Preview only show first 10 pages with watermark. For full document please download

Die Simulation Von Fotografie. Konzeptuelle überlegungen Zum Zusammenhang Von Materialität Und Digitaler Bildlichkeit

   EMBED


Share

Transcript

Kaleidogramme Band 64 Marcel Finke/Mark A. Halawa (Hg.) Materialität und Bildlichkeit Visuelle Artefakte zwischen Aisthesis und Semiosis Mit Beiträgen von Emmanuel Alloa, Carolin Artz, Marcel Finke, Mark A. Halawa, Ulrike Hanstein, Inge Hinterwaldner, Matthias Krüger, Stefan Meier, Dieter Mersch, Markus Rautzenberg, Marius Rimmele, Klaus Sachs-Hombach, Richard ShiH, Yvonne Schweizer, SteHen Siegel und Hellmut Winter k ldllli \TII,I!', k,ldIIlO.<; Ikrlin Gedruckt mit Mitteln des Universitäts bundes TLibingen e.V. und der Deutschen Forschungsgemeinschaft Inhalt MARCEL FINKE, MARK A. HALAWA Materialität und Bildlichkeit. Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Materialität und Bildlichkeit: Rahmensetzungen DIETER MERSCH Materialität und Formalität. Zur duplizitären Ordnung des Bildlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 21 KLAUS SACHS-HoMBACH, HELLMUT WINTER Funktionen der Materialität von Bildern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 50 EMMANUEL ALLOA 68 Das Medium scheint durch. Talbot - Stella - Hanta'i Bibliografische Information Der Deutschen Nationölbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet Liber abrufbar Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschlitzt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 2012, Kulturverlag Kadmos Berlin. Wolfram Burckhardt Alle Rechte vorbehalten Internet: www.kv-kadmos.com Umschlaggestaltung: Marcel Finke Umschlagabbildung: Alberto BUfri, Grande Nero Cretto, 1977, Detail, Mischtechnik auf Celotex, 151,5 x 251,4 cm, Musee National d'Art Moderne, Centre Georges Pompidou, Paris. Mit freundlicher Genehmigung der Fondazione Palazzo Albizzini, Collezione Burri, Citta di Castello (Perugia) © by SIAE 2010. Gestaltung und Satz: kaleidogramm, Berlin Druck: Standartu Spaustuve Printed in EU ISBN ( I O,slcllig)1-RG599-1 11-4 ISI'.N (I \ ',Icllq',) ~')') 111·9 MARCEL FINKE, MARK A. HALAWA Körperlose Anwesenheit? Vom Topos der >reinen Sichtbarkeit< zur >artifiziellen Weltflucht<. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 86 Materialität und Bildlichkeit: mediale Formate MARKUS RAUTZENBERG Wirklichkeit. Zur Ikonizität digitaler Bilder 112 STEFAN MEIER Die Simulation von Fotografie. Konzeptuelle Überlegungen zum Zusammenhang von Materialität und digitaler Bildlichkeit 126 STEFFEN SIE(;EI. !"Simulation von Fotografie<. Dies wird anhand >neuer< digitaler Praktiken der Produktion und Archivierung, der softwaregenerierten Verällderbarkeit und ihrer wandelnden Materialisienmg durch unterschiedliche Ausgabemedien evident gemacht. Wenn digitale Fotografie also indexikalisch und ikonisch >nur so tut, als ob sie Fotografie sei<, so stellt dieser Beitrag demgegenüber deli anhaltend indexikalischell Gebrauch, die Darstellungsperformativität und die spezifische WahrnehmullgstJraxis von Fotografie als zeichenhaftes Mittel "ur Gellerienmg von Weltperspektivierungen mittels digitaler Medien dar. 1. Einleitung: Fotografie, Simulation und Materialität Die Mechanisierung, Materialisierung, Fotografisierung, Simplifizierung beginnt sich breit zu machen und wird vornehmlich von den Konstruktivisten gefördert. Diese Tatsache ist insofern bedenklich, als eine Maschine keine geistige Empfindungen ausdrücken kann wie etwa der Pinsel, der Bleistift, die als technische Hilfsmittel weit höher stehen, weil durch sie Empfindungen in ihrer vollen Kraft hindurchfließen.! Das Zitat stammt zweifellos aus vordigitaler Zeit. Es beinhaltet die Klage, dass die technische Bildgebung der Fotografie die Kreativität und Sinnlichkeit vermissen lässt, die in der Malerei als wesentlich gilt. Der vorliegende Beitrag sol1 demgegenüber zeigen, dass die aktuel1e digitale Fotopraxis eine neue Form der kreativen Bildproduktion umfasst. Sie befördert auf breiter Basis eben jene individuel1e Ausdrucksfähigkeit, deren Verlust Kasimir Malewitsch in der angeführten Passage bemängelt. Dabei ist die Bilderstel1ung nicht mehr al1ein einem künstlerisch motivicrtcn und professionel1 agierenden Produzclltcnkreis vorbeha Itcn. Vielmehr biercII die Möglichkeiten der digitalen Bearbeitung und der online-medialen Publikation bildliehe Ausdrucksmöglichkeiten für größere Nutzergruppen. Die Verbreitung handlicher Digital-Kompaktkameras bzw. fotografiefähiger Handys ist dabei eine technische Innovation, die sich mit der Einführung mobiler Kleinbildkameras in den 1930er Jahren vergleichen lässt. Fortan bestand für breitere Nutzergruppen die Möglichkeit, Urlaub und Alltag bildlich festzuhalten und dies zeitversetzt anderen zur Ansicht zu bringen. Demgegenüber erlaubt die digitale Fotografie eine relativ einfache postfotografische Bearbeitung, die der Bildlichkeit im Nachhinein weitere kommunikative Komponenten beifügt und diese möglicherweise onlinemedial einem dispersen Publikum präsentieren lässt. Beides geschieht prominent in so genannten social networks (z. B. Myspaee, Faeebook, studiVZ) oder Foto-Communities (z. B. Fliekr), was als eine performative (Selbst-)Vorstellung anzusehen ist. 2 Diese digitale (Selbst-)Darstel1ung ist Ergebnis eines medialen Wandels, der auf begrifflicher und anwendungsbezogener Ebene beträchtliche Auswirkungen hat. Er organisiert das Verständnis von Fotografie und ihrer Materialität neu und initiiert einen veränderten Blick auf bisherige theoretische Zugänge. So wird in diesem Beitrag die weitere These vertreten, dass digitale Fotografie eine Simulation von Fotografie selbst ist, während die analoge Fotografie bereits eine Simulation von Weltansicht darstellte. Simulation wird im Folgenden im Sinne Jean Baudril1ards aufgefasst, ohne aber dessen kulturpessimistische Sichtweise zu übernehmen. Stattdessen wird die hier thematisierte Praxis als eine Kulturtechnik verstanden, die Bildlichkeit zunehmend als kommunikationsstützendes Zeichensystem ansieht. Somit tritt neben die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten vermehrt eine performative Bildkompetenz, die >maschinengestützt< Empfindungen, Haltungen und Persönlichkeit zeitversetzt und ortsungebunden zur Ansicht bringen lässt. Sie erlangt dabei eine durch den Produzenten und Rezipienten verstärkt konventionalisierte Ausdruckspraxis der Alltagsdokumentation, der Präsentation von Vorlieben, Gruppenzugehörigkeiten und fotografischen Kompetenzen. Fotografie wird so als Mittel der Selbstoffenbarung cingesctzt, wobei die digitale Gestaltbarkeit dafür eine je nach Fähigkeit dl:s Produzenten freie Form- und Kombinierbarkeit der fotografischen I:eichcn ermöglicht. Nach :llitagstheoretischem Verständnis erhalten die Bildinhalte (einer !"lllogr:dicj ihrl: i\l1thcntizitätszuschreibungen durch ihre hohe Ikonizität ',i) )',nl.lllllll'll !.d 1I1'I/f'1 J/!.'<.; fVlvs/Jilt"f', I J I<. I,: hit p//www.lllysp:lCI..'.COIll; hlCC!J()()k, 1'111,)/\\\\\\.1." (·1"",1., 1111'; ',111,1,1'/, (11(1: 1IIII.IIwww..• I."IIV/.. lIl.I;/:li.I.. I.IIIU:1I111.11 \","\,' 111. I r \ .1111 III I/tl' ./ 111',1111.-' I:: ()I 1(1111"1 1(11 I1 \/)',1 . .11(' l"l.dl·wil .. ~ 11, 111. ll. 1{«lIulll 1'11'1')',: 1)/1' 1/,'11"1' I/r", 1:."tlr"!1 "/(I IL·'.'lfll"/l/!!,l: rlr" I'I'I'/tll:/,/I'/I/[' {lli \\>,1: "rl/l /;rt/J/JI, HI'III.IIIIIIIII"I/ /L1I1/1."., 1'"LII,.>!11 t()(ll.', ',~,~ k.I,.illlll" 127 111\1 ',()I 128 129 STEFAN MEIER DIE SIMULATION VON FOTOGRAFIE oder Wahrnehmungsähnlichkeit mit der Welt. Allerdings zeigt bereits die analoge Fotografie nicht ein Analogon der Welt. Sie simuliert vielmehr eine Ansicht von Welt, indem der Bildinhalt so inszeniert wird, dass er die Wahrnehmung von empirischen Gegenständen assoziieren oder erinnern lässt. 3 Er ruft ähnliche mentale Modelle auf, die auch bei Ansicht der realen Gegenstände zum Tragen kämen. 4 Dieser Befund ist Stand der aktuellen Ikonizitätsdebatte, sodass eher die objekt-motivierte Indexikalität in der Fotografie als spezifischer >Authentizitätslieferant< charakterisiert werden kann. Dem Bild wird hierbei ein fotografisches Ereignis als Ursache unterstellt, welches einen realen Fotografen annimmt, der vor Ort ein entsprechendes Objekt fotografiert hat. s Das Bild selbst entsteht somit aus aneinandergesetzten Reiz-Reaktions-Folgen, die auf Umwandlungen manifester Materialitäten beruhen: Veränderung der Filmoberfläche durch Lichtstreuung, chemisch unterstützte Entwicklung zum Fotonegativ und -positiv, Ausgabe auf statischem Fotopapier bzw. Diafilm. Damit wird ein direkter >materieller Faden< zwischen Objekt und Rezipierendem gesponnen. Die digitale Fotografie, so meine These, kappt nun diese indexikalische Verbindung zwischen Objekt und Fot0 6 und lässt sich somit als Simulation von Fotografie begreifen. Denn die mögliche Indexikalität der analogen Fotografie findet in der digitalen bereits im Moment der Aufnahme ihr Ende. Mag die Lichtstreuung des Motivs noch auf die CCD-(Charge Coupled Device- )Schaltungselemente treffen, so werden spätestens dort die Lichtmengen in elektronische Stromflüsse zur Generierung bestimmter Datenpakete umkodiert. Ein digitales Bild entsteht erst mithilfe weiterer komplexer softwaregestützter Umkodierungen und eben nicht - wie in der analogen Fotografie - durch Veränderung von Materie. Die Datenpakete definieren so einzelne Pixel und erst durch ein entsprechendes Ausgabemedium werden diese sichtbar - sie erhalten also (nur) eine vorübergehende Materialität. Digitale Fotografie bedeutet somit die konsequente Trennung zwischen Zeichenausdruck (farbliche Strukturierung einer Fläche) und Zeichenträger, was zur bekannten Formatflexibilität (TIFF, JPEG, PSD, RAW etc.) führt sowie zu darstellungsmedial bedingten Auflösungsdynamiken und veränderten Farbwiedergaben bei unterschiedlichen Displays. Eine Materialität des digitalen fotografischen Zeichens stellt sich somit (nur) situationsgebunden her. Das digitale Bild ist mit seiner uneingeschränkten Bearbeitbarkeit auf der Pixelebene auch auf der Inhaltsebene eine fotografische Simulation, was in diesem Beitrag ebenfalls näher erläutert werden wird. Während die analoge Fotografie durch ihre Wahrnehmungsähnlichkeit Weltansichten simuliert, simuliert die digitale Fotografie die analoge, indem sie mithilfe eines Ausgabemediums digitale Dateneinheiten so formiert, als ob man eines analogen Fotos ansichtig würde. Wenngleich digitale Fotografie indexikalisch und ikonisch >nur so tut, als ob sie Fotografie sei<, wird der vorliegende Beitrag abschließend dennoch versuchen, die digitale Fotografie in ihrer anhaltend realisierten Darstellungsperformativität, indexikalischen Gebrauchsweise und spezifischen Wahrnehmungspraxis als zeichenhaftes Kommunikationsmittel zu bewahren. Jedoch verlagert sich die Gewichtung damit von der Dokumentationsfunktion zur darstellenden Sichtbarmachung als Haupteigenschaft des fotografischen Zeichens. Zur Idee der Wahrnehmungsnähe bildJicher Darstellungen vgl. Klaus Sachs-Hombach: Das Bild als kommunikatiucs Medium. Elemente einer allgellleinfll Bildwissenschaft, Köln 2003. Vgl. Hartmut Stöckl: Die Sprache im Bild - Das Bild in der Sprache. Zur Verknüpfung uon Sprache lind Bild im massenmedialen Text. Kon<:epte, Theorien, Ana/ysemethoden, Berlin/New York 2004. Vgl. Roland ßarthcs: Die helle [(ammer. Bemerkungen zur l'I}()lo,~r"IJhie. iihers. v. Dietrich Lellhe, Frankfurt/M.I9R9Iwcrst Paris 19HOI, S. 1.1-1). /",1111' :'ihnl;ch" Thl,s<' vcr fo Ii', I :Inch FV;l SChi"trlll:lI111, wolll'I ',1\' <1,..,.,- '1\,1'1 .1111 .I;,' ,hg;\;\1c I,'()I (1)',1 :11 je 1111..1 :1111 d W ;1111 ;ll~<.;pr;l k I i\dH' l hll<';l'[ 'I.1I11,l', ,IIlWClI< kl \wll1 I,' \ .1 1'1 lI/li 11 Lllll1: "\X/C) 1.1111 11·1\llllin"('ll dw 1'lildtT? /.11111 l~d('lTII'IPI()hl('1l11111dllllwl 1.11',1,1111111'.' II ,111 /:1'III,i,I:I' 111" I, ( 11 I I. \ \1 I, 11 l\i~"F'I"" 1}1'III'd!'t'lI ( •• 111111,11111, I 1 J I ~. ~lll 1"' VI • I l'!,l!/I',II/I!'/t', S,'j'I,'!J/!'{'} 1111' 11 t I., 1111111', '(11):,' 111 I "/,111', \' (,Irl 2. Die analoge Simulation von Weltansicht Bis zur Erfindung der Fotografie stellte die künstlerische Darstellung das dominante Bildgebungsverfahren dar. So ist es laut Ronald Berg nicht verwunderlich, dass die Fotografie in ihrer Frühphase noch im engen Zusammenhang mit der Kunst diskutiert wurde.? Talbot, als einer der Erfinder und ersten Theoretiker dieser technischen Bildproduktion, sah sich daraufhin kulturpessimistischer Kritik ausgesetzt, die auch noch im anfangs aufgeführten Malewitsch-Zitat deutlich zutage tritt. Berg charakterisiert den Kunst-Begriff zur Zeit Talbots anhand der zeitgenössischen Encydopaedia Britannica als eine rein dem Wohlgefallen dicncnde Ausdruckspraxis mit >Geist und Hand<. Dabei fällt auf, dass nicht das Prod LI k t iill fokus der Betrachtung steht, sondern die Produktion seI bst, die ZlIln ci IlCIl pra !Einritzungen< vollführt. Mag die Motivation Talbots, die Welt fotografisch festzuhalten >wie sie ist<, als Kompensation seines von ihm selbst attestierten mangelnden künstlerischen Talentes nachvollziehbar sein, jj so unterschlägt diese Lesart jedoch die Metaphorik, die in dem Verständnis der Fotografie als Stift der Natur ebenfalls mitgeliefert wird. Wörtlich kann Talbot dies nämlich nicht gemeint haben, da er sich sonst auch vor seinen Zeitgenossen lächerlich gemacht hätte. Wenn also nahezu feststeht, dass es sich um eine Metapher handelt, so lassen sich auch weitere mögliche uneigentliche Bedeutungen sammeln. So ist es durchaus möglich, dass Talbot in der Fotografie nur den Anschein gesehen hatte, als ob die Natur das Bild selbst gemalt hätte. Mit diesem Verständnis würde >The Pencil of Nature< zur konzeptuellen Metapher. Die Analogisierungen von Stift und Licht sowie von Natur und Künstler würden damit akzeptabel. Diese >Als-ob-Bedeutung< impliziert jedoch auch eine gewisse Einschränkung der attestierten Ikonizität. Sie würde bereits den Ansatz eines Verständnisses eröffnen, welches die Fotografie in ihrer Anwendung eher als eine Simulation von Weltansicht{en) begreift. Die chemischen Prozesse, die Talbot beim fotografischen Akt und in der Foto-Entwicklung ebenfalls beschreibt, thematisieren auf der anderen Seite jedoch die Materialisierung von Fotografie als indexikalische Verbundenheit mit dem Objekt. Daraus bezieht sie bis heute ihre Evidenz oder Beweiskraft für die Anwesenheit des Gezeigten zur Zeit des fotografischen Aktes. Für den Bauhaus-Lehrer Laszlo Moholy-Nagy ist die Fotografie bereits in den 1920er Jahren eine »visuelle Darstellung des optisch FaGbaren« 12. Er versteht sie als ein optisches Hilfsmittel, die Welt neu sehen zu lernen. 13 Dabei wird Fotografie zur Wahrnehmungshilfe, die die Welt »mit Hilfe des fotografischen Apparates sichtbar zu machen [erlaubt]; d. h. der fotografische Apparat kann unser optisches Instrument, das Auge, vervollkommnen bzw. ergänzen. «14 In diesem Sinne gerät zunehmend das mediale Gestaltungspotenzial von Fotografie in den Blick. Jedoch bewertet Moholy-Nagy dies noch ganz im Geiste seiner Zeit als 'objektives Sehen<. Fr plädiert zwar bereits dafür, die Fotografie in ihrer darstellenden Spezifik /.u nutzen und nicht als nachahmendes Instrument der bildenden Kunst zu hegreifen. Allerdings gilt die Fotografie weiterhin als ein Instrument der Wirklichkeitsdarstellung. Während das menschliche Auge bzw. die geistige Verarbeitung optische Verzerrungen subjektiv zu überwinden versucht, /cigt die Fotografie diese ohne Verstellung. Sie verhilft dem menschlichen 1\ 1I ge zur eigentlichen Weitsicht. Meines Erachtens wird dadurch jedoch 11m willkürlich die Spezifik einer maschinellen Aufzeichnungstechnik einer Illllllal]-visuellen Wahrnehmung vorgezogen. Es spricht nicht wirklich etwas 7. 1...11111 ' .. 1)',1'11, ,IH- \\)\ 11 11111 \'illll·.()1I1111t'll .!lldert'll 1\11)',('11 '~t'hCII." 132 133 STEFAN MEIER DIE SIMULATION VON FOTOGRAFIE Fotografie bereits als ein maschinelles Bildgebungsverfahren verstehen, das ganz eigene Möglichkeiten der Gestaltung und Postproduktion zur Verfügung stellt. Als Beleg einer solchen Lesart sei auf seine zahlreichen eigenen gestalterischen Arbeiten in Form sogenannter Typofotos verwiesen. IS Diese stellen Montagen von bildlichen und typografischen Elementen dar, die auf Plakaten und Zeitschriften-Titeln ganz eigene multimodale bzw. multikodierte Bedeutungsangebote konstituieren. Hier wird weniger die Welt dargestellt als vielmehr eine eigene Welt mit unterschiedlichen Zeichensystemen gestalterisch geschaffen. Ein ähnlicher Zweifel an der reinen Abbildfunktion der analogen Fotografie findet sich augerdem beim frühen Roland Barthes, dessen Konsequenz er als Paradoxon beschrieben hat. Neben das perfekte Analogon, das die Fotografie in ihrer uncodierten Denotation vom Objekt darstellt, treten für ihn Konnotationsverfahren, die die Denotation überlagern, modifizieren etc. Diese Verfahren sind fotografische Inszenierungen und Bearbeitungen, die auf die Bedeutungen des fotografischen Zeichens einwirken. So legt das Foto z. B. mittels spezifischer Belichtung, Pose des Objektes, sprachlicher Kontextualisierung sowie möglicher Montagen in der Postproduktion bei der Rezeption die Hinzuziehung kulturell-codierter Bedeutungskomponenten nahe. Damit liefert die Fotografie zwei Botschaften, zum einen das Verständnis der uncodierten reinen Darstellung (Denotation) des Fotografierten und zum zweiten implizite kulturell-kommunikative Anteile, die die Fotografie als Analogon der Wirklichkeit relativieren. Über den genauen Status der Denotation bzw. des anteiligen Vorkommens von Denotation und Konnotation zeigt sich Barthes ebenfalls verunsichert, wie folgendes Zitat belegt: Auch wenn hier deutlich werden mag, dass bereits der strukturalistische Ansatz Barthes' die maximale Ikonizität, also die visuelle Ähnlichkeit zwischen Fotografie und Objekt, durch Konnotationsverfahren reduziert sieht, so hält demgegenüber auch der späte Barthes noch an der Indexikalität der Fotografie fest: In seinem Werk Die helle Kammer fasst er den fotografischen Referent(en) als "die notwendig reale Sache, die vor dem Objektiv platziert war und ohne die es keine Photographie gäbe.« L7 Bei Barthes bleibt das Foto weiterhin als Beleg für die Existenz des Referenten zur Zeit der Bildproduktion bestehen. Dieser ist notwendiger Bestandteil des Fotos selbst. Demnach kann es ein Foto von einem Einhorn nicht geben. Würde ein Foto einen Schimmel mit langem, geradem Horn auf der Blässe beinhalten, so wäre der Referent kein Einhorn, sondern ein Pferd mit aufgepflanztem Horn. Würde dieses Bild jedoch soweit kontextualisiert, dass das Dargestellte kommunikativ als Einhorn behandelt würde, so wäre dies als eine konnotierende Praxis anzusehen, die jedoch nicht den fotografischen Referenten direkt beträfe. Vielmehr ginge es hierbei wiederum um die Ikonizität, die durch Konnotationsverfahren cin vermeintliches Denotat (Pferd mit aufgepflanztem Horn) überflügelte. Andererseits liefert Barthes hiermit bereits Voraussetzungen, die Fotografie mittels Konnotationsverfahren als Darstellung von simulierter Weltansicht zu verstehen. Als Index-Zeichen sieht Barthes jedoch weiterhin den Referenten konstitutiv mit der Fotografie verbunden, wie auch Schürmann dies anschaulich Jl1 ithilfe der Reportage-Fotografie von Henri Cartier-Bresson darstellt. 18 Zwar mögen dessen Bilder über eine hohe konnotierende Ästhetisierung vcrfügen, doch sind sie mit dem Anspruch verbunden, »das Leben bei ~ich zu überraschen«19. Bezeichnenderweise wird hier auch von Cartier-Bresson nicht auf die Ikonizität des Bildes angespielt - dies wäre mit dem Satz )das Leben zeigen, wie es ist< der Fall-, sondern auf die Präsenz des ){cferenten, was wiederum die Indexikalität der Fotografie fokussiert. Für Barthes ist somit das Indexikalische der Fotografie die Verbindung zwischen Vngangenheit und Gegenwart. Ganz wie Talbot sieht er mit der in der Vngangenheit real vollzogenen Lichtstreuung des Objektes auf Fotopapier IlIld dcm daraus entwickelt vorliegenden Foto die Existenz des Objektes vor dcm Objektiv in der Vergangenheit bewiesen. Allerdings weist Schür111.l111l ZlI !{ccht- ,luf weitere Mittel der fotografischen Gestaltung hin, die 1>("ITils mit der Auswahl des Motivs und seiner Perspektivierung vollzogen \XTas hei(~t überhaupt wahrnehmen? Falls es, gewissen Hypothesen von Brunn und Piaget zufolge, keine Wahrnehmung ohne unmittelbare Kategorisierung gibt, so wird die Fotografie im Moment der Wahrnehmung verbalisiert; oder besser noch: Sie wird nur verbalisiert wahrgenommen (oder es kommt, so die Hypothese von G. Cohen-Sear über die Wahrnehmung von Filmen, falls sich die Verbalisierung verzögert, zu Unordnung in der \XTahrnehmung, Verunsicherung, Angst des Subjekts, Trauma). Aus dieser Sicht besäße das unmittelbar von einer inneren Metasprache, hier der Sprache, erfaßte Bild im Grunde tatsächlich keinen denotierten Zustand; es würde sozial immer in mindestens eine erste Konnotation eingetaucht existieren, nämlich in die der sprachlichen Kategorien; und man weiß, daß jede Sprache Stellung zu den Dingen bezieht, daß sie das \XTirkliche konnotiert, und sei es, indem sie es zerlegt: die Konnotationen der Fotografie würden sich also grosso modo mit den großen Konnotationsehenen der Sprache decken. 16 " Ir, Vgl. chd .• S.1Panoptischen(.2J Damit spielt er auf eine These Michel Foucaults an, der die (Selbst-)Disziplinierung der Subjekte durch deren öffentliche Sichtbarkeit verursacht sieht. 22 Foucault weist darauf hin, dass Menschen, die potenziell ständig sicht- bzw. beobachtbar sind, ihr Handeln entsprechend ausrichten. Sie orientieren sich dabei quasi nach >Erwartungserwartungen( ihrer Betrachter, ohne zu wissen, ob sie tatsächlich unter ständiger Beobachtung stehen oder wirkliche Sanktionierungen im Fall von Normbrüchen erfahren würden. Für Foucault konstituieren sich durch dieses individuelle Verhalten regelrechte DisziplinargeseIlschaften. Sie setzen dabei eine unmittelbare Verbundenheit zwischen der Sichtbarkeit und dem Gesehenen voraus. Für Baudrillard ist diese Verbindung jedoch im Zeitalter >synthetischer Bilder< in zweierlei Hinsicht aufgelöst: '11 'I Vgl. chd. V)',1. .1(';,,' Ibildrill.lrll; 1>;1' /1/''''1',\('''/''',1 da W"//. h'lul:'''/','1I /,,,,,,1,,,':, S, ,>, VI',I 1\11l Ill'l "'"/.1111'111',',("" \'\'.,1111 hJlll,lIi11 fll'I'IU'''t 1/("11 \,11111,11.111111111/1\\ "!lll SII"/t'l/ 1)/1' 1'1'/11 11l1,,1 11.111', Iq '1 (:I-/'ffll ./t· k,I"",·1 .'.1111 \, Idlt'I'._ \' VOI'h"i ist es sogar mit der hildliehen Vorstellung des Bildes, mit seiner grundle!'.' ,,,dIll ,llhl.sion" dcnn i l1l syn thetischen Prozess existiert der Referent nicht mehr, ,1.",1\,',,1(' ,,('Ihst hr;lIlcl1l Ilicht Jllchr sLltl/llfindcn, dl:nn es wird unmittelbar als I'" Ilwll(' 1\(',,1'I,i t J"'OI 1II'/.IlTI.' I I y 136 STEFAN MEIER Das Zitat expliziert die oben bereits angesprochene Vorstellung, dass in der digitalen Fotografie nicht nur durch mögliche Inszenierungspraktiken konnotativ die Ikonizität einer unterstellten Denotation überlagert werden kann, sondern dass hierin auch die bisher als Evidenzspender angesehene Indexikalität ihr Ende findet. Nicht die Lichtstreuung eines vermeintlichen Referenten verändert, wie noch in der analogen Fotografie, proportionsäquivalent die Oberfläche des Fotopapiers, sondern seine Lichtstreuung verursacht medial bedingte Stromflüsse, die zu spezifisch formatierten Datenpaketen codiert werden. Wenn das Fotografierte auch weiterhin den Anstof~ für die nachfolgenden En- und Decodierungen liefert, so ist doch die Materialität des Bildes nur in ihrer situativen Konstitution gemäß des genutzten Ausgabemediums zu denken. Damit ist der Moment des Fotografierens kaum noch wichtig. Noch bei Barthes war dieser jedoch entscheidend. Der Augenblick des Auslösens bedeutet bei ihm den >Tod des Objektes<, da dieser das Objekt aus der Zeit nimmt. Bei Baudrillard veranlasst dieser Moment das Verschwinden des Objektes, da an dessen Stelle das Bild tritt. Die Digitalität lässt darüber hinaus jedoch die Bildaufnahme und die Bildnachbearbeitung als Bildproduktion zusammenfließen. Die Bilderstellung ist ein beliebig langer Prozess, kein Moment mehr. Baudrillard drückt diesen Sachverhalt wie folgt aus: Der fotografische Akt, dieser Moment des gleichzeitigen Verschwindens von Subjekt und Objekt in derselben Konfrontation - der Auslöser, der für einen kurzen Augenblick, für eine Synkope, einen kleinen Tod, die Welt und den Blick aufhebt und die maschinelle Erstellung der Fotografie auslöst - dieser Moment selbst verschwindet im digitalen computergesteuerten processing. 24 Auf die Frage nach dem Zusammenhang von Materialität und Bildlichkeit bezogen, kann man sagen, dass in der digitalen Fotografie der Wandel von Materialität beim fotografischen Akt aufgehoben wurde. Während in der analogen Fotografie die punktuelle Ursache-Wirkung-Relation zwischen Referent und Fotopapier im Moment des Auslösens >Bildlichkeit materialisiert<, wird in der digitalen Fotografie nicht Bildlichkeit materialisiert, sondern es werden Datenpakete für potenzielle Bildlichkeit produziert. Die Datenpakete materialisieren kein Bild, sondern liefern Informationen für mögliche Ausgabemedien, Bildlichkeit anzuzeigen. Baudrillard sieht die Möglichkeit, die Bilder »von einem Träger zum anderen, VOll einem Medium zum anderen, in allen Dimensionen: Laptop, Mobiltelefon J' senden zu können, ebenfalls durch das Verschwindcn dc~ Refercnten ermöglicht. Meines Erachtens ist für diesc I':ntwicklllng jedoch wl'l\igl'l' ,h~ IhL 1;1111.,1 1 h DIE SIMULATION VON FOTOGRAFIE 137 Referenzproblem verantwortlich als vielmehr die benannte Relativierung von Materialität in der digitalen Fotografie. Ein digitales Bild ist dabei kaum noch als ein autonomer Gegenstand zu betrachten, sondern materialisiert sich situativ in Abhängigkeit der Datenformatierung und des genutzten Ausgabemediums. Grund dafür ist die getrennte Existenz von Bilddaten und Trägermedien. Während beispielsweise in einem analogen Bild (etwa einem Gemälde) die flächenstrukturierende Farbe und die Leinwand essenziell verbunden sind, werden beim digitalen Bild erst im Moment der medialen Wiedergabe die flächenstrukturierenden Bilddaten und das Trägermedium zu einem Bild verbunden. Je nach gewünschter Vergrößerung oder realisierter Auflösung zeigt es sich demnach dem Betrachter anders. Es ist in seiner Realisierung somit flexibel und verfügt auch in den jeweiligen Ausgabemedien je nach Display-Größe, gewählter Vergrößerung oder determinierter Farbdarstellung über wechselhafte Ansichten. Nur wenn es auf statischem Fotopapier ausgedruckt wird, verliert es seine flexible DarsteIlbarkeit, denn es hat als Ausdruck wiederum eine statisch-analoge Materialisierung, sprich: eine essenzielle Verbindung von Farbe und Bildträger, erfahren. Als digitales Bild verbleibt es in seiner situativ veränderbaren Materialität und kann in der Nachbearbeitung beliebig mit anderen Motiven zu Montagen kombiniert werden. Da hierbei die Grundelemente des digitalen Bildes, also jedes einzelne Pixel, bearbeitbar sind, können diese Montagen so perfekt gestaltet sein, dass eine Unterscheidung zwischen fotografischem Akt und Postproduktion kaum zu erkennen ist. Dies bedeutet jedoch auf der anderen Seite, dass das Erkennen von Postproduktion einerseits kommunikativ vom Produzenten intendiert, andererseits jedoch durch cinen ungewollten Kompetenzmangel in der Handhabe der Bildbearbeinll1g motiviert sein kann. Gleiches gilt für die Anwendung von weiteren Bearbeitungstools zur Farbregulierung, Schärfe- und Lichtverteilung im Bild sowie Änderungen der Bildausschnitte und Motivfokussierungen. I)icse Bearbeitungen lassen sich mit Bezug auf Barthes als postproduktive I(ollilotationsverfahren begreifen, denen bestimmte kommunikative Ziele /.lIgrullde liegen. Die Einordnung dieser stilistischen Gestaltungspraktiken .J1.~ ;lIlgcmessen, gelungen, innovativ oder ungekonnt gibt dabei ähnlich 1\11~l..:linftc über den Produzenten wie die Bewertung von Sprachstilen in ITildcn !geistige Empfindungen< auszudrücken vermag. Es erlaubt dem User mithilfe technischer Mittel genau jene »Empfindungen in ihrer vollen Kraft hindurchfließen« zu lassen, wie es oben nur dem Künstler zugestanden wurde. Allerdings: Nicht Pinsel und Bleistift sind nun die ausschlaggebenden Produktionsmedien, sondern Computer und Bildbearbeitungssoftware, die die digitalen Fotodaten als Rohmaterial bearbeiten lassen. Eine künstlerische Fertigkeit wird hierbei jedoch nur hinsichtlich eigener kommunikativer Anliegen und gewählter Publikationsorte im Netz entscheidend. So werden beispielsweise in Foto-Communities wie Flickr in einem Zusammenspiel zwischen softwarebedingten und usergenerierten ICLtingverfahren vermeintlich kompetentere fotografische Ergebnisse durch ,ine bessere Wahrnehmbarkeit belohnt. 26 Durch die Aufnahme bestimmter )otografien in spezifische favorisierte Gruppen, durch die Fülle von Ver·' linkungen, die die User zwischen bestimmten Gruppen, Fotografien, Fotogr;l fen und einschlägigen Rubriken wie» Interessantes« usw. vornehmen, ,·da ngen einzelne Fotografien bzw. Fotografen favorisiertere Stellungen Illnnhalb der Online-Community als andere. Auffällig ist, dass hierbei .11I,h gewisse professionelle Gestaltungs- und Genre-Muster dominanter 111 Erscheinung treten als amateurhaft anmutende Privatfotografien. Hier 1'.1 die innovative und kreative Entsprechung solcher vermeintlich profes.I (lIlClkr M llsterha ftigkeit das entscheidende Kriterium für die positive 111 1:1);I'pfkge und damit für den kommunikativen Erfolg. 27 In socialnetworks 138 Da das digitale Bild durch seine Immaterialität in seiner Rezipierbarkeit nicht festgeschrieben ist, sondern je nach gewähltem Ausgabemedium in andere mediale und damit kommunikative Kontexte eingeführt werden kann, eröffnen sich zudem weitere Bildpraktiken. Insbesondere in der privaten Fotografie verfolgte man zu vordigitalen Zeiten für einen bekannten bzw. ausgesuchten Rezipientenkreis mutmaßlich folgende kommunikative Absichten: Zeigen bzw. Veranschaulichung bestimmter Motive _ Beleg der Anwesenheit bestimmter Personen an bestimmten Orten _ Selbstdarstellung durch Präsentation fotografischen Könnens implizites Anzeigen sozialer Zugehörigkeiten sowie kultureller Vorlieben (z. B. in Form von Fotos bestimmter Events) Die gegenwärtige digitale Bildpraxis scheint demgegenüber durch die wandelbare Materialität einer revolutionären Dynamisierung zu unterliegen. Implizite sowie explizite kommunikative Absichten werden gegenwärtig geplant und spontan realisiert und wahlweise einem engen bzw. bekannten Rezipientenkreis und/oder über das Netz einem dispersen Publikum zur Ansicht gebracht. Die Möglichkeit des ständigen Mitführens von Aufnahmegeräten in Form von Foto-Handys und kleinen Kompakt-Kameras verursacht eine Inflation der Bildproduktion im privaten sowie beruflichen Bereich. Situationen, Personen und Orte, mit denen der Produzent konfrontiert wird, werden potenziell schneller und öfter bildlich festgehalten als zu analogen Zeiten, in denen das Mitführen einer Kamera meist einer vorherigen Planung unterlag. Der digitale Apparat dient jedoch nicht nur der Produktion, sondern auch der Rezeption von Bildern. So führt man gleichzeitig auch sein privates Fotoarchiv ständig mit sich und kann es umstehenden Leuten präsentieren. In Form von MMS und onlinefähigen Handys ist eine Kopräsenz der Zeigenden und Betrachtenden nicht mehr notwendig. Bekannten kann man Bildmaterial mit den oben aufgeführten Absichten bereits kurz nach der Produktion dort zur Ansicht bringen, wo sie sich gerade befinden. So kann nicht nur die Simulation von Ansichtigkeit durch das digitale Bild geschaffen werden, sondern auch der Eindruck von physischer Nähe. Man kann den Betrachter am gegenwärtigen Leben, an seinen Erlebnissen an einem anderen Ort teilhaben lassen. Mit ,kill bildfiihi);en I Lrndy lriigl man den Bekanntenkreis Requisiten< und Kontexte können als mögliche Vorlieben, Gruppenzugehörigkeiten bzw. charakterliche Eigenschaften des jeweiligen Community-Mitglieds gedeutet werden. Je überzeugender diese Indexikalität transportiert wird, desto authentischer wirkt die dargestellte Person. Auf der Produzentenseite gilt es, diesen genannten Rezipientenerwartungen attraktiv zu entsprechen, wenn die verfolgten kommunikativen Ziele ebenfalls in der glaubhaften Imageproduktion und der möglichen Kontaktaufnahme bestehen. Letztgenannte Feststellung führt vielleicht zu einer möglichen Auflösung des Paradoxons. Produzenten und Rezipienten mögen sich des artifiziellen Charakters von digitaler Fotografie durchaus bewusst sein, denn häufig sind sie ja Produzenten und Rezipienten in Personalunion. Die Kommunikation mittels digitaler Fotografie als Authentizitätsabgleich wird, wie gezeigt, zwar weiterhin auch im digitalen Bereich praktiziert. Dies ist meiner Ansicht nach jedoch nur möglich, weil die oben beschriebene Materialität von Fotografie ihre Relevanz auch im alltäglichen lJmg;1I1g mit Fotografie verloren I,tl h;lhell scheint. Indem in analoger 7.('il I'·LI(', VIT,III 142 STEFAN MEIER dert nicht mehr die Materialität eines Fotofilms, der dann durch weitere chemische Prozesse in die Materialität einer analogen Fotografie überführt wird. Vielmehr verursacht die Lichtstreuung nur noch die Produktion von digitalen Datenpaketen, die sich im codierten Spiel von Stromflüssen, Softund Hardware konstituieren. Die Darstellung von Fotografie steht in Abhängigkeit des Ausgabemediums, das die Datenpakete wiederum soft- und hardwaregestützt aktualisiert. Diese hiermit verbundene Nichtmaterialität der Datensätze macht die Bildlichkeit bis auf die unterste Bildpunktebene (Pixel) bearbeitbar. Digitale Bildlichkeit ist somit wie in der Malerei ganz unabhii.ngig von fotografierten Objekten frei zu gestalten und gibt über die zum Ausdruck kommende Qualität der Bearbeitung vermehrt Auskünfte über den Gestalter selbst. Durch die inflationäre Bildproduktion mittels permanent verfügbarer Aufnahmegeräte, die freie Gestaltbarkeit von Bilddaten, deren flexible Speicherung auf mobilen Kompaktkameras oder Foto-Handys, lokalen Festplatten, online-gestützten Speicherplätzen oder öffentlich zugänglichen Online-Communities scheint die digitale Fotografie eine neue dynamische Bildpraxis verursacht zu haben, die nun die Fotografie selbst zu simulieren scheint. Ihrer Bildlichkeit wird zwar weiterhin Darstellungsfunktion zugeschrieben, jedoch ist das konkrete Ähnlichkeits- und/oder indexikalische Verhältnis mit der außermedialen Welt nicht mehr bestimmbar. Dabei stellt sich die Frage, warum sich die Bildverwendung angesichts dieser Entwicklungen nicht grundlegend von der analogen Fotografie unterscheidet. Produzenten sind häufig gleichzeitig Rezipienten. Sie wissen um die Flexibilität der Bilddaten, nutzen Fotografie jedoch weiterhin zum Authentizitätsabgleich: Gerade in jüngster Zeit werden in Online-Communities immer stärker Fotos zur näheren Information über die realen Personen genutzt. 29 Eine mögliche Erklärung für diese relativ >konservative Bildpraxis< angesichts des alltäglichen Umgangs mit digitaler Fotografie richtet den Fokus nicht auf das Verhältnis zwischen außermedialem Objekt und Bild, sondern auf das Verhältnis zwischen Bildobjekt und Bildträger. Damit ist die essenzielle Trennung zwischen flächenstrukturierenden Einheiten und medialen Bildträgern konzeptualisiert, die ich für die digitale Bildlichkeit als wesenhaft ansehe. V)',1. d,I'I,11 {I('II i\I"IILd .. i\I.IILtpl.ll/ \'tll1 '1;)11111 Pt)',I,'III] ,1"1 "',lIfl:/IIIII'1 Fil{'lkcill'11. 1111 Nel/\i"·11· j'lldd 111<' /'//II,/..(!I.fll \'41111 !O (J I J()I() '. I I I deI" Fotografische Detailbetrachtung: analog/digital STEPPEN SIEGEL Das Interesse für eine spezifisch fotografische Bildlichkeit lässt sich von der Frage nach der Materialität des Fotografischen nur schwer trennen. Scheint doch gerade im fotografischen Material die diesen Bildern unterstellte Wirklichkeitstreue nicht allein abgeles(!II, sondern auch belegt werden zu können. Als Zeugnisse einer solchen Beweisführung dienten seit der Veröffentlichung von Daguerres fotografischem Verfahren im fahr 183 9 kaum mehr als mikroskopische Bildspuren, die sich anhand konzentrierter Detailbetrachtung als medientheoretische Argumente nutzbar machen ließen. Eine solche diskursive Praxis der Bildanalyse durch übergroße Annäherung hat trotz der vielfach erhobenen Rede vom >postfotografischen Zeitalter< an Aktualität nichts verloren und lässt sich zugleich als der Ausgangspunkt fi:ir künstlerische Projekte einer metamedialen Digitalfotografie (SteplJelI Shore, Andreas Müller-Pohle, Thomas Ruff, Adrian Sauer) bestimmen. 1. Ein vollständiges Bild Es bleibt kein Rest. Ein Quadrat folgt auf das nächste, insgesamt 16.777.216 mal. Keines gleicht dem anderen. Und insgesamt fügen sie sich zu 36 großformatigen, in einem Katalog gebundenen Seiten; oder aber, in einer zweiten Version, zu einem wandfüllenden Tableau (Abb. 1).1 Aus großem Abstand betrachtet, verschleift sich die enorme farbige Varianz, die bereits der Werktitel annonciert, im Auge des Betrachters zu einem optischen Rauschen, das in einen überraschend einheitlichen violett-grauen (;rundton spielt. Die Monotonie des Seheindrucks gibt aus größerer Entfernung nichts mehr von der versprochenen Farbvielfalt zu erkennen. Man kann aber auch nahe vor den Rahmen treten oder wahlweise die Seiten des Katalogs aufschlagen (Abb. 2). Rasch löst sich dann das graue Einerlei ;1111, und der Eindruck eines schwer kontrollierbaren Flimmerns entsteht. I )il' Frage der Ordnung, das heißt der Abfolge der winzigen Farbflächen, hkihl zlIlliichst jedoch ungeklärt. An manchen Stellen scheinen sie sich I11 111;.1 dlillklLTell, 111;11 helleren Fbchen zu verdichten. Eine weiterfüh1 "II,k I.ogik diesn visllellell KnolTllhildllngcn ist alls bloßer Anschauung 1111\,II"pll.llt·' \ I I. 1.. I I '" I ll~ I J (, , I () f·, 111 'I'", 1'>11 I 1'.1111("11'· I ("q 111)', l(l( jlJ