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9. Die Tränen des Edward P. Thompson Das waren nicht jene so häufigen TV-Tränen, die die Zuschauerschaft vor dem Bildschirm zumeist teilnahmslos lassen. Es waren vielmehr Tränen der Ergriffenheit und Empathie, die sich an jenem Sommerabend des Jahres 1993 auf sie übertrugen. In einem dreiviertelstündigen Feature zu Leben und Werk des bekannten britischen marxistischen Historikers Edward Palmer Thompson erzählte dieser unter anderem von seiner kurzen, aber prägenden Zeit bei den internationalen Arbeitsbrigaden im titoistischen Nachkriegsjugoslawien, als er als junger kommunistischer Freiwilliger am kollektiven Aufbau des Landes tatkräftig teilnahm. Und während er die Kriegsleiden und den aufopferungsvollen Enthusiasmus gerade der einfachen, namenlosen Jugoslawen beschrieb, kamen ihm besagte Tränen – Tränen nicht nur um die Opfer jener vergangenen Zeit, sondern auch um den damals, Anfang der neunziger Jahre, im jugoslawischen Bruderkrieg gerade in Schutt und Asche zerfallenden und von Thompson selbst so intensiv geteilten Traum einer solidarischen und emanzipativen Balkanföderation. Es fällt schwer, in diesen Tränen des Edward P. Thompson nicht das Sinnbild seines bemerkenswerten sozialistischen Humanismus zu erkennen. Thompson hatte in den vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts als junger britischer Kommunist begonnen, in den Fünfzigern wandelte er sich zuerst zu einem dissidenten Kommunisten und herausragenden Exponenten der ersten Generation der Neuen Linken, bevor er dann seit den Sechzigern als international bekannter Historiker im doppelten Sinne selbst Geschichte geschrieben hat. Doch auch wenn Thompson heute sogar in Deutschland zu den Klassikern der Geschichtswissenschaft gezählt wird (vgl. Lottes 2006), so bleibt mit Karl Heinz Roth noch immer festzuhalten, dass er »das deutschsprachige Spektrum von Historiografie 151 und linker Politik nur marginal beeinflusst [hat]. Eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit seinem Werk hat es nicht gegeben. Wenn überhaupt, dann wurden nur bestimmte Fragmente daraus zur Kenntnis genommen.« (Roth 1994, S. 170) Will man das verstehen, ist man gehalten, dieses in vielem zu deutschen Traditionen so quer liegende Lebenswerk in seinem Zusammenhang nachzuvollziehen. Sozialistischer Humanismus und Neue Linke Als Jüngling fühlte sich der 1924 als Sohn liberaler Kritiker des britischen Imperialismus Geborene noch zum Poeten berufen (eine Liebe, die er bis zum Ende seiner Tage pflegen sollte; vgl. EPT 1999). In Cambridge begann er ein Literaturstudium und tat es seinem großen Bruder und Vorbild Frank gleich, als er im Alter von siebzehn Jahren Anfang der vierziger Jahre der Kommunistischen Partei beitrat. Es war die große Zeit des antifaschistischen Kampfes, in der sich ein junger kämpferischer Kommunist zu Recht als heroischer Verteidiger der alten Zivilisation gegen die faschistische Barbarei fühlen konnte. Und wie viele andere sog auch E.P. Thompson die kommunistische Volksfront-Ideologie in ihrer ganzen Zwiespältigkeit tief in sich hinein. Rief diese auf der einen Seite zum aktivistischen und antisektiererischen Kampf nicht nur der arbeitenden Klassen, sondern des gesamten Volkes auf, gab sie diesem politischen Kampf andererseits einen klassenübergreifenden Charakter und machte die Kommunisten zu Bündnispartnern selbst des liberalen, antifaschistischen Bürgertums. Verband die Volksfrontpolitik auf diesem Wege nicht nur den sozialistischen mit dem radikaldemokratischen, sondern auch mit dem bürgerlich-liberalen Kampf, verschwanden damit nicht selten auch die scharfen Konturen klassisch sozialistischer Identität, die marxistische Differenzierung zwischen bürgerlichem Liberalismus und antibürgerlichem Radikaldemokratismus. Sollten sich jedoch die politischtheoretisch problematischen Seiten solcher Volksfrontpolitik erst später verdeutlichen, zeigte sich der Zugewinn an antisektiererischem Aktivismus umgehend – nicht nur im antifaschistischen Kampf selbst, sondern auch darin, dass nicht wenige Kommunisten mit großer Begeisterung in bürgerlichen Armeen gegen Nazi-Deutschland und seine Verbündeten kämpften. Und so machte der Zweite Weltkrieg auch den neunzehnjährigen E.P. Thompson zum kämpfenden Offizier in Italien und Frankreich. Doch bald schon studierte er wieder, nun allerdings Geschichte. Aus dem Krieg hatte er das leidenschaftliche Bekenntnis mit zurückgebracht, die Intenti152 onen der im Kampf für Freiheit und den Sieg über den Faschismus Gefallenen fortan wach zu halten. Dieses nachhaltige Bekenntnis speiste sich nicht nur aus seiner politischen Haltung, sondern auch aus Thompsons persönlichem Schicksal, denn auch sein geliebter Bruder Frank gehörte zu diesen Gefallenen – als kommunistischer britischer Offizier hatte er auf Seiten der bulgarischen kommunistischen Partisanen gekämpft und war von den Faschisten hingerichtet worden. Mit viel Enthusiasmus ging der junge Kommunist 1947 als Freiwilliger einer Jugendbrigade nach Jugoslawien und half beim Eisenbahnbau. Nach seiner Rückkehr arbeitete Thompson intensiv in der britischen Kommunistischen Partei mit, pflegte enge Kontakte zu einer Parteigruppe von jungen, talentierten Historikern. Hier lernte er nicht nur seine zukünftige Frau Dorothy kennen und lieben (sie sollte später selbst eine bekannte Historikerin werden), er diskutierte auch viel mit Maurice Dobb, Rodney Hilton, Christopher Hill, Eric Hobsbawm und anderen und begründete mit ihnen die »britische Schule« marxistischer Geschichtsschreibung. Gemeinsam wollten die parteikommunistisch Engagierten den alten marxistischen Mechanismus und Dogmatismus überwinden, jenen Ökonomismus eines starr deterministischen Geschichts- und Klassenverständnisses, wie er sowohl für die sozialdemokratische als auch die kommunistisch-stalinistische Theorietradition der ersten Jahrhunderthälfte so typisch gewesen ist. Und gemeinsam verbanden sie Geschichte und Soziologie zu einer Sozialgeschichte, die sie als »Geschichte von unten« verstanden, weil sie ihr Augenmerk vorwiegend auf die Kämpfe der sozialen Klassen und plebejischen Schichten im historischen Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus richteten (vgl. Kaye 1995). In diesen Nachkriegsjahren zeigte sich der junge Poet und politische Moralist besonders beeindruckt von dem vom Marxismus beeinflussten englischen Sozialutopisten William Morris (1834–1896). Thompson war fasziniert von diesem Revolutionär in nichtrevolutionärer Zeit, von diesem ebenso praktisch wie intellektuell veranlagten Kunsthandwerker, der moralische mit analytischer Kraft verband und diese auf die Entfremdungsphänomene Ende des 19. Jahrhunderts anwandte. Als in der Erwachsenenbildung Tätiger begann er eine umfangreiche Studie zu Morris‘ Leben und Werk und entdeckte an dessen Beispiel, wie unsinnig die traditionelle marxistische Unterscheidung zwischen ökonomischer und moralischer Gesellschaftskritik im Grunde war und ist. »Ökonomische Verhältnisse sind gleichzeitig moralische Verhältnisse«, wird er später, in einem 1959 gehaltenen Vortrag über Morris formulieren: »Produktionsverhältnisse sind gleichzeitig Verhältnisse zwischen Menschen, von Unterdrückung und Koope153 ration; und es gibt da ebenso eine moralische wie eine ökonomische Logik, die sich aus diesen Verhältnissen ableitet. Die Geschichte des Klassenkampfs ist zur gleichen Zeit die Geschichte menschlicher Moralität. […] Es gibt hier nichts, das Marx‘ Analyse widerspricht.« (EPT 1994, S. 75f.; vgl. auch EPT 1955/1976) Immer deutlicher wurde ihm im Laufe der fünfziger Jahre, dass der in der kommunistischen Bewegung praktisch wie theoretisch vorherrschende Stalinismus mit seinem moralischen Nihilismus und Anti-Intellektualismus, mit seinem autoritären Determinismus und seiner Ignoranz gegenüber menschlicher Selbsttätigkeit nicht der Emanzipation der Menschen diente, sondern deren Gegenteil. Im Zuge des kommunistischen »Tauwetters« nach Stalins Tod und v.a. mit dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956, auf welchem Chruschtschow erstmals offiziell die Verbrechen Stalins anprangerte, veröffentlichte Thompson mit anderen Genossen eine parteikritische Zeitschrift (The Reasoner), die zum Sammelbecken der Parteiopposition wurde, während ca. 7–10.000 Mitglieder die britische Kommunistische Partei verließen. Auch Thompson und Genossen brachen schließlich mit der KP und begannen die Arbeit an The New Reasoner (vgl. Saville 1994). Als Neue Linke wollten sie fortan die stalinistische wie die sozialdemokratische Orthodoxie gleichermaßen überwinden – ein damals durchaus europaweites Phänomen (vgl. Kapitel 6). Man entdeckte die Arbeiten des jungen Marx mit seiner Entfremdungsproblematik, griff auf Hegels Subjekt-Objekt-Dialektik und das vielfältige Erbe des vormarxschen philosophischen Idealismus zurück, aber auch auf die Psychoanalyse Freuds und den französischen Existenzialismus. Diese ebenso politische wie theoretische Neuorientierung speiste sich nicht nur, aber vor allem aus der kollektiv getragenen Abscheu gegen eine kommunistische Bewegung, die die Verbrechen des Stalinismus auch nach dem XX. Parteitag lediglich als Fehler zu verstehen imstande war, und die im Herbst 1956 in Ungarn einmal mehr Panzer gegen aufbegehrende Arbeiter einsetzte. Beides beflügelte die Abkehr von jenem mechanistisch-ökonomistischen Determinismus stalinistischen Denkens und Handelns, in welchem der/die Einzelne nichts, das im absolutistischen Führer sich vereinigende Kollektiv alles ist. Die programmatische »Rückkehr zum Menschen« wurde dieser Neuen Linken zur Antwort auf eine kommunistische Weltbewegung, die zwar das Erbe des Humanismus für sich beanspruchte, dessen wirkliche Praxis und Ideologie jedoch auch nach Stalins Tod zutiefst dogmatisch und anti-humanistisch geblieben war. Der Stalinismus, so Thompson in einem programmatischen Aufsatz Anfang 1957, sei keine bloße Abweichung oder Heuchelei, kein Fehler, der sich gleichsam 154 von selbst historisch auswachse. Stalinismus sei vielmehr ein System bestimmter Haltungen und falscher Ideen, eine Ideologie im marxistischen Sinne, und zwar »das falsche Bewusstsein einer revolutionären Elite, die innerhalb eines bestimmten historischen Kontextes in eine Bürokratie entartet ist. […] Stalinismus hat sich nicht nur entwickelt, weil bestimmte ökonomische und soziale Bedingungen existierten, sondern weil diese Bedingungen ein fruchtbares Klima abgaben, in dem diese falschen Ideen Wurzeln schlugen und ihrerseits zum Teil der gesellschaftlichen Bedingungen wurden.« Der Stalinismus habe also den gesellschaftlichen Kontext überlebt, in welchem er entstanden sei, und dies helfe, den Charakter auch der kommunistischen Dissidenz zu verstehen. Es handele sich dabei nämlich um »eine Revolte gegen die Ideologie, gegen das falsche Bewusstsein der aus einer Elite hervorgewachsenen Bürokratie«, um eine »Revolte gegen Dogmatismus und den diesen nährenden Anti-Intellektualismus« und um »eine Revolte gegen die Inhumanität – das Äquivalent des Dogmatismus in menschlichen Beziehungen und moralischem Verhalten –, gegen administrative, bürokratische und pervertierte Haltungen zu menschlichen Wesen. Im doppelten Sinne stellt sie eine Rückkehr zum Menschen dar – von Abstraktionen und scholastischen Formulierungen zu wirklichen Menschen, von Täuschungen und Mythen zur wirklichen Geschichte. Und so kann der positive Inhalt dieser Revolte beschrieben werden als ›sozialistischer Humanismus‹. Er ist humanistisch, weil er nicht mehr die dem Stalinismus so teuren und erdrückenden Abstraktionen wie ›Partei‹, ›Marxismus-Leninismus-Stalinismus‹, die ›Zwei Lager‹ oder die ›Avantgarde‹ der Arbeiterklasse in den Mittelpunkt sozialistischer Theorie und Sehnsucht stellt, sondern wieder wirkliche Männer und Frauen. Er ist sozialistisch, weil er dabei die revolutionären Perspektiven des Kommunismus bekräftigt, den Glauben nicht nur an die Möglichkeiten der Menschheit oder der Diktatur des Proletariats, sondern der wirklichen Männer und Frauen.« (Alle Zitate nach EPT 1957) Der Antistalinismus offenbart sich hier als Herzstück des neuen, sozialistischen Humanismus und ist eng mit einer Theorie des menschlichen Handelns verbunden, mit einem Marxismusverständnis, das der dialektischen Beziehung von gesellschaftlichem Sein und Bewusstsein auf der Spur ist. Menschen, so Thompson schon damals, spiegeln ihre Erfahrungen nicht passiv wider, sie ver155 mögen es auch, in kreativer Weise über dieselben nachzudenken und auf diesem Wege ihr eigenes Bewusstsein und ihre eigene Praxis zu verändern. Menschen sind ebenso Opfer wie Täter, Gemachte wie Macher ihrer Umstände. Menschen sind tätig-leidende Gattungswesen und die politische Moral lässt sich, so betrachtet, nicht trennen von einer politischen Theorie und Praxis, die zutiefst demokratisch und anti-elitär ist, denn sozialistische Emanzipation könne sich nur auf dem radikal-demokratischen Wege einer kollektiven Selbstermächtigung entfalten. Solcherart Stalinismuskritik zielt also immer und nicht zuletzt auch auf die Kritik des im sozialrevolutionären Avantgardismus latent angelegten Elitismus und bildet als Kritik des sozialistischen Antidemokratismus gleichzeitig eine konzeptionelle Brücke zur Kritik des bürgerlich-kapitalistischen Antidemokratismus, denn strukturell antidemokratisch war nicht nur der nominalsozialistische Ostblock, sondern, auf seine eigene Weise, auch der sogenannte freie Westen. Eine solche Kritik bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse finden wir entfaltet beispielsweise in dem 1960 veröffentlichten programmatischen Band Out of Apathy, in dem die jungen linken Autoren (neben Thompson finden wir hier Ralph Samuel, Stuart Hall, Peter Worsley, Alasdair MacIntyre und Kenneth Alexander) das zeitgenössische Klima gesellschaftspolitischer Apathie sowie die emanzipative Ausbrüche gleichsam blockierende Polarisierung der beiden weltpolitischen Blocksysteme beschreiben und über politisch-strategische Auswege aus dieser alles durchziehenden Apathie nachdenken. In der Tat hatte, wer wie Thompson und seine Genossen die materielle Reichtumsentwicklung einer Gesellschaft nicht zum selbstgenügsamen Ziel der Geschichte verklärte, sie in guter sozialistischer Tradition vielmehr zum Mittel einer genossenschaftlichen und selbsttätigen Gesellschaft der Gleichen wieder zurechtrückte, keinen Grund zur Untätigkeit in jener Zeit ökonomischer und sozialstaatlicher Prosperität. Ökonomischer Aufschwung und soziale Empfänglichkeit für deren Ergebnisse seien zwar entscheidende Ursachen der damals in voller Blüte stehenden und scheinbar weitgehend befriedeten Wohlstandsgesellschaft mit ihrem spezifischen Konsumismus, doch Widersprüche und Unzulänglichkeiten gäbe es auch in Großbritannien mehr als genug – ja sogar »überreif für den Sozialismus« sei Britannien, so Thompson in der Einleitung zu besagtem Band (EPT 1960, S. 9). Diese Reife sei jedoch überlagert von einer stark polarisierenden neuen Ideologie des Kalten Krieges, jenem »Natopolitanismus«, der sich, im Angesicht einer weitgehend inte156 grierten sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, nicht unwesentlich speise aus der vermeintlichen Alternativlosigkeit und der gesellschaftlich abgestützt werde durch historisch neuartige, vom Establishment kontrollierte Massenmedien, die keinen Raum mehr lassen für Nonkonformisten jeglicher Art. Diese neuartige Gettoisierung gesellschaftlichen Dissenses, diese Ausgrenzung des Nonkonformismus aus der spätbürgerlichen Demokratie, thematisierte er bspw. 1961 in seinem Aufsatz The Segregation of Dissent. Er untersucht hier, wie die im demokratischen Selbstverständnis einstmals eine gesamtgesellschaftlich bedeutende Rolle spielenden Minoritäten und Kleingruppen im Neokapitalismus, nicht zuletzt durch die festzustellenden Veränderungen der Kommunikationsmittel, strukturell derart isoliert werden, »dass ihre Aktivisten auf dem guten Wege sind, eine harmlose Form der intellektuellen Selbstdarstellung anzunehmen«. Wolle man, so Thompson, nicht nur die eine oder andere politische Frage anders beantworten, sondern die vorherrschende Form der Politik als solche in Frage stellen, werde man aus dem demokratischen Diskussions- und Entscheidungsprozess systematisch ausgegrenzt. Wolle man sich in der auf Besitz und Gewinn orientierten Gesellschaft mit der bloßen Gleichheit der Chancen nicht zufriedengeben und eine Gesellschaft der Gleichen propagieren, wolle man nicht weitere Aufstiegsleitern für Einzelne, sondern selbstlosere Verhaltensmuster gesellschaftlichen Lebens für alle, und sage dies alles auch noch laut, verurteile man sich damit selbst zur eigenen politischen Irrelevanz. Die neue Mediendemokratie bestimme mit ihren auf Trivialisierung, Personalisierung und Sensationalisierung setzenden Methoden nicht nur, was diskutiert werde, sondern auch wie. Gesellschaftspolitischer Dissens könne deswegen seine Weltsicht in dieser Gesellschaftsform weder auf eigenbestimmten Wegen noch im eigenen Stil präsentieren. Doch gerade für den demokratischen Dissens sei der eigene Ton ebenso wichtig wie der Inhalt. In der neuen Mediendemokratie sei es dagegen kaum noch möglich, einen eigenen, direkten Zugang zu diesen Medien zu bekommen, um sich selbst angemessen darzustellen: »Zwischen dem Möglichen und dem Gegenwärtigen, zwischen der Häresie der Minderheit und jenen großen Mächten, die die Mehrheiten der Mehrheit formen, zwischen den Inseln des Dissenses und dem Festland der Massenkommunikation besteht ein Golfstrom, dessen Brücken immer mehr verfallen.« Es sei aber gerade dieses »Archipel dissidenter Inseln – die Zeitschrift, die lokale Gewerkschaftsgruppe, das experimentelle Theater, die Bücherei, der Verein – in dem sich die einzigen Kräfte versammeln, 157 die eines Tages das Festland befreien können.« (Alle Zitate nach EPT 1980b, S. 1–10) 1 Die Neue Linke war also für Thompson ein Versuch, Brücken zu bauen, dissidente Inseln auf neue, produktive Weise zu vernetzen. Und dazu sei es notwendig, in Ost wie West gleichermaßen mit dem vorherrschenden Autoritarismus und Pessimismus zu brechen – theoretisch in der Form eines sozialistischen Humanismus und praktisch in der Form einer dem positiven Neutralismus verpflichteten Friedensbewegung, die dazu beitragen sollte, den festgefahrenen Antagonismus der Systeme aufzubrechen und Emanzipationsprozesse wieder denkbar und möglich zu machen (EPT 1960, S. 141ff.). Er plädierte also für eine umfassende Rückeroberung radikal-demokratischer Selbsttätigkeit, die seiner Meinung nach schnell an die Grenzen des Bestehenden, an den Bruchpunkt herrschender Verhältnisse gerate und so eine neue, revolutionäre Dynamik anzunehmen versprach (ebd., S. 303).2 Schon damals zeichnete ihn jedoch aus, dass er diesen linken Neubeginn nicht als harmonischen Vorgang verstand. Zeitlebens brauchte Thompson den konkreten Anderen, um sich an ihm zu reiben und abzuarbeiten. Und weil das Dialogische bei ihm vom Konfrontativen nicht zu trennen war, schreckte er auch nicht davor zurück, innerlinke Meinungsdifferenzen zuzuspitzen, wenn er beispielsweise einem Teil seiner jung-linken Genossen im Übergang zu den sechziger Jahren vorwarf, die kulturelle Theorie und Praxis zu verabsolutieren und die klassische soziale Bewegung, die alte, radikale Arbeiterbewegung in der eigenen politischen Theorie und Praxis zu vernachlässigen (vgl. Lin Chun 1996, Kap. II). War jedoch sein streitbares Engagement ein in aufsteigenden Bewegungen belebendes Element, zeigte sich die Schattenseite desselben mit der Bewegungsflaute, die Anfang der Sechziger vorübergehend eintreten sollte. Mit der Ebbe nach der Flut einer ersten Neuen Linken spaltete sich auch ihr führendes Selbstverständigungsblatt, die von Thompson mitbegründete New Left Review, und eine jüngere Generation übernahm das redaktionelle Ruder. 1 2 Die inhaltlichen Parallelen zu dem deutschen Marxisten und Sozialisten Leo Kofler, der kurz zuvor seine Theorie der progressiven Elite entwickelt hatte und dabei zu ganz ähnlichen Beschreibungen griff, sind hier auffallend, vgl. Jünke 2007, Kap. 5, 6. Auch hier finden sich interessante Parallelen zu einem Vordenker der deutschen Neuen Linken: Peter Brückners Arbeiten der frühen wie späten 1960er Jahre versuchen sich gerade an dieser Dialektik von Demokratie und Sozialismus (vgl. Kapitel 8). 158 Der marxistische Historiker Bis Anfang der sechziger Jahre sah sich Thompson nicht nur als Historiker, sondern mehr noch als politischer Aktivist und intellektueller Freigeist. Seit der Mitte der fünfziger Jahre betätigte er sich vor allem als Autor und Herausgeber von Büchern und Zeitschriften wie dem New Reasoner und der frühen New Left Review. Er war vor allem Aktivist und Organisator jener britischen Kampagne für nukleare Abrüstung (CND), die das Muster auch für die deutsche Ostermarschbewegung zu Beginn der sechziger Jahre abgeben sollte. Mit den zunehmenden Auseinandersetzungen mit seinen eigenen Genossen jedoch zog sich Thompson zurück und nutzte die Zeit, nun endlich seine jahrelangen Archivstudien zu jenem umfangreichen Manuskript zu vollenden, das 1963 unter dem bewusst mehrdeutigen Titel The Making of the English Working Class erschien und schnell zu einem der bedeutendsten Pionierwerke der neueren, sozialwissenschaftlich orientierten Geschichtsschreibung werden sollte. »Es heißt Making, denn was hier untersucht wird, ist ein aktiver Prozess, Resultat menschlichen Handelns und historischer Bedingungen. Die Arbeiterklasse trat nicht wie die Sonne zu einem vorhersehbaren Zeitpunkt in Erscheinung; sie war an ihrer eigenen Entstehung beteiligt.« (EPT 1963/68, S. 7) Thompson beschreibt hier, in der Einleitung, jene Perspektive einer »Geschichte von unten«, die man in seinem monumentalen Werk als alternative Gegengeschichte gegen die herrschende Geschichtsschreibung großer Persönlichkeiten, Institutionen und Strukturen, entfaltet findet. Damit hatte er sein geschichtswissenschaftliches Thema gefunden: eine Geschichtsschreibung vergangener Klassenkämpfe, die die Besiegten der Geschichte, ihre Kämpfe und Vorstellungen, ihre Kultur und ihren Widerstandsgeist wieder lebendig werden lässt. In seiner über eintausend Seiten starken Geschichte der Entstehung der englischen Arbeiterklasse zeichnet Thompson Politik, Ökonomie und Kultur des am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufkommenden industriellen Kapitalismus detailliert nach, die Kämpfe und Lebensbedingungen der arbeitenden Massen ebenso wie die indigenen und exogenen Traditionen des britischen Nonkonformismus, die Welt der Wanderarbeiter, Verschwörer, Ludditen u.v.a. Später, Ende der 1960er- und während der 1970er-Jahre, sollte er diese Analysen und Erkenntnisse um zahlreiche und zumeist umfangreiche Aufsätze zur »moralischen Ökonomie« der Unterschichten im 18. Jahrhundert ausweiten. Auf der Suche nach der sozialen Logik plebejischen Aufbegehrens widmete er sich fortan 159 der Untersuchung der Hunger- und Brotrevolten und den in ihnen zutage tretenden spezifisch rationalen Wertvorstellungen. Der Kampf gegen den Hunger und für die menschliche Würde verbindet sich in dieser frühen Arbeiterbewegung mit dem Kampf um Freiheit und Demokratie, mit dem Kampf um die Freiheit zur Artikulation und Organisierung der eigenen sozialen Bedürfnisse und Interessen. Thompson verfolgt in diesen Texten die teils schleichende, teils gewaltsame Durchsetzung von Bargeldkultur und industriellem Zeitgefühl, beschreibt und analysiert die ritualisierten Formen von Feindseligkeit innerhalb der plebejischen Unterschichten und das in ihnen sich manifestierende und von dem heutigen so verschiedene Rechtsverständnis (vgl. EPT 1975, 1980a).3 Bei diesem von Klassenstrukturen durchwebten volkskulturellem Brauchtum geht es, wie er darstellt, weniger um bloße Reflexe auf ökonomische Zumutungen als vielmehr um eigenständige Legitimitätsvorstellungen, in denen »Männer und Frauen in dem Bewusstsein handelten, traditionelle Rechte und Gebräuche zu verteidigen, und […] sich hierbei im allgemeinen auf die breite Zustimmung des Gemeinwesens stützen konnten«, da dieser volkstümliche Konsens »auf einer in sich geschlossenen, traditionsbestimmten Auffassung von sozialen Normen und Verpflichtungen und von den angemessenen wirtschaftlichen Funktionen mehrerer Glieder innerhalb des Gemeinwesens [beruhte]. […] Eine gröbliche Verletzung dieser moralischen Grundannahmen war ebenso häufig wie tatsächliche Not der Anlass zu direkter Aktion.« (EPT 1980a, S. 69f.) Diese kollektiv geteilten Vorstellungen gesellschaftlicher Rechte, diese klassenkulturellen Mentalitäten erwiesen sich im 18. Jahrhundert, so Thompsons These, als besonders resistent gegen den aufkommenden Geist des Industriekapitalismus, nicht zuletzt, weil sie in einer von den Mächtigen unantastbaren Weise Gesellschaften innerhalb der Gesellschaft bildeten. So wurde die Durchsetzung des modernen Industriekapitalismus nicht nur vom Kampf gegen Armut und Elend begleitet, sondern auch 3 Ein anderer Linksdissident der Arbeiterbewegung, Hendrik de Man (1927, S. 27f.), hat dies interessanterweise schon in den zwanziger Jahren thematisiert: »Die sozialistische Arbeiterbewegung ist nicht das Produkt des Kapitalismus, sondern die Folge einer Einwirkung des Kapitalismus auf vorkapitalistische sittliche und rechtliche Empfindungen. Diese Empfindungen sind hauptsächlich begründet im Feudalismus, im Handwerkertum, in der Ethik des Christentums und in den Rechtsnormen der Demokratie. […] Was dagegen die neuen Fabrikarbeiter zum Defensivkampfe führte, war weniger ein Verlust an Einkommen als ein Verlust an Unabhängigkeit, Arbeitsfreude und Existenzsicherheit, eine wachsende Spannung zwischen schnell vermehrten Bedürfnissen und weniger schnell verbessertem Verdienst; dazu kam das Gefühl eines Widerspruchs zwischen den sittlichrechtlichen Grundlagen des neuen Arbeitssystems und den Überlieferungen des alten. […] Es ist weniger der Erwerbssinn als das Rechtsempfinden, das sich dagegen [gegen die neue Ungerechtigkeit; CJ] auflehnt.« 160 vom Kampf für diese volkstümlichen Traditionen und gegen die Auflösung derselben durch die neuen Imperative einer immer umfassender marktförmig organisierten und geregelten Industriegesellschaft. Diese ritualisierten Kämpfe und Gebräuche haben zwar auf den ersten Blick etwas zutiefst Konservatives (das Alte bewahren Wollendes), nichtsdestotrotz sind es Formen der Rebellion gegen Entmündigung, Entrechtung und Ausbeutung, Ausdruck einer moralischen Ökonomie der plebejischen Unterschichten, die gegenkulturelle Werte und eine Sehnsucht nach einer anderen Moderne verkörperten – und denen man sich nur zu nähern vermag, wenn man die geschichtswissenschaftlich notwendige intellektuelle Strenge mit dem Respekt vor dieser historisch gewachsenen Erfahrung zu verbinden verstehe (EPT 1997, S. 31). Thompson ging es in seinen historischen Arbeiten aber nicht nur darum, den vergangenen Kämpfen des plebejischen Radikalismus ihren Eigensinn wiederzugeben und die historische Einzigartigkeit der gewaltsam durchgesetzten kapitalistischen Produktionsweise nicht vergessen zu lassen – das allein wäre bereits Rechtfertigung genug für sie –, sondern auch darum, mit dieser Erinnerungsarbeit zur Reaktivierung rebellischer Traditionen beizutragen. Geschichtsschreibung fungiert hier also auch als Mittel der Kritik, als Mittel, ideologische Denkgewohnheiten neokapitalistischer Geschichtslosigkeit aufzubrechen und das für selbstverständlich Genommene in Frage zu stellen. Sie dient dazu, gegen die dem Kapitalismus eigene Marktlogik zuallererst anzudenken und aufzuzeigen, dass der Kapitalismus nicht als das von seinen Apologeten behauptete natürliche Ergebnis menschlicher Geschichte betrachtet werden sollte – dass der Markt kein unvermeidbares, natürliches, ewig währendes Gesetz ist, wie besonders Ellen Meiksins Wood in ihren historischen Arbeiten im direkten Anschluss an Thompson immer wieder betont hat (vgl. Wood 1991, 1995, 2002). Ob die Taten der Menschen im Lichte späterer Entwicklungen berechtigt waren oder nicht, schreibt Thompson im Vorwort zur Entstehung der englischen Arbeiterklasse, »sollte nicht unser einziger Beurteilungsmaßstab sein. Schließlich stehen auch wir nicht am Ende der gesellschaftlichen Entwicklung. Manche Niederlage der arbeitenden Menschen während der Industriellen Revolution vermittelt uns vielleicht Einblicke in soziale Missstände, die es immer noch zu beseitigen gilt. Im Übrigen hat es der größere Teil der Welt heute mit Problemen der Industrialisierung und der Schaffung demokratischer Institutionen zu tun, die in vielerlei Hinsicht den englischen Erfahrungen während der Industriellen Revolution entsprechen, Kämpfe, die in England verloren wurden, lassen sich in Asien oder Afrika vielleicht noch gewinnen.« (EPT 1963/68, S. 12) 161 Fast 30 Jahre später, in der Einleitung zu seinem umfangreichen Spätwerk Customs in Common von 1991, kommt er auf dieses Thema abermals explizit zu sprechen und nimmt nun vor allem auf das »kommunistische« China kritischen Bezug, das seit den achtziger Jahren einen rasanten Prozess kapitalistischer Landnahme durchmachte. Abermals betont er hier, dass man natürlich nicht mehr zur vorkapitalistischen menschlichen Natur zurückkehren könne, dass jedoch die Erinnerung an alternative Bedürfnisse, Hoffnungen und Wertvorstellungen »unseren Sinn für die in unserer Natur liegenden Möglichkeiten erneuern« und uns »sogar für eine Zeit vorbereiten [könnte], in der sowohl kapitalistische wie staatskommunistische Bedürfnisse und Erwartungen zerfallen und die menschliche Natur zu neuer Form überarbeitet werde« (EPT 1991, S. 15). Einmal mehr geht es ihm hier also auch um eine Bewusstseinsreform, um eine ethische Neuausrichtung, ohne die das objektiv Mögliche nicht wirklich werden könne. In der Vergangenheit von sozialen und gesellschaftlichen Kämpfen immer auch ihre erneute Möglichkeit und die damit möglichen Lehren jener für diese zu erkennen – diese moralische Leidenschaft, mit der Thompson immer wieder politisch-theoretische Gegenwartsbezüge seiner historischen Forschungen zum 18. und 19. Jahrhundert hervorhob, macht jenen eminent politischen Charakter des engagierten Historikers aus, den Thompson zeitlebens pflegte und der ihn selbst über seine marxistischen Historiker-Kollegen hinaushob: »Jede größere und fast jede kleinere Arbeit, die er geschrieben hat«, so Perry Anderson in seiner anregenden Auseinandersetzung mit Thompsons Oeuvre, »endet mit einer direkten und bekennenden Reflektion über die Lehren für zeitgenössische Sozialisten. William Morris endet mit einer Diskussion des ›moralischen Realismus‹; Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse erinnert uns an unsere Verpflichtung gegenüber dem vom frühen englischen Proletariat gepflanzten ›Freiheitsbaum‹; Whigs and Hunters endet mit einer allgemeinen Aufwertung der ›Herrschaft des Rechts‹; ein Essay wie ›Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus‹ sinnt über die in einer kommunistischen Gesellschaft der Zukunft mögliche Synthese von ›alten und neuen Zeitverständnissen‹ nach, die das ›Problem der Freizeit‹ übersteigt. Jeder dieser Texte [und das ließe sich auch für alle späteren Arbeiten noch aufzeigen; CJ] war auf seine Weise ebenso eine Intervention in die Gegenwart wie eine professionelle Entdeckung der Vergangenheit.« (Anderson 1980, S. 1f.) 162 Die internationale Wirkung seines Werkes über die Entstehung der englischen Arbeiterklasse und seiner diversen Studien zur moralischen Ökonomie der plebejischen Unterschichten kann jedenfalls kaum überschätzt werden.4 Thompson galt fortan als Pionier einer modernen, kritischen Geschichtswissenschaft. Und als besonders streitbar und fruchtbar erwies sich dabei der seinem Gesamtwerk zugrunde liegende Klassenbegriff. Klasse verstand er nicht als bloße Kategorie oder als Struktur, nicht als abgeleitetes Phänomen einer alles beherrschenden Ökonomie oder als Erfüllungsgehilfen einer allwissenden Partei. Die Klasse, schreibt er, »existiert nicht, um ein ideales Interesse oder Bewusstsein zu zeigen oder als Patient auf dem Seziertisch zu liegen«. Sie ist vielmehr ein zutiefst historisches Produkt, etwas Fließendes, aktiv handelnd zu Konstruierendes, »etwas, das sich unter Menschen, in ihren Beziehungen, abspielt«, etwas, das ohne die Kategorie von »Erfahrung« nicht gedacht und verstanden werden könne und das wir als »Muster in ihren Beziehungen, ihren Ideen und ihren Institutionen« zu erkennen vermögen. Klassenanalyse bei Thompson ist die Analyse von Klassenbewusstsein: »Indem Menschen ihre eigene Geschichte leben, definieren sie Klasse, und dies ist letzten Endes die einzige Definition.« (Alle Zitate nach EPT 1963/68, S. 7ff.; vgl. auch Vester 2008) Klassenformationen entstehen ihm also am Schnittpunkt zwischen Determinierung und Selbsttätigkeit, sind weder ableitbar noch auf ihre Funktion im gesellschaftlichen Ganzen zu reduzieren (EPT 1978/80, S. 158). Thompsons theoretische Zuspitzung wurde zu einer mächtigen Waffe im Kampfe gegen den mechanischen Determinismus großer Teile der traditionellen Linken. Seine Reaktivierung aktivistischer Elemente im marxistischen Theoriegebäude war aber, trotz aller Vorwürfe und Problematik, keine Abkehr vom Materialismus, kein philosophischer Idealismus. Sie war vielmehr immanenter Teil der neu-linken Rückkehr zur Dialektik – »Dialektik, verstanden als Logik des Prozesses«, wie er es in Anlehnung an Marxens Grundrisse einmal nannte (ebd., S. 164). Marxistische Theorie sei mehr als bloße Ökonomiekritik, so wie Marx mehr geschrieben habe als bloß Das Kapital. Letzteres ist für Thompson ein Werk nicht der Geschichtsschreibung, sondern der (theoretischen) Politischen Ökonomie. Es ist, wie er es später formulieren wird, eine Studie über die Logik des Kapitals, nicht aber über den Kapitalismus als historisch-konkretes Gesellschaftssys4 In Westdeutschland wurden die Thesen Thompsons wesentlich aus zweiter Hand vermittelt, durch Michael Vesters Arbeit Die Entstehung des Proletariats als Lernprozess, Frankfurt/M. 1970. Thompsons Arbeit über Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse erschien hier erst im Jahre 1987. 163 tem (ebd., S. 112). Die im Kapital analysierten Bewegungsgesetze sind ihm keine ehernen Gesetze der Geschichte, haben nichts Naturwissenschaftliches an sich. Sie bringen vielmehr die immanente Logik eines Prozesses zum Ausdruck, die die wirkliche Geschichte form- und richtunggebenden Zwängen aussetzt und ihr Grenzen setzt (ebd., S. 135, 219). Es herrscht hier kein Determinismus der Strukturen, aber es vollziehen sich determinierte Prozesse, und »die Logik des kapitalistischen Prozesses [kommt] in allen Tätigkeiten einer Gesellschaft zum Ausdruck und [übt] einen bestimmenden Einfluss auf ihre Entwicklung und Form aus« (ebd., S. 109). Gerade das mache den Unterschied zwischen dem Marxismus als einem theoretischen System und dem Marxismus als einer Tradition aus: dass man die Marxsche Dialektik nicht nach Lehrbuch anwenden könne, dass sie vielmehr eine praktische Methode sei, eine »durch Praktizieren erlernte Praxis, so dass in diesem Sinne Dialektik nie fixiert oder auswendig gelernt werden kann. Sie kann nur durch eine kritische Lehrzeit in solcher Praxis selber erlernt werden.« (Ebd., S. 167) Theorie war für Thompson, wie er einmal sagte, ein guter Diener, aber ein schlechter Herr. Sie müsse sich von Erfahrung und Empirie leiten lassen, dürfe diesen jedoch nicht entgegengesetzt werden. Ein solches Primat von Empirie und Erfahrung ist keine Ignoranz der Theorie, sondern die pointierte Warnung vor deren Verabsolutierung. Anders als für viele zeitgenössische und spätere Marxisten blieb für Thompson das alte Marxsche Diktum aktuell, dass die Kritik nicht die Leidenschaft des Kopfes, sondern der Kopf der Leidenschaft zu sein hat. Man mag hierin auch den Einfluss eines typisch britischen Pragmatismus und Empirismus erkennen, doch theorielos ist es nicht – und die Geschichte des Marxismus im 20. Jahrhundert dürfte eine solche Sicht eher bestätigen als widerlegen. Hegemoniekämpfe innerhalb der Neuen Linken Nach dem Erfolg seines Werkes über die englische Arbeiterklasse bekam Thompson einen universitären Posten in Warwick, auf dem er sich fortan jenen Studien zur plebejischen Volkskultur widmete, mit denen er in den sechziger und siebziger Jahren weltweit berühmt und zum Vorreiter sozialgeschichtlicher und kulturwissenschaftlicher Ansätze wurde. Aber auch sein politisches Engagement gab er nicht auf und mischte sich weiter öffentlich ein, beispielsweise als er sich in den Jahren 1966/67 an der kollektiven Erarbeitung des May Day Manifesto beteiligte, einem der programmatischen Schlüsseldokumente der britischen 68er-Revolte. 164 Das im renommierten Penguin-Verlag in hoher Auflage verbreitete manifestartige Werk griff vor allem das vorherrschende technokratische Gesellschaftsdenken der damaligen sozialdemokratischen Labour-Regierung frontal an, dem die allseits im Munde geführte Modernisierung bloßes technisches Mittel sei, mit der Vergangenheit zu brechen, ohne jedoch Zukunft wirklich zu gestalten. Die (auch ein halbes Jahrhundert später noch immer erstaunlich verbreitete) Modernisierungs-Rhetorik wird hier als Theologie eines neuen Kapitalismus entlarvt, als Ideologie einer ewig währenden Gegenwart, die den Horizont von Veränderungen zwar öffne, diesen Wandlungsprozess aber gleichzeitig wieder verschleiere und ihm herrschaftliche Grenzen setze. Ganz im Thompsonschen Geiste wird im May Day-Manifesto auch die revolutionäre Romantik gegen technokratische Fortschrittsgläubigkeit beschworen, die Tradition einer romantisch motivierten Kritik der industriell-kapitalistischen Zivilisation – wie gesagt, nicht im Sinne einer Rückkehr in die vorkapitalistische Vergangenheit, sondern als mentale Kraftquelle für die Kämpfe um eine nachkapitalistische Zukunft (Williams 1980, S. 44f.) – Michael Löwy und Robert Sayre (1996) sehen in dieser Wiederentdeckung und Neuformulierung der romantischen Vision das originelle, »sich unauslöschlich einprägende Leitmotiv« von Thompsons Werk, seine subversive Kraft. Auch wenn er also im bewegten Jahr 1968 durchaus präsent gewesen ist, eine führende Rolle sollte Thompson damals nicht mehr spielen. Gerade seine in den politisch-sozialen Kämpfen der dreißiger und vierziger Jahre verwurzelte, konzeptionelle Volkstümlichkeit, sein Anknüpfen an den gleichsam indigenen Traditionen eines britischen Sozialismus hatte ihn bereits Mitte der sechziger Jahre in einen scharfen Konflikt mit der nun von Perry Anderson, Tom Nairn und anderen geführten New Left Review verwickelt. Diese zweite Generation Neuer Linker hatte die Zeitschrift für den kontinentalen Marxismus, den sogenannten »westlichen Marxismus« geöffnet und das Erbe des auch von Thompson und seiner Generation überwiegend vernachlässigten internationalen revolutionären Sozialismus (Luxemburg, Lukács, Korsch, Gramsci, Trotzki u.a.) zunehmend aufgearbeitet. Auf deren heftige Abrechnung mit der auch von Thompson verkörperten und als »Empirismus« und »Moralismus« beschimpften Tradition britischer Linker hatte dieser mit ebenso heftigem Temperament reagiert, wollte »englische Poesie und moralische Kritik nicht gegen deutsche Philosophie und Soziologie tauschen«, wie er es einmal nannte. Stattdessen arbeitete er eng zusammen mit den Machern des Socialist Register, dem internationalen linken Jahrbuch, das 165 1964 von Ralph Miliband und John Saville als eine Art Gegenprojekt zur New Left Review begründet wurde. Und er wetterte gegen jene im revoltierenden Bürgertum wurzelnde Intellektuellenbewegung, die vom »expressiven und rationalistischen, von sich selbst berauschten Stil der Gesten, der mit einer ernsthaften, festverwurzelten rationalen revolutionären Tradition nichts gemein hat« (nach Palmer 1994, S. 81), geprägt sei und aus dieser gesellschaftlichen Isolation eine Tugend machen würde. Dem neuen studentischen Linksradikalismus und dem sich in diesem ausdrückenden linken Substitutionalismus (bspw. eines Herbert Marcuse) gegenüber hatte der libertäre Altkommunist starke Vorbehalte, die er gerne pflegte. Von der Theorie einer hoffnungslos integrierten oder ideologisch angepassten Arbeiterklasse hielt er nicht viel, denn auch die modernen Arbeiter würden ihre Ausbeutung spüren, seien renitent und politisierbar.5 Thompson suchte trotzdem gemeinsame Kampfmöglichkeiten, mischte sich aktiv ein in die inneruniversitären Kämpfe um die Reform des Hochschulwesens (vgl. EPT 1971). Doch die Widersprüche blieben selbst hier deutlich. Die universitäre Welt wurde ihm bald schon wieder zu eng und zeitaufreibend. Der nonkonformistische Freigeist wollte sich wieder mehr dem Schreiben widmen, verließ 1970 die Alma Mater und betätigte sich fortan erneut, mit vorübergehenden Ausnahmen, als freier Autor im Kampfe für eine radikale Demokratisierung der britischen Gesellschaft. Im Kampf gegen den Leviathan des bürgerlichen Staates, gegen seine – ganz gleich, ob unter konservativer oder sozialdemokratischer Hegemonie – medienindustriell abgesicherten Geschäftsgrundlagen und seine spezifisch britischen Tendenzen zu einem autoritären, starken Staat, knüpft hier der radikale Demokrat und Sozialist an seinen alten Analysen an und greift fortan in kurzen und langen Zeitschriften-Beiträgen in die britische öffentliche Diskussion ein. Thompson schreibt gegen den autoritären Staat an, liest dessen Tendenzen allerdings als Produkt einer strukturellen Instabilität des herrschenden Systems. (Vgl. EPT 1980b) Beides, der Kampf gegen die autoritäre britische Gesellschaft wie der Kampf gegen jede Art des marxistischen oder antimarxistischen Dogmatismus, gehörte für ihn untrennbar zusammen, denn wirklich demokratisieren könne eine bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsform nur eine sozialistische Politik, die selbst in der Lage ist, radikal-demokratische Bedürfnisse immer wieder zu wecken und politisch sowohl vorzuleben wie auch umzusetzen. Mit feiner Sensibilität 5 Auch hier liegen die Parallelen zu Leo Kofler auf der Hand (vgl. Jünke 2007, S. 475 ff.). 166 erkannte er deswegen nicht nur problematische Tendenzen innerhalb der neuen oppositionellen Gegenkultur, sondern auch die Versuche der Regierenden, diesen gesellschaftlichen Aufbruch nach 68 wieder in herrschaftskonforme Bahnen zurück zu zwängen.6 Und so wie er sich mit jenen jungen Linksradikalen anlegte, ging er auf Distanz auch zu jenen alten Genossen, die die Kritik der »Jungtürken« dazu benutzten, ihren Frieden mit dem herrschenden Status Quo zu machen. Dies ist der Hintergrund seiner Diskussion mit Leszek Kolakowski, dem einstmaligen polnischen Vordenker der Neuen Linken, der damals von einer ironischen Kritik der jungen Linken zu deren offener Beschimpfung übergegangen war. In seinem hundertseitigen Offenen Brief an Kolakowski setzt sich Thompson 1973 in konziliantem Ton, aber hart in der Sache mit dessen antimarxistischer konservativer Wende auseinander. Er entlarvt Kolakowskis konservativen Elitismus und verteidigt, trotz aller auch hier bemerkenswert scharfen Kritik, die jungen Barrikadenstürmer, denen es »nur« an biografischer und geistiger Verwurzelung in größeren Volksbewegungen fehle (EPT 1973, S. 84). Durch diese politische Diskussion hindurch führt Thompson aber auch hier eine ausgesprochen interessante Auseinandersetzung mit Fragen der Theorie und Methodologie einer marxistischen Geschichtsbetrachtung, die auf eine zunehmende intellektuelle Rechenschaftslegung seines eigenen Marxismus-Verständnisses hinauslief und sich mit den allgemeinen politischen wie intellektuellen Suchbewegungen der siebziger Jahre auch bei ihm selbst intensivierte. Gipfeln sollte diese Rechenschaftslegung in seiner 1978 veröffentlichten Abrechnung mit dem französischen Marxisten Louis Althusser, dem Säulenheiligen einer ganzen Generation junger Intellektueller. In seinem umfangreichen und furios polemischen Essay über Das Elend der Theorie setzt sich Thompson am Beispiel Althussers und seiner Schule mit Kerntheoremen des strukturalistischen Marx-Verständnisses ebenso kritisch wie scharf auseinander. In der intellektuellen Modetheorie der siebziger Jahre konnte er kaum mehr als eine intellektuelle Spinnerei erkennen, warnte aber gleichzeitig davor, diese nicht ernst zu nehmen, oder sich nicht mit ihr auseinanderzusetzen, denn auch ideengeschichtliche Spinnereien könnten, wenn man sie toleriere, hofiere und hege, eine erstaunliche Wirksamkeit und Langlebigkeit entfalten. 6 Ganz ähnlich im Deutschen bei Peter Brückner. 167 Der französische Philosoph und Parteikommunist Althusser hatte mit seiner strukturalistischen Marx-Interpretation sowohl humanistische wie hegelianische Marx-Interpretationen herausgefordert und von einem strikten »theoretischen Antihumanismus bei Marx« als der »absolute[n] Bedingung der […] Möglichkeit der Erkenntnis der menschlichen Welt als solcher« gesprochen (Althusser 1965/2011, S. 292). Für Thompson bediente Althusser damit einen »ahistorischen Theoretizismus, der sich schon auf den ersten Blick als Idealismus entpuppt« (EPT 1978/80, S. 42). Und ausführlich lässt er sich in seiner umfangreichen Schrift auf eine erkenntnistheoretische Widerlegung der Althusserschen Epistemologie ein. Auch hier tritt er durchaus nicht als Theorieverächter auf, wie der zu Missverständnissen einladende Titel mit seiner Anspielung auf Karl Marx‘ einflussreiche Schrift über Das Elend der Philosophie zu suggerieren scheint. So wie Marx damit keiner Philosophie-Verachtung das Wort reden wollte, will auch Thompson »lediglich« vor der Armut/Dürftigkeit einer sich selbst genügenden Theoriearbeit warnen und die Geschichte einmal mehr vor den Anmaßungen der Theorie verteidigen. Seiner Ansicht nach lasse Althusser den notwendigen Dialog zwischen gesellschaftlichem Sein und gesellschaftlichem Bewusstsein außer Acht, denn gesellschaftliches Sein werde ebenso gedacht wie Denken gelebt werde, und Erfahrung entstehe zwar spontan, »aber sie entsteht nicht ohne Denken; sie entsteht, weil Männer und Frauen (und nicht bloß Philosophen) vernunftbegabte Wesen sind und darüber nachdenken, was mit ihnen und der Welt geschieht« (ebd., S. 47). Althusser dagegen habe keinen zureichenden Begriff von Erfahrung und keine angemessenen Kategorien zur Erklärung von Widerspruch, Veränderung und Klassenkampf, verwechsele den notwendigen empirischen Dialog mit Empirismus, den wesentlich historischen Materialismus mit Historizismus, und sei entsprechend unfähig, mit Fragen der Werte, der Kultur und der politischen Theorie umzugehen. Sein statischer Strukturalismus leite sich vielmehr »von einer begrenzten Form akademischer Lernprozesse ab« und gedeihe v.a. in der »sozialen Nische […] der bürgerlichen Lumpen-Intelligenz« (ebd., S. 41ff.). Der inhaltlichen Sache nach begreift Thompson Althussers Theorieproduktion vor allem »als Ausdruck einer allgemeinen ideologischen Polizeiaktion« gegen das auch von ihm selbst geteilte »humanistische« Marxismus-Verständnis, »als den Versuch, den Stalinismus auf theoretischer Ebene zu rekonstruieren« (ebd., S. 187). Denn würde man diesen praktischen, historischen Stalinismus in ein konsistentes theoretisches System übersetzen wollen, 168 »dann würden wir eine THEORIE entwerfen, in der eine genaue empirische Analyse seiner Praktiken aufgrund erkenntnislogischer Prinzipien nicht zugelassen wäre (›Empirismus‹); in der jede moralische Kritik grundsätzlich verboten wäre (›Moralismus‹); in der die universelle Gültigkeit leninistischer Formen (allerdings von Formen in einem fortgeschrittenen Stadium bürokratischer Degenerierung) ungeprüft vorausgesetzt würde (der charakteristische theoretische Kurzschluss, das Proletariat = die Partei); in der ein strukturalistischer Reduktionismus einerseits die fundamentale Gesundheit des sowjetischen Systems in Gestalt seiner angeblich sozialistischen ökonomischen ›Basis‹ garantiert (und dabei alle politischen, rechtlichen und kulturellen Fragen auf zweit- oder drittrangige Bereiche abschiebt) und andererseits jede materialistische historische Analyse dieses Systems für unzulässig erklärt (›Historizismus‹); in der Männer und Frauen als Träger unabwendbarer struktureller Determinationen gesehen werden (›Humanismus‹) und in der es deshalb leichter fällt, sie als ›verkommene Elemente‹ oder als Dinge zu betrachten. Und dies alles finden wir vereinigt in einer Vorstellung von THEORIE als einem geschlossenen System und als einer ›Wissenschaft‹, eine THEORIE, die in ihrem Wesen begriffen werden kann mittels rigoroser Kontemplation von Texten, die mehr als hundert Jahre vor den größeren historischen Ereignissen, die diese Theorie erklären soll, geschrieben worden sind. Kurzum, der Althusseranismus ist der Stalinismus, reduziert auf das Paradigma der THEORIE. Er ist letztlich ein als Ideologie theoretisch gefasster Stalinismus.« (Ebd., S. 245f.) Mehr noch als an allem anderen, was er zeitlebens schrieb und tat, sollten sich an Thompsons fulminanter Invektive gegen Althusser die Geister fortan nachhaltig scheiden. Die Sache selbst und ihr Stil schienen nur ein Entweder-Oder, ein entweder dafür oder dagegen, zuzulassen. Louis Althusser als Hohepriester des Stalinismus? War dieser nicht viel mehr ein vom Maoismus beeinflusster linker Kritiker kommunistischer Anpassungstendenzen, ein aufrechter Verteidiger der Revolten innerhalb des offiziellen Kommunismus, fragte Perry Anderson in einem umfangreichen Buch, in welchem er sich mit Thompson so kritisch wie wohlwollend auseinandersetzte und den französischen Philosophen nach allen Regeln der historischen Zunft verteidigte. »Nicht die geringste Rechtfertigung« gebe es »für Thompsons Präsentation Althussers als einen – den – vollkomme169 nen Stalinisten« (Anderson 1980, S. 112). Schaut man jedoch genauer hin, so hat Thompson gerade dies nie behauptet. Konsequent vermieden hat er in seiner Streitschrift die Behauptung, dass Althusser selbst ein Stalinist gewesen sei. Immer wieder sprach er stattdessen unpersönlich vom Althusserianismus, von Althussers erkenntnislogischem Standpunkt, von Althussers theoretischer Praxis usw. usf. Thompson zielte mit seiner Polemik gerade nicht auf den sozialgeschichtlichen Stalinismus und die historische Person Althusser, sondern auf dessen theoretische Position und den Stalinismus als ein theoretisches Gedankengebäude. Thompson kommt es hier explizit auf die »ideologische Logik« (EPT 1978/80, S. 193) des Stalinismus an. Auch für ihn war der Stalinismus »eine Sache der Vergangenheit. Wir aber sind schon auf dem Weg in die Zukunft. Und dennoch, ist er wirklich eine Sache der Vergangenheit? Er war ja nicht bloß ein bestimmtes historisches Ereignis, sondern auch eine der größten Katastrophen des menschlichen Denkens und Gewissens, eine Endstation des Geistes […] Wenn wir den Stalinismus in seinem zweiten Sinne als ein System von institutionellen Formen, Praktiken, abstrakten Theorien und Herrschaftsverhalten verstehen, dann ist die ›nachstalinistische Generation‹ noch nicht geboren worden. Der Stalinismus in diesem Sinn steht für uns heute auf der Tagesordnung, und seine Ausformungen und Methoden lasten7 ›wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden‹. Und die Lebenden (ganz gleich, welcher Generation sie angehören) müssen all ihre Kraft zusammennehmen, um diesen Alp abzuschütteln.« (Ebd., S. 196) Thompson nimmt hier also den Faden seines Antistalinismus-Essays von 1957 wieder auf und behandelt den Stalinismus zu analytischen Zwecken nicht als historischen Stalinismus, sondern als »spezifische ideologische Denkweise« (ebd., S. 198), um den im Althusserianismus versteckten stalinistischen Theoriegehalt herauszukitzeln. Thompson betreibt hier also keine Geschichtswissenschaft, sondern Ideologiekritik und politische Theorie – und deswegen verfehlt hier Perry Andersons (in vielem anderen einleuchtende) Thompson-Kritik den Kern der Sache. 7 Auch die deutsche Übersetzung hatte aufschlussreiche Schwierigkeiten mit Thompsons Gedankengang: Sie macht hier fälschlicherweise aus der im Original benutzten Gegenwartsform »lasten« die Vergangenheitsform »lasteten«. 170 Das Elend der Theorie ist eine polemisch zugespitzte Kritik nicht der Person Althussers, sondern seines theoretischen Ansatzes. Und es ist schon gar keine Kritik Althussers allein, denn der maoistisch beeinflusste französische KP-Theoretiker steht hier nur als prononcierter Vordenker jenes philosophischen Linksradikalismus der »roten« siebziger Jahre, der trotz seiner vermeintlichen Radikalität in vielem, praktisch wie theoretisch, allenfalls halb entstalinisiert gewesen ist. Thompson selbst sah sich seit langem im gleichermaßen theoretischen wie praktischen Kampf gegen einen mechanischen Determinismus, der sich als Marxismus maskiere (EPT 1994, S. 103) und die Menschen zu vermeintlich willfährigen Ausführungsorganen eines geschichtlichen Zwangscharakters namens KAPITAL mache. Dieser Kampf für eine sozialistisch-humanistische Selbsttätigkeit war ihm seit den Fünfzigern gleichbedeutend mit seinem erbitterten Kampf gegen jede Form des Elitismus, den er nun, in den siebziger Jahren, gerade im westlichen Marxismus am Werke sah. Nichts sei typischer, schreibt er im Elend der Theorie, »und für den westlichen Marxismus enthüllender, als seine von Grund auf antidemokratischen Prämissen. Ob Frankfurter Schule oder Althusser, sie sind geprägt durch die sehr starke Betonung, die sie auf den unentrinnbaren Druck ideologischer Herrschaftsformen legen, auf eine Herrschaftsform, die jeglichen Raum für Initiative und Kreativität der Masse der Menschen zerstört, eine Herrschaft, von der sich nur eine aufgeklärte Minderheit von Intellektuellen freikämpfen kann. Diese ideologische Prädisposition wurde zweifellos gefördert durch die schrecklichen Erfahrungen des Faschismus, die Massenindoktrination durch die Medien und durch den Stalinismus selbst. Doch es ist eine traurige Prämisse, von der eine sozialistische Theorie ausgehen sollte (alle Männer und Frauen, mit Ausnahme von uns, sind ursprünglich dumm), eine Prämisse, die zu pessimistischen oder autoritären Schlüssen führen muss. Außerdem fördert sie mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit die Abneigung des Intellektuellen, sich auf praktische politische Aktivität einzulassen. Ohne Zweifel kann sich das (ideale) Proletariat, in dieser oder jener kritischen Konstellation in der Art einer geologischen Verwerfung in eine revolutionäre Haltung verschieben, wo es dann bereit sein wird, die Segnungen der THEORIE zu empfangen. Warum sollte man sich denn in der Zwischenzeit die Mühe machen, zu kommunizieren – zu erziehen, 171 zu agitieren und zu organisieren, da die Vernunft ja ohnehin nicht die Macht hat, die Nebel der ›Ideologie‹ zu durchdringen? Auf diese Weise wird eine ›revolutionäre‹ und ›marxistische‹ Kritik, die an der Kommunikation verzweifelt und nur noch ein fiktives politisches Korrelat besitzt und die außerdem enthüllt, dass alle gesellschaftlichen Übel im Kapitalismus unlösbar sind, letztlich zur ›ideologischen Hülse der Passivität‹, in der die erklärte Notwendigkeit einer ›Revolution‹ zum Freibrief für intellektuellen Rückzug wird.« (EPT 1978/80, S. 250) Im Elend der Theorie verbinden sich also Thompsons Politik und Theorie, sein aus dem Antistalinismus sich speisender sozialistischer Humanismus und seine marxistische Praxisphilosophie, zu einer ebenso produktiven wie explosiven Einheit. Und vergleichbar zu seiner kritischen Auseinandersetzung mit Kolakowskis antimarxistischer Wende ist auch Thompsons Kritik am Strukturmarxismus Althussers eine ausgesprochen mehrschichtige, bei welcher die politischpolemische Form nicht selten dazu verführt, von der theoretischen Substanz abzulenken oder beide Aspekte allzu unvermittelt gegeneinander auszuspielen.8 Viel ist deswegen diskutiert worden, ob es wirklich Althusser war, gegen den Thompson hier treffend angeschrieben hat, oder ob sich in Althussers Werk nicht auch, wie manche Autoren argumentiert haben, tragende Aspekte einer zeitgenössischen Theoriearbeit finden, die von denen Thompsons gar nicht so weit entfernt sind (vgl. Anderson 1980 und Hamilton 2011). Das ändert aber nichts daran, dass die zeitgenössischen Reaktionen zumeist (und nicht zu Unrecht) von einer Unvereinbarkeit beider Positionen ausgegangen sind. Da das von Althusser wesentlich beeinflusste strukturalistische Marx-Verständnis den hegemonialen Zeitgeist einer seit Ende der sechziger Jahre sich machtvoll entwickelnden intellektuellen Szene bildete, war fast schon zwangsläufig, dass der innerlinke Hegemoniekampf kein gleichgewichtiger mehr war. Und während Althusser selbst seine Ignoranz damit verdeutlichte, dass er, als man ihm eine Ausgabe des Thompson-Werkes zeigte, nur abschätzig gefragt haben soll, wer denn dieser E.P. 8 Scott Hamilton (2011) hat jüngst zu Recht darauf hingewiesen, dass Thompsons Essay Das Elend der Theorie nur wirklich verständlich wird, wenn man ihn im Kontext jener anderen drei großen, im englischen Originalwerk enthaltenen Essays interpretiert, die in der deutschen Ausgabe leider weggelassen wurden. Die deutsche Verhunzung der Thompsonschen Schriften wäre einen eigenen Beitrag wert: Im Falle von The Poverty of Theory wurden nicht nur die anderen Essays ausgelassen, sondern auch das einführende Vorwort, sowie – und dies ist wirklich kurios – das zum AntiAlthusser-Text direkt gehörende und für die Einordnung desselben so wichtige Nachwort (EPT 1978, S. 206-210). 172 Thompson überhaupt sei (Hamilton 2011, S. v), schlug die Szene kräftig zurück.9 Negative Besprechungen seines Buches führten unter anderem im einflussreichen History Workshop Journal zu nachhaltigen Debatten, das daraufhin für Ende 1979 zu einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung mit Thompson im Rahmen ihrer Jahreskonferenz einlud. Doch aus der Diskussion über Althusser wurde eine Diskussion über Thompson, bei der sich dieser einem mehrheitlich feindlichen Publikum und scharfen Angriffen stellen musste (vgl. Hamilton 2011, S. 155ff.). Bei Thompson selbst konnte dies nur zu weiterer Verbitterung führen. Er selbst goss damals reichlich Feuer ins Öl und sah überall nur Zerfall: In Indien griff die als fortschrittliche Linke angesehene Indira Gandhi autoritär durch; in Kambodscha massakrierten von Althusser beeinflusste maoistische Marxisten die Bevölkerung und wurden durch ein anderes sozialistisches Regime, durch die Volksrepublik Vietnam gewaltsam von der Macht entfernt; in Großbritannien war soeben Margret Thatcher zur konservativen Premierministerin gewählt worden; und die Sowjetunion marschierte zu Weihnachten 1979 in das sozialistische Afghanistan ein. Das Jahr 1979 sollte sich als einer der stillen Wendepunkte des 20. Jahrhunderts erweisen, und Thompson zog bereits damals aus ihm die Lehre, dass es mit den Linken und Marxisten auch aus eigener Schuld schlecht bestellt sei. Übergänge Im Rückblick erweist sich Das Elend der Theorie deutlich als ein Werk des Übergangs. Es erschien nicht nur in einer Zeit des Übergangs, es trägt seinerseits alle Kennzeichen desselben. Thompson hatte sich vom gesellschaftlichen Aufbruch der zweiten Generation Neuer Linker nicht euphorisieren lassen. Er hatte den Aufbruch zwar begrüßt und unterstützt, wo er konnte, war aber skeptisch geblieben. Diese Skepsis verstärkte sich nun in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre und ihm wurde zur traurigen Gewissheit, was bis dahin nur ein ungutes Gefühl gewesen war: Der linke Aufbruch war vorbei, das welthistorische Ringen um eine neue Einheit von sozialistischer Theorie und Arbeiter-Praxis gescheitert (vgl. Anderson 1978). Thompson selbst wollte nun keine taktischen Rücksichten mehr 9 »Für eine ganze Generation heutiger Marxisten kann man sagen, dass in ihrer intellektuellen Biografie Louis Althusser einen Platz einnimmt, den man vergleichen kann mit dem Platz, den Ludwig Feuerbach einmal für Marx und Engels eingenommen hat. Das berühmte Diktum: ›Wir waren alle momentan Feuerbachianer‹ könnte von vielen Marxisten vieler Länder heute auf Althusser abgewandelt werden.« (Wolfgang Fritz Haug 1985, S. 48) 173 nehmen und kritisierte nicht zuletzt den linken Stand der Dinge unbarmherzig. Seine intensive Auseinandersetzung mit dem Althusserianismus und seine implizite Kritik an anderen verwandten Marxismen hätten ihm verdeutlicht, schreibt er auf den letzten Seiten von Das Elend der Theorie, dass man nicht länger von einer gemeinsamen marxistischen Tradition sprechen könne und dürfe, »dass der Vorstellung einer gemeinsamen Tradition keine theoretische Bedeutung mehr zukommt« (EPT 1978/80, S. 253) und man gleichsam von einem Kampf zweier Linien innerhalb des Marxismus sprechen müsse. Dieser Kampf sei, so Thompson, in offener Feindschaft auszutragen, als Entweder-Oder. Gemeint war hiermit einmal mehr der Kampf zwischen antistalinistischem und stalinistischem Marxismus. Es war, als Thompson diese Zeilen schrieb, die Zeit der Charta 77 und Rudolf Bahros, die große Zeit der osteuropäischen Dissidenten, die mit Menschenrechts-Parolen gegen den verknöcherten, antiemanzipativen Nominalsozialismus ankämpften und vor deren Hintergrund der explizit antihumanistische Althusserianismus wie eine ideologische Polizeiaktion erscheinen musste. Budapest 1956 und Prag 1968, die beiden großen, blutig niedergeschlagenen Entstalinisierungsbewegungen innerhalb der kommunistischen Bewegung, hätten bewiesen, so Thompson, dass die eingeschworenen Feinde eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz in den kommunistischen Führungsetagen selbst zu finden seien, und es deswegen falsch sei, die innerlinken Widersprüche im gemeinsamen Kampf hinten an zu stellen. Der Slogan »Keine Feindschaft innerhalb der Linken!« errichte dagegen »einen moralistischen Verteidigungswall um orthodoxe kommunistische Organisation und Praktiken«, der die Linken selbst aktionsunfähig mache und eine Situation produziere, »in der wir uns gegenüber unseren Genossen täglich unsolidarisch verhalten, die für die Zerstörung des Stalinismus kämpfen und die unter der Staatsraison kommunistischer Macht zu leiden haben« (ebd., S. 254). Thompson ging es in dieser Auseinandersetzung nicht darum, dem Sozialismus oder gar dem Kommunismus wortgewaltig abzuschwören, sondern darum, dass »ein libertärer Kommunismus oder Sozialismus, der in seinen Mitteln, seiner Strategie und seinen Zielen sowohl demokratisch wie auch revolutionär ist, fest auf einer unabhängigen Basis, auf seinen eigenen Beinen stehen, seine eigene theoretische Kritik und zunehmend seine eigene politischen Formen und Praktiken entwickeln« müsse, und dass dabei »tiefergreifende theoretische und strategische Differenzen im Interesse einer ›breiten Linken‹ (deren Interessen wiederum letztlich diejenigen der Partei sind) [nicht] versteckt und zum Schweigen 174 gebracht werden« dürften. Zur Vorbedingung jeder gemeinsamen Aktion gehörten deswegen »die ständige und unzweideutige Kritik an allen Aspekten des stalinistischen Erbes« (ebd., S. 255), die ständige und unzweideutige Kritik an allen Halbheiten der Entstalinisierung.10 Doch so treffend und richtig hier eine der wirklich zentralen politischen Aufgabenstellungen einer sozialistischen Linken von Thompson benannt wird, so wenig konnte auch er sich aus den strukturellen Fallstricken eines zum Antikommunismus weiter getriebenen Antistalinismus retten. Einmal mehr war Ende der 1970er-Jahre offensichtlich jener Punkt erreicht, an dem sich bspw. Victor Serge und George Orwell Ende der 1940er-Jahre befunden hatte (vgl. Kapitel 4): Ein solch antikommunistischer Antistalinismus droht allzu schnell zum Abschied von der sozialistischen Theorie und Praxis zu verkommen, wo er die komplizierte »Dialektik von Einheit und Differenz« zugunsten der Differenz verabsolutiert. Zwischen Stalinismus und Antistalinismus kann es politisch wie theoretisch nur Unvereinbarkeit geben, doch wie muss, wie kann diese Unvereinbarkeit praktisch aussehen? Wo der Stalinismus nur als ein historisch spezifisch eingegrenztes Phänomen gefasst wird, mag man sich im Laufe der Zeit über das Problem hinwegmogeln – wo er auch als eine politische Theorie/Idee gefasst wird, geht dies nicht. Der Stalinismus war und ist hier Fleisch vom Fleische der sozialistischen Linken – auch wenn dieses Fleisch durch und durch verdorben und vergiftet ist. Thompson wusste dies wie wenige andere und schon seine unscheinbare Einschränkung, dass der gemeinsamen Tradition von stalinistischem und antistalinistischem Marxismus »keine theoretische Bedeutung« mehr zukomme, verdeutlicht seine Unfähigkeit, eine schlüssig durchzuhaltende Position zu formulieren, die das ungelöste zentrale Dilemma der sozialistischen Linken im 20. Jahrhundert produktiv zu wenden vermag: Angetreten, die beiden Hauptströmungen der sozialistischen Arbeiterbewegung zu erneuern und zu beerben, weil sich diese von ihren gemeinsamen emanzipativen Ursprüngen wegentwickelt hatten, war die Neue Linke – ebenso wie alle anderen Strömungen eines »dritten Weges« – historisch nicht dazu in der Lage, dies theoretisch wie praktisch schlüssig und mehrheitsfähig auch zu leisten: Sozialisten und Kommunisten konnten im roten 20. Jahrhundert weder miteinander noch gegeneinander. Vor diesem Hintergrund das Ende der gemeinsamen Tradition zu verkünden und von 10 Den gleichen Kampf gegen eine nur halb entstalinisierte Linke führte zur selben Zeit in Deutschland ein Rudi Dutschke – und bezahlte dafür mit einer vergleichbaren Ausgrenzung aus der linken Gemeinschaft. 175 einer »endgültige[n] und unwiderrufliche[n] Unvereinbarkeitserklärung« (ebd., S. 253) zu sprechen, ist zwar nachvollziehbar, aber verheerend, denn eine solche Haltung führt – als politische, und ohne dass etwas tragfähiges Drittes existiert – entweder ins gesellschaftliche Abseits oder in die Anpassung an die herrschenden Verhältnisse. Im Elend der Theorie wählt Thompson zunächst den letzten dieser beiden Wege, wenn er seine Philippika gegen die staatskommunistische Bewegung mit einem offenen Plädoyer für die sozialdemokratische Labour-Partei verbindet, deren Kämpfe angeblich erst die gesellschaftspolitischen Institutionen geschaffen hätten, von denen aus man nun kämpfen müsse. Doch dies war und ist keine überzeugende Antwort: Die europäische Sozialdemokratie kämpft schon seit den 1920er-Jahren keine (Klassen-)Kämpfe mehr, sondern verwaltet diese bloß. Da Thompson dies im tiefsten Inneren selbst wusste, und da er wusste, dass sein Plädoyer für die zahnlose Sozialdemokratie allenfalls eine Verlegenheitslösung war und ist, sollte das auch nicht seine letzte Antwort bleiben – wohl aber dazu führen, dass sich selbst wohlwollende Kritiker seiner Althusser-Kritik nicht zuletzt hieran zurecht stießen. Das welthistorische Ringen um eine neue Einheit von Theorie und Praxis war Ende der siebziger Jahre entschieden, die neue Einheit nicht zustande gekommen. Fielen die einen zurück in die strategielose politische Handwerkelei, zogen sich andere in die Welt hoch entwickelter Abstraktion zurück. Es begann die Zeit des offen erklärten Abschieds vom Proletariat, die Zeit der neuen sozialen Bewegungen und des aufziehenden Postmodernismus, und auch Thompson selbst sollte von all dem nicht unberührt bleiben. Auch er hatte begonnen, den Glauben an die Kraft »des Marxismus« zu verlieren, weil er nicht mehr an die jungen Marxisten glauben konnte und wollte. Ton und Inhalt seiner Angriffe gegen den Althusserianismus und andere lassen sich erst aus diesem Kontext wirklich verstehen. Und erst aus diesem Zusammenhang lässt sich verdeutlichen, dass und wie Thompsons Werk gerade damals zur Brücke für unterschiedlichste Entwicklungen werden konnte. Von den Schlusspassagen des Elends der Theorie her lässt sich der Faden der Sozialdemokratisierung und des Abschieds von der Neuen Linken nachvollziehen. So radikalisierten viele (v.a. im angelsächsischen Bereich) Thompsons kulturwissenschaftlichen Ansatz und streiften auf ihrem überwiegend postmodernen Weg die bei ihm noch selbstverständliche Einbettung in die sozialistische Tradition und die marxistische Theorie einfach ab, während dies andere (nicht zuletzt in der intellektuellen Szene Westdeutschlands) mit ihrer 176 Rückkehr in die sozialdemokratische Welt verbanden. Von der Kritik des strukturalistischen Marxismus-Verständnisses und Thompsons Version des historischen Materialismus führen aber auch fruchtbare Fährten bspw. zu jenem explizit »politischen Marxismus« der 1980er und 1990er-Jahre, wie er sich u.a. im überaus anregenden Werk einer Ellen Meiksins Wood findet. Auch Thompson selbst sollte nun neue Wege gehen. Das Bewusstsein der historischen Sackgasse hatte ihn dazu gedrängt, Bilanz zu ziehen und Ausschau zu halten nach solchen neuen Wegen. Hatte er mit der englischen Originalausgabe von The Poverty of Theory eine Bilanz seiner Beschäftigung mit Fragen der marxistischen Theorie vorgelegt, sollte der im dortigen Vorwort bereits angekündigte Folgeband Reasoning seine alten politischen Texte zur Neuen Linken mit einer aktuellen, kritischen Würdigung verbinden. Doch erschienen ist nur ein weiterer, gleichsam dritter Bilanzband, und zwar die Anfang 1980 veröffentlichte Aufsatzund Essay-Sammlung Writing by Candlelight. Auch hier noch wird Reasoning als geplantes Werk erwähnt, doch blieb es bei dieser Ankündigung. Auch posthum ist dieser Band niemals erschienen. Auf die sich aufdrängende Frage, warum eigentlich nicht, wird im Allgemeinen geantwortet, dass sich Thompson nach der Fertigstellung von Writing by Candlelight voll und ganz einer neuen praktischen Politik hingegeben habe. Doch erklärt dies nicht, warum er auch später zu diesem Projekt nicht zurückgekehrt ist. Im nie vollendeten Band Reasoning spiegelt sich vielmehr das auch für E.P. Thompson offensichtlich unabgeschlossene Ende der Neuen Linken, ihr sang- und klangloser Zerfall im Übergang zu den achtziger Jahren. Seinen eigenen Ausweg aus der ebenso politischen wie intellektuellen Blockade fand er jedenfalls während der Arbeit an Writing by Candlelight. Thompson bilanzierte mit diesem Werk sein publizistisches Wirken in den siebziger Jahren und legte einen Großteil seiner Aufsätze und Essays wider den autoritären Konservatismus der britischen Innenpolitik neu auf. Auch hier benutzt er die Gelegenheit der Einleitung, Kritik an der politischen Linken zu üben. Die britische Linke verspiele, schreibt er Ende 1979, ihre Chancen auf gesellschaftliche Veränderungen, weil sie kaum noch auf die öffentliche Meinung selbst Einfluss zu nehmen versuche, sich vielmehr mit dem Überleben in der kulturellen Gegengesellschaft, im gesellschaftlichen Getto zufriedengebe. Die alternative Gegenkultur gebe damit ihren Anspruch auf gesamtgesellschaftliche Veränderungen auf und hinterlasse auf diesem Weg offene Räume, in die die herrschenden Mächte gleichsam einsickern könnten. Er wolle, wie er hier schreibt, den verschiedenen 177 Gruppen und Milieus nicht ihre Werte und Autonomie ausreden, und denke auch nicht, dass es nur einen richtigen Weg gesellschaftlicher Praxis gebe. Er verlange auch nicht, beispielsweise von den Schwestern in der feministischen Bewegung, »dass sie aufhören, zusammen als Schwestern zu agieren, sondern stärker auch über ihre Rollen als Bürger, Geschworene, Gewerkschafter oder Wähler nachzudenken«, denn »[w]enn sich der Polizeistaat durchsetzt, werden wir, was auch immer unser Geschlecht oder unsere Hautfarbe, in dieselben vollen Gefängnisse kommen. Und wenn die Nuklearwaffen abgefeuert werden, werden wir alle zusammen verschwinden« (EPT 1980b, S. xiif.). Im direkten Anschluss an den am 12. Dezember 1979 ratifizierten, sich zu einer neuen Aufrüstungsspirale auswachsenden, sogenannten NATO-Doppelbeschluss und dem nur eine Woche später erfolgten Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten nach Afghanistan brach ein neuer Kalter Krieg zwischen den Supermächten aus, dessen erklärte Aufrüstungspolitik zur Neuformierung einer internationalen Friedensbewegung führte. Thompson machte sich schnell zu einer ihrer Führungsfiguren. Im Kampf gegen den autoritären Staat und vor allem gegen den drohenden Nuklearkrieg im aufbrechenden zweiten Kalten Krieg erkannte er nicht nur eine politische Dringlichkeit, sondern auch die Möglichkeit, das Terrain der Theorie zu verlassen, um vielleicht auf praktischem Wege neue Möglichkeiten für eine in die Sackgasse geratene Neue Linke zu schaffen. Hatte in den fünfziger Jahren nicht auch die erste Neue Linke so begonnen? Bot dieser Antimilitarismus nicht ideale Möglichkeiten, den radikaldemokratischen Kampf gegen den autoritären Staat mit dem Kampf gegen die Medienindustrie und die weltpolitische Blocklogik zu verbinden? War es nicht unabhängig von solchen Erwägungen die blanke moralische Pflicht, gegen die drohende nukleare Zerstörung der Welt aufzustehen? Nachdem er also mit Verve gegen die von der Althusser-Schule gepflegte rein »theoretische Praxis« polemisiert und sich seines radikaldemokratischen und sozialistischen Anspruchs vergewissert hatte, warf sich Thompson in den folgenden Jahren in die aufzehrende praktisch-politische Arbeit – seine alte neu-linke Theorie und Praxis gleichermaßen fortsetzend wie beendend. War er bereits zuvor ein öffentlicher Intellektueller, wurde er nun eine weithin bekannte und geachtete politische Autorität und propagierte den außerparlamentarischen Kampf gegen die Gefahren eines Atomkrieges und die Massenvernichtungswaffen der beiden Supermächte USA und UdSSR. Fünf bis sechs Jahre lang sollte er dieser Bewegung seine gesamte Energie widmen. Er organisierte, hielt 178 Vorträge, schrieb Artikel, Petitionen und Polemiken und gab Interviews. Die sich jenseits von Ost wie West positionierende Friedensbewegung verstand er dabei als Fortsetzung der ersten Neuen Linken Ende der 1950er-Jahre und kämpfte gleichermaßen gegen undemokratische Militärdiplomatie wie gegen die apokalyptischen Reiter des Atomzeitalters (EPT 1980c, 1980/81, 1982). Das sich damals gegenseitig hochschaukelnde nukleare Gleichgewicht der beiden Supermächte sei zutiefst gefährlich für die Menschheit, schrieb er, denn es sei unstabil und undemokratisch, Ausfluss autoritärer und aggressiver Sicherheits- und Geschäftsinteressen eines militärindustriellen Komplexes, der sich verselbstständige und einen Ausbruch aus der binären Logik des zweiten Kalten Krieg und jeden weiteren Schritt in Richtung einer sozialistischen Demokratisierung in Ost wie West blockiere. Die Falken des Westens hätten die Falken des Ostens erst hervorgebracht – umso wichtiger sei es, nun endlich mit den osteuropäischen Dissidenten solidarisch und eng zusammenzuarbeiten. (EPT 1980b, S. 278; vgl. McCann 1997, Kapitel 5) Einmal mehr mischte sich in diesem Kampf aufrechtes Engagement und eine hohe politische Sensibilität mit ausgesprochen apokalyptischen und illusionären Tönen, die kaum nachvollziehen kann, wer diese Zeit nicht selbst miterlebt hat.11 Doch Mitte der achtziger Jahre neigte sich auch dieser Kampf seinem Ende entgegen. Als sich die unter Michail Gorbatschow 1985/86 neu aufstellende sowjetische Staatsbürokratie zu spektakulären Abrüstungsschritten durchgerungen hatte und damit eine neue weltpolitische Ära einleitete, konnte sich die internationale Friedensbewegung zwar als Vorreiterin fühlen, hatte sich aber schon partiell totgelaufen. Auch Thompsons Energie ließ deutlich nach, nachdem er fast sechs Jahre lang ungezählten Meetings beigewohnt, auf mehr als 500 Veranstaltungen und buchstäblich vor Hunderttausenden von Menschen gesprochen hatte – Jahre, in denen er eine umfangreiche Korrespondenz geführt und als Friedensemissär in etwa zwanzig verschiedenen Ländern herumgereist war. Er musste schließlich einsehen, dass seine Gesundheit nachhaltig zerrüttet war, und er zog sich immer mehr zurück, um sich fortan der Beendigung seiner vor Jahren liegengebliebenen historischen Arbeiten zu widmen. Er blieb jedoch auch weiterhin präsent, wenn es galt, den friedenspolitischen Kampf als einen bleibenden Beitrag zur weltpolitischen Entspannung politisch zu verteidigen (vgl. bspw. seine Intervention in 11 Thompsons Kampf gegen den Exterminismus fand sein deutsches Pendant in niemand geringerem als dem deutsch-deutschen Grenzgänger Rudolf Bahro. Zur Kritik an den Exterminismus-Positionen vgl. den reichhaltigen Diskussionsband der New Left Review von 1982. 179 Blackburn 1991, S. 100ff.), oder scharfsichtig vor den neuen Gefahren des gerade aufkommenden Computer-Zeitalters zu warnen: »Wir wissen jetzt«, schrieb er bspw. 1986, »dass ein Großteil unserer Arbeit darin bestehen muss, die Gründe der gesellschaftlichen Unvernunft zu diagnostizieren. Die binäre Logik einer computerabhängigen Intelligenz wird uns niemals weiter als den halben Weg in Richtung auf ein Verständnis bringen. Für die andere Hälfte müssen wir eine vernachlässigte Fähigkeit wieder kultivieren – die der Imagination – eine Fähigkeit, die auf eine Weise, die wir kaum verstehen, aus dem algorithmischen Weg herausspringt und mit symbolischem Vokabular Affinitäten und Widersprüche ans Licht bringt, für die in der Software kein Programm entwickelt werden kann.« (Thompson 1986, S. 29) Eine Frage der Haltung Aufgrund seiner dauerhaften Erkrankung wurden allerdings die letzten ihm noch verbleibenden Jahre zu einem Wettlauf gegen die biologische Uhr, wie es einer seiner Biografen ausdrückt (Palmer 1994, S. 143). Seine unter dem Titel Customs in Common gesammelten Studien zur vorkapitalistischen Kultur konnten als stark erweiterte und überarbeitete Aufsatzsammlung erst 1991 erscheinen. Zwei Jahre später, kurz vor seinem Tod, stellte er schließlich noch sein letztes großes Werk fertig. Auch dies, eine Studie über Leben und Werk des britischen Malers und Dichters William Blake, lag bereits lange halbfertig in der Schublade und führt uns einmal mehr in die Zeit des Übergangs vom 18. zum 19. Jahrhundert. Es offenbart uns ein letztes Mal jene typische Mischung aus Leidenschaft und Intellekt, aus poetischer, erzählerischer und analytischer Begabung, die Thompsons Genosse und Historikerkollege Eric Hobsbawm an ihm so gelobt hat. Mit dem Buch über Blake, der sich selbst als Medium eines poetischen Geisterwesens und im Künstler die eigentliche Verbindung zu Gott sah, während er die christlichen Priester nur als Wächter einer pervertierten, von den menschlichen Fantasien entfremdeten Religion betrachten konnte, taucht die Leserschaft tief ein in die Welt jener vormodernen Sekten, bei denen Genie und Wahnsinn oft nah beieinander lagen. Thompson zeigt hier auf, wie stark sich Blakes Visionen aus der frühneuzeitlichen Tradition des Antinominalismus speisten, der in einer spezifischen Mischung aus Vernunft und Irrationalismus, Glauben und Unglauben, die Menschen gegen die Hegemonie der herrschenden Mächte und Diskurse zu verteidigen versucht. In einer bemerkenswerten Detektivarbeit führt 180 Thompson den Nachweis, dass sich Blakes Ansichten zurückverfolgen lassen zu den protestantischen Muggletoniern, einer dieser nonkonformistischen Sekten, die auf die Zeit der englischen Revolution Mitte des 17. Jahrhunderts zurückgehen. Thompson sieht im Muggletoniertum, auch wenn sich in ihm Vernunft und Unvernunft mischen, und wir es insgesamt mit einer Form des Irrationalismus zu tun haben, einen erinnernswerten Widerstand der vom System Ausgeschlossen gegen dasselbe. Er macht keinen Hehl daraus, dass er diese Muggletonier mag, selbst wenn klar sei, dass sie weder zu den Siegern der Geschichte gehörten noch gehören wollten. »Es war ihre Aufgabe, die göttliche Vision zu bewahren und zu überliefern«, schreibt er und erinnert uns daran, dass Blake »bis zum Schluss so etwas wie ein Revolutionär blieb, und auch so etwas wie ein Muggletonier« (EPT 1993, S. 90, 224). Blakes visionärer Spiritualismus habe sich so mit einer streitbaren Polemik gegen »das Biest des Staates« kombiniert. Und auch wenn er kein Hurra-Revolutionär oder frühreifer Praktiker Marxscher Dialektik gewesen sei, habe er sich doch nicht ernüchtern und umdrehen lassen, bis zum Schluss vielmehr den utopischen Bruch gesucht: »Der entscheidende utopische Sprung war für Blake der zur Brüderlichkeit, die Rückkehr zum universellen Menschen.« (Ebd., S. 227) Thompson zeigt sich hier also stark beeindruckt von dieser antinominalistischen Haltung, von der Sensibilität und Aufrichtigkeit eines Revolutionärs in nichtrevolutionärer Zeit. Er stellt Blakes Haltung jenem wohlwollenden und perfektionistischen Rationalismus im Übergang zum 18. Jahrhundert entgegen, der die menschliche Natur für die hartnäckigen Widerstände verantwortlich machte, auf die die rationalistische Aufklärung stieß, und aus solcher Enttäuschung die Seiten wechselte. Blakes Vision, so Thompson, »war nicht die einer rationalen Herrschaft von Menschen (government of man), sondern die der Befreiung eines unverwirklichten Potentials, einer alternativen Natur innerhalb des Menschen: einer Natur, die von den Umständen verschleiert, vom Moralgesetz unterdrückt, durch Mysterien verborgen und durch die andere Natur der ›Eigenliebe‹ entmutigt wurde. Es war die Intensität dieser Vision, die sich aus Kraftquellen speiste, die viel älter waren als die Aufklärung, die es Blake unmöglich machte, der Abtrünnigkeit zu verfallen. Als er sich von den Gottgläubigen entfernt hatte und die revolutionären Feuer kaum noch brannten im frühen 19. Jahrhundert, hatte Blake seine eigene Form, ›die göttliche 181 Vision in widrigen Zeiten aufrechtzuerhalten‹. […] Es ist hierin etwas Dunkles und vielleicht auch Sonderbares. Aber niemals findet sich das geringste Zeichen einer Unterordnung unter das ›Reich Satans‹. Niemals, auf keiner von Blake beschriebenen Seite, findet sich die geringste Komplizenschaft mit dem Königreich der Bestie.« (Ebd., S. 229) Es fällt schwer, aus dieser anregenden Interpretation Blakes nicht auch eine Selbstbeschreibung des Interpreten im Auge des stürmischen Epochenbruchs zu Beginn der neunziger Jahre heraus zu lesen. Auch E.P. Thompson wollte sich dem Status Quo nicht unterordnen, sich nicht (wie auf den letzten Seiten von Das Elend der Theorie angedeutet) sozialdemokratisieren. Auch für ihn blieben Kapital und Kabinett prinzipielle Feinde und die Utopie einer herrschaftsfreien Emanzipation – die Überwindung des »historisch Bösen« (Peter Brückner) – weiterhin aktuell. Doch da war es wieder, das bereits Ende der sechziger Jahre klar erkannte Dilemma des Revolutionärs in einer zur Revolution faktisch nicht reifen Gesellschaft: »Wenn er abseits der Hauptströmungen gesellschaftlichen Wandels steht, wird er zum Puristen und Sektierer ohne Einfluss. Wenn er mit der Strömung schwimmt, wird er vom Flusse des Reformismus und des Kompromisses hinab gespült.« (EPT 1994, S. 73) Bereits damals hatte Thompson in der geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den britischen Romantikern des beginnenden 19. Jahrhundert (wie Wordsworth und Coleridge) mit viel Empathie herausgearbeitet, dass sich deren Schicksal nicht unabhängig vom damaligen Schicksal des restaurativen gesellschaftspolitischen Prozesses verstehen lasse, nicht unabhängig also von der Frage, wie aufbegehrende Menschen ihr Streben aufrecht zu erhalten vermögen, wenn es in der wirklichen Welt ihrer Zeit keine geschichtlichen Kräfte der Realisierung ihrer Hoffnungen mehr zu geben scheint (EPT 1997, S. 63ff.). Genau dies war aber auch die Situation seiner eigenen Zeit. Und man darf deswegen davon ausgehen, dass er mit seinem letzten Buch nicht nur einen Beitrag zur Blake-Forschung vorlegen wollte, sondern auch einen Beitrag zur zeitgenössischen Strategiediskussion auf der politischen Linken – einen Beitrag zudem, der zu anderen Konsequenzen kommt als die Schlusspassagen des Elends der Theorie. »Nach jeder Niederlage«, hatte Thompson im Elend der Theorie geschrieben, »sollte man sich jedoch aufrappeln, sich den Staub von den Knien bürsten und fröhlich und erhobenen Hauptes weitermarschieren.« (EPT 1978/80, S. 257) Ihm selbst ist es in den neunziger Jahre allerdings nicht vergönnt geblieben, seinem 182 eigenen Motto zu folgen. Am 28. August 1993, nur kurze Zeit nach Ausstrahlung des TV-Features, erlag er seinem langjährigen Leiden. Thompson in Deutschland Dass Edward P. Thompson, wie Karl Heinz Roth bei dessen Tod feststellte, das deutschsprachige Spektrum von Historiografie und linker Politik nur marginal beeinflusst hat, dass es nie zu einer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit seinem Werk gekommen ist und, »wenn überhaupt, dann nur bestimmte Fragmente daraus zur Kenntnis genommen« wurden (s.o.), sollte vor dem Hintergrund des Dargestellten verständlicher werden. In zu vielen Aspekten lag er quer zu den deutschen Traditionen. Ein sich zur kommunistischen Tradition bekennender Historiker, der in der Erwachsenenbildung mehr Sinn und Erfüllung findet als in der akademischen Welt; ein dissidenter Kommunist, der nicht zum Renegaten wird und sich als Antistalinist und Klassenkämpfer dem sozialistischen Humanismus verpflichtet weiß; ein demokratischer Sozialist, der sich der Sozialdemokratisierung letztlich verweigert und sensibel jede Form des politisch-theoretischen Elitismus aufspürt und anprangert; ein Internationalist, der gleichzeitig in der eigenen nationalen Kultur nicht nur verwurzelt ist, sondern diese Volkstümlichkeit auch politisch-strategisch vertritt; ein arbeiterbewegter Moralist, der nicht nur wissenschaftliche Standards einhält, sondern auch wissenschaftliche Trends zu setzen vermag – man braucht Thompson nur auf die ihn charakterisierenden Begriffe zu bringen und versteht sogleich, warum ein solcher Ansatz im doppelten Deutschland des Kalten Krieges keine Wurzeln zu schlagen vermochte. Hier – in West wie Ost – führten erklärtermaßen alle Wege des Sozialismus nach Moskau oder Ostberlin, wurde ein sozialistischer Humanismus nur allzeit belächelt und Antistalinismus politisch wie intellektuell immer nur als Antikommunismus toleriert. Die britische Geschichtswissenschaft und Gesellschaftstheorie gehören nicht gerade zu den besonders geschätzten Fachzweigen in der deutschen Provinz. Und die hier traditionell konservative Geschichtswissenschaft zeichnet sich zudem weder durch ein besonderes Interesse an, noch durch Toleranz gegenüber marxistisch orientierten Intellektuellen aus. So kommt es, dass E.P. Thompson vom westdeutschen akademischen Spießbürger zu den Klassikern der Geschichtswissenschaft nur gezählt werden kann, wenn man ihn in abschätziger Überheblichkeit gleichzeitig als »von einem nachgerade religiösen Bekennt183 niswillen und einem nimmermüden Engagement für die gute Sache [gekennzeichnet]« zu sehen versteht (Lottes 2006, S. 202). So kommt es aber auch, dass er bei der deutschen Linken niemals wirklich angekommen ist. Die Neue Linke hat zwar auch hier eine wichtige historische Rolle gespielt. Doch mehr noch als in anderen europäischen Ländern war sie von Beginn an gespalten in eine erste (überwiegend linkssozialistische) und eine zweite (überwiegend antiautoritäre) Generation. Letztere schaute auf die erste, wenn sie sie überhaupt wahrnahm, mit einer weitgehenden Verachtung herab, und schaute zwar gerne in die Ferne der Dritten Welt, nicht jedoch zu den europäischen Nachbarn. Erst Ende der 1970er-Jahre, als die hochfliegenden Illusionen eines mit »68« linksradikal überschießenden Bewusstseins dem intellektuellen und politischen Kater wichen, interessierte man sich für diesen etwas anderen Vordenker einer Neuen Linken. Auch E.P. Thompson wurde nun ins Deutsche übersetzt und zum vielfach gepriesenen Autor. Im Jahre 1980 erschien nicht nur ein Sammelband seiner Studien zur moralischen Ökonomie der englischen Sozialgeschichte (EPT 1980a), sondern auch sein umfangreicher Essay über Das Elend der Theorie, (EPT 1978/80), beide mit Einführungen namhafter deutscher Autoren.12 Doch zur gleichen Zeit war es mit dieser Neuen Linken und ihrem praxisphilosophischen Marxismus auch schon wieder vorbei. Man war nun nicht mehr links oder rechts, sondern vorn. In der neuen Welt der achtziger Jahre ließ man die Sechziger und Siebziger hinter sich und war nun ganz modern, um nicht zu sagen: postmodern. Und als der dritte Thompson-Band, sein altes Hauptwerk zur Geschichte der englischen Arbeiterbewegung, 1987 endlich auch auf Deutsch erschien, wollte von der Geschichte der einstmals radikalen Arbeiterbewegung schon längst niemand mehr etwas wissen. Literatur: Althusser, Louis: Für Marx (1965), Vollständige und durchgesehene Ausgabe Frankfurt/M. 2011 Anderson, Perry: Über den westlichen Marxismus, Frankfurt/M. 1978 Anderson, Perry: Arguments within English Marxism, London 1980 Anderson, Perry: »In Memoriam: Edward Thompson« (1993), in ders.: Spectrum. From Right to Left in the World of Ideas, London 2005, S. 177–187 12 Der seitdem nie wieder aufgelegte und schon lange vergriffene Sammelband Plebejische Kultur und moralische Ökonomie ist nicht identisch mit dem späteren britischen Original Customs in Common (1991), in welchem die Originalbeiträge in überarbeiteter und stark erweiterter Fassung vorliegen. Einzig der Essay Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus wurde 2007 neu aufgelegt – und dabei aus seinem Werkkontext herausgelöst und in einen Interpretationskontext eingebettet, der Thompson selbst sicherlich zur scharfen Polemik gereizt hätte (Holloway/Thompson 2007). 184 Blackburn, Robin (ed.): After the Fall. The Failure of Communism and the Future of Socialism, London 1991 Hamilton, Scott: The Crisis of Theory. EP Thompson, the New Left and postwar British politics, Manchester/New York 2011 Haug, Wolfgang Fritz: Pluraler Marxismus, Band 1, West-Berlin 1985 Holloway, John/Thompson, E.P.: Blauer Montag. Über Zeit und Arbeitsdisziplin, Hamburg 2007 Horn, Gerd-Rainer: The Spirit of ’68. Rebellion in Western Europe and North-America, 1956–1976, Oxford 2007 [das Schlusskapitel liegt auch auf Deutsch vor, unter dem Titel »›1968‹ als Moment der Krise und der Möglichkeit«, in Sozialistische Hefte für Theorie und Praxis, Nr.16, April 2008, S. 19–24] Jünke, Christoph: »Der vergessene Aufbruch. Die linke Neuformierung 1954/55 und ihr Scheitern 1957/58«, in: Sozialistische Hefte für Theorie und Praxis, Heft 11, September 2006 (online verfügbar auf www.globkult.de; Oktober 2012) Jünke, Christoph: Sozialistisches Strandgut. Leo Kofler – Leben und Werk (1907–1995), Hamburg 2007 Jünke, Christoph: Peter Brückners Versuch, uns und anderen die Neue Linke zu erklären , in KlausJürgen Bruder u.a. (Hrsg.): Sozialpsychologie des Kapitalismus heute, Gießen 2013, S. 403–420 Kaye, Harvey J.: The British Marxist Historians. An Introductory Analysis, London 1995 Kaye, Harvey J./Keith McClelland (ed.): E.P. Thompson. Critical Perspectives, Cambridge 1990 Lin Chun: Wortgewitter. Die britische Linke nach 1945, Hamburg 1996 Löwy, Michael/Sayre, Robert: »Romanticism in the English Social Sciences: E.P. Thompson & Raymond Williams«, in: Against the Current, Heft 61, March/April 1996 Lottes, Günter: »Edward P. Thompson (1924–1993)«, in Lutz Raphael (Hrsg.): Klassiker der Geschichtswissenschaft. Band 2, München 2006, S. 195–213 Man, Hendrik de: Zur Psychologie des Sozialismus (1927), Bad Godesberg 1976 McCann, Gerard: Theory and History. The Political Thought of E.P. 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