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Die öffnung Des Bildraums. Zur ästhetischen Erweiterung Des 3d-kinos

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Die Öffnung des Bildraumes: Zur ästhetischen Erweiterung des 3D-Kinos von Lisa Gotto Schon lange verbindet sich das Interesse für das stereoskopische Kino mit der Hoffnung auf eine neue Ästhetik. Im Jahr 1947 schreibt Sergej Eisenstein über 3D: „Man braucht den Vormarsch dieser neuen Kunst nicht zu befürchten. Man sollte im Bewusstsein Platz schaffen für neue, nie dagewesene Themen, die, multipliziert mit der neuen Technik, eine nie dagewesene Ästhetik verlangen, um in faszinierenden Schöpfungen der Zukunft vollendet realisiert zu werden.“ [4] Doch auch über sechs Jahrzehnte nach Eisensteins euphorischen Bemerkungen zum Potential der dreidimensionalen Ästhetik gibt es noch reichlich Raum für Befürchtungen. Trotz der enormen Aufmerksamkeit und des großen Erfolgs, den aktuelle 3D-Produktionen derzeit erleben, ist vielfach auch Skepsis geäußert worden. Roger Ebert etwa entrüstete sich ebenso vehement wie lautstark über das 3D-Kino. In Beiträgen mit klingenden Titeln wie „Why I hate 3D (And You Should Too)“ [1] oder „Why 3D doesn‘t work and never will, Case closed“ [2] bemängelte er, unterstützt von dem Oscar-gekrönten Editor und Sound-Designer Walter Murch, zu dunkle Bilder, zu hohe Eintrittspreise und zu lang anhaltende Kopfschmerzen. Der mehrfach artikulierten Sorge um den Zustand des Kinos und das Wohl seiner Zuschauer [2] möchte ich eine Perspektive entgegenhalten, die nicht von den Problemen, sondern den Möglichkeiten der stereoskopischen Bildgestaltung ausgeht. Sie soll zeigen, dass 3D nicht als ein Spezialeffekt zu verstehen ist, also ein Zusatz, der dem filmischen Bild punktuell hinzugefügt wird, sondern vielmehr als ein generatives Prinzip betrachtet werden sollte, das neue Gestaltungsräume eröffnet. Für das Kinobild bedeutet das, dass es sich einerseits auf seine ästhetischen Grundlagen besinnt, sie andererseits aber auch durch die Reflexion der neuen Dimension zu erweitern vermag. Das Potential der durch 3D ermöglichten und vorangetriebenen neuen räumlichen Ästhetik entwickelt sich dabei entlang einer Aushandlung von zwei bildlichen Konzepten der perspektivischen Illusion: dem Prinzip der Begrenzung und dem Prinzip der Entgrenzung. Während das erste von einer Geschlossenheit der Bildorganisation ausgeht, also die Bestimmung von Darstellungs- und Handlungsraum als visuell begrenzbare Größe und Einheit vorsieht, stellt das zweite eben diese Demarkation in Frage und impliziert die Öffnung von Grenzlinien sowie die Auflösung von stabilen Orientierungsmöglichkeiten. Diese Konzepte sollen im Folgenden zunächst einzeln und anschließend in ihrer Zusammenführung betrachtet werden. Begrenzung Bei dem Prinzip der Begrenzung handelt es sich um eine Gestaltungsform, die die geometrische Komposition der Elemente im Raum betont. Dieser Raum schließt auf sich selbst und weist nirgendwo über sich hinaus. Deutlich wird das beispielsweise in Wim Wenders Film Pina (Wim Wenders, D 2011) dessen visuelle Rhetorik sehr klar auf einen geschlossenen Raum, zumeist auf die Begrenzung der Theaterbühne, bezogen ist. Abb. 1: Pina (Wim Wenders, D 2011) Wenders‘ Film arbeitet mit langen, statischen Einstellungen – eine Entscheidung, die sowohl das Verweilen im Raum als auch das aufmerksame Nachvollziehen der in ihm stattfindenden Bewegungen, etwa vom Hinter- in den Mittel- und Vordergrund, ermöglicht. Die Tiefenillusion wird hier nicht durch den Standortwechsel der Kamera organisiert, sondern allein durch die Tiefenstaffelung des Raums erreicht. Das wird selbst dort deutlich, wo die Tanzenden sich nicht auf einer Theaterbühne befinden, sondern in anderen Räumen, deren Ausrichtung jedoch deutlich an die Architektur eines abgeschlossenen Bewegungsraums erinnert. Entscheidend ist dafür, dass das Bild sehr klar durch horizontale und vertikale Ordnungslinien strukturiert wird, die dessen wesentliche Komponenten und ihre Relationen zueinander als Ganzes erkennbar werden lassen. Ein weiteres Beispiel für die Berücksichtigung von Vor- 8 der-, Mittel- und Hintergrund als Elemente einer plastischen Raumgestaltung ist der 3D-Horrorfilm My Bloody Valentine (Patrick Lussier, USA 2009). Auch dieser Film arbeitet vornehmlich mit geschlossenen Räumen, die sich im Verlauf der Handlung jedoch zunehmend verengen. Besonders deutlich wird das in jenen Einstellungen, die die klaustrophobische Atmosphäre der verfolgten Opfer inszenieren, etwa in der gefängnisgleichen Situation des Supermarkts. Abb. 3: Alice in Wonderland (Tim Burton, USA 2010) Abb. 2: My Bloody Valentine (Patrick Lussier, USA 2009) Auffällig sind hier die im Hintergrund zusammenlaufenden Fluchtlinien, die die Tiefe des Raums verlängern, ihn aber dennoch als abgeschlossenes Ganzes präsentieren. Auch hier haben wir es mit einer Art Rasterung von vertikalen und horizontalen Linien zu tun, die jedoch leicht schräg gezogen sind und durch diese Verschiebung ein beunruhigendes Gefühl der Verunsicherung hervorrufen. Gemeinsam ist diesen Beispielen, dass sie sich sehr klar auf räumlich organisierte Begrenzungen, beispielsweise auf die Rückwand als Grenzfläche beziehen; dass sie also den Bildhintergrund nicht verwischen, sondern im Gegenteil als Bezugspunkt der Raumgestaltung deutlich betonen. Entgrenzung Eine andere Ausrichtung der filmästhetischen Rauminszenierung lässt sich beim Prinzip der Entgrenzung beobachten. Hier geht es um eine Blickanordnung, die nicht die Orientierung im Raum durch die Erkennbarkeit seiner Grenzen ermöglicht, sondern sie im Gegenteil durch ihr Durchlässigwerden erschwert. Ein Beispiel dafür ist Alice in Wonderland (Tim Burton, USA 2010). Deutlich wird hier, wie durch den Einsatz von Rauch und Nebel die klare Unterscheidung der Bildebenen diffus wird. Alice‘ Reise ins Wunderland folgt selbst keiner klar erkennbaren Wegstrecke, sondern ist durch das Gleiten und Schweben in unterschiedliche Bereiche gekennzeichnet. Den ganzen Film hindurch geht es nicht um Trennschärfe, sondern um Übergangsunschärfe. Wo der eine Raum beginnt und der andere aufhört, welchen Organisationformen die Dimensionen der einzelnen Bereiche angehören – das alles verschwimmt, bleibt unklar und undurchsichtig. Ähnliches gilt für die räumliche Gestaltung von Pandora, der fernen Welt in Avatar (James Cameron, USA 2009). Auch hier wird der Bildhintergrund häufig durch verwischte Grenzen unkenntlich gemacht. Abb. 4: Avatar (James Cameron, USA 2009) Das Bildgeschehen scheint somit nicht allein nach vorne zu reichen, wie das bei vielen Pop-out Effekten im 3D-Bereich der Fall ist, sondern sich ebenso nach hinten zu verlängern. Besonders gut lässt sich das bei Bewegungen von schwebenden Objekten erkennen. Die Gebilde fliegen zunächst um den Protagonisten herum, um dann auf ihm zu landen, nicht jedoch, ohne vorher durch das Auditorium und wieder von ihm weg in die Ferne zu schweben. Sie geben dem Zuschauer damit das Gefühl, sie selbst berühren zu können, beziehen sich also weniger auf Distanzrelationen, sondern auf Nahverhältnisse. So entsteht für den Betrachter der Eindruck, nicht länger abgetrennt vom Geschehen zu sein, sondern den Raum mit den dargestellten Figuren und Objekten zu teilen – einen Raum, der seine eigenen Grenzen nicht mehr deutlich markiert, sondern ins Ungefähre verschiebt. 9 Medienproduktion - Online Zeitschrift für Wissenschaft und Praxis Verschränkung Die beiden Prinzipien der Begrenzung und Entgrenzung sind jedoch nicht als abgesonderte Bereiche zu verstehen, sondern können vielmehr verschränkt und in Beziehung zueinander gesetzt werden. Auch dafür gibt es Beispiele, die die Gestaltungsmöglichkeiten des Dreidimensionalen in eine komplexe Reflexion des Raums und seiner Implikationen überführen. Der Film Hugo (Martin Scorsese, USA 2011) arbeitet mit zwei unterschiedlichen Raumvorstellungen, die einerseits die Geschlossenheit des Begrenzten betreffen (die Bahnhofshalle, das Uhrwerk – mitunter in einer komplexen Verschachtelung vom geschlossenen Raum im geschlossenen Raum) und andererseits die Weite des Entgrenzten adressieren (etwa beim Anfangsflug über Paris). und sich damit als zwei ästhetischen Seiten der gleichen filmischen Medaille betrachten lassen. Auch der Film Life of Pi (Ang Lee, USA 2012) entwirft ein vielschichtiges Gefüge von bildlichen Raumvorstellungen. Ang Lees Film zeigt in der Rahmenhandlung den begrenzten Innenraum einer Wohnung, in der der Protagonist einem Journalisten von seinen Erlebnissen berichtet. Abb. 6: Life of Pi (Ang Lee, USA 2012) Eine andere Ebene, die des Schiffsabenteuers, löst die zuvor gesetzten Begrenzungen und Orientierungen auf – und zwar nicht nur in Bezug auf vorne und hinten, sondern auch im Hinblick von oben und unten. Dies wird vor allem durch die Reflexion des Himmels im Wasser erreicht, das hier weniger als transparente Fläche, sondern vielmehr eine eigene Dimension der räumlichen Diffusion erscheint. Abb. 5: Hugo (Martin Scorsese, USA 2011) Während die durch Wände, Säulen und Rohre begrenzten Innenräume eine geometrisch ausgerichtete Bildkomposition aufweisen, wird die klare Linienführung in den Außenszenerien häufig durch schwebende Schneeflocken oder Rauchschwaden aufgehoben. Bemerkenswert ist dabei, wie deutlich Scorsese diese unterschiedlichen und einander doch ergänzenden Bildverständnisse mit den zwei großen Anfangsausrichtungen der frühen Kinematographie in Verbindung bringt: mit dem illusionistischen Filmschaffen von George Méliès und dem realistischen Ansatz der Gebrüder Lumière. Sie erscheinen hier nicht nur als historische Figuren, sondern als Vertreter von bildgestalterischen Möglichkeiten, die die Grenzen des Mediums ausloten Abb. 7: Life of Pi (Ang Lee, USA 2012) Die Gestaltungsmöglichkeiten des digitalen 3D-Films führen uns zu einem neuen filmischen Raumverständnis – nicht zuletzt deshalb, weil sie eigentlich widerstrebende Inszenierungsformen und Positionsbestimmungen nicht als Ausschlussmechanismus konzipieren, sondern dialogisch zusammenführen. Das ist weit mehr als ein Spezialeffekt: „Man muss 3D nicht als einen Aspekt des Spektakelkinos verstehen, nicht als das, was 10 uns erschreckt und aus der Tiefe des Raums mit Dingen bewirft. Man kann 3D vielmehr als eine Vorhut eines neuen Kinos der erzählerischen Integration begreifen, das die Geschmeidigkeit, Skalierbarkeit, Fluidität oder ‚Krümmung‘ digitaler Bilder in den audiovisuellen Raum einführt“ [3]. Die dritte Dimension verringert die Distanz und führt uns näher an die Dinge heran. Sie vermittelt zwischen Bildfläche und Raumkörper, sie bildet nicht etwas ab, sondern sie bildet etwas aus: die Flexibilisierung des Sehens und die Erweiterung des Blicks. Prof. Dr. Lisa Gotto Professorin für Filmgeschichte und Filmanalyse an der Internationalen Filmschule Köln (ifs) Literatur [1] Ebert, Roger (2010): Why I hate 3D (And You Should Too). Newsweek vom 10. Mai 2010, http://www.thedailybeast.com/newsweek/2010/04/30/why-i-hate-3-dand-you-should-too.html [2] Ebert, Roger (2011): Why 3D doesn’t work and never will. Chicago Sun-Times vol. 23. Januar 2011, http:// www.rogerebert.com/rogers-journal/why-3d-doesntwork-and-never-will-case-closed [3] Elsaesser, Thomas (2013): Die ‘Rückkehr’ der 3DBilder. Zur Logik und Genealogie des Bildes im 21. Jahrhundert. In: Gundolf S. Freyermuth, Lisa Gotto (Hg.): Bildwerte. Visualität in der digitalen Medienkultur, Bielefeld. S. 25-67, hier: S. 50. [4] Eisenstein, Sergeij (1988): Über den Raumfilm (1947), in: Sergej Eisenstein: Das dynamische Quadrat. Schriften zum Film, hg. Oksana Bulgakowa und Dietmar Hochmuth, Leipzig: Reclam, S. 196-260, hier: S. 259. [5] Wegener, Claudia; Jockenhövel, Jesko; Mariann Gibbon (2012): 3D-Kino. Studien zur Rezeption und Akzeptanz, Wiesbaden: Springer VS. 11 Medienproduktion - Online Zeitschrift für Wissenschaft und Praxis