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Die Simulation Von Theatralität Im 3d-kino Anhand Von Wim Wenders "pina"

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Einleitung „Schon nach ein paar Augenblicken hatte ich einen Kloß im Hals, und nach einigen Minuten ungläubigen Staunens habe ich einfach meinen Gefühlen freien Lauf gelassen und hemmungslos drauflos geflennt. Das war mir vorher noch nie passiert... Im Leben schon, durchaus auch mal im Kino, aber nicht beim Zuschauen einer einstudierten Inszenierung, geschweige denn einer Choreographie.“1 Mit diesen Worten kommentierte Wim Wenders seinen ersten Kontakt zu der Tanzkunst Pina Bauschs im Jahre 1985. Seit dem war er ein treuer Anhänger und kurz darauf auch guter Freund der Choreographin. Schon bald packte Wenders die Idee das von Pina Bausch geleitete Wuppertaler Tanztheater auf die Leinwand zu bringen, jedoch tat er sich schwer mit der Übertragung von „Bauschs einzigartige[r] Kunst aus Bewegung, Gestik, Sprache und Musik“2 in die mediale Form des Filmes. Erst 2007 erkannte Wenders eine Möglichkeit der Umsetzung seiner Vision: er produzierte den Film in 3D. Der im Jahre 2011 ins Kino gekommene Film Pina ist aufgrund des plötzlichen Todes Pina Bauschs kurz vor den Dreharbeiten eine Hommage an diese bedeutende Choreographin geworden. Der Film zeigt Ausschnitte aus verschiedenen Bühnenstücken der Wuppertaler Tanzgruppe, gepaart mit Sequenzen alter Probenmitschnitte, Erfahrungsberichte der Gruppe, sowie zahlreiche Soloauftritte der Tänzer, welche in Wuppertal und naher Umgebung aufgezeichnet wurden. Dass Wenders Pina nur in 3D produzieren wollte, ist vermutlich mit der immensen Bedeutungskraft, die Pina Bausch der körperlichen Präsenz ihrer Tänzer zurechnete zu begründen. Wie das Zitat von Wim Wenders bereits aufgezeigt hat, handelt es sich bei den Choreographien Pina Bauschs um äußerst emotionsgeladene und atmosphärische Stücke. Die Frage, die mich nun in der vorliegenden Arbeit beschäftigen wird, ist, inwieweit es möglich ist, diese ansonsten nur dem Theater inhärente Atmosphäre durch die 3D-Simulation auf den Film zu übertragen. Die technische Dimension des 3D-Films möchte ich dabei nur sehr minimiert abhandeln, da es mir vorrangig um die Übertragung ästhetischer Wahrnehmungsmuster vom Theater auf den Film gehen wird. Beginnen werde ich also mit einem Vergleich bzw. einer Ausdifferenzierung der Wahrnehmungsweisen im Film und Theater. Darauf folgend werde ich mich theoretischen Konzepten der Atmosphäre im Theater widmen, wobei ich außerdem eine Abgrenzung zu Walter Benjamins Aura vornehmen werde, um aufzuzeigen, dass ein klassischer Film zwar eine Aura, nicht jedoch eine Atmosphäre haben kann. Um zu verdeutlichen inwiefern eine Atmosphäre im 3D-Film 1 Wim Wenders, Auf: http://www.pina-film.de/de/ueber-den-film.html 2 Ensteheung, Auf: http://www.pina-film.de/de/ueber-den-film.html 1 unter Umständen entstehen kann, ist es notwendig eine Erklärung und Analyse des Begriffs der Simulation folgen zu lassen, wobei ich diese erst von der tradierten nachahmenden Kunst, der Mimesis abgrenzen und dann auf den 3D-Film anwenden werde. Danach werde ich anhand von Pina versuchen aufzuzeigen, inwiefern Wim Wenders durch die Verwendung des 3D-Filmes die theatrale Atmosphäre simuliert. Der Klarheit halber werde ich mich dabei auf die Sequenz beschränken, in der Ausschnitte aus Pina Bauschs berühmtesten Stück Le Sacre du Printemps gezeigt werden. In diesem Zuge werde ich zuletzt auf die Immersion als fundamentales Element der gelungenen Simulation einer Atmosphäre eingehen, worin meine Arbeit ihren Abschluss findet. Die Differenzen des filmischen und theatralen Blicks 2.1 Der filmische Blick Grundsätzlich kann man behaupten, dass sich Film und Theater darin ähneln, eine bestimmte Handlung von Körpern im Raum darzustellen bzw. abzubilden. Abgesehen von der Möglichkeit, aufgrund der Mobilität in der Filmproduktion narrative Strukturen in der Darstellung einer Handlung ändern zu können, geht es in der Frühphase des Filmes zu aller erst darum, die Inszenierungsweisen der neu gewonnenen Räume zu erforschen. Gewohnt an eine chronologische Abfolge von Bewegungen auf der räumlich vom Zuschauer abgegrenzten Bühne, orientierte sich auch die anfängliche professionelle Filmproduktion an diesem „theatralischen Blick“3. Tatsächlich wurde die durch den Film gewonnene Unabhängigkeit von der Bühne zuallererst genutzt, um Theaterstücke an Originalschauplätzen oder in akribisch gefertigten Dekorationen zu drehen 4. Sehr bald merkten die Filmemacher jedoch, dass diese Produktionsform nicht sonderlich wirkungsvoll war, da sie stets von dem Versuch einer Imitation des Blicks auf die Bühne geprägt war. Es zeigte sich also, dass „[w]eder für das Verständnis des Films, noch für das seiner natürlich vorhandenen Beziehung zum Theater (…) [die ursprünglich vermutete enge Verwandtschaft zwischen den beiden Kunstformen] fruchtbar zu machen [war]“.5 Das anfängliche Gefühl eines scheinbaren Defizits in der Darstellungsästhetik, konnte sehr bald umgewandelt werden, in den Gewinn einer neuen gestalterischen Freiheit, welche durch die Unabhängigkeit vom Bühnenraum zustande kam. In den 1920er Jahren war es George Méliès, der die Möglichkeit erblickte, Filmszenen aneinander zu reihen und damit eine illusionistische Dimension der Darstellung zu entwerfen. Dies war der Beginn der Multiperspektivität, wie wir sie heute vom Film kennen. 3 Richterich, S. 18 4 Ebd., S. 18 5 Ebd., S. 42 2 Durch die Montage im Film war es plötzlich möglich, verschiedene Szenarien an unterschiedlichen Orten zu verknüpfen, oder, wie auch Ritterrich zitiert: „Der Film hat (durch den Schnitt, das heißt durch den Wechsel der Einstellung, die die Grundeinheit des Filmaufbaus ist) die Möglichkeit einer allegorischen oder diskontinuierlichen Verwendung des Raums“6. Noch bedeutsamer als die neu gewonnene Unabhängigkeit vom Raum, ist jedoch die veränderte Zeitwahrnehmung, welche nun durch die simultane Verknüpfung verschiedener Handlungsabschnitte zustande kommt7. Die Darstellung und Wahrnehmung von Zeitabläufen war plötzlich nicht mehr gebunden an die Bewegung von Körpern im Raum, sondern in der Lage unterschiedliche Gegenwarten abzubilden und damit die „lokalzeitlich und räumlich begrenzte Anschauung“8 zu überwinden. Man kann also sagen, dass die Ungebundenheit an chronologische raumzeitliche Abfolgen im Film die Darstellungsmöglichkeiten von Handlungsverläufen erweitert, indem sie raumzeitlich weit auseinander liegende Faktoren zusammen bringt und verdichtet und damit sozusagen eine Neuformation der (abgebildeten) Wirklichkeit“9 vornimmt. Durch die selektive Wiedergabe eines Geschehens im Film ist es also möglich, den Blick und Fokus des Zuschauers komplett zu lenken und damit die Wahrnehmung und Rezeption zu beeinflussen. Nach Bina Elisabeth Mohn ist es gerade der selektive Umgang mit dem Bildmaterial, der dazu führt, dass paradoxerweise „anschließend mehr und nicht weniger auf dem Videomaterial sichtbar wird“, denn: „Die Kunst des Sehens und Zeigens ist immer auch eine des Weglassens und Nicht-Zeigens.“ 10 Indem der Raum durch seine montierte Neuformierung seine Grenzen verliert, wird er, so Götz Großklaus, zu einem „spirituellen Raum“ bzw. zur „mental world of thoughts and images“ 11. Die Feststellung, die aus vielen Seiten der Wissenschaft daraus resultiert, ist, dass die mediale Ästhetik des Films in der Lage ist, die „Innerzeitlichkeit“ der menschlichen Bewusstseinsströme zu visualisieren. Im Vergleich mit den vom Bewusstsein produzierten raum- und zeitunabhängigen Traumbildern, kann Film durch seine Montagetechnik also als „Simulation der Innen-Zeit unseres Gehirns“12 angesehen werden, welche sich in hohem Maße von der Mimesis des Außen-Raums auf der Theaterbühne unterscheidet. Nach Volker Roloff ist der Film dem Theater damit in seinen Darstellungsmöglichkeiten überlegen, da er „besser als das Theater die (…) Theatralität und Mimetik des Traums, die Metamorphosen von Raum, Zeit und Körper, das Traumtheater der Wünsche und Ängste darstellen“13 kann. 6 7 8 9 10 11 12 13 Susan Sontag, In: Ritterrich, S. 38 Großklaus, S. 24 Großklaus, S. 32 Richterich, S. 31 Mohn, S. 183 Großklaus, S. 63 Ebd., S. 61 Roloff, In: Lommel, Queipo, Rissler-Pipka, S. 11/12 3 2.2 Der theatrale Blick Der Blick im Theater zeichnet sich dadurch aus, dass er weniger gelenkt wird, als es im Film durch die Montage unausweichlich der Fall ist. Unmittelbar auf die Bühne gerichtet, wird der Blick des Rezipienten durch das gelenkt, was Uwe Richterich als „Ökonomieprinzip“14 bezeichnet und sich durch spezielle Erkennungscodes auszeichnet. Während das Filmbild den Erkennungscodes keine Zeit lässt und somit jegliche Wahrnehmung vorgibt, sind sie im Theater das bedeutungssuggerierende Element für die Wahrnehmung des Rezipienten, oder mit den Worten von Erika Fischer-Lichte: „Die jeweils erzeugten, die Figur hervorbringenden Bedeutungen wirken so auf die Dynamik des Wahrnehmungsprozesses ein, dass die Wahrnehmung überhaupt nur solche Elemente selegiert, die sich vom betreffenden Subjekt im Hinblick auf diese Figur wahrnehmen lassen. Der Prozess der Wahrnehmung wird in diesem Sinne zunehmend zielgerichteter vollzogen und erscheint durchaus bis zu einem gewissen Grad vorhersagbar“15. Nach dieser Aussage wäre jedoch die Ausrichtung der Wahrnehmung und damit auch die Empfindung des Rezipienten im Theater auf ähnliche Art und Weise zu manipulieren wie im Film, indem durch strategische Figurenausrichtung und Inszenierungsverfahren (wie beispielsweise Licht, Requisite, etc.) der Blick des Rezipienten gelenkt würde. Hierbei muss nun jedoch die Ausgangssituation der Rezeptionsposition im Vergleich zum Film berücksichtigt werden. Die Atmosphäre 3.1 Atmosphäre im Theater Der Ausgangspunkt meiner differenzierenden Analyse der Rezeptionsposition im Theater im Vergleich zu derer im Film, ist die Atmosphäre, die einer Theateraufführung inhärent ist aufgrund der leiblichen Anwesenheit der Zuschauer und Akteure in einem Raum. Im Kontext ihrer Theorie des Performativen, thematisiert Fischer-Lichte das Wechselverhältnis zwischen Wahrnehmendem und Dargestelltem in einer Aufführung und stellt dabei fest: „In der Atmosphäre, die der Raum und die Dinge auszustrahlen scheinen, werden diese dem Subjekt, das ihn betritt, in emphatischen Sinne gegenwärtig. […] Sie rücken dem wahrnehmenden Subjekt in der Atmosphäre auch in bestimmter Weise auf den Leib, ja dringen in ihn ein. Denn es findet sich nicht der Atmosphäre gegenüber, nicht in Distanz zu ihr, sondern wird von ihr umfangen und umgeben, taucht in sie ein.“ 16 14 Richterich, S. 30 15 Fischer-Lichte, In: Fischer-Lichte, Gronau, Schouten, Weiler, S. 134 16 Schouten, S. 14 4 Unabdingbar für die Entstehung einer Atmosphäre ist also die gleichzeitige Anwesenheit des Wahrnehmenden und des Darstellenden in einem Raum, womit sich die Grundvoraussetzung wieder auf die Konstituierung des atmosphärischen Raumes durch die leibliche Anwesenheit der Beteiligten ergibt. Nach Gernot Böhme, der den Begriff der Atmosphäre „zum Grundbegriff seiner als 'allgemeine Wahrnehmungslehre' angelegten 'neuen Ästhetik' erhob“17, besitzt jeder Gegenstand einen Ausdruck seiner Präsenz, den er als „die Ekstasen der Dinge“18 bezeichnet. Für ihn sind Gegenstände und Erscheinungen durch ihre stofflichen und sekundären Qualitäten also nicht nur bestimmt, sondern es sind eben diese Eigenschaften, die den sie umgebenden Raum prägen. Das heißt nach Böhme, dass die Ekstasen der Dinge das Objekt nicht nur auf seine Art und Weise erscheinen lassen, sondern ihre komplette Umgebung mit verändern. Bezogen auf das Theater sagt Böhme also, dass die Präsenz aller Dinge auf der Bühne – sowohl Bühnengestaltung wie auch Akteure – in den Raum hinein wirken und die anwesenden Zuschauer damit beeinflussen können. Immer wieder betont er in diesem Kontext auch die Voraussetzung der leiblichen Anwesenheit des Zuschauers für den sphärischen Austausch zwischen dem Wahrgenommenen und dem Wahrnehmenden im Raum, unterscheidet dabei jedoch nicht weiter zwischen dem, was von einem Objekt selbst ausgeht und was zwischen zwei leiblich Anwesenden entstehen kann. Im Hinblick auf das Tanztheater und meine weitere Ausarbeitung ist es jedoch von besonderer Bedeutung, die spezielle 'Ekstase' des leiblich anwesenden Akteurs als handelnder Provokateur einer zwischen der Bühne und dem Publikum entstehenden Atmosphäre herauszuarbeiten. 3.2 Atmosphärische Körperkonzepte Anders als im Film, zeichnet sich der Körper auf der Bühne durch das aus, was Helmuth Plessner als „Körperhaben“ und „Leibsein“ bezeichnet19. Das heißt, dass die Darbietung auf der Bühne nicht nur durch die Rolle, die ein Schauspieler verkörpert, sondern eben auch durch seine physische Präsenz an sich geprägt ist, welche die Wahrnehmung des Zuschauers ebenso prägt, wie die narrative Funktion der Figur. In diesem Oszillieren zwischen Präsentation und Repräsentation kommt es nun aber zu einer sogenannten „Ästhetik der Absenz“, die besonders im Tanztheater, in dem der Körper des Akteurs das zentrale Darstellungselement ist, von großer Bedeutung ist. Theatersemiotisch geht es darum, dass die Gegenwart des Körpers nicht mit anderen Zeichensystemen zu vergleichen sei, da es immer die körperliche Präsenz ist, die noch vor den dahinter stehenden Zeichen vermittelt wird. Dennoch versucht der Körper im klassischen Tanz genau diese vorrangige Leibhaftigkeit zu negieren, indem er vorgibt ganz Zeichen zu sein. Dieter 17 Schouten, S. 25 18 Schouten, S. 28 19 Mersch, In: Brandstetter, Klein, S. 268 5 Mersch sieht den Körper im klassischen Tanz in einer „Ordnung von Technologien, die durch die Gesetze der Figuration geregelt wurden, um in einer aporetischen Volte den Körper als Körper gerade zurücktreten zu lassen.“ Damit paart sich nach Mersch „Verkörperung“ mit „Entkörperung“. In den Vordergrund gerückt werden soll alleine die Funktion oder Aussage der Bewegung, indem die „Präsenz durch Absenz und Absenz durch Präsenz“ erzeugt wird. 20 Dennoch ist es oftmals gerade die Diskrepanz zwischen dem Versuch den Körper im Zeichen verschwinden zu lassen und der nicht zu negierenden körperlichen Präsenz, was genau diese, die unvermeidliche Leibhaftigkeit des Tänzers hervor hebt. Indem der Tänzer bzw. Akteur auf der Bühne also stets seine Leibhaftigkeit präsentiert, tritt er aus der Rolle und damit aus seiner Funktion als reiner Repräsentant des „Körper-Habens“ heraus, wirkt damit in den Raum hinein 21 und erzeugt eine Atmosphäre für den Zuschauer. 3.3 Die Zeitlichkeit der Atmosphäre Ein scheinbar selbstverständlicher, aber in meiner Ausarbeitung nochmals separiert zu erwähnender Aspekt im Zusammenhang mit der Atmosphärenerzeugung auf der Bühne, ist die gegenwärtige Wahrnehmung des Zuschauers im Moment des Dargebotenen. Nach Martin Seel22 ist die Voraussetzung von sinnlicher Erfahrung „auf die Simultaneität und Momentanität seines je gegenwärtigen, jeweils hier und jetzt erfahrbaren sinnlichen Gegebenseins [zu] achten“, denn „[d]ann tritt es uns in einer phänomenalen Fülle entgegen, mit deren Wahrnehmung wir uns Zeit für den Augenblick nehmen“. Sabine Schouten fragt in diesem Zusammenhang jedoch, meiner Ansicht nach zu Recht, was genau die Faktoren und Initiatoren dieser momentanen, intensiven Präsenzerfahrung seien, was sich wiederum auf die Frage nach der leiblichen Atmosphärenerzeugung beziehen lässt. Schouten arbeitet in diesem Zusammenhang die Bedeutung des „Entzug[s] als Wahrnehmungsmodus“23 heraus. Damit bezieht sie sich nicht, wie zuerst zu vermuten wäre, auf die bereits erwähnte Ästhetik der Absenz, sondern auf einen „Wahrnehmungsvorgang in Aufführungen“, den sie als „prozesshafte Hervorbringung von aisthetischer Gegenwärtigkeit, resultierend aus einer Mangelerfahrung“24, versteht. Diese Mangelerfahrungen kommen nach Schouten sowohl aufgrund der räumlichen Determiniertheit der traditionellen Theatersituation, wie auch durch die selektive Wahrnehmung, die der Zuschauer im Moment einer Aufführung entwickeln muss, zustande. Sie spricht hier also, wie zuvor Richterich, von einem Ökonomieprinzip des Blickes im Theater, das zwar nicht die sinnliche Erfahrung 20 21 22 23 24 Mersch, in: Methoden der Tanzwissenschaft. S. 275 Schouten, S. 29 Vergl. Schouten, In: Fischer-Lichte, Risi, Roselt, S. 106/107 Schouten, In: Fischer-Lichte, Risi, Roselt, S. 106 Schouten, In: Fischer-Lichte, Risi, Roselt, S. 107 6 ausschließt, den Zuschauer aber dennoch lenkt und das schöpferisch Tätige seiner eigenen Perzeption erfordert. Diese Kombination aus eigener Wahrnehmung und Sinnzuschreibung schafft es nach Schouten „das Atmosphärische der Szene durch die Aktivierung aller Sinne erlebbar“25 zu machen. Diese aus der Mangelerfahrung resultierende Atmosphärenerzeugung in Abhängigkeit von der gegenwärtigen Präsenz des Wahrnehmenden und des Wahrzunehmenden, ist auf die Erfahrung einer Filmvorführung nur schwer anzuwenden. Das die Wahrnehmung fokussierende Ökonomieprinzip, welches im Theater zu tragen kommt, fällt, wie bereits erwähnt, im Film unter allen Umständen weg26. Jeder Schnitt im Film durchbricht die Wahrnehmungsselektion des Rezipienten, womit „die Aufmerksamkeit des Zuschauers [...] durch die Flut der auf ihn einstürzenden Informationen so determiniert [wird], dass eine Wahrnehmungsleistung in reiner Reaktion verharrt – für die 'Fülle der Erscheinungen' bleibt schlicht keine Zeit“27. Das „Hier und Jetzt“, auf das Martin Seel in Bezug auf die sinnliche Präsenz verweist, wird somit zu einem Hier und Jetzt der „Herstellung absoluter Immanenz“28 im Film, indem die Universalisierung des Raumes einen absoluten Distanzschwund zum Geschehen mit sich bringt. Damit kommt es scheinbar zur Herstellung eines Jetzt im Film, nicht jedoch einer Gegenwärtigkeit. So müsste ich an dieser Stelle theoretisch bereits eine erste Einschränkung in Bezug auf die Atmosphärenerzeugung im Film vornehmen. Natürlich ist es auch in der 3D-Simulation nicht möglich eine theatergleiche gegenwärtige Präsenz zu erzeugen, dennoch wird sich in meiner späteren Ausarbeitung zeigen, dass die Simulation eine ganz andere, unter bestimmten Umständen mögliche Form der Gegenwärtigkeit erzeugen kann. Da es mir jedoch vorrangig um die Herausarbeitung der Wirkung einer simulierten Unmittelbarkeit und der funktionalisierten Raumsimulation für die Darstellung des Tanzes im 3D-Film geht, wird dieser Aspekt meine Ausarbeitung nur am Rande tangieren. Bevor ich zu der direkten Analyse der ästhetischen Wahrnehmung im 3D-Kino gelange, ist es vorerst von Nöten, den Begriff der Atmosphäre in Bezug auf technisch reproduzierbare Medien auszuarbeiten bzw. zu spezifizieren. 25 Schouten, In: Fischer-Lichte, Risi, Roselt S. 115 26 Eig. Anm.: Es bliebe hier zu untersuchen, inwieweit das Ökonomieprinzip in der Abfilmung eines Theaterstücks in der Totalen zum Tragen kommt. Sicherlich unterliegt die Aufmerksamkeit des Rezipienten hier anderen Prinzipien als in einer geschnittenen Aufnahme, aufgrund des fehlenden Ausgesetztseins von Inszenierungsmaßnahmen und der entstehenden Atmosphäre, aber mit großer Sicherheit auch anderen, als während eines Theaterbesuches selbst. 27 Schouten, In: Fischer-Lichte, Risi, Roselt S. 116 28 Großklaus, S. 98 7 3.4 Atmosphäre vs. Aura Die Begrifflichkeit des Hier und Jetzt wird in Bezug auf ästhetische Wahrnehmung, wie wir gesehen haben, immer wieder gerne verwendet. Zurückzuführen ist dieser Ausdruck jedoch auf Walter Benjamin, der ihn im Zusammenhang mit der ein Kunstwerk umgebenden 'Aura' verwendet. Im Hinblick auf das moderne Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit von Kunstwerken, registriert Benjamin in seinen Studien zur Kunstsoziologie einen Verlust des Hier und Jetzt eines Kunstwerks, also „sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet“ 29. Somit geht es Benjamin also weniger um die Herstellung einer raumzeitlichen Dimension im Kunstwerk30, als vielmehr um die „Aura“31, die die Echtheit eines Kunstwerks mit sich bringt und welche durch seine Reproduktion verloren geht. Benjamin verwendet den Begriff der Aura jedoch nicht nur in Bezug auf Kunstwerke, sondern auch in Bezug auf die Erfahrung natürlicher Gegenstände, wie beispielsweise ein Sommernachmittag, an dem man „ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig“32 folgt. Die Wahrnehmung des Gebirges oder des Zweiges, begreift Benjamin als die Wahrnehmung seiner Aura. Im Hinblick auf meine vorangegangene Ausarbeitung, ließe sich nun folglich vermuten, dass die Aura eines Kunstwerkes mit dessen Atmosphäre gleichzusetzen sei. Benjamin geht es jedoch in aller erster Linie um die „Einzigkeit des Kunstwerks“33 und seine ursprüngliche Bestimmung, welche er immer im Ritual fundiert sieht. Im Vordergrund des Ritualcharakters eines Kunstwerks steht nach Benjamin jedoch weniger der kollektivbildende Vollzug einer mystischen Handlung, als vielmehr die bloße Existenz eines mit Bedeutung aufgeladenen Gegenstandes. So spricht er davon, dass bereits die frühsten Kultgegenstände als „Zauberinstrumente“ angesehen wurden, bei denen es wichtiger war „daß sie vorhanden sind, als daß sie gesehen waren34“. Man kann also behaupten, dass Kunstgegenstände nach Walter Benjamin ihre Aura aus sich selbst heraus bringen, indem ihrer Originalität eine – unter Umständen mystifizierte – Bedeutung zugewiesen wurde, welche sie von da an umgibt und vom Rezipienten als solche erkannt werden soll. Zu vergleichen scheint die Aura also mit dem zu sein, was Gernot Böhme als die „Ekstase der Dinge“ beschrieben hat. Es geht bei einem Gegenstand um „die Weisen, wie es aus sich heraus tritt“ 35, Benjamin spricht dabei oft von dem „Hüllencharakter“36 eines Gegenstandes, mit dem Unterschied jedoch, dass nach ihm die Aura eines Kunstgegenstandes nach seiner Reproduktion verloren geht. 29 30 31 32 33 34 35 36 Großklaus, S. 11 Vergl. „Hier und Jetzt als absolute Immersion“ nach Großklaus, S. 98 Benjamin, S. 13 Ebd. S. 15 Ebd. S. 16 Ebd., S. 19 Schouten, S. 27 Ruge, S. 96 8 An dieser Stelle muss nun eine Differenzierung zu der von Schouten definierten Atmosphäre getroffen werden. Zwar lehnt sie sich in ihrer Definition an Böhmes Begriff der Ekstase an, jedoch widerspricht sie sich meiner Ansicht nach nun darin, dass sie die Atmosphäre zum einen als ein „Dazwischen“ bzw. eine „gemeinsame Wirklichkeit“37 zwischen dem Objekt und dem Wahrnehmenden beschreibt, während die Aura und Ekstase jedoch vorrangig von dem Gegenstand selbst ausgeht bzw. letztlich eigentlich nur vom Rezipienten seine Bedeutung erhält. Denn insbesondere die Einschätzung Benjamins, die Aura habe ihren Ursprung im Ritual, legt die Vermutung nahe, dass es sich bei ihr mehr um eine subjektive Projektion auf einen Gegenstand, als um ein vom Gegenstand ausgehenden Zustand handelt. Auch Eva Ruge erkennt die Wahrnehmung von Benjamins Aura als Projektion: „Indem wir ansehen, 'verlebendigt' sich unser ins Visier genommenes Gegenüber“38. Hierbei spricht sie, ohne zuvor die Unterscheidung zu treffen39, wiederum den meiner Ansicht nach elementaren Unterschied zur Atmosphäre an, nämlich die Lebendigkeit, oder – bezogen auf das Theater – Leiblichkeit als Voraussetzung einer atmosphärischen Erfahrung. Damit etwas „aus sich heraus treten“40 kann, muss es entweder vom Subjekt dazu berufen werden, womit es sich wiederum nur um die Wahrnehmung bzw. Erzeugung einer Aura handelt, oder die eigene Fähigkeit haben sich auszudrücken, verständig zu machen und zu wirken. Vom Theater kann man nun also als einen Ort sprechen, der sowohl eine Aura, wie auch eine Atmosphäre mit sich bringt. Die Aura im Sinne der subjektiven Erfahrung und Sinnprojektion des Rezipienten und die Atmosphäre als die Wahrnehmung des „Kräftefeldes“41 der leiblichen Präsenz des Schauspielers als „gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen“42. Für das Kino kann man im Allgemeinen von keiner Atmosphärenerzeugung sprechen, da es kein „Dazwischen“ ohne einen leiblichen Resonanzkörper geben kann. Nach Benjamin ist von einer Aura im Kino ebenso wenig zu sprechen, da der Film ein reproduzierbares Massenprodukt ist, bei dem das Hier und Jetzt, sozusagen durch ein 'immer für jeden' ersetzt wird. Benjamin spricht von einer Veränderung der Sinneswahrnehmung im Laufe der Zeit, welche seiner Ansicht nach mit dem Verfall der Aura einher geht 43. Durch das Bedürfnis sich Dinge „räumlich und menschlich 'näherzubringen'“44 sowie das Einmalige zu überwinden, neige der moderne Mensch dazu, 37 Schouten, S. 29 38 Ruge, S. 96 39 Vergl. Ruge, S. 93: „Aura im Sinne von Atmosphäre ist in gewissem Sinne ein fast notwendiges Attribut eines Kunstwerks bzw. eines ästhetischen Gegenstandes.“ 40 Schouten, S. 29 41 Fischer-Lichte. In: Körperinszenierungen. S. 32 42 Schouten, S. 29 43 Benjamin, S. 14/15 44 Ebd., S. 15 9 Gegenstände zu reproduzieren, womit seiner Ansicht nach der tradierte, rituelle Wert eines Kunstwerks verschwinde und durch einen reinen Ausstellungswert ersetzt würde. Interessant ist hierbei, wie sehr Benjamin auf dem Begriff des Rituals und der Ansicht, dass nur die ursprüngliche Tradition des Kunstwerks seine Aura definiert, beharrt. Es ist nur schwer anzuzweifeln, dass durch die Möglichkeiten der Reproduktion Kunstwerke oder -produkte einen größeren Radius in ihrem Wirkungspotenzial erreicht haben und daher vorrangig der Ausstellung und nicht der rituellen Betrachtung dienen, dennoch scheint schwach begründet, warum nicht auch ein Ausstellungsobjekt eine Aura besitzen kann. Nach Benjamin ist es die technologische Apparatur, welche die auratische Wahrnehmung des Kunstobjekts verhindert. Anstatt sich in den Schauspieler einzufühlen, müsse der Zuschauer sich in den Apparat einfühlen, wodurch keine gegenseitige Beeinflussung und damit keine Aura zustande kommen könne45. Wie wir sehen, ist das, was Benjamin an dieser Stelle zu erklären versucht, wiederum mit der von mir zuvor differenziert ausgearbeiteten Definition der Atmosphäre gleichzusetzen. Im Hinblick auf die aufgezeigte Projektionsfunktion in der Kunstrezeption zeigt dies, wie inkonsequent Benjamin mit seiner Beschreibung der auratischen Wahrnehmung verfährt, indem er an dieser Stelle von der gegenseitigen Beeinflussung bzw. einem „persönlichen Kontakt“46 im Theater spricht, wie er in der Rezeption eines Kunstwerkes jedoch nie zustande kommen kann. Zweifellos hat Benjamin recht, wenn er behauptet: „Die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verändert das Verhältnis der Masse zur Kunst“ 47, dennoch zieht er keine Konsequenzen aus den veränderten Sinneswahrnehmungen der neuen Masse im Hinblick auf eine mögliche Ausweitung des Aurabegriffs bzw. der Loslösung von der Voraussetzung ihres traditionellen Fundaments. Insofern die Aura aus der subjektiven Projektion des Betrachters resultiert, muss ihr Ursprung eine emotionale Reaktion auf das Wahrgenommene sein, welche das Subjekt dazu anregt, dem Objekt eine hinter seinem Sinn und Ausdruck begründete Tiefe zu verleihen. Im Zeitalter der mobilen Technologie und damit stets präsenten Reproduktion angekommen, kann man davon ausgehen, dass sich das Bewusstsein der Menschen gegenüber reproduzierter Kunstwerke dermaßen von der Mystifizierung einer rituellen Tradition des Kunstwerks gelöst hat, dass sich die Voraussetzungen der Wahrnehmung von Kunst grundsätzlich verändert haben muss. Der „Autoritätsverlust“, der durch die Reproduktion zustande kam, ist mittlerweile Standard, indem beispielsweise jeder in jedem Moment alles fotografieren, filmen, bearbeiten und vervielfältigen kann. Dass dabei eine Transformation der Wahrnehmung und womöglich eine Umgewichtung der Bedeutsamkeit künstlerischer Werke aufgrund des veränderten Produktionsprozesses zustande 45 Benjamin, S. 24/25 46 Benjamin, S. 24 47 Ruge, S. 92 10 kommt, ist naheliegend. Das Jetzt und Hier nach Benjamin wird aufgelöst durch einen „kommunikativ-symbolischen Distanzschwund“48 in der Universalisierung des Raumes und Zeitgleichheit der Wahrnehmung von Sender und Empfänger in modernen Kommunikationsmodellen. Alte räumliche Orientierungsschemata werden außer Kraft gesetzt und führen damit zu „folgenreichen semantischen Verschiebungen der Positionen in den traditionellen Bedeutungsfeldern – und zwar so weitgehend, daß die Orientierungs- und Strukturierungsleistung ganzer Paradigmen in Frage gestellt ist“49. Diese kollektiv angelegten Entwicklungen schließen jedoch nicht aus, dass ein auch technisch reproduziertes Kunstobjekt von einem Subjekt in seiner persönlichen Perzeption mit einer Aura beladen wird. Ohne nun eine direkte Untersuchung einer grundsätzlichen Wahrnehmungsveränderung von Kunst und Gegenständen in der modernen Gesellschaft anschließen zu wollen, möchte ich an dieser Stelle nur kurz zwei weiterführende Definitionen der Aura nach Eva Ruge anführen, um eine mögliche Hinweisung zur Ausweitung des Begriffs zu liefern. Ruge erwähnt in ihrer Weiterführung die Aura von Waren, denen ein Tauschwert anheftet und jene, welche aufgrund von an den Gegenstand geheftete Erinnerungen zustande kommt50. Beide Formen der Aura sind im Film vorstellbar – beispielsweise durch eine aufwendige und kostspielige Produktion oder nostalgische Erinnerungen an die Zeit, in der man einen Film das erste Mal gesehen hat – sind jedoch sicherlich nicht die einzig möglichen. Um kein Missverständnis zu erzeugen, möchte ich an dieser Stelle noch betonen, dass der Verfall der Aura nach Benjamin ein nicht allein negatives Ereignis darstellt. Stets betont er die notwendige Bedeutung der Entwicklung der Fotografie und des Films im Hinblick auf eine künstlerische Reflexion der Wirklichkeit 51, spart dabei jedoch aus, einer Untersuchung nach den Ursachen ihrer Rezeption fern aller theoretischen Konstruktionsprinzipien, nachzugehen. Insofern jedoch auch nach Benjamin jeder Gegenstand eine Aura haben bzw. mit Bedeutung aufgeladen werden kann, ist es wichtig auch den Film als Erscheinung unabhängig von seiner Materialität auf seine Wirkung zu untersuchen. Es hat sich also gezeigt, dass der klassische Film nicht in der Lage ist Atmosphäre zu erzeugen, da ihm dafür die leibliche Präsenz der Akteure fehlt, wohl aber eine Form von Aura hat, die auf den Rezipienten wirkt. In Bezug auf das 3D-Kino ist nun interessant, dass genau die fehlende Leiblichkeit der filmischen Inszenierung versucht wird darzustellen. 48 49 50 51 Großklaus, S. 97 Großklaus, S. 97/98 Ruge, S. 96 Benjamin, S. 32 11 Die Simulation 4.1 Von der Mimesis zur Simulation Das künstlerische Schaffen des Menschen ist schon immer von einem Bedürfnis der Nachahmung weltlicher Erscheinungen geprägt. Im Zeitalter moderner Technologie entwickeln sich neue Methoden und Verfahren zur Mimesis bzw. Nachahmung der Welt und Wirklichkeit, indem es sich um eine direkte, künstlich reproduzierbare Abbildung des realen Vorbilds handelt. Diese Veränderung bewegte nicht nur Walter Benjamin dazu zu fragen, ob es sich in der modernen Welt zu einem Verfall des mimetischen Vermögens oder um eine Transformation desgleichen handelt 52. Der Unterschied der heutigen Nachahmung ist, dass es sich nicht mehr um eine Nachahmung, sondern eine „ikonisch-technische Verdoppelung und Wiederholung von Welt und Wirklichkeit“53 handelt, womit die realen Vorbilder nicht mehr mimetisch abgebildet, sondern simuliert werden. Der Unterschied zwischen Mimesis und Simulation besteht darin, dass die Mimesis als visuellbildliche Nachahmung an den Differenzen von Nachahmung und Nachgeahmten festhält, während die Simulation versucht, den wirklichen Gegenstand nicht nur zu erfassen, sondern durch eine hyperreale Reproduktion von Welt und Wirklichkeit diese zu ersetzen 54. Bereits in der Entwicklung der ikonischen Darstellung im Theater zum Kino zeigt sich eine Hinwendung von der Mimesis zur Simulation. Eine Mimesis ist im Theater bereits dadurch zu finden, da sich der Akteur auf der Bühne speziellen Codes bedient, die, kulturell fundiert, in ihrer Semiotik Bedeutung generieren55. Der Körper dient ihm dabei, unabhängig seiner Funktion als atmosphärenerzeugender Resonanzboden, als Zeicheninstrument. Der Film hingegen ersetzt diese Instrumentalisierung des Körpers zu einem gewissen Maße durch eine in der Einstellung und Montage begründete Inszenierung des Umstandes, in dem sich die Figur befindet. Abgesehen von der mimetischen Leistung des Filmes Bewegung im Raum technisch nachzuahmen56, finden sich Handlungen wie zum Beispiel Interaktionen oder auch gefühlsbedingtes Verhalten der Protagonisten auf der Ebene der Simulation wieder. Es ist der Moment des „Als Ob“, der auf den simulatorischen Charakter der Inszenierung verweist. 57 Nach Baudrillard ist die Zeit der Metaphysik von Wesen und Erscheinung vorbei und wird nun ersetzt durch eine Metaphysik des Indeterminismus und des Codes58. An die Stelle der 52 53 54 55 56 57 58 Großklaus, S. 124 Ebd., S. 124 Ebd., S. 125 Vergl. Fischer-Lichte „Tsemiotik des Theaters“ Großklaus, S. 123 Großklaus, S. 114 Baudrillard, S. 154 12 Repräsentation tritt nun die Zerlegung aller realen Erscheinungen in ihre kleinsten Codes, von denen aus wiederum das Vorbild künstlich reproduziert wird. Die Kopie, die dadurch zustande kommt, hat nach Baudrillard nicht mal mehr etwas mit dem Versuch einer Nachahmung zu tun, stattdessen kommt es zu einer Verdoppelung des Realen auf der Basis seiner Reproduziertheit. Durch diese „ekstatische Verleugnung und rituelle Austreibung seiner selbst“, wird es „zum Realen schlechthin“ und damit „hyperreal“ 59. Mit dem 3D-Film hat die Simulation des Realen eine neue Dimension erreicht. Während der klassische Film noch der früheren „Irrealität (…) eines Traums oder Phantasmas“ entspricht, ermöglicht der transitorische Film nun die „Irrealität einer halluzinierenden Ähnlichkeit des Realen mit sich selbst“60. Die totale Simulation natürlicher Erscheinungen und damit einhergehende Auflösung des Realen und seiner Repräsentation ist unterschiedlich zu betrachten. Während Baudrillard in diesem Zusammenhang von einer „Allegorie des Todes“61 spricht, erfasst Vilém Flusser den „Digitalen Schein“ als das eigentlich Reale. Durch die Möglichkeit die Welt in Codes zu zerlegen62 und damit zu kalkulieren und formal zu analysieren, sei sie verständlich und kontrollierbar geworden. Alles sei damit zerlegbar und analysierbar, bis hin zum Menschen selbst, der auch nichts anderes als eine „Streuung von Punktelementen“ 63 sei. Die Realität werde demnach nach der Dichte der Streuung bemessen und die Technik bald in der Lage sein, alles „ebenso dicht zu streuen, wie dies bei den Dingen der uns gegebenen Welt der Fall ist“ 64. 4.2 Die Simulation im 3D-Film In Bezug auf die Simulation im Film hieße Flussers These der Codierung der Welt, dass die filmästhetische Inszenierung von Objekten, Szenerien, Personen etc., dazu diene, sie genauer zu veranschaulichen und sie analysierbar zu machen, was im Hinblick auf die Feststellung, der Film eigene sich besser zur Darstellung innerer Vorgänge in Figuren, durchaus einleuchtend erscheint. Einen möglichen ästhetischen und emotionalen Zweck zieht Flusser dabei jedoch nicht in Betracht. Besonders schwierig wird diese Aussparung nun in Bezug auf den 3D-Film. Nach Flusser wäre die Simulation einer körperlichen Präsenz, wie sie im 3D-Film vorkommt, nichts weiter als der Versuch, sich die Leiblichkeit vor Augen zu halten, sowie Raum und Präsenz analysieren und kontrollieren zu können. Was nun aber wäre der Sinn, Körperlichkeit in einem Film so weit zu 59 60 61 62 Baudrillard, S. 157 Ebd., S. 157 Ebd., S. 157 Eig. Anm.: Flusser erwähnt in dem Zusammenhang die Entwicklung des alpha-numerischen Codes und die damit verbundene Entstehung eines formalen, kalkulierenden Bewusstseins und Denkens. 63 Flusser, S. 156 f 64 Ebd., S. 147 13 simulieren, dass sie nichts weiter als eine Wiedergabe der Realität ist, wenn nicht ein ästhetischer? Mit der Feststellung Götz Großklaus' „nichts ist, was nicht auch Bild ist“65, bleibt zu fragen: Ist es nicht der Versuch, eine neue mimetische Ausdrucksform zu finden, welche mit den technischen Mitteln des digitalen Zeitalters intensiviert werden soll? Um dies zu untersuchen, werde ich nach einer kurzen Erläuterung der Technik und Funktionsweise der 3D-Simulation und einer kurzen Abhandlung über das Tanztheater Pina Bauschs, den Versuch der Simulation einer Atmosphäre im Film Pina von Wim Wenders nachzuweisen versuchen. 4.2.2 Technik und Funktionsweise der 3D-Simulation Die Entwicklung des 3D-Films ist in der Tradition von dem zu betrachten, was Walter Benjamin als das Bedürfnis der Massen, sich die Dinge „räumlich und menschlich 'näherzubringen'“ 66 bezeichnet. Der Zuschauer soll das Gefühl haben „mitten im Geschehen“67 zu sein. Erzeugt werden soll also eine räumliche Darstellung, welche mit Hilfe eines stereoskopischen Projektorsystems zustande kommen kann. Orientiert wird sich dabei an der natürlichen Art des Sehens, welche da ist, räumlich wahrzunehmen, um Abstände und Abmessungen einschätzen und bestimmen zu können.68 Entscheidend für den tiefen Blick und die Abschätzung von Entfernungen ist in der menschlichen Wahrnehmung die Stellung der Augen, also der Blickwinkel, und ihre Änderung, um Gegenstände fokussieren zu können. Werden Gegenstände nun aber auf einem Blatt oder Bildschirm dargestellt, entsteht das Problem einer Übertragung von Räumlichkeit auf eine zweidimensionale Fläche. Um einen räumlichen Eindruck zu erwecken, braucht es zwei Bilder aus geringfügig unterschiedlichen Perspektiven, um der Wahrnehmung aus unseren zwei Augen entsprechen zu können. Nimmt jedes Auge nun das ihm zugeschriebene Bild wahr, entsteht ein räumlicher Eindruck. Bei der Aufnahme dieser Bilder ist es wichtig bestimmte Faktoren wie ihr Abstand, die Vermeidung von Stauchungen und Dehnungen, sowie die Entfernung des dargestellten Objekts zu beachten, um eine naturgetreue Plastizität zu erzeugen. Um dies zu erreichen, braucht es ein exaktes Einhalten gewisser Formeln und Gleichungen, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden soll. Es lässt sich jedoch sagen, dass nach vielen Jahren des Experimentierens und Perfektionierens dreidimensionaler Projektion, es heute möglich ist, die Verschiebungen der Bildaufnahmen so zu berechnen, dass für den Zuschauer ein angenehmer Raumeffekt zustanden kommt, der weder anstrengt, noch einen Farbverlust mit sich bringt, so wie es in früheren Techniken der Fall war. Bezogen auf Götz Großklaus' Ausarbeitung „Zum Wandel der raumzeitlichen Wahrnehmung in der 65 66 67 68 Großklaus, S. 116 Benjamin, S. 15 Röder, S. 4 Röder, S. 4 ff 14 Moderne“69, welche eine von wenigen wissenschaftlichen Abhandlung über dieses Phänomen darstellt, lässt sich sagen, dass durch die Simulation einer dritten Dimension ein „superillusionistischer“70 Eindruck vermittelt wird. Man kann also sagen, der simulatorische Charakter der inszenierten Grenzverwischung zwischen „Betrachter und Bild, zwischen Fiktion und Realität ziel[t] ab auf eine ganzheitliche, einbeziehende Wahrnehmungsweise“. Pina Bausch 5.1 Pina Bauschs Tanztheater Pina Bausch (* 27. Juli 1940, † 30. Juni 2009) gilt als Mitbegründerin einer in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts aufkommenden, radikalen Reform des lange tradierten Bühnentanzes. Geprägt vom klassischen Ballett und standardisierten Bewegungsformationen, war es nun Zeit für das, was von da an als „Tanztheater“ bezeichnet werden sollte71. Ausgehend von den Reformbewegungen der 68-er Generation, veränderte sich die künstlerische Ausdrucksweise hin zu einem Fokus auf das Individuum, seine persönliche körperliche und geistige Beschaffenheit, sowie die Umstände, durch welche es geprägt wird. Wie sich auch in der zu ungefähr der gleichen Zeit entstehenden Performancekunst zeigt, entwickelte sich eine Hinwendung zum eignen Körper, was als Reaktion auf den historisch vorangehenden Prozess der Entfremdung und Zurückdrängung des Körperlichen zu verstehen ist. 72 Dies brachte zugleich eine neue Nutzung des Bühnenraumes mit sich, indem „mit dem zweidimensionalen, linear perspektivistischen Körper- und Raumgefühl im klassisch-akademischen Tanz“ gebrochen wird, und die Tänzer von da an beginnen, die Grenzen des Raumes durch ihre individuelle Eigenwilligkeit im tänzerischen Ausdruck auszuweiten. Pina Bauschs verstand das Tanztheater als eine besondere „Kunst der Freiheit, losgelöst von starren Regeln und klassischen, festgelegten Konzepten, mit einer deutlichen Gewichtung humaner und sozialer Kompetenz.“73 Mit einer Mischung aus Tanz, Pantomime und Theater verstand sie sich darauf, nicht alleine Handlungen zu vermitteln, sondern den Menschen mit seinen Gefühlen und seine Prägung durch das soziale Umfeld, in dem er sich bewegt, in den Mittelpunkt zu stellen. Sie wollte also nicht zeigen, „wie sich Menschen bewegen, sondern was sie bewegt“74. Ihre choreographische Arbeit zielte darauf ab, Körperbilder und -formen zu finden, welche auf 69 70 71 72 73 74 Großklaus: Titel Großklaus, S. 114 Schulze-Reuber, S. 9 Schulze-Reuber, S. 39 Ebd., S. 53 Ebd., S. 53 15 alltäglichen, gesellschaftlichen Bewegungsabläufen basieren, um diese mit den Mitteln der Verfremdung, Übertreibung, Provokation und Absurdität in einen neuen provozierenden und emotionalisierenden Zusammenhang zu bringen.75 Das heißt, „Pina Bausch bricht – wie schon Brecht – mit dem 'schönen Schein' des traditionellen Theaters und fordert ein globales Publikum durch schonungsloses Aufzeigen von Realitäten auf, sich der gesellschaftlichen Wirklichkeit bewusst zu werden“76. Damit verweist sie jedoch nicht alleine auf gesellschaftliche Verhältnisse, sondern auch auf die Möglichkeiten, die dem künstlerischen Ausdruck in seiner Innovation inhärent sein kann. Nach Dieter Mersch verfährt Bausch also avantgardistisch, wenn man darunter eine Strategie versteht, „die mit der Kunst über die Kunst hinauszugelangen trachtet, und zwar so, dass wir mit einer Metakunst konfrontiert sind, deren Sujet die Kunst selbst, d.h. ihre spezifische Medialität ist“77. Pina Bauschs Inszenierung verweisen durch ihre auf Emotionalität angelegten Choreographien in jedem Moment auf die von Helmuth Plessner getroffene Dialektik von „Körperhaben“ und „Leibsein“. Anstatt den Körper alleine als semiotisches Instrument erscheinen zu lassen, verweist Bausch auf die Leiblichkeit der Tänzer und auf dadurch auch auf die Grenzen der körperlichen Darstellungsmöglichkeiten. Damit erbringt sie eine „Verschiebung der Perspektiven, weil es mit den Mitteln der Ästhetik des Tanzes dessen Reflexion vollbringt, welche seine spezifische Medialität allererst zum Vorschein bringt“78. Diese Negation der tradierten klassischen Ästhetik bezeichnet Mersch also als eine „negative Praxis, die die klassische Ästhetik des Tanzes 'entzeichnet' und seine symbolische wie disziplinatorische Ordnung unterläuft“79. Zum Vorschein bringt Bausch diese negative Praxis des Tanzes, indem in fast allen ihren Stücken der Versuch im Vordergrund zu stehen scheint, dem Körper auf der Bühne die Figur zu entziehen, indem beispielsweise angestrengte Atemgeräusche oder Schwitzen nicht eingedämmt, sondern bewusst eingesetzt werden, um auf die Körperlichkeit des auf der Bühne Agierenden zu verweisen. Das im Tanztheater stets aufkommende Phänomen der Präsenz und gleichzeitigen Absenz des Körpers, welches im klassischen Tanz stets versucht wurde zu untergraben, wird bei Pina Bausch also bewusst hervor gehoben und exemplifiziert. 5.2 Le Sacre du Printemps Bauschs erfolgreichstes und mancher Ansicht nach auch „traditionellstes“ 80 Stück ist Le Sacre du 75 76 77 78 79 80 Schulze-Reuber, S. 54 Ebd., S. 54 Mersch, In: Brandstetter/Klein, S. 270 Ebd., S. 270 Ebd., S, 270 Brandstetter/Klein, S. 15 16 Printemps, welches 1975 im Rahmen des dreiteiligen Balletts Frühlingsopfer zur Uraufführung gebracht wurde und an welchem man die Körperkonzepte Bauschs sehr genau ablesen kann. Das Stück handelt von der Suche nach einem Mädchen, das im Rahmen eines Fruchtbarkeitsrituals dem Sonnengott geopfert werden soll. Im Laufe der Inszenierung werden von Pina Bausch dabei Aspekte wie Fremde, Geschlechterkampf und das Verhältnis vom Einzelnen zur Gruppe ins Zentrum der Darstellung gerückt, womit „Differenzen und Paarungen“ veranschaulicht werden, „die gleichwohl beständig durchkreuzt und wieder aufgehoben werden“ 81. Auf den Körper verwiesen wird bereits durch die schlichte Kostümierung der Tänzer, indem die Frauen halb transparente Kleider tragen und die Männer nur eine schwarze, lange Hose. Ebenso reduziert ist das Bühnenbild, das nichts weiter als einen mit Erde bedeckten Boden zeigt, der nicht nur den Fokus auf die Körper ausrichtet, sondern zudem dafür sorgt, dass den barfüßigen Tänzern ihre Bewegung erschwert wird. Die Anstrengung, die dadurch für die Tänzer entsteht, wird für den Zuschauer umso deutlicher, als dass sie bald verschwitzt und schmutzig sind, was wiederum den archaischen Charakter des rituellen Tanzes auf der einen Seite, sowie die „Nacktheit“ 82 der Tänzer auf der anderen Seite hervor hebt. Dazu kommt die Art und Weise des Tanzes auf der Bühne. Bauschs Choreographie von Sacre zeichnet sich aus durch Asynchronität, Abgehacktheit und Gegenläufigkeit83. Damit verweist Bausch auf „den widerständigen Durchbruch der Körper selbst, ihre Ungebärdigkeit und Unfügigkeit, die sich jeder Kontrolle verweigert“84. Die Haltung der Tänzer ist steht stets unter krampfhafter Spannung und ihre Bewegungen haben oftmals selbstnegierende bis -zerstörende Tendenzen, wenn sich zum Beispiel die Tänzerinnen ihren Ellenbogen in den Bauch rammen, als sei es ein Messer. Der Schmerz und die Angst, die das Frühlingsopfer mit sich bringen, werden damit stets in drastischstem Maße verkörpert. Auch der Raum, indem sich das Tanzgeschehen vollzieht, wird durch die Körperlichkeit der Tänzer geprägt bzw. erst gestaltet. Ganz im Sinne von Michel de Certeau kann man sagen, dass Pina Bausch die Bühne nicht als statischen Ort nutzt, den es zu nutzen und zu füllen gilt, sondern als einen dynamischen Raum, der sich durch die in ihm vollzogene Bewegung immer wieder neu konstruiert. Es geht ihr also nicht um eine adäquate Raumein- und -aufteilung, sondern darum den Raum als „Produkt wechselnder Handlungen“ erst „ertanzen“ zu lassen 85. Damit sind die auffälligen Diagonalen und oppositionellen Platzierungen, welche einzelne Tänzer oder auch Gruppen im 81 Mersch, In: Brandstetter/Klein, S. 273 82 Mersch, In: Brandstetter/Klein, S. 276: „Gewiss erfüllt Nacktheit immer eine symbolische Funktion, weil die Blöße nicht nur den Leib betrifft, sondern das 'nackte Leben', die Existenz selber, wozu gleichermaßen der Ausdruck der Angst, der Besessenheit und des Schmerzes gehören.“ 83 Mersch, In: Brandstetter/Klein S. 277 84 Ebd., S. 277 85 Ebd., S. 275 17 Raum immer wieder schaffen, wohl weniger als festgelegte choreographische Elemente zu verstehen, als vielmehr ein aus orientierter Improvisation heraus gefundener Ausdruck zur Darstellung von figuren- und gruppeninterner Differenzen. Die immense Bedeutung des Körpers und Raumes in dem Tanztheater von Pina Bausch legt nahe, dass eine filmische Übersetzung in 3D, aufgrund der simulierten Räumlichkeit, ein durchaus herausforderndes Unterfangen und zugleich eine entsprechende Untersuchung nahe legt. Deshalb werde ich mich im Folgenden, nach einer kurzen Erläuterung der Technik und Wirkungsweise stereoskopischer Technik, der Analyse von Wim Wenders Film Pina im Hinblick auf den Versuch einer simulierten Atmosphäre zuwenden. Die Simulation der Atmosphäre 6.1 Raum und Körpersimulation in Pina Nach Volker Roloff stellt der Film ein ideales Medium zur Darstellung von persönlichen wie zwischenmenschlichen Konflikten dar. So sagt er: „Filme sind, wie auch das Theater, aber anders und vielleicht noch spektakulärer, in der Lage, die Wechselbeziehungen, Spannungen und Brüche zwischen den sichtbaren und unsichtbaren Rollenspielen zur Darstellung zu bringen, die Diskrepanz zwischen Sein und Schein, Worten, Bildern und Gedanken, und damit die alltäglichen Formen, Rituale und Konventionen der Lüge, Maskerade und grotesken Formen der Selbsttäuschung, der von Satre sogenannten 'mauvaise foi'. Vor allem aber können Filme als das privilegierte und beweglichste Medium der Schaulust die Wechselbeziehungen zwischen dem kollektiven und subjektiven Imaginären darstellen, der Welt des Begehrens, der Träume, Tagträume, Wünsche, Ängste und Illusionen, das von Deleuze sogenannte 'Kino im Kopf'“86. Da es genau jene Konflikte sind, die Pina Bausch darstellen wollte, scheint es vorerst nahe liegend zu versuchen, ihr Tanztheater filmisch umzusetzen. Auch Wim Wenders reizte die Vorstellung lange, einen Film mit Pina Bausch zu drehen, das Problem was dabei auftrat, war jedoch die Umsetzung des Tanzes in das Medium Film87. Viel mehr noch als im Sprechtheater kommt es im Tanztheater auf die Körperlichkeit und Räumlichkeit der Darstellung an, zwei Aspekte, die in einer zweidimensionalen Projektion nur schwer zu generieren sind. Erst die neue Möglichkeit des 3DFilms bewegte Wenders dazu, seine Idee in die Tat umzusetzen. Wichtig erscheint ihm dabei den 86 Roloff, In: Lommel, Queipo, Rissler-Pipka, S. 16 87 http://www.pina-film.de/de/ueber-den-film.html 18 Tanz nicht vom Theater loszulösen, sondern das Erlebnis der Tanzgruppe auf der Bühne darzustellen. Dies zeigt sich bereits zu Beginn des Filmes, indem eine Bühne sowie ein paar Sitzreihen davor sichtbar werden. Sofort wird die Tiefe des Bildes deutlich und die Tiefe der Bühne generiert. Die angrenzenden Sitzreihen erweitern den Effekt eines scheinbar bevorstehenden Theatererlebnisses. Die Tiefe des Bildes wird den ganzen Film beibehalten. Was folgt ist also keine einfache Aufnahme eines Bühnengeschehens, sondern ein Eindringen in das Selbige. Dieser Tiefeneffekt ist also weniger darauf angelegt, dem Zuschauer das Gefühl zu geben mitten im Geschehen zu stehen, sondern ruft vielmehr die Illusion hervor in einen sich vor ihm öffnenden Raum eintreten zu können, bzw. die Tiefe einer tatsächlichen Bühne vor sich zu haben. Schnitt und Perspektive unterscheiden sich nur geringfügig – womöglich aufgrund gewisser Einschränkungen durch die stereoskopische Aufnahmetechnik – von einem klassischen Tanzfilm. Die Einstellungen wechseln zwischen Nahen und Totalen, zeigen Großaufnahmen von temporär im Zentrum stehenden Handlungsträgern und verweisen durch eine schräge Oberansicht auf die sich in Diagonalen bildenden Oppositionen auf der Bühne. Der Unterschied ist jedoch die unmittelbare Nähe, welche die Aufnahmen durch ihre Dreidimensionalität erhalten. Selbst Geschehen, die sich im 'Hintergrund' ereignen, gewinnen durch die Räumlichkeit im 3D-Film an Präsenz. Dies ist ein elementarer Unterschied zur zweidimensionalen Aufnahme, in der räumlich hintergründige Bewegungen zwar wahrgenommen, aber als (noch) nicht präsent eingestuft werden. Um zu verdeutlichen, dass hintergründige Geschehen Relevanz hat, bzw. in den Gesamtkontext des 'Bildes'88 gehört, bedarf es viel eher einer Montage oder Fokussierung auf das Hintergründige, als es im transplanen Bild der Fall ist. In Bezug auf die Darstellung von Sacre in Wim Wenders Film, hat das zur Folge, dass differenziale Aspekte wie beispielsweise die Furcht oder der Geschlechterkampf für den Zuschauer in einem einzigen Moment deutlich werden, indem ohne eine benötigte Montage oder Schärfenregulierung ein Auseinanderdriften der Figuren bzw. Tänzer deutlich wird. Viel deutlicher noch, als im normalen Film wird es durch die Zunahme der Information über den Raum nun möglich, Vordergründiges und Hintergründiges als gleichwertig wahrzunehmen. Indem die tänzerischen Oppositionen also in gleichem Maße wahrgenommen werden können, gewinnt die Entfernung, Separierung und Zusammenführung der Tänzer an ganz neuer Intensität. Die doppelte Wahrnehmung von Vordergründigem und Hintergründigem hat in gewissem Sinne zur Folge, dass es zu einer Art der Darstellung von Gleichzeitigkeit im Film kommt, wie sie zuvor nicht möglich war. Im klassischen Film auf den Schnitt angewiesen, ermöglicht das 3D-Kino nun nicht nur eine Parallelmontage zum Verweis auf Gleichzeitigkeit, sondern gewissermaßen auch eine 88 Eig. Anm.: In Bezug auf die Definition von Jens Schröter, dass Bilder flach sein müssen, kann diskutiert werden, inwieweit Raum noch Bild sein kann. Ich möchte mich der Einfachheit halber jedoch an den tradierten Gebruach Bildbegriff anlehnen, in dem auch skulpturale und daher dreidimensionale Phänomene als Bild bezeichnet werden. 19 synchrone Raumdarstellung, welche gleichzeitiges Geschehen veranschaulicht. Zu beachten ist hier aber natürlich zum einen, dass dies nur innerhalb eines Raumes oder ineinander übergehenden möglich ist, und zum anderen, dass dieser Effekt wohl vorrangig (wenn nicht ausschließlich) für Tanzfilme (oder auch Naturdokumentationen) in 3D von Bedeutung ist, da hierbei ein Überblick über die Räumlichkeit und das bewegte Geschehen eher im Vordergrund steht, als es im Spielfilm der Fall ist. Hier kann man nun also einen ersten Vergleich zu dem erwähnten atmosphärenerzeugenden Moment der zeitlichen Gegenwärtigkeit im Theater ziehen. Wo für den klassischen Film festgestellt wurde, dass eine Gegenwärtigkeit, unter anderem aufgrund der umformierten Zeitdimension in der Montage, nicht zustande kommen kann, muss hier nun festgestellt werden, dass die synchrone Raumdarstellung durchaus an die gegenwärtige Präsenz der Tänzer auf der Bühne anzulehnen ist. Durch Einstellung und Montage zwar immer positioniert, fällt durch die Räumlichkeit jedoch ein gewisser Fokus weg, wie er im Film ansonsten immer gegeben ist. So ist beispielsweise die tanzende Frauengruppe an einer Stelle zwar im Vordergrund, doch ist die tanzende Männergruppe im Hintergrund auf gleiche Weise scharf und plastisch wahrzunehmen, so dass der Raum durch sie erst gefüllt wird und damit entsteht. Der Zuschauer gewinnt also ein Stück an Autonomie zurück, indem das Ökonomieprinzip seines Blickes wieder ein Stück aktiviert wird. Von besonderer Bedeutung sind in Pina natürlich die scheinbar greifbaren Körper der Tänzer. Dieser Effekt ist von unmessbarer Bedeutung, wenn man bedenkt, wie wichtig es Pina Bausch war, gerade die Körperlichkeit ihrer Tänzer zum Vorschein kommen zu lassen. Einen größeren Eindruck von den Emotionen der Tänzer wird im Film bereits durch Nahaufnahmen in die Gesichter oder auf die sich abmühenden Körper gegeben. Verstärkt wird dieser aber natürlich noch durch die scheinbare Nähe und Greifbarkeit der Tänzer in der 3D-Projektion. 6.2 Immersion und Einfühlung im 3D-Film Was im Rahmen der Emotionsforschung festgestellt wurde und in Pina Bauschs Tanztheater stark hervorgehoben wird, ist die Tatsache, dass sich Emotionen beim Menschen fast ausschließlich über das Körperliche manifestieren bzw. Körperzustände Emotionen überhaupt erst verursachen89. In Pina ist es nun möglich die Emotionen der Tänzer nicht nur über die sonst dafür üblichen filmischen Elemente zu inszenieren, sondern dem Zuschauer zugleich einen umso intensiveren Eindruck von ihren körperlichen Regungen zu verschaffen, indem die Emotionen vermittelnden Körper plastisch und unmittelbar in Erscheinung treten. Dadurch scheint nicht nur die Grenze zur Leinwand aufgehoben zu werden, sondern auch die Grenze vom Zuschauerraum zur simulierten 89 Vergl. Schouten, S. 74/75 20 Bühne. Hierbei wird nun der in der aktuellen Medientheorie oft verwendete Begriff der Immersion von Bedeutung. Dieser wird vorrangig im Zusammenhang mit Strategien verwendet, welche darauf abzielen, „die Grenze zwischen dem medialen Raum, in den man eintritt, und dem eigentlichen Rezeptionsraum im Bewusstsein der Rezipierenden partiell auszulöschen oder zumindest die Aufmerksamkeit von dieser Grenze abzuziehen“90. Es geht also darum, in einen künstlichen, das heißt simulierten Raum einzudringen und dabei so weit wie möglich die Künstlichkeit und medialen Grenzen zu vergessen. Hier nun erfüllt sich die volle Funktion der transplanen Filmprojektion, indem der Zuschauer das Gefühl bekommt dem Geschehen beizuwohnen und damit in gewissem Sinne auch ein Teil desgleichen zu werden. Für den Immersionseffekt ist es dabei wichtig zwischen der Wahrnehmung der Simulation und der Rezeptionsposition zu unterscheiden. Nach Wirth und Hofer ist der Effekt einer immersiven Erfahrung stets mit einem „Präsenzerleben“ 91 verbunden. Dies bezeichnet den Effekt während einer Medienrezeption die Illusion bzw. Simulation zu vergessen. Wichtig hierbei ist, dass es sich um ein räumliches Wahrnehmungsphänomen handelt. Um den Effekt des Präsenserlebens vorzurufen, ist es nach Wirth und Hofer unabdingbar zuvor den medialen Raum, in den sich der Rezipient versetzen soll, als „primären Referenzrahmen“ 92 klar zu definieren. Bei Pina ist diese Voraussetzung exemplarisch gegeben, indem – noch bevor sich irgendeine Handlung – vollzieht zuerst Wuppertal als Handlungsraum und kurz darauf eine leere Bühne gezeigt wird, auf der sich kurz darauf die ersten Tänzer einfinden. Dem Zuschauer wird also, wie bereits erwähnt, von Anfang an eine Theatersituation suggeriert, in der er sich von da an zu befinden scheint. Auch Götz Großklaus erkennt immersive Kraft des simulierten Raumes, wenn er sagt: „Wenn mich der künstliche Raum vollständig umschließt und mir keine Außendaten realitätsstützend zur Verfügung stehen, erfahre ich den simulierten Zeit-Raum als quasi real und gegenwärtig – gleichwohl, ob sich die Simulation auf fernste Vergangenheit oder fernste Zukunft bezieht“93. Das Präsenzerleben, welches Großklaus noch etwas unpräzise als „quasi real und gegenwärtig“ beschreibt, äußert sich nach Wirth und Hofer auf zwei verschiedene Arten. Zum einen wäre da der mentale Aspekt, die „self localisation“, welche das Gefühl umfasst, in der medialen Welt selbst anwesend zu sein. Die andere Dimension umfasst die Reaktionen des Rezipienten und wird als „spacial presence“94 bezeichnet. Dabei geht es vor allem um die Handlungsmöglichkeiten des Rezipienten im medialen Raum. Bei Wirth und Hofer wird an dieser Stelle nicht weiter auf die Handlungsmöglichkeiten im medialen Raum eingegangen, womöglich ist dies jedoch der Punkt, an 90 91 92 93 94 Neitzel, S. 146 Wirth/Hofer, S. 159 Wirth/Hofer, S. 168 Großklaus, S. 55 Wirth/Hofer, S. 162 21 dem die Wahrnehmung und Rezeption des Zuschauers im 3D-Film wieder von Bedeutung wird. In dem Moment, in dem die Präsenz der Tänzer simuliert wird und sich der Zuschauer in das Geschehen mit einbezogen fühlt, kommt es bei ihm nicht nur zu einem Präsenzerleben seiner Selbst, sondern eben auch zu dem Gefühl einer Präsens des Gesehenen. Von Bedeutung wird hier also die auf der Basis des Präsenserlebens gegründete Wahrnehmung der Simulation, welche plötzlich umso zugänglicher erscheint. Man kann auch sagen: „Die verwischten bzw. aufgehobenen Grenzen zwischen Betrachter und Bild, zwischen Fiktion und Realität zielen ab auf eine ganzheitliche, einbeziehende Wahrnehmungsweise, bei der über die dominant visuelle Präsentation auch andere sinnliche Zugänge stimuliert werden: man scheint optisch vermittelt etwas zu hören, zu spüren etc.“95 Wovon Großklaus hier spricht, ist eine durch die intensive Wahrnehmung aufkommende Intermodalität, also eine „Kommunikation der Sinne“96. Es ist anzunehmen, dass es bei der Wahrnehmung stereoskopischer Bilder weit mehr noch als bei der Betrachtung eines klassischen Films zu einer intermodalen oder – was einer genaueren Untersuchung bedürfte – zu einer ganz neuen Form der sinnlich vernetzten Wahrnehmung kommt. Indem dem Betrachter die Unmittelbarkeit von Körpern suggeriert wird, erhält dieser eine genaue Vorstellung davon, wie sich diese Körper womöglich anfühlen oder wie sie riechen. Nicht jedoch, weil die Sinne kommunikativ derart verknüpft sind, dass sich die eine Reizempfindung kognitiv auf die andere übertragen lässt97, sondern eben gerade dadurch, dass durch den Sehsinn suggeriert wird, die anderen Sinne könnten diese Reize tatsächlich wahrnehmen. Hier nun ist die Immersion zum ersten Mal als ein ästhetisches Phänomen zu verstehen, indem sie der „gerade durch die Verlebendigungsimpulse der Einfühlung zu vielfältigen Möglichkeiten der Involvierung Anlass gibt [...]“98. Man kann auch sagen: „Die Immersion befriedigt eine Neigung zur Einfühlung auf der Basis der filmischen Abstraktion, ermöglicht durch die Multimodalität der Wahrnehmung, die (paradoxerweise?) sogar im Gefühl einer Entkörperlichung oder in einem ekstatischen Aufgehen münden kann“ 99. An dieser Stelle wird nun die Präsenz des Zuschauers mit der simulierten Präsenz des Geschehens in der Projektion zusammen geführt. Über die Simulation der scheinbaren Nähe zum Geschehen und seiner aus der Immersion resultierenden Reaktion, wird dem Zuschauer also automatisch eine gewisse Form der Teilhabe suggeriert. Losgelöst vom einfachen Bilderkonsum, scheint nun vermeintlich er von den Bildern umgeben und eingenommen zu werden, wie es auch bei der Atmosphäre im Theater der Fall ist. 95 96 97 98 99 Großklaus, S. 114 Schouten, S. 54 Vergl. Ebd. Curtis, S. 97 Ebd., S. 97 22 Anders als bei der Aura eines Filmes oder Gegenstandes hat der Zuschauer im 3D-Film durch dessen „Superillisionismus der ikonischen Repräsentation“100 nun das Gefühl, direkt im Geschehen zu sein und einen atmosphärischen Resonanzkörper vor sich zu haben. Die transplane Generierung der Tänzer in Pina hat damit nicht nur eine bessere Anschauung der Körper und der emotionalen Regungen der Akteure zur Folge, sondern erzeugt im Zuschauer die hyperreale Erfahrung eines tatsächlichen Theatererlebnisses, indem sich im Zuge der Immersion zwischen ihm und den generierten Körpern ein simuliertes atmosphärisches Gefühl des „Dazwischen“ ergeben kann. Fazit Es ist wohl kaum eine Erwähnung wert, dass eine tatsächliche Atmosphäre, wie man sie aus dem Theater kennt, im Film in keiner Dimension zu erzeugen ist. Die für eine atmosphärische Wahrnehmung notwendige Leiblichkeit von Zuschauer und Darsteller kann zwar simuliert, nicht jedoch nachgeahmt werden. Dies liegt bereits im Medium Film begründet, welches kaum noch darauf abzielt, alles abzubilden wie es ist. Stattdessen werden neue hyperreale Form gefunden, welche die Welt von zeitlichen und räumlichen Grenzen loszulösen vermögen. Diese Neuformierung der Wirklichkeit hat nun durch die Kombination mit der Präsenzerscheinung des Geschehens im 3D-Kino eine neue Dimension erreicht. Emotionalen Wert erlangt der Film nun nicht mehr nur noch durch seine Aura, stattdessen wird der Rezipient durch den immersiven Effekt der Dreidimensionalität scheinbar in das Bild miteinbezogen. In der Aufhebung dieser Grenze mag das Gesehene für den Zuschauer plötzlich real anwesend wirken, ein Effekt, den man auf diese Weise nur aus dem Theater kennt. Unabhängig der unterschiedlichen Darstellungsweisen von Theater und Film, scheint hier nun eine gewisse Unterscheidung aufgehoben, indem sich die sonst sehr unterschiedliche Wahrnehmung aufgrund der 3D-Simulation einander annähert. An dem Film Pina von Wim Wenders ist diese Annäherung der Wahrnehmungsweisen sehr gut festzustellen, da eine direkte Gegenüberstellung zur Theatersituation stattfindet, indem genau diese durch den Bühnen- und angedeuteten Zuschauerraum simuliert wird. So weit es dem Medium Film also (bisher) möglich ist, hat es Wim Wenders geschafft, die bei Pina Bauschs Choreographien im Zentrum stehende atmosphärische Körperpräsenz hervor zu heben. Inwieweit diese Hervorhebung jedoch gerade auf die Künstlichkeit der Simulation verweist und damit das Gegenteil von dem 100 Großklaus, S. 115 23 erwirkt, was es eigentlich bezwecken soll – den Anschein der Präsenz – bedürfte einer weiteren Untersuchung. 24