraterie auch woanders sehen könnten? Anhand einiger Festivalbeobachtungen möchte ich dem speziellen Rezeptions- und Erfahrungskontext bei Filmfestivals nachgehen. Dabei werde ich unter anderem das Gemeinschaftsgefühl beim collective viewing und das Festival als gemeinsamen_Erfahrungs- und Wahrnehmungsraum in den Blick nehmen. 13 Vgl. Marijke de Valck, Skadi Loist: Film Festival Studies. An Overview of a Burgeoning Field. In: Dina Iordanova und Ragan Rhyne (Hg.): Film Festival Yearbook I. The Festival Circuit. St. Andrews 2009, S. 179-215. 206 Gunter Deller Über die Freuden kollektiver Filmerfahrung 207 Filmfestivals als Live Events Was ist das Spezielle am Filmfestival, wie unterscheidet es sich vom regulären Kinobetrieb ? Von der Vorführung herbetrachtet ist es nur eine Spezialform des Arthouse- oder Premierenkinos. Gute Programmkinos spielen ebenfalls Filme in Anwesenheit von Regisseur_innen oder Protagonist_innen und zeigen Premieren. D ie Aufmerksamkeit ist sicher nicht so groß wie auf dem roten Teppich der A-Festivals, dennoch besteht ein entscheidender Unterschied zum Abspiel im Multiplex. Kulturpessimist_innen kritisieren diese Eventisierung des Kinos, den Versuch der spektakelhaften Aufwertung der Filmvorführung durch Stars, buzz und glamour. Beim Festival sind solche Eventmechanismen entscheidend. D er rote Teppich, die Stars und der Premierenrummel sowie die einkalkulierten Skandale' 4 um Filme und Regisseur_innen gehören grundlegend zum Image eines (großen) Filmfestivals . Sie sind der Garant fü r mediale Aufmerksamkeit und - schaut man ins Kleingedruckte der Sponsorenverträge - auch die Währung für die Finanzierung des Festivals. D ie Aufmerksamkeitsökonomie ist klar mit der Finanzökonomie verknüpft. D er H ype und die Aufmerksamkeit werden durch Verknappung und Selektion geschürt: Es ist die Welt-/ internationale/ Europa-Premiere des Films, es gibt nur eine bestimmte Anzahl von Vorführungen und eine begrenzte Zahl von Tickets. D ies sind freilich Szenarien der großen A-Festivals in Cannes, Berlin und Venedig. Die unzähligen kleineren, nationalen, regionalen oder thematisch ausgerichteten Festivals, die die überwältigende Mehrheit der über 6.ooo Filmfestivals im weltweiten Circuit ausmachen, funktionieren hier anders. Je kleiner das Festival, 14 Vgl.Marijke de Valck: Film Festivals. FromEuropean Geopolitics to Global Cinephilia. Amsterdam 2007, S. II4ff. 208 Skadi Loist umso weniger geht es um die Premieren, die Stars und den Glamour; es geht eher um die Filmvermittlung, den Kontakt zwischen Film und Publikum.'5 N eben Star-Power und Event kommen noch weitere Komponenten hinzu , die eine spezielle Atmosphäre entstehen lassen, die sich so nur beim Festival findet. D er vielleicht entscheidendste Faktor in der Performance des Festivalevents' 6 , ist das Zusammentreffen von Zuschauer_ innen an einem O rt zu einer bestimmten Zeit und das Bilden einer G emeinschaft. Wie entsteht das Gemeinschaftsgefühl? D iese temporäre G emeinschaft kann ganz verschiedene Ebenen von Festivalbesucher_innen einschließen und zusammenbringen: Fachbesucher_innen (Filmschaffende, Protag~mist_in­ nen, Produzent_innen , Verleiher), Kritiker_innen , Cineasten, film nerds, Filmliebhaber_innen und Eventpublikum. D ie Gemeinschaften können je nach Festivalprofil sehr unterschiedliche Ausprägungen haben. Bei den A-Festivals geht es viel um das >G eschäft<, sei es das Verleihgeschäft, die Produktion und Finanzierung oder die Auswertung und Vorführung. Aber ob wohl sich inzwischen viele Transaktionen einfach per Email und Skype abwickeln lassen, sind die Festivals weiterhin ein entscheidender Treffpunkt in diesem >people business<. D er direkte Kontakt , das Treffen, pitchen, Filme schauen und besprechen, und nicht zu unterschätzen: das gemeinsame Feiern, 15 Mark Peranson unterscheidet modellhaft zwischen business festival und Publikumsfestival. Mark Peranson: Erst kommt die Macht, dann das Geld . Zwei Modelle von Filmfestivals . In: Revolver: Zeitschrift für Film, Heft 21 , Berlin 2010, S. II6-13r. 16 Zur theoretischen Diskussion der Performance und Performativität von Filmfestivals vgl. Skadi Loist: Queer Film Culture. Performative Aspects of LGBT/Q Film Festivals. Dissertation. Universität Hamburg, 2015, http:// ediss.sub.uni-hamburg.de/volltexte/2015/7333/ (abgerufen 6.1l.2015). Über die Freuden kollektiver Filmerfahrung 209 sind grundlegende Elemente der Festivalkultur.' 7 D iese Rituale lassen eine eigene Gemeinschaft entstehen. Auch bei kleineren Festivals ist der Kontakt wichtig. Hier treffen sich Filmschaffende ungezwungen und es entstehen nicht selten neue gemeinsame Projekte. Auch das >reguläre< Publikum, die Zuschauer_innen, die keine professionellen Verbindungen zum Film haben, werden Teil der temporären Festivalgemeinschaft. Rituale wie das Studieren des Programms, die Filmauswahl und Ticketbestellung, vor allem das Anstehen zur Ticketabholung oder zum Filmeinlass machen einen Kern des Festivalgefühls aus. Auch hier spielen Knappheit und Überfluss wieder eine Rolle. Durch die große Auswahl an Filmen ist es schlicht unmöglich, auch nur annähernd alle Filme zu sehen. ' 8 Es muss eine persönliche Auswahl getroffen werden. Da es sich in der Regel aber um Filme handelt, die noch keine Auswertung erfahren haben, gibt es auch oft noch keine öffentliche Bewertung und Filmkritik,' 9 die sonst in der Regel ausschlaggebend für die Filmauswahl 17 Eine befreundete Festivalorganisatorin scherzte einmal, im Grunde ginge es im Festivalcircuit nicht um Filme, sondern um Sex und gutes Essen . Wenngleich dies eine Übertreibung von professionellen Festivalreisenden sein mag, bei denen die Filmpremiere im schnellen Rhythmus des Festivalkalenders schnell ihren Zauber verlieren kann, so verdeutlicht diese Binsenweisheit doch die Rolle von Begehren und Körperlichkeit im Festivalkontext. 18 Die Berlinale zeigte 2014 z.B. 413 Filme in 945 öffentlichen Vorführungen an zehn Tagen in über 20+ Spielstätten; aber selbst die Lesbisch Schwulen Filmtage Hamburg 1 International Queer Film Festival zeigen über roo Filme (ca. 45 Langfilme) in 68 Vorführungen an sechs Tagen in fünf Spielstätten. Vgl. http://www.berlinale.de/de/archiv/jahresarchive/2014/01_jahresblatt_2014/01 _jahresblatt_2014.html#Zahlen2014; http://www.lsf-hamburg.de/presse.html (abgerufen 12+2015). 19 Während für Fachbesucher_innen die sofortige professionelle Kritik der Branchenblätter wie Variety, Screen International und Hollywood Reporter wichtig ist, sind diese in der Regel dem Laienpublikum unbekannt oder unzugänglich. Der Diskurs der öffentlichen Filmkritik geht in der Regel zeitlich mit dem Kinostart einher, also erst nach dem Zeitfenster der privilegierten Festivalauswertung. 210 Skadi Loist ist. D ie Festivalbesucher_innen können sich nur durch die Programmbeschreibungen des Festivals leiten lassen. Eine wichtige Komponente ist die Mund-zu-Mund-Propaganda. Ein Standardgespräch bei einem Filmfestival beinhaltet stets die Fragen: »Was hast du gesehen? Welche Filme waren gut ? Welche kannst du mir empfehlen?« Diese Form der effizienten Kommunikation ist ein entscheidender Bestandteil der Festivalatmosphäre. Es entsteht ein diskursiver Raum, in dem die verschiedenen Zuschauer_innen und Festivalbesucher_innen offen über Filme sprechen - in der Schlange für Tickets, zum Kinosaal oder bei der Festivalparty. D iese Art von Kommunikation findet sich in der Regel nicht beim Besuch des Multiplexkinos. D ort wird der Film vorher ausgesucht, das Event der Vorführung und der Besuch mit Freund_innen steht im Vordergrund. „ Auch die Choreografie des Publikums ist eine andere. Im regulären Kinoabspielbetrieb wird vorher ein Ticket reserviert, am Wochenende oft mit gezielten Sitzplatzreservierungen. So weiß jede_r wo er_sie zu sitzen hat, einige sparen sich so die Werbeschleife und kommen erst >pünktlich< zum Hauptfilm. Beim Festival hingegen gibt es - außer bei komplex protokollarisch durchorganisierten Eröffnungsveranstaltungen mit Stars, Politprominenz und ihren Bodyguards - keine Sitzplatzreservierungen. Die Zuschauer_innen werden häufig dazu angehalten, möglichst zusammenzurutschen, um keine Lücken in den ausverkauften Veranstaltungen zu lassen und das geordnete Einfädeln der nachfolgenden Besucher_innen zu gewährleisten. Diese Form der Platzverhandlungen - »nein, dieser Platz ist leider nicht frei, mein Kollege kommt gleich« - gehören ebenso zum Ritual. Gepaart mit der sichtbaren Zugehörigkeit durch Akkreditiertenausweise oder andere Paraphernalien kommt man so schnell ins Gespräch über Filme, den Bezug zum Festival und sonstigen Gossip und wird so Teil des Festivalkosmos und seiner temporären Gemeinschaft. Über die Freuden kollektiver Filmerfahrung 2II Bei thematisch ausgerichteten Filmfestivals ist das Gemeinschaftsgefühl noch deutlich stärker zu spüren. Neben den oben beschriebenen Mechanismen der Gemeinschaftsbildung im Festival gibt es oft schon eine filmexterne gemeinsame Basis: sei es die feministische Grundhaltung bei Frauenfilmfestivals, der aktivistische Wille bei H uman-Rights- oder Ökologie-Filmfestivals, die Fansubkultur bei H orror/Fantasy-Filmfestivals oder ein gemeinsames Begehren bei queeren Filmfesten. Bei solchen thematisch ausgerichteten Festivals spielt die Identität des angesprochenen Publikums eine wichtige Rolle: Die Identität als Feminist_in, Aktivist_in, Fantasy-Fan oder Queer ist Teil der gezielten Ansprache zur performativen Herstellung des Publikums durch Filmauswahl, Festivalkommunikation wie Poster, Website und Programmheft. Neben diesen Identitätsmarkern richtet sich ein Filmfestival natürlich an Cineast_innen und kulturell Interessierte. Durch die offene wie auch spezifische Ansprache des Publikums entsteht ebenfalls ein Gemeinschaftsgefühl. Durch die Anrufung und die Antwort darauf wird das Publikum - und damit auch das Festival selbst - performativ erzeugt. All diese Rituale tragen zur Herausbildung einer temporären Gemeinschaft bei. Das oft über Jahre an das Festival gebundene, mitwachsende Stammpublikum bildet sogar eine dauerhafte Festivalcommunity.2° Diese Form der Community kann auch ganz eigene Rezeptionskontexte erzeugen. Im Rahmen von LGBT/Q-Filmfestivals sind gängige heteronormative Rezeptionsmuster unterbrochen, so dass Filme eine andere Lesart erfahren können: 20 Eine Publikumsbefragung bei den Lesbisch Schwulen Filmtagen Hamburg im Jahr 2013 hat zum Beispiel klar gezeigt, dass 75 % der Befragten die Bildung einer eigenen Festivalcommunity beobachteten, über die Hälfte der Befragten fühlte sich dieser auch zugehörig (57 %). Vgl. Dobrin Tomov: Queer Festivals und ihr Publikum. Zuschauer_innenprofile und Communitybildung bei den 24. Lesbisch-Schwulen Filmtagen Hamburg. Unveröffentlichte BA-Arbeit, Universität Hamburg, 2014 . 212 Skadi Loist Ambivalente Filme können queer gelesen werden, vormals rassistische oder homophobe Propaganda lässt sich in diesem sicheren Raum umdeuten und als Persiflage lesen.2 1 Bei GenreFilmfestivals bringt die dazugehörige Fan/subkultur, ähnlich wie bei Kultfilmvorführungen, einen eigenen Filmgenuss mit sich. 22 Aber auch jenseits vorhandener klar umrissener Identitätsgruppen bildet das Gemeinschaftserlebnis einen Kernpunkt der Filmfestkultur. D ie zunehmende Zahl an Filmfestivals besonders an kleinen, spezialisierten oder auf ein bestimmtes lokales Publikum zugeschnittenen Festivals - lässt eine Bewegung hin zur Kollektivität und ein Begehren nach collective viewing erkennen. Entgegen pessimistischer Einschätzungen der Vereinzelung des Zuschauers im Kontext des digitalen, konvergenten Medienwandels, 2 3 scheint das Format Filmfestival ein klares Bedürfnis nach gemeinschaftlichem Medienkonsum bzw. medialer Gemeinschaftsbildung zu befriedigen. Jüngstes Beispiel ist der Boom der sich weltweit verbreitenden Cat Video Festivals. 24 Das System der Neuheit, der Premieren und Stars scheint hier ausgehebelt, wenn aus YouTube-Videos 21 Vgl. zum Rezeptionskontext bei LGBT/Q-Filrnfestivals: Samantha Searle: Film and Video Festivals. Queer Politics and Exhibition. In: Meanjin,Jahrgang 55, Heft l, i996, S. 47-59; Skadi Loist: Queer Fun in Boy_Girl Shorts. Programmstrategien bei LGBT/Q-Filmfestivals. In: Josch Hoenes, Barbara Paul (Hg.): Un/verblümt: Queere Ästhetiken und Theorien. Berlin 2014, S. 136-15322 Vgl. Julian Stringer: Genre Films and Festival Communities. Lessons from N ottingham, 1991-2000. In: Film International, Jahrgang 6, Heft 4, 2008, s. 53-60. 23 Vgl. z.B. B. Ruby Rich: Queeres Kino. Einsam durch Netflix? In: Spiegel Online, l 5. 10. 2014. http://www.spiegel.de/kultur/kino/b-ruby-rich-ueber25-jahre-new-queer-cinema-lesbisch-schwule-filmtage-a-99648 8. html (abgerufen l. l r. 201 4). 24 Vgl. Diane Burgess: We can haz film fest! Internet Cat Video Festival goes viral. In: NECSUS: European Journal of Media Studies, Heft 7, Amsterd am 2015. http://www.necsus-ejms.org/we-can-haz-film-fest-internetcat-video-festival-goes-viral/ (abgerufen r.1r.2014). Über die Freuden kollektiver Filmerfahrung 213 ein Programm zusammengestellt und in einem Festivalsetting gezeigt wird, das ein begeistertes Offline-Publikum anzieht. D er kleine kursorische Gang durch die bunte Festivalwelt zeigt, dass die Filmkultur im Festivalformat fröhlich und lebendig ist. Dabei spielt das Live-Moment, der räumliche und zeitliche Ausnahmezustand, der Status des Festivalevents außerhalb der geregelten O rdnung eine wichtige Rolle. Die persönliche Anwesenheit, der Kontakt mit anderen Zuschauer_innen, die geteilten Emotionen, das Eintauchen in einen performativ hergestellten Rezeptionsraum machen die Festivalatmosphäre aus. Einen nicht zu unterschätzenden Anteil hat dabei auch die Körperlichkeit des Events - besonders zu spüren bei Mammutfestivals wie der Berlinale, wo nach neun Tagen das lange Anstehen in der Kälte, das viele im Dunkeln sitzen, der Mangel an Schlaf und regelmäßigen Mahlzeiten bei zugleich erhöhtem Alkoholgenuss deutlich seine Spuren hinterlässt. D as schmälert die Festivalfreude nicht, im Gegenteil der Ausnahmezustand ist Teil des Erlebnisses. 21 4 Skadi Loist Die Körper des Kinos Für eine fröhliche Filmwissenschaft Annette Brauerhoch zum 60. Geburtstag herausgegeben von Christian Hüls Natalie Lettenewitsch ,_ Anke Zechner Stroemfeld