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Cassirer Und Der Strukturalismus. Zur Lösung Des Methodenproblems In Den Geistes- Und Kulturwissenschaften

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1 Cassirer und der Strukturalismus. Zur Lösung des Methodenproblems in den Geistes- und Kulturwissenschaften Jutta Faehndrich, Leipzig Cassirers letzter Vortrag Am 10. Februar 1945 hielt der deutsch-jüdische Philosoph Ernst Cassirer, der nach vielen Exilstationen – Oxford, Göteborg, New Haven – an der New Yorker Columbia University eine befristete Anstellung gefunden hatte, im Linguistic Circle of New York den letzten Vortrag seines Lebens, den er noch eigenhändig zum Druck vorbereitete.1 Cassirers Lebensweg, der 1874 in Breslau als Sohn einer gutbürgerlich-jüdischen Kaufmannsfamilie begonnen und ihn über Marburg und Berlin bis zum vollem Ordinariat und der Rektorenehre an der neugegründeten Universität Hamburg geführt hatte, endete ausgerechnet im Epizentrum einer neuen Denkrichtung, die die Geisteswissenschaften nach 1945 wesentlich verändern sollte. Cassirer, ein Weltbürger der Philosophie, der sich zeitlebens auf allen Wissensgebieten für den neuesten Stand der Forschung begeisterte, stand buchstäblich noch gegen Ende seines Lebens an der Wiege einer neuen Avantgarde. In der Tat sind sowohl der Ort als auch der Gegenstand dieses Vortrags bemerkenswert. Der Linguistic Circle, in dessen Zeitschrift Word Cassirers Vortrag publiziert wurde, war 1943 gegründet worden und ein äußerst fruchtbares Forum für neue Entwicklungen in der Sprachwissenschaft. Unter den Mitgliedern und den Beitragenden zum ersten Band der Zeitschrift des Circles finden sich eine Reihe illustrer exilierter europäischer Geisteswissenschaftler, so der norwegische Strukturalist Alf Sommerfelt, der deutsche Romanist Leo Spitzer, der junge Thomas A. Sebeok und der ebenso junge Claude LéviStrauss. Einer der beiden Vizepräsidenten des Circles war Roman Jakobson, viele der Mitglieder lehrten an der New Yorker École Libre des Hautes Études,2 einer Institution, die exilierten europäischen Wissenschaftlern Arbeitsmöglichkeiten bot.3 Es ist anzunehmen, daß viele davon Cassirers Vortrag hörten; von Sebeok und Jakobson ist dies sicher überliefert.4 1 Gedruckt als „Structuralism in Modern Linguistics“ in: Word. Journal of the Linguistic Circle of New York. Vol I, No. 2, August 1945, S. 99–120. Fußnote auf der ersten Seite: „Professor Cassirer died very suddenly a few days after delivering this lecture which was read before the Linguistic Circle of New York on February 10 th, 1945.“ Cassirer starb am 13.04.1945 in New York, auf dem Campus der Columbia University. 2 So Henri F. Muller, Roman Jakobson, Giuliano Bonfante; Word I, 1945, ungez. S. vor dem Inhaltsverzeichnis. 3 Die École libre des hautes études de New York war im Winter 1941/42 gegründet worden und bezog Räumlichkeiten neben der New School for Social Research; Claude Lévi-Strauss berichtet, wie sehr ihn sein New York-Aufenthalt, die New School sowie der Kontakt mit Jakobson und den Strukturalisten prägte; ders. und Didier Éribon: Das Nahe und das Ferne. Eine Autobiographie in Gesprächen. Aus dem Französischen von HansHorst Henschen. Frankfurt a.M.: S. Fischer 1989, S. 64–68 (zuerst: De près et de loin. Paris 1988). 4 Sebeok, Thomas A.: From Vico to Cassirer to Langer; in: Danesi, Marcel (Hg.): Giambattista Vico and AngloAmerican Science. Philosophy and Writing. Berlin/ New York: Mouton de Gruyter 1994 (Approaches to 2 Der Circle hatte sich den Austausch zwischen europäischen und amerikanischen Linguisten auf die Fahnen geschrieben,5 und so ist im ersten Jahrgang seiner Zeitschrift die Beteiligung sowohl von Linguisten als auch von linguistisch arbeitenden Ethnologen auffällig. Von neunzehn Beiträgen im ersten Band (1945) beschäftigten sich vier allein dem Titel nach mit Themen, die sowohl Linguistik als auch Anthropologie – in der angelsächsischen Terminologie die Entsprechung zur deutschen Ethnologie – betreffen.6 In der Tat fungierte dieser Kreis als hochproduktive Begegnungsstätte nicht nur für Linguisten. Im Umfeld des Circle und der École libre sowie der ihr benachbarten New School for Social Research trafen sich in New York u.a. Roman Jakobson und Claude Lévi-Strauss, der seit dem Winter 1941/42 an der École libre lehrte. Eine Begegnung mit Folgen: Lévi-Strauss hörte Jakobsons Vorlesungen über Laut und Bedeutung, Jakobson diejenigen Lévis Strauss’ über Verwandtschaft. Die Symbiose ihrer beiden Forschungen legte den Grundstein der strukturalen Anthropologie. Jakobson war es, der Lévi-Strauss 1943 zur Doktorarbeit riet, die dessen Hauptwerk Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft wurde.7 Der Circle und das Umfeld der École libre, Nachbar der New School of Social Research, war mithin ein Brennpunkt für den Austausch zwischen Ethnologie/ Anthropologie und strukturaler Linguistik, der in den folgenden Jahrzehnten zur Ausbildung der Kulturanthropologie und zu entscheidenden Impulsen in den Sozial- und Geisteswissenschaften überhaupt führen sollte.8 Das Programm des Circles war vor allem der Strukturalismus, sowohl in Linguistik als Anthropologie. Das erste Heft von Word war eine Art Kurzfassung des strukturalistischen Programms und stellte Anwendungsmöglichkeiten Semiotics; 199), S. 159-170, hier 163f. 5 Muller, Henri F.: Word; in: Word I, No. 1, August 1945, S. 3. 6 Dies sind: George Herzog: Drum-Signaling in a West African Tribe, S. 217-238; Claude Lévi-Strauss: L’analyse structurale en linguistique et en anthropologie, S. 33-53; Eugene Nida: Linguistics and Ethnology in Translation-Problems, S. 194-208; C. F. Voegelin: Influence of Area in American Indian Linguistics, S. 54–58. 7 Dosse, François: Geschichte des Strukturalismus. Bd. 1: Das Feld des Zeichens, 1945-1966. Hamburg: Junius 1996, S. 35, im Folgenden DOSSE 1996. Vgl. die Schilderung dieser Begegnung durch Lévi-Strauss (Anm. 3). 8 Die Frage drängt sich auf, inwieweit Cassirer bei der Entwicklung der strukturalen Anthropologie – vertreten durch ihren Begründer Lévi-Strauss – von Bedeutung gewesen ist, und welche Rolle der Linguistic Circle dabei spielte. Axel Paul konstatiert in seiner Geschichte der strukturalen Anthropologie den zentralen Einfluß von Franz Boas auf Lévi-Strauss, der jedoch ebenso auf Cassirer zurückgehen könnte: „Daß zwischen Mensch und Umwelt stets ein Symbol als Vermittler eingeschaltet ist, war indes nicht allein Boas’ Entdeckung; dieselbe Idee steht am Anfang [von] Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen [...]. Vor allem Boas, aber auch Cassirer verdankt Lévi-Strauss weit mehr, als an dieser Stelle deutlich gemacht werden kann. Cassirer wird von Lévi-Strauss in den Elementaren Strukturen der Verwandtschaft an prominenter Stelle zitiert“; Paul, Axel T.: FremdWorte. Etappen der strukturalen Anthropologie. Frankfurt a.M./ New York: Campus 1996, Anm. S. 74. Lévi-Strauss zitiert Cassirers Sprachphilosophie (den unten in Anm. 16 unten erwähnten Aufsatz in Psychologie du langage) sowie Cassirers Einbeziehung pathologischer Fälle des Spracherwerbs in seine Sprachphilosophie; Lévi-Strauss, Claude: Elementare Strukturen der Verwandtschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 658–660. 3 der strukturalen Analyse in Sprachwissenschaft und Anthropologie dar.9 Der erste Beitrag der zweiten Ausgabe im August 1945 war der Vortrag, den Cassirer im Februar gehalten hatte.10 Wie kam Ernst Cassirer, oft als Neukantianer eingruppiert, dazu, in einer solchen Hochburg des Strukturalismus einen Vortrag zu halten, der diese damals noch junge, für die Geistesund Kulturwissenschaften so folgenreiche Strömung zum Gegenstand hatte? Welchen Stellenwert hat diese späte Beschäftigung mit dem Thema nicht zuletzt im Kontext der lebenslangen Auseinandersetzungen Cassirers mit der Sprachwissenschaft? Begegnungen mit Strukturalisten und Strukturalismus In ihren Memoiren berichtet Cassirers Ehefrau Toni, daß sich auf dem Schiff, das die Cassirers im Frühjahr 1941 im letzten Augenblick von Schweden nach New York brachte, auch der Linguist Roman Jakobson befand: „Er stellte sich Ernst vor und berichtete, daß er Linguist von Beruf und ein großer Bewunderer seiner Schriften sei. Er war glücklich, ihn so unerwartet zu treffen, und es dauerte keine Viertelstunde und die beiden befanden sich in ein wissenschaftliches Gespräch vertieft. Das Gespräch dauerte – freilich mit Unterbrechungen – fast die ganzen vierzehn Tage der Überfahrt und schien für beide Teile äußerst anregend und fruchtbar.“11 Es ist nicht sicher, ob Cassirer schon vor dieser Begegnung mit Jakobson mit dem Programm des Prager Strukturalistenkreises vertraut war; jedenfalls fanden erst in Cassirers Zeit in der USA Autoren aus dem Umfeld der Prager, Pariser und Kopenhagener Strukturalistenzirkel auch Eingang in seine Schriften.12 Der Prager Kreis um Jakobson und Trubetzkoy trat erstmals 1928 auf dem ersten Linguistenkongress in Den Haag mit einem „strukturalistischen Programm“ an die Öffentlichkeit; dies gilt als Geburtsstunde der strukturalistischen Sprachwissenschaft.13 Ob Cassirer in Hamburg, in Oxford oder später in Schweden, wo er sich von 1935 bis 1941 aufhielt, diese neuen Ansätze in der Sprachwissenschaft verfolgte, ist ungeklärt. Feststellbar ist jedoch, daß er 1933 einen Aufsatz zu einer Ausgabe des Pariser Journal de psychologie 9 DOSSE 1996, S. 96. Anm. 1. 11 Cassirer, Toni: Mein Leben mit Ernst Cassirer. Hildesheim: Gerstenberg 1981, S. 282. 12 Cassirer zitiert oder erwähnt nach dem Personen-Register zu den Werken Ernst Cassirers von Rainer A. Bast (Köln: Dinter 1995) dem linguistischen Strukturalismus zuzurechnende Autoren im Aufsatz The Influence of Language on the Delevopment of Scientific Thought (in: Journal of Philosophy, Vol. XXXIX (1942), S. 309327) (Viggo Bröndal, Nikolaj Trubetzkoy), im Essay on Man (1943) (Bröndal, Louis Hjelmslev, Jakobson, Trubetzkoy), im Myth of the State (1946) (Jakobson) sowie im hier behandelten Vortrag (Bröndal, Jakobson, Vilém Mathesius, Trubetzkoy). 13 Actes du premier congrès international de linguistes à la Haye, du 10-15 avril 1928. Leiden: Sijtogg [o.J.], zitiert nach: Rudy, Stephen: Roman Jakobson, 1896-1982: A Complete Bibliography of his Writings. Berlin/ New York: de Gruyter 1990, S. 8. Diese neue Bewegung war keineswegs besonders homogen; gemeinsam war allen diesen methodischen Ansätze, die Beziehungen von Elementen eines vorgegebenen Ganzen untereinander und zu diesem Ganzen in den Vordergrund stellen und dementsprechend zu beschreiben. 10 4 normale et pathologique beisteuerte, die der Sprachpsychologie gewidmet war, und in der namhafte strukturalistische Linguisten vertreten waren.14 1937 veröffentlichte er einen Aufsatz in der italienischen Zeitschrift Scientia, die ebenfalls Beiträge strukturalistisch arbeitender Sprachwissenschaftler publizierte.15 Es ist naheliegend, daß er von den Thesen der Prager und Kopenhagener Schule Kenntnis hatte, als er Jakobson traf und sich Gelegenheit zur Vertiefung und Diskussion dieser Kenntnisse bot. Sicher ist allein diese intensive Begegnung mit Jakobson nicht ausreichend, um im Sinne eines Kausalverhältnisses zu erklären, wieso sich Cassirer in den 1940er Jahren mit dem Strukturalismus beschäftigte. Die Gründe hierfür sind weniger in einer Begegnung mit einem Strukturalisten als im Strukturalismus selbst zu suchen. Das Methodenproblem der Sprachwissenschaft Viele Schriften Cassirers beschäftigen sich mit der Sprache. Angefangen mit dem ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen16 tragen fünf Einzelstudien das Wort „Sprache“ schon allein im Titel.17 Der Text, der hier zur Debatte steht, ist jedoch der einzige, der explizit die Sprachwissenschaft und ihre Methoden zum Thema hat. Hier stellt Cassirer den Strukturalismus in den historischen Kontext der Entwicklung der Sprachwissenschaft und ihrer Suche nach wissenschaftlichen Methoden, aber auch in den systematischen Zusammenhang mit anderen Wissenschaften, die für ihn einen methodisch ähnlichen Zugang zum Gegenstand versuchen: die Biologie, die Physik, die Gestaltpyschologie und nicht zuletzt 14 Cassirer, Ernst: Le langage et la construction du monde des objets. Traduit par P. Guillaume. In: Journal de Psychologie normale et pathologique. Bd. 30 (1933), Nr. 1-4, S. 18-44. Nachdruck der Zeitschriftennummer als: Henri Delacroix (Hg.): Psychologie du Langage. Paris: Alcan 1933; darin Beiträge von Henri Delacroix, Ernst Cassirer, L. Jordan, A. Sechehaye, W. Doroszewski, R.A.S. Paget, K. Bühler, H. Pongs, A. Meillet, J. Vendryes, P. Meriggi, V. Bröndal, N. Trubetzkoy, E. Sapir, J. Van Ginneken, A. Sommerfelt, A.W. de Groot, D. Jespersen, Ch. Bally, G. Guillaume, A. Gregoire, M. Cohen, A. Geld, K. Goldstein. Der Norweger Alf Sommerfelt ist beispielsweise auch unter den Beitragenden der Ausgabe von Word, der Cassirers Aufsatz zum Strukturalismus entstammt. (Cassirers Beitrag ist die französische Übersetzung von: Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt; in: Bericht über den XII. Kongreß der deutschen Gesellschaft für Psychologie in Hamburg am 12.-16. April 1931. Jena: Georg Fischer 1932, S. 134–145). 15 Ders.: Wahrheitsbegriff und Wahrheitsproblem bei Galilei; in: Scientia. Bologna. (Sept.-Okt. 1937), S. 121130, 185-193. Cassirer zitiert im Vortrag von 1945 eine Arbeit von Viggo Bröndal, die 1935 ebenfalls in Scientia erschien. 16 Die Philosophie der symbolischen Formen. Bd. 1: Die Sprache. Berlin: Bruno Cassirer 1923 (PsF I). 17 In chronologischer Reihenfolge: Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie; in: Festschrift für Paul Hensel. Greiz i.V.: Ohag 1923, S. 105–127; Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen (Studien der Bibliothek Warburg; 6). Leipzig/Berlin: Teubner 1925; Die Bedeutung des Sprachproblems für die Entstehung der neueren Philosophie; in: Festschrift für Carl Meinhof. Hamburg: Friedrichsen 1927, S. 507–514; Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt; in: Bericht über den XII. Kongreß der deutschen Gesellschaft für Psychologie in Hamburg am 12.-16. April 1931. Im Auftrage der Deutschen Gesellschaft für Psychologie hg. von Gustav Kofka. Jena: Georg Fischer 1932, S. 134–145; The Influence of Language upon the Development of Scientific Thought; in: Journal of Philosophy 39. Nr. 12 (June 4, 1942), S. 309-327. Hinzuzurechnen wäre das Kapitel über die Sprache im Essay On Man (New Haven: Yale University Press 1943) sowie zwei aus dem Nachlaß veröffentlichte Vorlesungen aus dem Jahr 1942: „Language and Art I“; „Language and Art II“; in: Symbol, Myth, and Culture. Essays and Lectures of Ernst Cassirer 1935– 1945. Hg. von Donald P. Verene. New Haven/London: Yale University Press 1979, S. 145–165 und S. 166–195. 5 die Goethe’sche Metamorphosenlehre. Im Structuralism-Aufsatz gelangt Cassirer zu der folgenreichen Erkenntnis, daß das thematisierte Methodenproblem der Sprachwissenschaft stellvertretend ist für das Methodenproblem der Geisteswissenschaften. Für ihn kristallisiert sich die Frage nach den „richtigen“ Methoden der Linguistik an der Frage, ob diese eine Natur- oder eine Geisteswissenschaft ist. Die Beantwortung dieser Frage weist ihn wiederum auf die Frage nach den Methoden der Geisteswissenschaften zurück: „Here [...] we have to begin by clarifying our terms. There is perhaps no other problem that, in these last decades, has attracted the attention of scientists and philosophers to such a high degree as the relation between ‘Natur-’ and ‘Geisteswissenschaft.’ The question has been discussed eagerly, incessantly, and – unsuccessfully.“18 Der Versuch einer Lösung dieser erfolglos diskutierten Frage, den er selbst 1945 exemplarisch anhand der Sprachwissenschaft darlegt, sowie der Zusammenhang, in dem dieser Lösungsversuch mit seiner Erörterung strukturaler Methoden steht, wird uns noch beschäftigen. Zunächst jedoch sollen frühere Auseinandersetzungen Cassirers mit den Methoden der Sprach- und Geisteswissenschaften herangezogen werden, um herauszufinden, welche Neuerung der Strukturalismus für Cassirer in Hinsicht auf eine Lösung zu bieten hatte. Schon das Vorwort zur Philosophie der symbolischen Formen beginnt mit dem Problem einer fehlenden Methodik der Geisteswissenschaften: „Die Schrift [...] geht in ihrem ersten Entwurf auf die Untersuchungen zurück, die in meinem Buche ‚Substanzbegriff und Funktionsbegriff‘ (Berlin 1910) zusammengefaßt sind. Bei dem Bemühen, das Ergebnis dieser Untersuchungen, die sich im wesentlichen auf die Struktur des mathematischen und des naturwissenschaftlichen Denkens bezogen, für die Behandlung geisteswissenschaftlicher Probleme fruchtbar zu machen, stellte sich mir immer deutlicher heraus, daß die allgemeine Erkenntnistheorie in ihrer herkömmlichen Auffassung und Begrenzung für eine methodische Grundlegung der Geisteswissenschaften nicht ausreicht. Sollte eine solche Grundlegung gewonnen werden, so schien der Plan dieser Erkenntnistheorie einer prinzipiellen Erweiterung zu bedürfen. Statt lediglich die allgemeinen Voraussetzungen des wissenschaftlichen Erkennens der Welt zu untersuchen, mußte dazu übergegangen werden, die verschiedenen Grundformen des ‚Verstehens ‘ der Welt bestimmt gegeneinander abzugrenzen und jede von ihnen so scharf als möglich in ihrer eigentümlichen Tendenz und ihrer eigentümlichen geistigen Form zu erfassen. Erst wenn eine solche ‚Formenlehre‘ des Geistes wenigstens im allgemeinen Umriß feststand, ließ sich hoffen, daß auch für die einzelnen geisteswissenschaftlichen Disziplinen ein klarer methodischer Überblick und ein sicheres Prinzip der Begründung gefunden werden könne.“19 Dieser Textabschnitt verdient es, so ausführlich zitiert zu werden, denn er ist nichts weniger als die Darstellung der Lücke, die Cassirer mit der Philosophie der symbolischen Formen zu füllen gedachte. Es ging ihm um eine „methodische Grundlegung der Geisteswissenschaften“, 18 Structuralism in Modern Linguistics, S. 111. Im Folgenden wird die Originalfassung als ‚Structuralism‘ zitiert; eine deutsche Übersetzung unter dem Titel „Strukturalismus in der modernen Linguistik“ findet sich in: Ernst Cassirer: Geist und Leben. Schriften. Hg. von E. W. Orth. Leipzig: Reclam 1993, S. 317–348. 19 PsF I, Vorwort, S. V. 6 für die eine allgemeine Erkenntnistheorie nicht ausreichte. Ob die Philosophie der symbolischen Formen nur die Voraussetzung für ein „sicheres Prinzip der Begründung“ der Geisteswissenschaften darstellte, oder ob sie selbst schon diese Begründung ist, läßt der letzte Satz bedeutungsvoll offen. Im weiteren Verlauf des ersten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen beschäftigte sich Cassirer ausführlich mit der Geschichte der Sprachwissenschaft und deren Streben nach wissenschaftlich-exakten Methoden. Aspekte dieser früheren Beschäftigung finden sich im Aufsatz von 1945 wieder, z.T. mit anderem Schwerpunkt und ergänzt um die Entwicklungen der über zwanzig Jahre, die zwischen beiden Schriften liegen. Es bietet sich an, beide kontrastiv zu lesen, um erstens die Schwerpunkte der Methodenproblematik darzustellen, die Cassirer in den Sprach- und Geisteswissenschaften sah; zweitens, um die Erweiterung der Darstellung des Themas 1945 gegenüber dem älteren Text herauszuarbeiten, und um drittens den Beitrag zur Lösung des Methodenproblems näher zu erläutern, den die strukturale Methode in der Sprachwissenschaft für Cassirer bedeutete.20 Um die Cassirersche Eigenart der gleichzeitigen historischen und systematischen Darstellung zu handhaben, soll zuerst kurz die historische Entwicklung der Sprachwissenschaft (noch ohne den Strukturalismus), wie sie Cassirer in beiden Texten relativ übereinstimmend darstellt, skizziert werden, um dann die für Cassirer zentralen Probleme der Methodenfrage vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung aufzeigen zu können. Die Suche nach Methoden in der Geschichte der Sprachwissenschaft Während Cassirer sich in der Philosophie der symbolischen Formen mit Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft in ihrer Entwicklung von der Antike bis ins 20. Jahrhundert beschäftigte, setzte er im Aufsatz von 1945 – dem Thema entsprechend – erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Denn erst ab dem Zeitpunkt, an dem sich die Sprachwissenschaft als eigenständige Wissenschaft konstituiert und versteht, wird ihr seiner Ansicht nach der Anspruch auf wissenschaftliche Methoden erst eigentlich zum Problem: „In the whole history of science there is perhaps no more fascinating chapter than the rise of the ‘new science’ of linguistics. In its importance it may very well be compared to the new science of Galileo which, in the seventeenth century, changed our whole concept of the physical world. [...] But as regards its method, linguistics was not in the same favorable condition as natural science. It could not follow the example of modern physics which, to use the terms of Kant, had 20 Cassirers fünf Studien „Zur Logik der Kulturwissenschaften“ von 1942 (in: Göteborgs Högskolas Årsskrift XLVIII. Heft 1, Göteborg 1942, S. 1-139; ND Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1961 u.ö.) beschäftigen sich ebenfalls mit der Methodenfrage. Dennoch sollen sie hier nicht hinzugezogen werden. Zunächst weil sich in der Tat zwischen beiden Texten nur einzelne Überschneidungen behandelter Problemkreise aufweisen lassen, sodann weil die Verwandtschaft des Structuralism-Aufsatzes mit den entsprechenden Teilen aus dem ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen so viel enger und auffälliger ist als die mit den Studien von 1942, daß sich der Vergleich mit PsF I beinahe aufzwingt und der Text von 1945 auf den von 1923 direkt zu verweisen scheint. 7 entered upon the safe way and the sure method of a science by a sort of intellectual revolution. It had to grope its way; it had to proceed hesitatingly and tentatively.” 21 Den Vergleich mit Entwicklungen in der Naturwissenschaft ist nicht zufällig gewählt. Auf ihrer Suche nach wissenschaftlichen Methoden orienterte sich die Sprachwissenschaft vor allem an anderen etablierten und als wissenschaftlich akzeptierten Disziplinen: „It was natural that, in these first attempts, linguists looked for the help and guidance of other branches of knowledge that, long before, had established their methods and principles. History, physics, psychology could be used for this purpose.”22 Nach der historisch-philologischen Aufbruchsphase der Sprachwissenschaft, in der es vor allem um eine „Genealogie“ der indoeuropäischen Sprachen ging, man denke nur an die Gebrüder Schlegel und Grimm, begann ab Mitte des 19. Jahrhunderts eine Neuausrichtung der Sprachwissenschaft an naturwissenschaftlichen Methoden. In Konkurrenz mit Philologie und Naturwissenschaften mußte die junge Disziplin ihre Daseinsberechtigung durch den Nachweis ihrer Wissenschaftlichkeit erbringen. Der Sprachwissenschaftler und Indogermanist August Schleicher versuchte laut Cassirer, die Sprachwissenschaft in den Rang einer Naturwissenschaft zu erheben, indem er ihren Gegenstand zu einem Organismus im Sinne eines Lebewesens, eines Tiers oder einer Pflanze, und damit zu einer naturmäßigen Notwendigkeit erklärte, auf die der Mensch keinen Einfluß habe und die folgerichtig im Sinne der Darwinschen Evolutionstheorie mit Methoden der Naturwissenschaft zu untersuchen sei.23 Hermann Paul und Heymann Steinthal dagegen wandten sich auf der Suche nach „Prinzipien“24 für die Linguistik der Herbartschen Psychologie zu, und die Junggrammatiker (Karl Brugmann, Hermann Osthoff) verkündeten die „Ausnahmslosigkeit“ der von ihnen aufgestellten psycho-physikalischen Lautgesetze.25 „Man [d.i. die Sprachforscher] war sich [...] einig, daß die Linguistik eine Kultur- (Geistes-, Geschichts-) Wissenschaft sei. Aber da die Forscher – im Wetteifer mit der Naturwissenschaft – immer stärker der Tendenz zu einem rationalen System meßbarer und demonstrabler Kräfte, ja zum Gesetz von der Geltung eines Naturgesetzes unterlagen [...], versuchten sie naturwissenschaftliche Methoden und Prinzipien in die Kulturwissenschaft einzuführen und sie 21 Structuralism, S. 99. Dem 1945 behandelten Zeitraum entspricht in PsF I Teil I, Abschnitt VI und VII. Ebd. 23 Schleicher, August: Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft. Weimar 1873, S. 6f: „Die Sprachen sind Naturorganismen, die, ohne vom Willen des Menschen bestimmbar zu sein, entstanden, nach bestimmten Gesetzen wuchsen und sich entwickelten und wiederum altern und absterben.... Die Glottik, die Wissenschaft der Sprache, ist demnach eine Naturwissenschaft; ihre Methode ist im ganzen und allgemeinen dieselbe wie die der übrigen Naturwissenschaften.“; vgl. PsF I, S. 112f. sowie Structuralism, S. 109f., wo Cassirer diese Stelle in englischer Übersetzung zitiert. 24 Paul, Hermann: Principien [Prinzipien] der Sprachgeschichte, Halle: Niemeyer 1880; vgl. PsF I, 117f. Cassirer zitiert 1923 die 3. Auflage 1898, 1945 die 5. Auflage 1920, vgl. Structuralism, S. 100. 25 Brugmann, Karl und Hermann Osthoff: Morphologische Untersuchungen auf dem Gebiete der indogermanischen Sprachen, Bd. I, Leipzig 1878, S. XIII (Vorwort); vgl. PsF I, 116f. 22 8 zu einer strengen Geisteswissenschaft zu erheben, indem man sich gänzlich auf die äußere Sprachform und hier wieder speziell die Lautform beschränkte.“ 26 Nach Cassirer basierten die Versuche Pauls und der Junggrammatiker auf demselben Grundsatz einer mechanistischen Auffassungsweise von Sprache, da die klassische Physik wie auch die Herbartsche Psychologie die Erscheinungen dadurch zu erklären suche, daß sie sie anhand eines mechanischen Modells in ihre Einzelelemente zergliedere.27 Diese Anleihen bei den Naturwissenschaft waren jedoch Cassirer zufolge nur solange praktikabel, bis den Wissenschaften, die man methodisch beerben wollte, ihre eigenen Gesetze und Methoden problematisch wurden. Vergeblich versuchte die Physik ein mechanisches Modell des Äthers zu konstruieren, um die Übermittlung von elektromagnetischen und Lichtwellen zu erklären. Das Elektron war nicht als isoliertes Element erklärbar, sondern nur in Relation zum Ganzen eines elektromagnetischen Feldes.28 Damit war ein Phänomen aufgetreten, das nicht mit dem bisherigen Modell erfaßbar war und das die Wissenschaft dazu brachte, dieses Modell in seinem Modellcharakter zu erkennen und durch ein anderes zu ersetzen. Gleiches spielte sich für Cassirer in der Psychologie ab: Die Gestaltpsychologie erklärte die mechanistischen Theorie der Herbartianer als unzureichend, weil „das Ganze mehr als die Summe seiner Teile“ und somit komplexe psychische Phänomene nicht durch Zerlegung in ihre Einzelbestandteile erklärbar seien.29 Damit ist in Cassirers historischer Schilderung der Zeitpunkt erreicht, an dem diejenigen Tendenzen in der Entwicklung der Sprachwissenschaft einsetzten, die zur Entstehung des Strukturalismus führten. Die Gestaltpsychologie dient ihm im Weiteren als eine Klammer zur Verbindung der historischen mit den systematischen Elementen der Darstellung; am Ende des Aufsatzes kommt er wieder auf sie zurück. Für Cassirer steht dementsprechend die Neuentwicklung, die der Strukturalismus hinsichtlich der Methoden in den Geisteswissenschaften darstellte, im Zusammenhang mit allgemeinen Entwicklungen in der Wissenschaft, besonders der Naturwissenschaften.30 26 Obwohl hier nur die Cassirer’sche Sicht auf die Geschichte der Sprachwissenschaften interessiert, sei punktuell auf die einschlägige Forschung zur Geschichte der Liniguistik verwiesen. Obschon älteren Datums, ist Hans Arens: Sprachwissenschaft. Der Gang ihrer Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart. 2 Bde. Frankfurt a.M.: Fischer Athenäum 1974 (im Folgenden ARENS 1974) wegen des Schwerpunkts auf dem Methodenproblem zur Kontrastierung hilfreich; hier: ARENS 1974, S. 302. 27 Structuralism, S. 100. 28 Ebd., S. 101. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 120: „What I wished to make clear in this paper is the fact that structuralism is no isolated phenomenon; it is, rather, the expression of a general tendency of thought that, in these last decades, has become more and more prominent in almost all fields of scientific research.” 9 Das Methodenproblem der Geisteswissenschaften in systematischer Sicht In systematischer Hinsicht lassen sich innerhalb des von Cassirer thematisierten Methodenproblems der Geisteswissenschaften, exemplarisch betrachtet anhand der Sprachwissenschaft, mehrere Kernprobleme herausstellen, die im Aufsatz von 1945 als aufeinander aufbauende Fragen formuliert werden. Ausgehend vom Diktum der Sprache als Organismus, vertreten v.a. durch Schleicher, versucht Cassirer, den Gegenstand der Sprachwissenschaft auf seine Erklärbarkeit – oder eben Nicht-Erklärbarkeit – mit den Mitteln der Naturwissenschaft hin zu bestimmen. Denn wenn die Sprache nicht dem Reich der Natur zugeordnet werden kann und dementsprechend nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden erfaßbar ist, stellt sich die Frage, zu welcher Art von Schlüssen die Sprachwissenschaft im Unterschied zur Naturwissenschaft gelangen kann. Kann man in den Geisteswissenschaften von notwendigen Gesetzen sprechen, ohne in die irrige Vorstellung zu verfallen, die Geisteswissenschaften müßten zu einer Art von Naturwissenschaft erklärt werden? Um diese Frage zu beantworten unternimmt Cassirer eine nähere Bestimmung des Begriffs des „Geistes“, um schließlich die Aufgabe und den Gegenstand der Geistes- und Kulturwissenschaften zu umreißen. Es ist lohnend, diese Fragekomplexe und ihre Beantwortung durch Cassirer mit denjenigen Teilen der Philosophie der symbolischen Formen zu vergleichen, die das selbe Thema behandeln. Denn wie zu zeigen sein wird, ging Cassirer 1945 über das hinaus, was er 1923 im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen an Antworten auf die aufgezeigten Probleme geben konnte. Der Gegenstand der Sprachwissenschaft – ist Sprache ein Organismus? Schon im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen hatte Cassirer den Begriff des „Organismus“ zur Bestimmung der Sprache als zu schwammig bezeichnet. Gerade bei dem Versuch, „statt einer allgemeinen Metaphysik der Sprache ihre spezielle Methodik zu begründen“ sei der Organismus-Begriff wenig hilfreich. In seiner Mittelstellung „zwischen ‚Natur‘ und ‚Geist‘“ könne er die wichtigsten methodischen Probleme nicht lösen, so zum Beispiel „ob die Gesetze der Sprache ihrem methodologischen Grundcharakter nach als naturwissenschaftliche oder als historische Gesetze zu bezeichnen sind“31. Die Entscheidung, die nach Cassirers Ansicht in der Frage nach den Methoden der Sprachwissenschaft zu treffen ist, bewegt sich, wie sich hier abzeichnet, zwischen den Polen „Natur“ und „Geist“. Der Begriff des Organismus, den er zunächst 1923 als unbrauchbar für eine Klärung methodischer Fragen verworfen hatte, dient ihm dann 1945 anhand der Umdeutung, die dieser Begriff mit 31 PsF I, S. 108. 10 August Schleicher erfuhr, zu einer Beantwortung der Frage nach der Natur des Gegenstandes der Sprachwissenschaft. Schleichers methodischer Kunstgriff bestand darin, den OrganismusBegriff aus dem Kontext der romantischen Philosophie in den der Biologie zu transponieren und ihn als „biologische[n] Entwicklungsbegriff der modernen Naturwissenschaft“32 zu verwenden.33 Somit konnte Schleicher die Sprachwissenschaft zu einer Naturwissenschaft erklären und konstatieren, daß ihr mit deren Methoden auch möglich sei, objektive Tatsachen festzustellen und objektiv gültige Schlüsse zu ziehen. Cassirer jedoch beantwortet 1945 die Frage: „Ist Sprache ein Organismus?“34 eindeutig negativ, wenn man den Begriff im ontologischen Sinne einer Identität von biologischem und Sprachorganismus und nicht als Metapher verstehe: „Biologists and linguists are often engaged in the same battle against a common adversary, a battle that may be described by the slogan: structuralism versus mechanism; morphologism against materialism. In this combat they may allege similar arguments; they may make use of the same logical weapons. But that does not prove that there is any identity in their subjectmatter, that, in an ontological sense, we can put human language on the same level as plants or animals. Language is neither a mechanism nor an organism, neither a dead nor a living thing. It is no thing at all, if by this term we understand a physical object. It is – language, a very specific human activity, not describable in terms of physics, chemistry, or biology. The best and most laconic expression of this fact was given by W. v. Humboldt, when he declared that language is not an εργον but an ένέργεια. To put it shortly, we may say that language is ‘organic,’ but that it is not an ‘organism.’ It is organic in the sense that it does not consist of detached, isolated, segregated facts. It forms a coherent whole in which all parts are interdependent upon each other.” 35 Bei dem Versuch der Sprachwissenschaft, sich in ihrem Wunsch nach Strenge und methodischer Genauigkeit mit naturwissenschaftlichen Modellen zu behelfen, dürften nicht die Gegenstände der beiden Wissenschaften miteinander gleichgesetzt werden. Solchen Anstrengungen haftete laut Cassirer der fundamentale Fehler an, die Unterschiedlichkeit der Gegenstände zu übersehen und demgemäß Methoden zu übernehmen, die nicht für die Erfassung des spezifischen Gegenstandes geeignet sind. Cassirer weist 1945 nicht nur die Auffassung zurück, daß Sprache ein Organismus sei, sondern er macht auch unmißverständlich klar, daß sie keine Naturtatsache im Sinne der Naturwissenschaften und deswegen auch nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden erfaßbar ist – „not describable in terms of physics, chemistry, or biology”. 32 PsF I, S. 109. Vgl. das in Anm. 26 angeführte Zitat Schleichers. 34 Structuralism, S. 109ff.: „Is language an organism?“. 35 Ebd., S. 110. 33 11 Ist die Sprachwissenschaft eine Geisteswissenschaft? Die Antwort auf diese Frage, die Cassirer 1945 im Anschluß an die Frage nach der Sprache als Organismus stellt, ist für ihn eigentlich schon durch die erste Frage geklärt: „To my mind, the answer to our question whether linguistics is a natural science is, in a sense, very simple. What is a natural science? It is a science that deals with physical objects. The physicist or chemist describes the properties of these objects, he studies their changes and tries to discover the causal laws of these changes. Linguistic phenomena may be studied in the same way. We may regard sounds as mere vibrations of the air; or we may, in the physiology of speech, describe the movements of our organs by which various kinds of sounds are produced. But with all this we have not yet crossed the borderline that separates human language from the physical world. Language is a ‘symbolic form.’ It consists of symbols, and symbols are no part of our physical world. They belong to an entirely different universe of discourse. Natural things and symbols cannot be brought to the same denominator. Linguistics is a part of semiotics, not of physics.”36 In der Tat gibt es mit der Phonetik einen Teilbereich der Sprachwissenschaft, der sich allein mit der physischen Seite der Sprachäußerung befaßt und damit eine naturwissenschaftlich operierende Disziplin ist. Phonetik ist jedoch strenggenommen keine Sprachwissenschaft, sondern eher eine Sprechwissenschaft und ein Teil der Biologie, was Cassirer auch, wie oben zitiert, klarstellt. Dasjenige aber, was die Sprache erst eigentlich ausmacht, nämlich die Bedeutung, ist im physiologischen Akt des Artikulierens nicht enthalten.37 Der Gesetzesbegriff in den Natur- und Geisteswissenschaften Nachdem deutlich geworden ist, daß Sprachwissenschaft keine Naturwissenschaft ist und aufgrund der Verschiedenheit ihres Gegenstandes von dem der Naturwissenschaft nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden operieren kann, stellt sich die Frage nach den Erkenntnissen (Wahrheiten, Schlüssen, Gesetzen), die in diesem Gebiet überhaupt gewonnen werden können. Der Sprachwissenschaft, aber auch den Geisteswissenschaften als Ganzes, ist der Rückzug auf die „sicheren“ Methoden der Naturwissenschaft versperrt. Sie muß nach eigenen, ihrem Gegenstand angemessenen Methoden suchen und sich von der Vorstellung verabschieden, „Naturgesetze“ auffinden zu können. Wenn der Gegenstand der Sprach- und Geisteswissenschaft nicht derselben naturmäßigen Notwendigkeit wie die physischen Phänomene unterliegt, wie kann es dann möglich sein, überhaupt eine Art von Gesetzmäßigkeit festzustellen? Der Gesetzesbegriff in den Geisteswissenschaften erweist sich 36 Ebd., S. 114f. Cassirer verweist (Structuralism, S. 113) auf einen Aufsatz von Nikolaj Trubetzkoy: La Phonologie actuelle; in: Journal de psychologie [normal et pathologique], Bd. 30 (1933), S. 331f., in dem dieser den essentiellen Unterschied zwischen naturwissenschaftlicher Phonetik und sprachwissenschaftlicher Phonologie betont. Zu dieser Nummer der Zeitschrift hatte Cassirer selbst einen Aufsatz beigetragen (vgl. oben), was leider in der deutschen Übersetzung nicht nachvollziehbar ist, da die (auch in Word I nicht ganz korrekte) Sigle ‘JPs’ in der Literaturangabe nicht aufgelöst wird. 37 12 in der Tat als der Dreh- und Angelpunkt des methodologischen Problems. Alle Bestrebungen in der Geschichte der Sprachwissenschaft, sich durch Rückgriff auf naturwissenschaftliche Methoden auch deren ‚sicheren‘ Gesetzesbegriff als Garant der eigenen Wissenschaftlichkeit zu verschaffen, beruhten letztlich auf dem Wunsch nach abgesicherten Erkenntnissen: Eine Wissenschaft ohne Erkenntnisse ist keine Wissenschaft. Während Cassirer im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen sich noch darauf beschränkte, auf die grundsätzliche Verschiedenheit von naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Gesetzen hinzuweisen,38 bot sich ihm nun mit den Überlegungen der Strukturalisten ein vielversprechender Ansatz, um notwendige Relationen auch in der Sprache konstatieren zu können. Zur Klärung des Gesetzesbegriffs greift Cassirer 1945 zunächst zurück auf die Erkenntnistheorie Leibniz’: „Leibniz made a sharp distinction between two different kinds of truth. There is a formal or logical and an empirical or factual truth. Logical truth is eternal and inviolable; factual truth is changeable and modifiable. When dealing with facts, with phenomena in space and time, we cannot hope to find a necessary connection. Necessary connection is restricted to the ideal world – to logic, arithmetic, algebra, geometry. In all other fields – in physics, astronomy, history – we cannot reach more than a contingent truth. If from the logical or formal sphere - the sphere of the possible - we pass to the empirical sphere, to the actual world, we have to change our standards. The “vérités de fait” are not of the same type as the ‘vérités de raison’; the ‘vérités contingentes’ are incommensurable with the ‘vérités nécessaires’. If we accept this clear-cut division between ‘vérités de raison’ and ‘vérités de fait’ – what is the role of linguistics? Can we deny that what we are studying in linguistics are facts – and nothing but facts? No language can be constructed in an a priori way. Whatever we know of a language we know from empirical sources – from our usual methods of descriptive or historical analysis. Can such an analysis give us more than ‘vérités contingentes’?” 39 Wenn man Leibniz’ Zweiteilung des Gesetzesbegriffs folgt, dann können die Sprach- und Geisteswissenschaften – nach Leibniz’ Diktum auch die angewandten Naturwissenschaften – in der Tat immer nur zu kontingenten, d.h. veränderlichen und sich ändernden, und niemals zu notwendigen Schlüssen gelangen. Hier versuchte nun der Strukturalismus, den Begriff der notwendigen Gesetze und Relationen für das Gebiet der Sprachwissenschaft neu zu bestimmen. Die Sprache muß als ein in sich abgeschlossenes System verstanden werden, dessen einzelne Teile und Elemente sich wechselseitig bedingen, ohne dabei von einer außersprachlichen Realität abhängig oder ableitbar zu sein. Alle Relationen innerhalb des Systems Sprache beziehen sich wiederum auf Elemente innerhalb des Systems. Auf das Gesamtsystem Sprache, und nicht auf außersprachliche Realitäten oder Entitäten bezogen, sind diese Relationen notwendig: 38 39 PsF I, S. 113f. Structuralism, S. 103f. 13 „‘Dans un état de langue donné,’ says Viggo Bröndal, ‘tout est systématique; une langue quelconque est constituée par des ensembles où tout se tient: systèmes des sons (ou phonèmes), systèmes de formes et de mots (morphèmes et sémantèmes). Qui dit systèmes dit ensemble cohérent: si tout se tient, chaque terme doit dépendre de l'autre. Or on voudrait connaître les modalités de cette cohérence, les dégrées possibles et variables de cette dépendance mutuelle, en d'autres termes, il faudrait étudier les conditions de la structure linguistique, distinguer dans les systèmes phonologiques et morphologiques ce qui est possible de ce qui est impossible, le contingent du nécessaire.’ ”40 Wenn alle Elemente innerhalb des Systems voneinander abhängig sind und sich gegenseitig bedingen, kann man innerhalb des Systems von notwendigen Relationen sprechen, ohne darunter die metaphysische Notwendigkeit der traditionellen Philosophie zu verstehen: „Obviously the necessity which is claimed here for a linguistic system has no metaphysical connotation. It is no absolute but a relative or hypothetical necessity. Roman Jakobson has expressed the character of this necessity by the formulæ: 1. si a existe, b existe aussi 2. si a existe, b manque 3. si a manque, b manque aussi. ‘Ces rapports,’ he says, ‘qui ont infailliblement valeur de loi constituent un des facteurs les plus importants des changements phonologiques.’41 ”42 Diese bedeutsame Wendung in der Sprachwissenschaft verdankt vieles den Logischen Untersuchungen Husserls. Logische Wahrheit ist mit Husserl immer formale, nicht materielle Wahrheit, und nicht von empirischen Gegebenheiten abhängig. Husserl leistete damit der Sprachwissenschaft den Dienst der De-Materialisierung des Wahrheitsbegriffs: „objektive Wahrheit“ heißt nicht die Identität von Aussage und ausgesagtem Gegenstand, sondern lediglich das Wahrsein von Sätzen in Relation zueinander.43 Wenn man außersprachliche Realitäten von den Relationen innerhalb des Systems Sprache trennt und für das Verhältnis der Elemente untereinander als irrelevant erklärt, entledigt man sich auch der Leibniz´schen Unterscheidung zwischen formalen und faktischen Wahrheiten.44 Vielmehr wird der Sprache eine Eigengesetzlichkeit attestiert, die es den Sprach- und Geisteswissenschaften erlaubt, in bezug auf ihren Gegenstand von relativen oder relationalen Gesetzen zu sprechen. 40 [Anmerkung in Structuralism, S. 104:] Bröndal, Viggo: Structure et variabilité des systèmes morphologiques; in: Scientia, [Bologna:] August 1935, S. 110. 41 [Anmerkung in Structuralism, S. 104:] Jakobson, Roman: Remarques sur l'évolution phonologique du russe comparée à celle des autres langues slaves; in: Travaux du cercle linguistique de Prague 2 (Prag 1929), S. 17– 18. 42 Structuralism, S. 104. 43 Husserl, Edmund: Logische Untersuchungen. Band I: Prolegomena zur reinen Logik. Halle 1900. 44 Structuralism, S. 104: „If the adherents and defenders of the program of linguistic structuralism are right, then we must say that in the realm of language there is no opposition between what is ‚formal’ and what is merely ‚factual.’” 14 Der Begriff Geist in den Geisteswissenschaften Auch wenn man die Sprache in bezug auf ihre Gesetzmäßigkeiten als ein abgeschlossenes System betrachtet und nicht in Verbindung zu außersprachlichen Realitäten setzt, so läßt sich doch nicht bestreiten, daß die Sprache nicht im luftleeren Raum schwebt. Der Träger der Sprache ist der Mensch in seiner symbolbildenden Tätigkeit: „[...] language, a very specific human activity, not describable in terms of physics, chemistry, or biology.“45 Bei der Beantwortung der Frage, ob die Sprachwissenschaft eine Geisteswissenschaft sei, weist Cassirer darauf hin, daß in der zeitgenössischen Debatte um die Natur- und Geisteswissenschaften und ihre Methodologie, hier nennt er Rickert und Dilthey, die Frage nach den Methoden der Sprachwissenschaft bisher völlig vernachlässigt worden sei. Gerade eine Einbeziehung der Sprachwissenschaft könne aber dazu beitragen, eines der fundamentalen Probleme der Geistes- und Kulturwissenschaften zu lösen: „Many excellent books have been written on the logic of science, of mathematics, physics, and biology. But a book on the logic of linguistics is still missing. If we had such a book, it could help us very much; it could lead to an escape from a dilemma that, in contemporary thought, has become, more and more, the ‘crux philosophorum.’” 46 Worin besteht diese crux philosophorum? Durch die ganze Philosophiegeschichte zieht sich für Cassirer der scheinbar unversöhnliche Dualismus von Idee und Materie, Geist und Körper, Form und Substanz. Diese Dichotomie wird für ihn auch der zeitgenössischen Linguistik zum größten Problem: „there are some fundamental philosophical problems and some problems of scientific methodology which never lose their importance. They never grow obsolete; they reappear, in a modified form, at all ages and under the most various conditions. As a matter of fact, we could use Plato’s description of the great γιγαντομαχία as a very good formula for the struggle between the materialists and formalists in modern linguistics.“47 Exemplarisch läßt sich an der Sprache die symbolbildende Aktivität des Menschen studieren. Ein geistiger Prozeß manifestiert sich im physischen, materiell greifbaren Phänomen Sprache. Was Cassirer nur indirekt erwähnt ist die Tatsache, daß auch die anderen vom Menschen geschaffenen symbolischen Formen eine physische Seite haben, die nur weniger häufig als die Sprache mit dem Anspruch reiner Naturwissenschaftlichkeit zu erfassen versucht wird. Ist man sich jedoch über die Gleichartigkeit all dieser Erzeugnisse menschlicher symbolbildender Tätigkeit im klaren, so wird deutlich, daß keine Geisteswissenschaft (und das meint Cassirer, wenn er von der Vorbildwirkung spricht, die eine Lösung der Methodenfrage in der Sprachwissenschaft hätte) ihren Gegenstand mit geborgten Methoden der Naturwissenschaft 45 Ebd., S. 110 Ebd., S. 112. Cassirer hatte selbst 1942 fünf Studien „Zur Logik der Kulturwissenschaften“ veröffentlicht, s.o. 47 Ebd., S. 113. 46 15 begreifen kann. Das Entweder–Oder von Materie oder Geist, Substanz oder Form führt nach Cassirers Ansicht in eine Sackgasse, die ein Verständnis dieser spezifisch menschlichen Aktivität unmöglich macht.48 Was aber muß unter Geist verstanden werden? Eine Antwort gibt er zunächst ex negativo: „Linguistics can, indeed, show us the right way and the wrong way. The wrong way consists in speaking of ‘Geisteswissenschaften’ as if ‘Geist’ were the name for a substantial thing. As soon as we accept this definition, we find ourselves immediately involved in all the wellknown metaphysical antinomies.“49 Damit knüpft Cassirer an das an, was er 1910 in Substanzbegriff und Funktionsbegriff50 schon für die Naturwissenschaft zu zeigen versucht hatte: Daß eine Erkenntnistheorie, die nach der Identität von Erkenntnis und erkannter Substanz sucht, notwendig in die Irre laufen muß; daß nach Kant das „Ding an sich“ niemals erkannt werden kann und die Aufgabe der Erkenntniskritik folglich nur darin bestehen kann, die Eigenart des spezifisch menschlichen Erkenntnisapparats zu untersuchen. Gleichzeitig löst der Aufsatz von 1945 ein, was Cassirer im Vorwort zur Philosophie der symbolischen Formen als Ziel abgesteckt hatte, nämlich „das Ergebnis dieser Untersuchungen [d.i. Substanzbegriff und Funktionsbegriff], die sich im wesentlichen auf die Struktur des mathematischen und des naturwissenschaftlichen Denkens bezogen, für die Behandlung geisteswissenschaftlicher Probleme fruchtbar zu machen.“51 Folgerichtig schließt sich 1945 an Cassirers Bestimmung des „Geistes“-Begriffs als eines Funktionsbegriffs statt eines Substanzbegriffs eine Zielstellung der Aufgabe der Geistes- und Kulturwissenschaften an: „The term ‘Geist’ is correct; but we must not use it as a name of a substance – a thing ‘quod in se est et per se concipitur.’ We should use it in a functional sense as a comprehensive name for all those functions which constitute and build up the world of human culture. It is one of the first and principal tasks of a philosophy of human culture to analyze these various functions, to show us their differences and their mutual relations, their opposition and their collaboration. If we do not content ourselves with such a critical analysis, if we begin to hypostatize them, if we look upon them as if they were separate, independent, absolute entities, we cannot avoid the strange conclusions drawn by Schleicher or Max Müller.“52 „Geist“ ist keine absolut zu verstehende Substanz, die sich in Sprache, Religion, Mythos, Wissenschaft etc. quasi „transsubstantiiert“, sondern eine symbolisierende Tätigkeit als 48 Ebd., S. 113f.: „If we accept the radical dualism between body and soul, matter and spirit, between ‘substantia extensa’ and ‘substantia cogitans,’ language becomes, indeed, a continuous miracle. In this case, every act of speech would be a sort of transsubstantiation.“ 49 Ebd., S. 112 50 Cassirer, Ernst: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik. Berlin: Bruno Cassirer 1910. 51 PsF I, Vorwort, S. V. 52 Structuralism, S. 114. 16 Funktion des menschlichen Geistes. Diese Funktion, aber nicht eine Substanz, ist der Gegenstand der Geistes- und Kulturwissenschaften. Wieso Strukturalismus? Bis hierher ist klargeworden, inwieweit für Cassirer die Ansätze der strukturalen Linguistik im Kontext der historischen Entwicklung der Sprachwissenschaft und ihrer Suche nach einer wissenschaftlichen Methode sowie innerhalb der systematischen Methodenprobleme der Geisteswissenschaft (insbesondere dem Gesetzesbegriff) zu einer Lösung des Problems beitragen könnten. Eine der wesentlichen Erkenntnisse, zu denen Cassirer im StructuralismAufsatz gelangt, ist die Tatsache, daß die Linguistik keine Naturwissenschaft ist und damit Sprache auch nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden erfaßt werden kann. Dennoch setzt er den Strukturalismus zu methodischen Ansätzen anderer Wissenschaften in Bezug und versucht zu zeigen, wie sehr der strukturale Ansatz mit diesen übereinstimmt. Wie läßt sich dieser anscheinende Widerspruch zwischen dem Beweis der Zugehörigkeit der Sprachwissenschaft zu den Geisteswissenschaften einerseits und dem Vergleich der Sprachwissenschaft mit Biologie, Psychologie und Physik andererseits auflösen? Was zeichnet für Cassirer den Strukturalismus vor anderen methodischen Ansätzen aus, und welche Rolle spielen dabei Wissenschaften mit einem ähnlichen Ansatz? Der Strukturalismus hat laut Cassirer eine Methode entwickelt, die einigen Ansätzen aus der Geschichte der Naturwissenschaft sehr ähnlich ist. Hier nennt er die Metamorphosenlehre Goethes sowie Cuviers wissenschaftliche Paläontologie, die er, einen Begriff des Biologiehistorikers Emanuel Rádl übernehmend, als „morphologischen Idealismus“ bezeichnet. Dabei wird der Organismus als ein System verstanden, in dem sich alle Elemente und ihre Eigenarten wechselseitig bedingen: „there are no mere accidental things in an organism. If we have found one of its characteristics, we have all the others; we can reconstruct the organism in its entirety. ‘C'est dans cette dépendance mutuelle des fonctions,” says Cuvier, “et dans ce secours qu'elles se prêtent réciproquement, que sont fondées les lois qui déterminent les rapports de leurs organes, et qui sont d'une nécessité égale à celle de lois métaphysiques et mathématiques.’ 53“54 Hier begegnet uns der gleiche Gesetzesbegriff, den später auch die Strukturalisten verwendeten: Ein System mit notwendigen Beziehungen zwischen den Elementen des Systems, ohne daß diese Beziehungen von Instanzen außerhalb des Systems abgeleitet werden. Auch in der zeitgenössischen Naturwissenschaft fand Cassirer parallele Ansätze, so 53 [Anmerkung in Structuralism, S. 106:] G. Cuvier, Leçons d'anatomie comparée, Première leçon, Art. iv (2nd ed., Paris, 1835), S. 50. 54 Structuralism, S. 106. 17 in der Feldphysik, die Elemente eines Feldes nicht mehr als für sich bestehende Punkte, sondern nur in ihrer Relation zum Ganzen des Feldes erklären kann, in der Gestaltpsychologie55 oder im ‚Holismus‘ Haldanes (einer Neudeutung des Darwinismus).56 In bezug auf die Art und Weise der Relation der Elemente eines Systems untereinander bestehen für Cassirer durchaus Ähnlichkeiten zwischen Naturwissenschaft und Linguistik: „Of course, the subject-matter of Cuvier is very different from that of the linguist, but what matters here are not the objects that are studied in biology and linguistics, but the connections and relations which we can ascertain between these objects. As to these relations, they show us the same characteristic form.“57 Wenn sich der Strukturalismus in der Sprachwissenschaft auf diese naturwissenschaftlichen Verfahren beruft, begeht er laut Cassirer eben nicht den Fehler, den Schleicher machte, von der Ähnlichkeit der Erklärungsmodelle auf eine ontologische Gleichartigkeit der Gegenstände zu schließen, respektive die Verschiedenheit der Gegenstände außer acht zu lassen: „this dissimilarity of the objects of natural science and linguistics does not exclude a correspondence in the structure of the judgments that we find in both sciences. I have myself emphasized this correspondence. When studying Cuvier's Leçons d'anatomie comparée we find, over and over again, the same typical statements as in the works of modern linguists: ‘Si a existe, b existe aussi; si a existe, b manque; si a manque, b manque aussi.’ But, as I pointed out, this formal or logical analogy does not prove a material or ontological similarity in the subjectmatter of linguistics and biology.“58 Allen diesen angeführten naturwissenschaftlichen Verfahrensweisen ist gemein, daß sie erstens stets das Ganze eines Phänomens betrachten und dessen Einzelelemente nur im Verhältnis zum Ganzen näher bestimmen; daß sie zweitens nicht das Wesen der Phänomene, sondern deren wechselseitig sich bedingende Struktur bestimmen wollen; und daß sie drittens weder rein empirisch noch rein ideell vorgehen. Wenn sich der Strukturalismus in der Sprachwissenschaft an diesen Verfahrensweisen orientiert, erfüllt er folgerichtig alle Ansprüche in Hinsicht auf die Wissenschaftlichkeit der Methode, ohne die spezifische Eigengesetzlichkeit und Eigenart des geisteswissenschaftlichen Gegenstands zu mißachten und die Geisteswissenschaft den Naturwissenschaften zuschlagen zu wollen. Cassirer und der Strukturalismus – Antworten statt Fragen Während Cassirer in der Philosophie der symbolischen Formen in Hinsicht auf das Methodenproblem in den Geisteswissenschaften noch vor allem Defizite und Probleme aufzeigte, gab er 1945 Vorschläge in Hinblick auf eine Lösung dieser Methodenprobleme. 55 Ebd., S. 101. Ebd., S. 108f. 57 Ebd., S. 107. 58 Ebd., S. 115. 56 18 Den Strukturalismus verstand er dabei nicht als Allheilmittel, sondern als Schritt auf dem richtigen Weg. Implizit zeigte Cassirer damit Mittel und Wege zu einer Methodik der Geistesund Kulturwissenschaften auf, die im Vergleich mit früheren Texten nicht neu waren – das Stichwort ‚Funktionsbegriff statt Substanzbegriff‘ fällt schon 1910 –, die aber 1945, konkret auf die Frage einer Methodologie der Geistes- und Kulturwissenschaften bezogen, sehr viel präziser und aussagefreudiger formuliert wurden. Cassirer, so könnte man folgern, war sich seiner Sache nunmehr so sicher, daß er eindeutige Antworten geben konnte. Bemerkenswert ist die Rückbindung der strukturalen Methode an zeitgleiche und frühere methodische Ansätze in anderen, meist Natur-Wissenschaften, die sich wie ein roter Faden durch den Aufsatz von 1945 zieht. Schon in der Philosophie der symbolischen Formen hatte Cassirer darauf hingewiesen, daß das methodische ‚Weiterschreiten‘ der Linguistik in engem Zusammenhang mit gleichzeitigen Entwicklungen in der Naturwissenschaft stehe.59 Dieser Hinweis auf allgemeine Tendenzen des Denkens diente sicherlich dazu, die Sprach- und Geisteswissenschaft in die allgemeine Wissenschaftsentwicklung einzureihen und als Teil der Wissenschaften insgesamt zu betrachten. In gewisser Weise kann man sich angesichts der Erwähnung von „tiefere[n] Gemeinsamkeiten“ und „intellektuelle[n] Grundtendenzen der Zeit“ dem Eindruck nicht entziehen, daß Cassirer die Entwicklung der Wissenschaften und ihrer Methodologie auf eine spezifische Art und Weise teleologisch verstand. Hier sind für ihn Kräfte am Werk, die auf alle Wissenschaften gleichermaßen wirken und die sich aus sich selbst heraus durchzusetzen scheinen.60 Vielleicht ist aber Cassirers Diskussion des Methodenbegriffs der Sprach- und Geisteswissenschaft auch zu verstehen als Versuch der Konstituierung einer disziplinenübergreifenden Methodik, die nach seiner Ansicht in allen Wissenschaften die Richtung des Denkens bestimmen sollte und auf die eine oder andere Weise geeignet sein könnte, die Trennung und die Animositäten zwischen Natur- und Geisteswissenschaft zu beenden. Und nicht zuletzt ist Cassirer letzter Vortrag als prägnanteste Formulierung einer Methodologie der Kulturwissenschaften in Cassirers gesamtem Werk zu lesen. Letztlich war es genau diese Methodologie, die, statt nach äußeren Ursachen zu forschen, die beobachteten Phänomene als rein in sich selbst relationales und erklärbares System beschrieb, die Claude Lévi-Strauss wenig später in den Elementaren Strukturen der 59 PsF I, S. 114: „Wenn man vom Standpunkt der allgemeinen Wissenschaftsgeschichte und der allgemeinen Erkenntniskritik die Wandlung dieses [Gesetzes-] Begriffs verfolgt, so tritt hier in sehr merkwürdiger und charakteristischer Weise hervor, wie die einzelnen Gebiete des Wissens auch dort, wo von einem unmittelbaren Einfluß des einen auf das andere nicht gesprochen werden kann, einander ideell bedingen. Den verschiedenen Phasen, die der Begriff des Nat urges et z es durchläuft, entsprechen, mit fast lückenloser Vollständigkeit, ebensoviel verschiedene Auffassungen der sprachl i chen Gesetze. Und hier handelt es sich nicht um eine äußerliche Übertragung, sondern um eine tiefere Gemeinsamkeit: um die Auswirkung bestimmter intellektueller Grundtendenzen der Zeit in ganz verschiedenen Problemkreisen.“ 60 So im bereits zitierten Schlußsatz des Strukturalismus-Aufsatzes. 19 Verwandtschaft zum Grundpfeiler einer neuen strukturalen Anthropologie machen würde. Wir haben allen Grund zu der Annahme, daß auch er zu den Zuhörern von Cassirers letztem Vortrag in New York zählte.