Preview only show first 10 pages with watermark. For full document please download

Expeditionen Ins »i/innere Afrika/s«. Zur Reziprozität Von Existenzieller Und Kultureller Fremdheitserfahrung In Afrika-romanen Der Deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

   EMBED


Share

Transcript

Daniela Gretz Expeditionen ins ‚i/Innere Afrika/s‘ Zur Reziprozität von existenzieller Fremdheitserfahrung und kultureller Fremderfahrung in Afrika-Romanen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Entdeckungsreisen in ferne, unbekannte Länder, zumal solche in das ‚geheimnisvolle‘ und ‚rätselhafte‘ Innere Afrikas, sind traditionell der Inbegriff des Wagnisses. Und auch wenn sie in diesem emphatischen Sinne im Zeitalter der Globalisierung kaum noch möglich sind, erfreuen sie sich in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach wie vor besonderer Beliebtheit: Afrika hat in diesem Zusammenhang, wie u. a. Dirk Göttsche beobachtet, „Konjunktur“.1 Eine Ursache für diesen rezenten literarischen ‚Afrika-Boom‘ ist sicherlich neben der fortdauernden Faszination von Abenteuer und Fremde und dem gestiegenen Interesse an interkultureller Kommunikation ein deutlich gewachsenes öffentliches Bewusstsein für die Geschichte des deutschen Kolonialismus.2 Die wissenschaftliche Forschung zur Afrikaliteratur der Gegenwart wird in diesem Kontext vor allem von postkolonialen Theorieansätzen geprägt, in deren Zentrum die Frage steht, ob, und wenn ja, woran die inzwischen eingetretene Ablösung eines kolonialen durch einen postkolonialen Blick3 erkennbar wird. Im Anschluss an diese Forschungsdebatte sollen im Folgenden mit Urs Widmers Im Kongo (1996), Hans   1 Göttsche, Dirk: „Zwischen Exotismus und Postkolonialismus. Der Afrika-Diskurs in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“. In: Interkulturelle Texturen. Afrika und Deutschland im Reflexionsmedium der Literatur. Hg. von Mustapha Diallo. Bielefeld: Aisthesis 2003, S. 161–244, hier S. 161. Vgl. dazu auch: ders.: „Der neue historische Afrika-Roman: Kolonialismus aus postkolonialer Sicht“. In: German life and letters 56 (2003) N.3, S. 261–280. Polemisch könnte man im Anschluss an Dorothy Figueiras Beitrag zum Symposion in diesem Zusammenhang von einer Verkaufsstrategie auf dem umkämpften Markt der Gegenwartsliteratur sprechen, die sich wie folgt auf den Punkt bringen ließe: ‚Postcolonialism sells!‘ ‚Africa sells!‘ Diese Doppelstrategie scheint geeignet, sowohl eine durch die Rezeption postkolonialer Theoriebildung entsprechend sensibilisierte akademische Leserschaft als auch ein breiteres Lesepublikum anzusprechen, dessen Erwartungshaltung eher an der Tradition des populären, exotistischen Afrikaromans orientiert ist. 2 Vgl. Göttsche: „Der neue historische Afrika-Roman“, S. 262. 3 Zum Begriff ‚postkolonialer Blick‘ vgl.: Lützeler, Paul Michael (Hg.): Der postkoloniale Blick. Schriftsteller berichten aus der Dritten Welt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, bes. S. 14 und S. 28f. sowie: ders.: Bürgerkrieg global – Menschenrechtsethos und deutschsprachiger Gegenwartsroman. München: De Gruyter 2009, S. 114–117. Expeditionen ins ‚i/Innere Afrika/s‘ 703 Christoph Buchs Kain und Abel in Afrika (2001) und Christof Hamanns Usambara (2007) drei Afrika-Romane der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur in den Blick genommen werden, die als gewagte, doppelte literarische Grenzüberschreitung die Reziprozität zweier verschiedenartiger Fremdheitserfahrungen in Szene setzen. Die Texte kombinieren jeweils unterschiedlich die kulturelle Fremderfahrung der Afrika-Reise, also das reale, geographische Innere Afrikas, mit der existenziellen Fremdheitserfahrung des Todes und damit mit der metaphorischen Dimension des ‚wahren inneren Afrikas‘ als „innere[m] Ausland“4 der menschlichen Seele, wobei nicht zuletzt die alten Wagnis-Topoi des Afrikadiskurses erneut anzitiert werden. Damit reihen sich die Romane jedoch nahtlos in eine Traditionslinie des Afrikadiskurses und der Fremderfahrung ein, die von Jean Paul5 über Joseph Conrad,6 Sigmund Freud7 und Albert Camus8 bis zu Julia Kristeva9 führt und das Fremde primär als eine Projektion des verdrängten Unbewussten versteht, wobei dem geographischen Inneren Afrikas als ‚dark continent‘10 per definitionem lediglich die Rolle der Projektionsfläche zukommt.11 Als genuin literarisches Wagnis, als ‚Literatur als Wagnis‘, lassen sich die Romane 4 Freud, Sigmund: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 60. 5 Den Ausgangspunkt dieser Tradition markiert Jean Pauls Qualifizierung des „ungeheure[n] Reich[s] des Unbewussten“ als „wahre[s] innere[s] Afrika“. Paul, Jean: „Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele“ [1. Aufl. 1825]. In: ders.: Sämtliche Werke, Abt. I, Vol. 6. Hg. von Norbert Miller. München: Carl Hanser 1960–1985, S. 1105–1236, hier S. 1182. 6 Joseph Conrads Heart of Darkness ist der literarische Text, der diese Traditionslinie erstmals systematisch entfaltet und geradezu prototypisch vorführt. 7 Neben der bereits oben zitierten Formel vom ‚inneren Ausland‘, ist in diesem Zusammenhang vor allem der Beitrag über das Unheimliche relevant: Freud, Sigmund: „Das Unheimliche“ [1. Aufl. 1919]. In: ders.: Studienausgabe, Bd. IV: Psychologische Schriften. Hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey. Frankfurt/M.: Fischer 1970, S. 214–274, hier S. 245. 8 Von besonderem Interesse ist hier Albert Camus Roman Der Fremde, zum dem es in allen drei hier diskutierten Gegenwartsliteraturtexten mehr oder wenig deutlich markierte intertextuelle Bezüge gibt. 9 Bei Kristeva verdichtet sich diese Traditionslinie der Fremderfahrung zum Diktum: „Das andere, das ist mein (‚eigenes‘) Unbewußtes, mein unbewußtes (‚Eigenes‘).“ Kristeva, Julia: Fremde sind wir uns selbst. Übers. von Xenia Rajewsky. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, S. 199. 10 Paradigmatisch für dieses Afrika-Bild sind u. a. Henry Morton Stanelys Reisewerke Through the Dark Continent und In Darkest Africa. 11 Christof Hamann hat jüngst selbst u. a. ausgehend von seinem „unbewusste[n] ‚Rewriting‘“ von Camus’ Der Fremde in Usambara, die Probleme reflektiert, die sich aus der Einschreibung in diesen Traditionszusammenhang ergeben. Vgl. Hamann, Christof: „Der Erzähler und sein Autor. Nachträgliche Gedanken zu meinem Roman Usambara“. In: Literatur für Leser 33 (2011) H. 4/10, S. 205–209.     704 Daniela Gretz entsprechend in zweierlei Hinsicht lesen: Erstens riskieren sie, vor dem Hintergrund der angesprochenen Forschungsdiskussion als Fortschreibungen des Kolonialdiskurses (miss-) verstanden zu werden, zumal sie zugleich über die Verschachtelung mehrere Zeit- bzw. Erzählebenen die Kolonialgeschichte kritisch reflektieren und so explizit einen postkolonialen Standpunkt für sich in Anspruch nehmen. Zweitens versuchen sie, im Medium der literarischen Fiktion das Unsagbare – gleich doppelt – sagbar zu machen, indem sie das Fremde wie das Unbewusste, vor allem aber die komplexen Projektions- und Spiegelungsverhältnisse zwischen beiden, ins Zentrum des Interesses rücken. 1 Eine Reise ins Herz der Finsternis: Urs Widmers Im Kongo Im Roman Im Kongo12 wird die Afrikareise des Schweizer Altenpflegers Kuno Lüscher primär als Reise in die eigene individuelle wie familiäre und nationale Vergangenheit inszeniert. Dabei lässt sich Widmers Roman als Kontrafaktur zu Heart of Darkness13 bzw. als Versuch eines postkolonialen Rewritings14 des Conrad-Textes verstehen, im Zuge dessen die innerpsychische europäische Selbstbespiegelung vor afrikanischer Kulisse performativ ausgestellt wird, die Conrad lediglich implizit vorführt, sodass die Schweiz und speziell die Seele Lüschers zum eigentlichen ‚Herz der Finsternis‘ werden.15 Signifikant ist in diesem Zusammenhang vor allem die Erzählstruktur des Textes, durch die Lüscher in einer bizarren Schreibszene erscheint: Er sitzt, bewaffnet mit einem Laptop, mitten im afrikanischen Dschungel und schreibt sich gleichsam durch die eigene Vergangenheit hindurch bis zu dem Zeitpunkt, in dem schreibendes und erlebendes Ich in einem Jubelschrei deckungsgleich werden. Es handelt sich somit um einen 12 Ich zitiere im weiteren Verlauf aus folgender Ausgabe unter Angabe der Sigle IK und der Seitenzahlen in nachgestellten Klammern: Widmer, Urs: Im Kongo. Roman. Mit fünfzehn farbigen Illustrationen von Tina Good. Frankfurt/M. u. a.: Büchergilde Gutenberg 2004. 13 Vgl. dazu: Arnds, Peter O.: „Into the heart of darkness: Switzerland, Hitler, Mobutu, and Joseph Conrad in Urs Widmer’s novel ‚Im Kongo‘“. In: The German quarterly 71 (1998) N.4, S. 329– 342, bes. S. 336–338. 14 Vgl. zum Begriff des postkolonialen Rewritings: Beck, Laura: Kolonialgeschichte(n) neu schreiben. Postkoloniales Rewriting in Christof Hamanns „Usambara“. Marburg: Tectum 2011 (= Literatur – Kultur – Text, Bd. 9), S. 13–19. 15 Vgl. dazu auch: Förster, Nikolaus: „Orte der Finsternis, Spielarten des Exotischen. Erzählstrategien an den Grenzen der Sprache“. In: ders.: Die Wiederkehr des Erzählens. Deutschsprachige Prosa der 80er und 90er Jahre. Darmstadt: WBG 1999, S. 58–83, hier S. 82.   Expeditionen ins ‚i/Innere Afrika/s‘ 705 Roman, der eine Selbstfindung und Identitätsbildung im literarischen Schreibakt performativ ausstellt, wobei Afrika und Afrikareise primär der identitätsstiftenden Selbstbespiegelung dienen und so als „Reflexionsort[e]“16 fungieren. Diese Lesart legt auch eine allgemeine poetologische Äußerung Widmers im Rahmen seiner Grazer Poetikvorlesungen nahe: Der Kern der Bedeutung allen Reisens […] ist die Utopie. Der Entwurf von etwas ganz anderem. […] Die Sehnsucht der Veränderung des Jetzt und Hier, durchaus des eigenen Inneren, wird in die Distanz verlegt. Afrika bedeutet dann mögliches Glück und allerdings stets auch, als Rückseite der Medaille, unerhörte Schrecken. […] Utopische Hoffnungen, in die ganz reale Fremde hineinprojiziert.17 Tatsächlich gehört Lüscher zu denjenigen Afrikareisenden, die „– fernab der europäischen Welt – in der Fremde das Eigene entdecken und zuweilen am liebsten die Augen vor dem verschlossen hätten, was sich ihnen dort offenbart“:18 die verdrängte Mitschuld am Tod der Mutter. Im Zentrum der Eingangspassage des Romans steht die Kindheitsidylle, deren Verlust im Schreiben, ausgehend von der Erinnerung an das traumatisierende Bild der toten Mutter, gleichsam therapeutisch aufgearbeitet wird: Es war ein heißer Sonnentag. Ich kam in den Garten gehüpft – fünf Jahre alt –, und sie lag in den Blumen und starrte in den Himmel hinauf. Blut an ihrem Hals. Neben ihr lag Herr Harder zerfetzt. Ich dachte aber, sie schliefen, und schüttelte sie. Der Hund schnüffelte am Blut herum. Dann lief ich schreiend ins Haus. Da war niemand, kein Vater, kein Mensch. Ich schoß ein bißchen mit meinem Bolzengewehr auf die Klotür. Danach stand ich auf der Terrasse und konnte meinen Blick nicht von den Füßen meiner Mutter wenden, die weit unten – nackt, weiß wie Schnee – aus Rittersporn und Malve auf den Gartenweg herausragten. (IK, 19) Signifikanterweise folgt im Text unmittelbar auf die Erzählung des Kindheitstraumas die Einschaltung der ersten von vier kursiv gesetzten Passagen, in denen Kuno aus der Schreibszene heraus den ihn umgebenden afrikanischen Wald und – pars pro toto – Afrika charakterisiert. Tim Grünwald hat zu Recht konstatiert, dass der Text vor allem in diesen Abschnitten die koloniale Afrika-Topik Conrads 16 Köhler, Sigrid: „Postkolonialer Blick auf die Allmachtsphantasien des Ich-Erzählers in Urs Widmers Im Kongo“. In: dies.: Körper mit Gesicht. Rhetorische Performanz und postkoloniale Repräsentation am Ende des 20. Jahrhunderts. Köln: Böhlau 2006, S. 85–104, hier S. 87. 17 Widmer, Urs: Die sechste Puppe im Bauch der fünften Puppe im Bauch der vierten und andere Überlegungen zur Literatur. Grazer Poetikvorlesungen. Zürich: Diogenes 2003, S. 46 [Hervorhebung D.G.]. 18 Förster: Wiederkehr des Erzählens, S. 63. 706 Daniela Gretz reproduziere19 und festgestellt: „[T]he imagination of the Congo as a dark place is a cornerstone of the narrative strategy as it serves to bring out the dark revelations about Kuno, the protagonist, and Switzerland’s past and present.“20 Allerdings vernachlässigt Grünwald bei seiner anschließenden Kritik, es mangele dem Text an einem wirklich postkolonialen Rahmen, der die koloniale Topik als solche entlarve, zum einen die überbordende Komik des Romans, die auf ein Verlachen des Kolonialdiskurses zielt, und zum anderen, dass es sich in den kursivierten Passagen nicht einfach um eine Reproduktion kolonialer Topik handelt – vielmehr reflektieren Kunos ‚Afrikaphantasien‘ nicht zuletzt die vorausgehenden Schweizer Ereignisse. So dreht sich in der ersten kursivierten Passage, die auf Kunos traumatische Kindheitserinnerung vom Tod seiner Mutter folgt, alles um Leid und Tod: Die Eingeborenen des Kongo wissen so sehr, daß die Menschen zum Leid geboren sind, daß sie nicht darauf achten. Es nicht erkennen. Sie wissen nicht, was Leid ist. Sie kennen kein Wort dafür. Für uns sind sie grausam, nur für uns. Ihnen ist das Töten selbstverständlich, das jähe Umkommen. […] Fühllos gehen sie über die Leichen die die Opfer der Höheren wurden. Nachbarn, Verwandte. Sie sind wie die Tiere ihrer Wälder. Tragen den Tod in sich, wissen nichts von ihm. – Das ganze Land, das Herz Afrikas, ist Wald. Grün, feucht, ewig. […] Es gibt keine Erinnerung, es gibt keine Zukunft. Die Gegenwart ist bewußtlos. […] Morgen bist du tot. Andere gehen über deinen Kadaver. Hunde verschleppen die Knochen deines Skeletts. Spielen mit ihnen, achtlos, bis ihnen ein Panther ins Genick springt. (IK, 20f.) Der gesamte Abschnitt stellt eine Verarbeitung der Konfrontation mit der existenziellen Fremdheitserfahrung des Todes dar, wobei die vermeintlichen afrikanischen Verhältnisse als „Chiffre für das ganze Andere“21 topisch die Verdrängung des Todes im alltäglichen Leben ebenso reflektieren wie die durch die Konfrontation mit dem Tod der Mutter ausgelöste Angst vor dem eigenen Tod. Selbst die vermeintliche Fühllosigkeit der Eingeborenen ließe sich als eine durch das eigene Trauma ausgelöste Wunschvorstellung interpretieren; schließlich wird im Rahmen der imaginierten und projizierten Bewusstlosigkeit selbst der Tod seiner traumatisierenden Wirkung beraubt. Kurzum: In den kursivierten Passagen geht es gerade nicht um eine authentische Darstellung Afrikas, sondern um eine solche des ‚wahren inneren Afrikas‘, 19 Vgl. dazu: Grünwald, Tim: „‚In den Kongo, wo die Schwarzen am schwärzesten sind‘. Colonial discourse in Urs Widmer’s ‚Im Kongo‘“. In: Focus on German studies 12 (2005), S. 117–134, bes. S. 122–126 und das Fazit: „Im Kongo reproduces the colonist imagination of its model Heart of Darkness“, ebd. S. 131. 20 Ebd., S. 128. 21 Köhler: „Der postkoloniale Blick“, S. 86. Expeditionen ins ‚i/Innere Afrika/s‘ 707 der vielgestaltigen Abgründe der menschlichen Seele. Dem entspricht, dass Kuno, in Afrika angekommen, erfährt, dass nicht sein Jugendfreund Willy,22 sondern er selbst das Foto aus dem Familienalbum entwendet und an Nachbar Schmirhahn – von dessen Haus aus die tödlichen Schüsse abgegeben wurden – übergeben hatte, das den Nazischergen, die seine Mutter ermordeten, zur Identifizierung ihrer Opfer diente: „Erinnerst du dich?“ rief ich. […] „Als ich vier Jahre alt war, und du fünf? Wir schauten das Fotoalbum an. Ein Foto von mir, Harry Harder und meiner Mutter!“ […] er sagte, ohne zu zögern: „Und dem Hund! Wie heute!“ „Du hast das Foto aus dem Album gerissen und Anselm gebracht!“ „Ich?“ […]. Er sah mich an. „Du hast das Foto genommen. Du hast es Anselm gebracht. Dir hat er dafür ein Bolzengewehr geschenkt. Nicht mir.“ Ich erinnerte mich an das Gewehr. Nur, ich hatte gedacht, ich hätte es von meinem Papa. […] „Ich?“ sagte ich. Der entsetzliche Willy neben mir nickte. Ich fühlte mich schwindelig. (IK, 135) In diesem Zusammenhang ist eine stereotype Darstellung Afrikas zwar unvermeidlich, doch wird der dieser Afrika-Topik zu Grunde liegende Projektionsmechanismus als allgemeiner Wahrnehmungsmodus des Fremden selbstreflexiv vorgeführt und ausgestellt. Denn mittels dieses Modus werden kollektiv im Prozess der Zivilisation ebenso wie individuell im Prozess der Identitätsbildung disziplinierte und marginalisierte Anteile der menschlichen Natur gleichermaßen ins Unbewusste verdrängt, wie auf das Fremde übertragen und so externalisiert. Da dieser Projektionsmechanismus die ‚innerer Kolonisierung‘ mit der Ideologie des Kolonialismus verbindet, die gerade auf dessen Verschleierung angewiesen ist, liegt in seiner Sichtbarmachung jedoch zugleich ein zutiefst anti-kolonialer Impuls.23 Zudem sind die Abgründe von Lüschers Psyche nicht die einzigen, die sich im Verlauf des Textes und der Afrikareise auftun. Neben der individuellen Verschul- 22 Vgl. dazu IK, 92. 23 Im Grunde vollzieht Widmer so literarisch den von Homi K. Bhabha, in Auseinandersetzung mit Saids Orientalism, eingeforderten Perspektivwechsel in der Erforschung des kolonialen Stereotyps: Weg von der Beschreibung der stereotypen, dichotomischen Ordnung des kolonialen Diskurses, hin zur Darstellung der ambivalenten psychischen Prozesse der Stereotypisierung, die Teil der Identitätsbildung sind. Vgl. dazu: Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Dt. Übers. von Michael Schiffmann u. Jürgen Freudl. Tübingen: Stauffenburg 2000, S. 97–124. 708 Daniela Gretz dung Kunos werden noch eine Reihe familiärer wie nationaler Schuldzusammenhänge offenbar, die lange im Dunkeln eines nunmehr kollektiv verstandenen ‚inneren Afrikas‘ geblieben waren. So verdeutlicht die Geschichte der Industriellen-Familie Schmirhahn und der Brauerei im Kongo zum einen, dass die Schweizer zumindest indirekt vom Kolonialismus profitierten, wobei auch eine Verbindungslinie zu neo-kolonialen Wirtschaftsstrukturen der Gegenwart gezogen wird.24 Zum anderen steht das Haus Schmirhahn „als Herzort des Schweizer Nationalsozialismus“ (IK, 68) für eine wohl nicht nur ideelle Schweizer Anteilnahme am Nationalsozialismus, die sich zudem noch in der ambivalenten Stellung Bergers dokumentiert, eines alten Weggefährten von Kunos Vater, der zwar einerseits die Nazis als Schweizer Geheimagent ausspioniert, andererseits jedoch als „Kriegsgewinnler“ (IK, 85) profitable Geschäfte mit ihnen macht und so den Mythos von der Schweizer Neutralität konterkariert.25 Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang die auffällige, bis ins Detail inszenierte Parallelisierung der Szenen zwischen Berger und Hitler (IK, 82, 90) und Kuno und Mobutu (IK, 130, 159). So wird nicht nur angedeutet, dass Kuno, der als neuer Brauereidirektor wenigstens „in der Theorie“ „[a]frikanisches Bier“ herstellt (IK, 163), genauso in neokoloniale Strukturen verstrickt ist, wie zuvor Berger in nationalsozialistische Machenschaften, sondern es wird auch eine zumindest strukturelle Verbindung zwischen (Neo-) Kolonialismus und Nationalsozialismus nahegelegt.26 Damit aber noch nicht genug der Schweizerischen Selbstkritik: Im Flüchtlings-Motiv, das die Darstellung der Nazi-Herrschaft27 mit dem Mobutu-Regime28 sowie der weiterhin vorherrschenden neo-kolonialen Wirtschaftsstruktur und der gegenwärtigen Schweizer Abschiebepolitik29 verbindet, wird erneut die Schweiz parallel zu Afrika als ‚Ort der Finsternis‘ in Szene gesetzt. Der Text erweist sich so als ein 24 Vgl. dazu: IK, 33 und IK, 119. 25 Vgl. Arnds: „Into the heart of darkness“, S. 331. 26 So zeichnet sich Mobutus ‚Hofstaat‘, dessen Clan-Symbol dem Profil von Michelin-Reifen entspricht (IK, 133), wodurch eine Verbindungslinie von der Kautschuk-Produktion unter Leopold II. zum Engagement westlicher Firmen unter Mobutu gezogen wird, zudem durch einen „geradezu wilhelminischen Stechschritt“ aus, und Mobutu selbst kündigt an, er werde die Brauerei in Kürze „heim in [s]ein Reich holen“ (IK, 130). 27 Vgl. dazu IK, 11 und IK, 85. 28 Vgl. dazu IK, 42. 29 Vgl. dazu die Nebenhandlung um den tamilischen Koch des Altenheims, der sich wegen seiner drohenden Abschiebung das Leben nimmt (IK, 55 u. 86f.). Vgl. dazu auch: Arnds: Into the heart of darkness, S. 331 u. 338. Expeditionen ins ‚i/Innere Afrika/s‘ 709 Spiegelkabinett von Motivbezügen, in dem Afrika und Europa auf äußerst überraschende und provozierende Weise als komplementär-entgegengesetzte Teile „einer“ Welt miteinander verschränkt sind, während zugleich „die Grenzen zwischen Realität und Fiktion“, mithin auch zwischen realem Afrika und dem symbolischen „Afrika“ europäischer Phantasien systematisch verwischt werden, so daß der Leser sich spielerisch zur Reflexion seines eigenen Bildes von Afrika und den Afrikanern gezwungen sieht.30 Neben den bereits genannten erzähltechnischen, strukturellen und inhaltlichen Aspekten tragen vor allem die literarischen Darstellungsverfahren der Intertextualität und der grotesken Übersteigerung und Umkehrung von Klischees, sowie die ausufernde Komik des Romans dazu bei, diesen Selbstreflexionsprozess beim Leser in Gang zu setzen: „‚Im Kongo‘ gibt sich also nicht als ‚Afrikaroman‘, sondern als Roman über das sprachlich produzierte Afrika zu lesen.“31 2 Eine Reise ins Totenreich: Hans Christoph Buchs Kain und Abel in Afrika32 Anders als bei Widmer wird in Buchs Roman über den Völkermord in Ruanda die Reziprozität von existenzieller Fremdheitserfahrung und kultureller Fremderfahrung nicht nur performativ vorgeführt und mit Mitteln literarischer Verfremdung aus-, sondern auch explizit hergestellt. Ausschlaggebend ist dafür die komplexe Erzählstruktur des Romans, in der zunächst zwei Ebenen zu unterscheiden sind: Auf der primären Erzählebene der Kapitel 1, 3 und 5, die in den 1990er Jahren situiert ist, erzählt ein namenloser Journalist, als alter ego Buchs, in der zweiten Person Singular von seinen eigenen Reisen in die Region, in der 1994 der Genozid stattfand. Hinzu kommt eine zweite, historische Erzählebene in den Kapiteln 2, 4 und 6, auf der der Ich-Erzähler Richard Kandt, in Anlehnung an die Reiseberichte des gleichnamigen Afrikaforschers und ersten deutschen Residenten in Ruanda, seine Erfahrungen vom Ende des 19. Jahrhunderts mitteilt. Damit erfolgt zum einen eine bewusste Verflechtung der postkolonialen Gegenwart mit der kolonialen Vergangenheit, zum anderen eine systematische Vermischung von Fakten und Fiktion.33 Verkompliziert wird das Ganze durch ein den Kapiteln 1, 3 und 5 folgendes Postscriptum, in dem der Du-Erzähler explizit Selbstreflexion treibt und 30 Göttsche: „Zwischen Exotismus und Postkolonialismus“, S. 212. 31 Köhler: „Der postkoloniale Blick“, S. 88. 32 Buch, Hans Christoph: Kain und Abel in Afrika. Berlin: Volk & Welt 2001. In der Folge zitiere ich aus dem Text unter Angabe der Sigle KA und der Seitenzahlen in nachgestellten Klammern. 33 Vgl. dazu: Göttsche: „Der neue historische Afrika-Roman“, S. 261–280. 710 Daniela Gretz so eine Titel, Motto, Prolog, Epilog und Nachbemerkung umfassende paratextuelle Metaebene eröffnet. Aufschlussreich für das Verhältnis von existenzieller und kultureller Fremd(heits)erfahrung sind vor allem die drei Postskripta. Im ersten inszeniert der Erzähler den Roman als ‚Erzählen gegen das Vergessen‘, bei dem er sich zugleich die traumatischen Erfahrungen vielfältigen Elends von der Seele schreiben will. Zum Symbol der Traumatisierung wird dabei ein Paar blutbefleckter weißer Turnschuhe, die Spuren des vom Erzähler miterlebten Massakers von Kibeho tragen: Wohin damit? Die Antwort auf diese Frage ist der vorliegende Roman, und bis zu seiner Fertigstellung hast du die blutbesudelten Schuhe auf dem Grund des Wäschekorbs unter einem Berg von schmutziger Wäsche versteckt oder zwischengelagert, wie man auf neuhochdeutsch sagt. (KA, 54) Dabei gibt die in Form eines merkwürdigen Stilbruchs vorgenommene mythologische Verklärung der Turnschuh-Episode näher Auskunft über die Art des Traumas: Ohne dir die Füße naß zu machen, hattest du den Lethe-Fluß durchquert – nur die Spitze deines großen Zehs hattest du im Wasser des Vergessens genetzt – und warst wie Orpheus aus der Unterwelt lebend aus dem Totenreich zurückgekehrt. (KA, 53) Bemerkenswert ist an diesem schiefen Vergleich vor allem, dass das Wasser des Vergessens mit dem Blut auf den weißen Turnschuhen korrespondiert, das den Erzähler des Romans gerade nicht vergessen lässt: Er ist nicht davongekommen, ‚ohne sich die Füße nass zu machen‘. Der Antrieb des Schreibens ist wiederum die Verarbeitung einer traumatischen Erfahrung, in der die Grenze zum Totenreich überschritten wurde. Anders als bei Widmer ist aber hier zunächst noch kein konsekutiver oder gar kausaler Zusammenhang zwischen Todeserfahrung und Afrikareise zu erkennen. Ein solcher wird ungefähr in der Mitte des Romans im zweiten Postscriptum hergestellt, wobei sich erneut der Tod der Mutter als Nukleus des Erzählens erweist: Am Tag nach dem Tod deiner Mutter überfällt dich wie ein jäher Schmerz die Gewißheit, daß du von nun an niemandes Sohn mehr bist. […] nach dem Tod deiner Mutter hat sich die Erde um sich selbst gedreht, „als sei nichts geschehen“ […] und sie wird sich weiter um die Sonne drehen ohne deine Eltern und bald auch ohne dich. (KA, 119) Allerdings ist der Anlass der Afrikareise hier nicht der Tod der Mutter, sondern ihr Sterben, das die Erinnerung an den zurückliegenden Tod des Vaters wachruft: Expeditionen ins ‚i/Innere Afrika/s‘ 711 […] du denkst darüber nach, welche unbewußte Motivation dich dazu trieb, vor deiner sterbenden Mutter nach Afrika zu entfliehen und Berichte über Morde und Massaker zuschreiben, deren Lektüre sogar für Gesunde schwer erträglich, für eine Kranke, die selbst dem Tod entgegengeht, aber unzumutbar ist. Vielleicht steckte dahinter der Wunsch, den Schmerz, den du seit dem Tod deines Vaters empfunden hast, einzutauschen gegen einen anderen, größeren Schmerz: der Versuch, dein privates Leiden zu kompensieren durch ein überindividuelles Leiden, das jeden normalen Maßstab übersteigt und dir gerade dadurch Halt und Orientierung gibt. Aber das sind nachträgliche Projektionen, die nichts erklären: Was bleibt ist die unglaubliche Rohheit, mit der du deiner Mutter zu verstehen gibst, die durch ihre tödliche Krankheit ausgelösten Schmerzen und Ängste seien harmlos im Vergleich zu dem, was du in Ruanda gesehen und erlebt hast. (KA, 121) Wenn der Erzähler hier die unbewusste Motivation als nachträgliche Projektion abtut, entspricht genau dies dem Muster der Verdrängung, zumal sich herausstellt, dass er sich am Tod der Mutter mitschuldig fühlt, weil er sie kurz nach seinen Überlegungen „reglos mit geschlossenen Augen und offenem Mund im Bett“ findet, „das Zeitungsblatt mit der Überschrift GEMETZEL IM JAMMERTAL auf dem von Tränen feuchten Kopfkissen neben sich.“ (KA, 122) Legt diese selbstreflexive Passage zunächst nahe, dass das kollektive Leid des Genozids den Schmerz über den Tod der Eltern verdecken soll, zeigt sich später, dass hier implizit auch die Projektionsverhältnisse zwischen ‚innerem Afrika‘ und eigener Afrikadarstellung adressiert werden. Einen ersten Hinweis darauf findet man im dritten und letzten Postscriptum, in dem der Erzähler berichtet, wie der tote Vater ihn „noch regelmäßig besucht, tagsüber und in den Träumen der Nacht“ (KA, 177). Ein solcher aufschlussreicher Traum, den der Erzähler in Afrika hat, wird im 5. Kapitel des Romans erzählt: Im Traum bist du Stanley auf der Suche nach Livingstone. „DOCTOR LIVINGSTONE, I PRESUME“, sagst du, aber der alte Mann im abgetragenen Anzug, der aus der Tür der Hütte tritt, ist nicht Livingstone, sondern dein verstorbener Vater. […] „Du bist also gar nicht tot“, sagst du, „nur scheintot. Warum hast du das nicht gleich gesagt?“ (KA, 172) Der Vater antwortet dem Sohn auf diese Frage mit einer Reflexion über seine Wanderungen durch Afrika, in der zwar koloniale Afrika-Topoi (wie die Infragestellung der Menschlichkeit dieser „Wesen“ mit den „dunkle[n] Gesichtern“ und die scheinbare Geschichtslosigkeit des Kontinents) bemüht werden, die letztlich aber eine Allegorie des Totenreichs darstellt: „Auf meiner Wanderung durch Afrika […] klang der Boden unter meinen Füßen hohl, und der Abstand, in dem der dumpfe Ton sich wiederholte, sagte mir, daß ich über Leichen ging.“ (KA, 172f.) Afrika steht hier erneut als Chiffre für das ‚innere Afrika‘, in diesem Fall für die verdrängte eigene menschliche Sterblichkeit. Deshalb verwundert es kaum, dass der Vater als Wiedergänger an dieser Stelle zugleich zum ‚Doppelgänger‘ des 712 Daniela Gretz Sohnes wird, der – allerdings offenbar nicht so unbeschadet, wie er sich selbst glauben machen will – aus dem Reich der Toten zurückgekehrt ist. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass Julia Kristeva im Rahmen ihrer Freud-Lektüre in Fremde sind wir uns selbst nahelegt, ein wesentlicher Auslöser für eine Wiederkehr des Verdrängten sei „[d]ie Konfrontation mit dem Tod und seinen Vorstellungen“,34 und Freud selbst in Das Unheimliche konstatiert, dass „der Doppelgänger […] ursprünglich eine Versicherung gegen den Untergang des Ichs, eine ‚energische Dementierung der Macht des Todes‘“ ist, sich „das Vorzeichen des Doppelgängers“ nach dem Verlassen der frühkindlichen Phase der psychologischen Entwicklung jedoch ändert und er „aus einer Versicherung des Fortlebens […] zum unheimlichen Vorboten des Todes“35 wird. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich unschwer in der oben zitierten Traumsequenz verdeutlichen: Aus dem Doppelgänger-Vater, der anfangs durch seine Anwesenheit den Tod zu dementieren scheint, wird am Ende für den Erzähler (wieder) der Vorbote des eigenen Todes. Eine ähnliche Wiederkehr von Verdrängtem lässt sich auch in anderen Passagen der beiden Afrikareiseberichte des Romans beobachten, wobei neben dem Tod vor allem die intrikate Verbindung von Gewalt und Sexualität eine Rolle spielt. Entsprechend charakterisiert Kandt selbst seine Reise nicht zuletzt als eine Reise in das ‚wahre innere Afrika‘ der menschlichen Seele, dem er selbst im geographischen Inneren Afrikas nicht entkommen kann: Aber ich will den Leser nicht mit den faits divers meiner Reise langweilen, die nicht Wochen und Monate, sondern Jahre dauerte und, genaugenommen, nie zu Ende gegangen ist, denn Sansibar liegt nicht im Indischen Ozean, sondern im Meer des Vergessenes, das kein Fährmann überquert, und der Nil entspringt nicht im Kiwusee, am Ostrand des großen Grabenbruchs, sondern im tiefsten Inneren des menschlichen Gehirns, dort, wo das phylogenetisch ältere Stammhirn ins phylogenetisch jüngere Großhirn überlappt: Nicht umsonst hat Afrika den Beinamen der dunkle Kontinent. (KA, 86) Der vermeintlich dunkle Abgrund in Kandts Seele, die eigene Homosexualität, sucht ihn während seiner Afrikareise signifikanterweise immer in den Momenten heim, in denen er koloniale Gewalt ausüben will, um seinem Diener Mabruk nachdrücklich dessen untergeordnete Stellung in der kolonialen Hierarchie zu verdeutlichen: „Hams’Ischrin!“ Mit diesem drakonischen Befehl ahndete ich Mabruks Eigenmächtigkeit und verurteilte ihn zu fünfundzwanzig Hieben mit der Nilpferdpeitsche. Aber beim Anblick 34 Kristeva:Fremde sind wir uns selbst, S. 201. 35 Freud: „Das Unheimliche“, S. 258. Expeditionen ins ‚i/Innere Afrika/s‘ 713 seines nackten Hinterns, dessen Haut sich vor Schreck blau färbte, ließ ich Gnade vor Recht ergehen […]. (KA, 75) (Daß ich Gnade vor Recht ergehen ließ, hatte mehr mit meinem seelischen Gleichgewicht zu tun als mit der körperlichen Unversehrtheit meines Boys. Der Anblick von Mabruks nacktem Hintern, auf dem jeder Hieb mit der Peitsche einen blutigen Striemen hinterließ, versetzte mich in fieberhafte Erregung, die ich nur unter Kontrolle bekam, indem ich meinen rotglühenden Kopf in eiskaltes Wasser tauchte, was mir den Spitznamen „bana koga“, Wasserkopf, eintrug. Aber das nur in Klammern.) (KA, 83) Nachdem sich so die kompensatorische Entladung sexueller Erregung in Form kolonialer Gewalt als kontraproduktiv erwiesen hat, kommt es schließlich zu einer körperlichen Annäherung zwischen Mabruk und Kandt, die diesen so nachhaltig beeinflusst, dass er nach Mabruks Tod die „Liebe zum Leben“ verliert und in eine „melancholische Depression“ (KA, 230) verfällt. Selbst in seiner eigenen Todesstunde, weit entfernt von Afrika, auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs, sucht ihn Mabruk noch als Wiedergänger in Gestalt des Todes heim, der gekommen ist, um ihm den „Todeskuß“ (KA, 209) zu geben: Doch der ungebetene Besucher ließ sich nicht abwimmeln und als ich aufblickte, sah ich das Gesicht von Mabruk vor mir. „Ich dachte, du seist tot“, hörte ich mich sagen, während ich ihn selig lächelnd in die Arme schloß, „wie dumm von mir!“ Und nach dieser Umarmung hatte ich mich mein Leben lang gesehnt. (KA, 210) An dieser Stelle ist vor allem die Parallelität zur imaginären Begegnung des DuErzählers der ‚Gegenwartskapitel‘ mit seinem toten Vater auffällig. Erneut wird die – diesmal doppelte – Wiederkehr des Verdrängten, der Homosexualität wie des Todes, begleitet von der in Freuds Das Unheimliche als topisch charakterisierten Motivik des Doppelgängers. Die für Kandts Reisebericht maßgebliche Verbindung von Gewalt, Sexualität und Tod und die mit dieser einhergehenden Reziprozität des ‚inneren Afrika‘ mit dem Inneren Afrikas wiederholt sich auf der Ebene des Du-Erzählers bei der Episode um die Ruanderin Evanys, die dem Reporter von ihren traumatisierenden Erlebnissen erzählt: „Du legst tröstend den Arm um sie und kommst dir ungeheuer schäbig vor, denn ihre Erzählung hat dich sexuell erregt.“ (KA, 112) Anschließend folgt eine durchaus bizarre Szene, denn die Frau, der die Erregung des Reporters offensichtlich nicht entgangen ist, bietet diesem an, er könne mit ihr schlafen, wenn er wolle, sie empfinde dabei ohnehin nichts „außer Ekel“, weil sie zu oft vergewaltigt worden sei: „Sex ist für mich nur noch eine Form von Gewalt.“ (KA, 112) Dem entspricht die Beschreibung dessen, was sich nun abspielt: 714 Daniela Gretz Als sich die Tür hinter euch schließt, fallt ihr wie hungrige Hyänen übereinander her. Was sich im Duschraum und auf dem schmutzigen Teppichboden der Auberge du Kivu abspielt, hat weder mit Liebe noch mit Sex zu tun. Es ist eine Serie konvulsischer Entladungen, eine gewaltsame Abfuhr aufgestauter Energie, die zwei ineinander verbissene Körper schüttelt. (KA, 113) Sicherlich ist hier die „existenzielle Verunsicherung“ der Überlebenden angesichts der Gewalt und des massenhaften Todes im Genozid als Hintergrund der sexuellen Entladung spürbar. Wenn aber der Autor dieser Passage eine „kathartische Funktion“ zuspricht, weil sich so die „existenzielle Verunsicherung […] vom Autor auf den Leser übertrage“,36 klingt das zumindest äußerst gewagt. Ob die zugrunde liegende riskante Schreibstrategie einer „terroristischen Überwältigungspoetik“37 aufgeht, die den Tabubruch des Genozids durch einen analogen sprachlichen Tabubruch vermitteln will, der die Grenzen des guten Geschmacks provokativ in Richtung Obszönität überschreitet, muss wohl letztlich jeder Leser für sich selbst entscheiden. Auch wenn man das erzählerische Experiment mit dem Leser für gelungen erklärt, kann man sich doch in der Gesamtbetrachtung des Romans des Eindrucks nicht erwehren, dass der Erzähler denselben Projektionsmechanismen erliegt, die Buch in Die Nähe und die Ferne anhand von Georg Forsters Tahiti-Darstellungen herausarbeitet: „Es handelt sich um eine psychologische Projektion, mit der ein europäischer Reisender seine sexuellen Sehnsüchte und Ängste auf außereuropäische Menschen überträgt, deren Verhalten sich auch ganz anders deuten ließe.“38 Denn dass „[d]ie einheimischen Frauen meistens Projektionsfiguren 36 Lubrich, Oliver u. Hans Christoph Buch: „Wie ich Livingstone fand. Reise ins äußerste Afrika“. In: Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und phantastischer Entdeckungsreisen. Hg. von Christof Hamann u. Alexander Honold. Göttingen: Wallstein 2009, S. 171–179, hier S. 174. 37 Ich verwende den Begriff an dieser Stelle zur Charakterisierung von Buchs Schreibstrategie in einem etwas anderen Sinn als Stockhammer. Dieser prägt den Begriff u. a. in Zusammenhang mit dem Du-Erzählverfahren, das den Leser geradezu in einem der ‚Hypnose strukturidentischen Verfahren‘ terroristisch dazu zwinge, sich in die Situation der Opfer hineinzuversetzen. Vgl. dazu: Stockhammer, Robert: Ruanda. Über einen anderen Genozid schreiben. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 112f. Ich verstehe, im Anschluss an Paul Michael Lützeler, die Du-Form eher als Verfahren einer kritischen Selbstdistanzierung des Erzählers, die das eigene Erzählen als unzuverlässig markiert. Vgl. dazu: Lützeler: Menschenrechtsethos, S. 121. Dennoch scheint mir Stockhammers Begriff zur Beschreibung des Schreibverfahrens in dieser Passage geeignet, das versucht, die existenzielle Verunsicherung mittels einer analogen sprachlichen bzw. stilistischen Verunsicherungen auf den Leser zu übertragen. 38 Buch, Hans Christoph: Die Nähe und die Ferne. Bausteine zu einer Poetik des kolonialen Blicks. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 22.   Expeditionen ins ‚i/Innere Afrika/s‘ 715 erotischer Phantasien“ darstellen und die „Begegnung mit ihnen […] das sexuelle Begehren“39 beflügelt, zeigt sich bereits zu Beginn des Romans anhand der Beschreibung der ruandischen Literaturkritikerin Madeleine Rurasagabiza: Wahrscheinlich stammte sie aus einer der Königsfamilien Ruandas oder Burundis […] sah wie eine Pharaonenprinzessin aus, wie Nofretete oder Königin Tewe höchstpersönlich. […]. Madeleines Haut war schwarz wie Elfenbein, nein, das ist kein Schreibfehler, sie war hochgewachsen und langbeinig, wie alle Tutsi-Frauen und hatte ein klassisches Pharaonenprofil. […] Sie trug eine um ihre Hüften schwingende Leopardenjacke […] und entblößte ihre Zähne zu einem blendenden Lächeln, das deinen Penis wie einen schläfrigen Wachposten Haltung annehmen ließ. (KA, 17) Nicht nur die zu beobachtende Erotisierung der exotischen Frau, sondern auch die hier verwendeten kolonialen Stereotype aus dem Umfeld der Hamiten-Hypothese40 deuten darauf hin, dass der Text noch durch einen kolonialen Blick41 geprägt ist. Dies zeigt sich auch an einer Reihe intertextueller Bezüge zur griechischen wie römischen Mythologie42 und zu europäischen, vor allem deutschen Klassikern,43 die sich einerseits als Indiz dafür lesen lassen, dass der Text die afrikanischen Ereignisse aus einer eurozentrischen Perspektive schildert, was er allerdings zugleich bewusst ausstellt. Dies wird besonders anhand der bereits zitierten intertextuellen Bezugnahmen auf Stanleys Reiseberichte (KA, 172, 186) deutlich, in denen der Erzähler sich als neuer Stanley zu erkennen gibt. Andererseits lassen sich die intertextuellen Bezüge aber auch im Rahmen einer Strategie der Universalisierung der im Genozid hervortretenden allgemein menschlichen Abgründe lesen.44 39 Agossavi, Simplice: Fremdhermeneutik in der zeitgenössischen deutschen Literatur. An Beispielen von Uwe Timm, Gerhard Polt, Urs Widmer, Sibylle Knauss, Wolfgang Lange und Hans Christoph Buch. St. Ingbert: Röhrig 2003, S. 169. 40 Vgl. dazu auch KA, 221 und Stockhammer: Ruanda, S. 16f. u. 128f. 41 Eine Unterscheidung in einen kolonialen Blick Kandts und einen postkolonialen Blick des DuErzählers (vgl. Lützeler: Menschenrechtsethos, S. 122), scheint mir in diesem Zusammenhang nicht haltbar. Zur Kritik am (post-)kolonialen Blick Buchs vgl. allgemein: Zantop, Susanne: „Der (post-) koloniale Blick des ‚weißen Negers‘: Hans Christoph Buch: Karibische Kaltluft“. In: Schriftsteller und ‚Dritte Welt‘: Studien zum postkolonialen Blick. Hg. von Paul Michael Lützeler. Tübingen: Stauffenburg 1998, S. 129–152, sowie zu Kain und Abel in Afrika: Yeo, Lacina: „Die Rehabilitation Subsahara-Afrikas in der deutschsprachigen Literatur nach 1960. Ein Beitrag zum postkolonialen Diskurs“. In: Koloniale und postkoloniale Konstruktionen von Afrika und Menschen afrikanischer Herkunft in der deutschen Alltagskultur. Hg. von Marianne Bechhaus-Gerst u. Sunna Giesecke. Frankfurt/M.: Lang 2006, S. 195–213. 42 Vgl. u. a. KA, 12, 52, 211. 43 Vgl. u. a. KA, 67, 102, 115. 44 Agossavi: Fremdhermeneutik, S. 163.     716 Daniela Gretz Diese Strategie der Universalisierung wird zudem an der Verbindungslinie zwischen der deutschen Kolonialherrschaft und dem Genozid deutlich, die im Roman gleich zweifach gezogen wird: Implizit durch die Verschränkung der beiden Erzählebenen, auf denen von beiden deutschen Erzählern Bahutu- und Batutsi-Zuschreibungen gleichermaßen ‚inflationär‘45 gebraucht werden, explizit in der Nachbemerkung, in der Buch den deutschen Kolonialherren eine Mitschuld an der späteren Eskalation zuschreibt (KA, 221). Stockhammer sieht in diesem Zusammenhang den ‚inflationären‘ Gebrauch ethischer Zuschreibungen auf der Du-Erzählebene kritisch, weil so im Hinblick auf die – in der Nachbemerkung thematisierten – konkurrierenden rassistischen und sozialgeschichtlichen Erklärungsmuster für den Konflikt zwischen Batutsi und Bahutu eher der rassistischen Hamiten-Hypothese als der These einer sozialen Ausdifferenzierung einer Ethnie das Wort geredet werde. Stockhammer vernachlässigt hierbei jedoch die Tatsache, dass im Roman beide Erzähler gleichermaßen einen eurozentrischen Blick repräsentieren, der auch als solcher ausgestellt wird. Nimmt man die Paratexte, wie Titel und Motto, die in der Anspielung auf den biblischen Brudermord eindeutig für die soziale Ausdifferenzierung plädieren, oder den Epilog, der als „Meisterstück erzählerischer Verunsicherung“46 beide Erzähler gleichermaßen als „unzuverlässige Erzähler“47 kennzeichnet, mit hinzu, wird evident, dass der Roman als Ganzes zum einen genau diese eurozentrische Perspektive reflektiert und kritisiert und ihr zum anderen eine Mitschuld am Genozid gibt und diesen so gerade nicht als spezifisch afrikanisches Problem erscheinen lässt. – Nicht zuletzt sind jene Passagen Teil der umfassenden Universalisierungsstrategie des Romans, in denen die Verbrechen von Nazis und Neonazis in Deutschland thematisiert werden. Implizit ist damit der Hinweis auf die zumindest strukturell ähnliche Wahrnehmung des Fremden/Anderen verbunden, die gleichermaßen dem Genozid in Ruanda wie dem Holocaust sowie aktuellen Formen von Ausländerfeindlichkeit zugrunde liegt und an der auch die hier verhandelten Projektionsmechanismen ihren Anteil haben. Besonders offensichtlich wird eine derartige übergreifende Universalisierung aber bei den Paratexten des Romans betrieben. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang Titel und Motto des Romans, die sich auf den biblischen Brudermord von Kain an Abel beziehen und so nahelegen, „dass es bei diesem Bruder- 45 Vgl. dazu: Stockhammer: Ruanda, S. 128f. 46 Lützeler, Paul Michael: „Hans Christoph Buch, Kain und Abel in Afrika“. In: ders.: Postmoderne und postkoloniale deutschsprachige Literatur. Diskurs – Analyse – Kritik. Bielefeld: Aisthesis. 2005, S. 202–204, hier S. 204 (Erstveröffentlichung der Kritik in: Neue Züricher Zeitung, 13.06.2001). 47 Lützeler: Menschenrechtsethos, S. 122. Expeditionen ins ‚i/Innere Afrika/s‘ 717 mord um ein in der Geschichte der Menschheit wiederkehrendes Verbrechen geht“,48 welches sich im Genozid der ackerbauenden Bahutu an den BatutsiNomaden wiederholt. Darüber hinaus dient vor allem das Motto auch einer Verunsicherung vorschneller Täter- und Opferzuschreibungen, weil es nicht beim Mord von Kain an Abel stehen bleibt, sondern die Konsequenzen und den weiteren Verlauf der Geschichte im Auge behält. Dies korrespondiert mit der Darstellung des Genozids im Roman, dessen Hauptteil der Berichterstattung von späteren Racheakten von Batutsi an Bahutu und Flüchtlingsbewegungen der Bahutu gewidmet ist, die der Reporter miterlebt hat – der ‚eigentliche‘ Genozid der Bahutu an den Batutsi im Jahr 1994 gerät erst im Epilog in den Blick, wenn der Erzähler von einem Besuch in der Gedenkstätte von Ntarama berichtet. Dort ist noch eine andere Form der Universalisierung zu beobachten, endet der Epilog doch mit dem Bezug auf „LUCY“ (KA, 218), die gemeinhin als ‚Urmutter‘ aller Menschen gilt. Diese verweist aber zugleich auf den tierischen Ursprung der Menschheit und damit auf jene Anteile der conditio humana, die gleich im doppelten Sinne als ‚dunkle Abgründe‘ des ‚i/Inneren Afrikas‘ im Zentrum des Romans stehen. 3 Eine Reise mit Toten: Christof Hamanns Usambara Auch in Christof Hamanns Roman Usambara49 ist die Reise des Protagonisten Fritz Binder ins Innere Afrikas eine Reise zu sich selbst, die mit der individuellen zugleich die familiäre und nationale Vergangenheit aufarbeitet, wobei der Reisebericht, der als „therapeutische[r] Akt […] die Gegenwart des Erzähler-Ichs von den Schatten der Vergangenheit befreien soll“,50 diesmal weniger als Schreibdenn als mündlicher Erzählakt inszeniert wird,51 im Zuge dessen koloniale Vergangenheit und postkoloniale Gegenwart genauso verschwimmen wie Fakten und Fiktion. Binders Mutter hatte den kleinen Fritz nämlich stets ‚vollgestopft‘ mit Geschichten über seinen Urgroßvater Leonhard Hagebucher, der angeblich 48 Ebd. 49 Hamann, Christof: Usambara. Göttingen: Steidl 2007. Im Folgenden zitiere ich aus dem Roman mittels der Sigle US und Seitenzahlen in nachgestellten Klammern. 50 Catani, Stephanie: „Metafiktionale Geschichte(n). Zum unzuverlässigen Erzählen historischer Stoffe“. In: Ins Fremde schreiben. Hg. von Hamann u. Honold, S. 143–168, hier S. 161. 51 Zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in Usambara vgl.: Beck: Kolonialgeschichte(n), S. 133–148. 718 Daniela Gretz an Hans Meyers Erstbesteigung des Kilimandscharo beteiligt war und der ‚wahre‘ Entdecker des Usambara-Veilchens gewesen sein soll: Die Erinnerung sind von der Urgroßvaterstimme in die Mutterstimme und von da in meinen Kopf hineingewandert. Gespeichert, jederzeit abrufbar. In diesen Stimmen stecken noch ganz andere, von weit her aufgelesene, dann einverleibte. (US, 198) Dieses Stimmengewirr verdichtet sich dann im Erzählakt des Protagonisten und Ich-Erzählers, der in die eigene Gegenwartsgeschichte immer wieder Teile der Urgroßvatergeschichte(n) einbettet. Solange, bis ihn schließlich am Ende des Romans auf dem Weg zum Gipfel des Kibo der Höhenkoller packt und er den gesamten Familienballast öffentlichkeitswirksam ‚auskotzt‘: Eine richtige Fontäne, vergleichbar der bei einem Vulkanausbruch, sei es gewesen, die sich aus meinem Mund auf die Umstehenden ergossen habe. Sicherlich zwei Meter hoch […]. Der von mir ausgelöste Tumult […] sei selbstverständlich […] in allen deutschen Nachrichtensendungen gelaufen. (US, 244) Ausgehend von dieser Schlussszene lässt sich die gesamte Erzählung als analoger logorrhöischer Akt qualifizieren, in dem Binder sich von den Dämonen der Vergangenheit zu befreien sucht. Ausgelöst wird diese Wiederkehr des Verdrängten im zwanghaften Erzählen erneut durch den Tod der Mutter. Dieser initialisiert gleichermaßen die äußere wie die innere Reisebewegung, weil einerseits die kleine Erbschaft dem Sohn die Teilnahme am Kilimandscharo Benefit Run 2006 überhaupt erst ermöglicht, aber vor allem, weil der Tod der Mutter ihn plötzlich mit einer Reihe von unbeantworteten Fragen über die eigene Kindheit und die Familiengeschichte zurücklässt, die ihn nun heimsuchen. Dabei wird das „überbordende Erzählen“ von Urgroßvater, Mutter und Sohn im Verlauf des Romans „als Teil einer Vermeidungsstrategie entlarvt“, die das Schweigen über eigene Verschuldungen verdecken soll.52 Diese Schuldzusammenhänge tauchen nun wiedergängerisch en passant in Fritz’ Erzählungen vom ‚dunklen, inneren Afrika‘ (im doppelten Sinne) auf, im Zuge derer er zum Doppelgänger seines Großvaters wird, indem er dessen Reisebewegung wiederholt und somit die Vergangenheit wiederholt. Im Zentrum steht dabei die prekäre Mutter-Sohn-Beziehung: Während Fritz eine fetischistische Beziehung zu den Beinen seiner Mutter unterhält, empfindet die alleinerziehende Mutter den Sohn, dessen Vater sie verlassen hat, als „Klotz am Bein“ (US, 201), was sich in regelmäßigen Gewaltausbrüchen entlädt: 52 Ebd., S. 54. Expeditionen ins ‚i/Innere Afrika/s‘ 719 Popoklätsche mit Anlauf. […] Wenn Mutter die Kelle schwang, dann tauchte das Bild eines afrikanischen Kriegers vor mir auf. Er trug eine Keule in der Hand, eine Machete. Zu allem bereit. Glatter Kinderpopo. Ohne jede Falte […] Dem Gesicht zu diesem Kinderpopo laufen Tränen übers Gesicht. Abenteurer weinen. (US, 202f.) Neben dem für Fritz weitgehend unbekannt gebliebenen Vater, dessen Leerstelle die Mutter mit Abenteuergeschichten über den Urgroßvater füllt, gibt es einen weiteren dunklen Fleck in der Familiengeschichte der Hagebuchers: den „NaziSchwiegersohn“ (US, 126), Fritz’ Großvater, an dessen Ableben der Urgroßvater, wie der Roman nahelegt,53 nicht ganz unschuldig war. Aber das ist nicht das Einzige, was sich Fritz’ Urgroßvater hat zuschulden kommen lassen. Zumindest wenn man Fritz’ Freundin Camilla Glauben schenkt, die seine romantischen Abenteuererzählungen als „krasse Schönfärberei“ bezeichnet: „die Weißen hätten die Schwarzen abgeschlachtet, das müsse doch wenigstens mal erwähnt werden.“ (US, 100) Wenn Camilla zudem Purtscheller und Meyer zu „Wegbereiter [n] für den Faschismus“ (US, 122, 132) stilisiert, wird endgültig deutlich, dass Usambara nicht zuletzt ein Roman über den deutschen Kolonialismus, genauer gesagt: über den Umgang der Deutschen mit ihrer kolonialen Schuld ist. So verkörpern Fritz und Camilla zwei konträre Positionen deutscher Vergangenheitspolitik: Fritz steht tendenziell für die Romantisierung des deutschen als ‚besseren‘ Kolonialismus,54 während Camilla jene Richtung in der deutschen Erinnerungskultur repräsentiert, die eine Verbindungslinie vom Kolonialismus zum Nationalsozialismus zieht.55 Auch der Eindruck, dass Binder eine nicht genau zu definierende, in männlicher Linie vererbte, Schuld quält,56 lässt sich in diesem Zusammenhang als Reflexion über die Frage einer deutschen Kollektivschuld lesen. In diesem Sinne könnte man das Erbrechen am Ende auch als kollektives Erbrechen einer Generation von Deutschen lesen, die so mit Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur ‚vollgestopft‘ wurde, dass sie, wie Fritz Binder auf 53 Zumindest in Michaels Variante der Geschichte, die mit Camillas Version vom „Mitläufer“Urgroßvater konterkariert wird. Dies korrespondiert mit einer grundlegenden Strategie narrativer Verunsicherung, die letztlich jegliches erinnernde Erzählen als ‚unzuverlässig‘ charakterisiert. Vgl. dazu: Catani: „Metafiktionale Geschichte(n)“, S. 159–166. 54 Vgl. dazu auch: Gerhard, Ute: „‚Blaue Blume‘ und ‚Spießerpflanze‘. Spuren des deutschen Kolonialismus in Christof Hamanns Roman Usambara“. In: Ins Fremde schreiben. Hg. von Hamann u. Honold, S. 323–329, hier S. 326. 55 Vgl. dazu allgemein: Göttsche, Dirk: „Colonialism and National Socialism. Intersecting Memory Discourses in Post-War and Contemporary German Literature“. In: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 9 (2010), S. 217–242. 56 Beck: Kolonialgeschichte(n), S. 56. 720 Daniela Gretz individueller Ebene, keine von diesem Rückbezug auf die (katastrophale) nationale Vergangenheit unabhängige, positive kollektive Identität ausbilden konnte. Das polyphone Darstellungsverfahren, mittels dessen die Stimmen der einzelnen Figuren tendenziell unterschiedliche Diskurspositionen im (post-) kolonialen Feld repräsentieren, die sich in Binders Erzählakt überlagern, ist allerdings im Hinblick auf die eingangs skizzierte Forschungsdiskussion im doppelten Sinne riskant. Zunächst weil damit auf struktureller Ebene Afrika primär Projektionsfläche für innerdeutsche Vergangenheitsbewältigung im Rahmen individueller wie nationaler Identitätsbildung bleibt. Aber auch, weil vor allem die dominante Erzählerstimme Fritz Binders so notwendigerweise erneut eine Reihe kolonialer Topoi transportiert. Freilich wird auch bei Hamann diese Problematik bereits auf vielfältige Art und Weise textimmanent reflektiert: Erstens mittels der verdichtenden, grotesken Übersteigerung des Kolonialdiskurses im postkolonialen Rewriting der kolonialen Prätexte.57 Zweitens durch das Einflechten mindestens zweier Gegenstimmen: der resoluten Camilla und des Tansaniers Ephraim, der Binders Unterfangen ironisch als „[a]ncestor worship“ (US, 161) kommentiert und damit, in perfider Umkehrung der Logik des Kolonialdiskurses, als ‚primitiv‘ kennzeichnet. Drittens, indem der Kilimandscharo Benefit Run 2006 deutlich als neokoloniales Unternehmen charakterisiert wird.58 Schließlich viertens und grundlegend durch eine stetige erzählerische Selbstreflexion, die die Authentizität jedes Erzählens über die Vergangenheit wie die Fremde grundlegend infrage stellt. Dennoch wagt Hamann in zwei Passagen des Romans zumindest den Versuch einer sprachkünstlerischen Vermittlung von Fremdheit: Zum einen in Hagebuchers Sprachspielen (US, 22f.), die dessen kulturelle Fremdheitserfahrung in eine sprachliche zu überführen suchen. Zum andern im letzten Teil des Romans, der den heraufziehenden Wahn des Höhenkollers als weitere Art von Fremdheitserfahrung, durch die sprachliche Überblendung von Urgroßvater- und Urenkelgeschichte und die Zertrümmerung und Re-Kombination von Sätzen und Wörtern zu fassen sucht. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die drei diskutierten Romane jeweils unterschiedlich durch die Reziprozität von existenzieller Fremdheitserfahrung des Todes und kultureller Fremderfahrung der Afrikareise die komplexen Spiegelungsprozesse und Projektionsmechanismen zwischen dem ‚wahren inneren Afrika‘ der conditio humana und dem geographischen Inneren Afrikas des deutschen 57 Vgl. dazu: Ebd., S. 21–47. 58 Vgl. dazu: Hofmann, Michael: Postkoloniale Begegnungen in der globalisierten Welt. Indien und Afrika in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur: Ilija Trojanow: Der Weltensammler und Christof Hamann: Usambara, 2010, hier S. 17, online unter: http://www.germanistik.ch/publikation.php?id=Postkoloniale_Begegnungen_in_der_globalisierten_Welt (Stand: 13.12.2011). Expeditionen ins ‚i/Innere Afrika/s‘ 721 Afrikadiskurses vorführen. Dem damit aus postkolonialer Perspektive verbundenen Risiko der Fortschreibung kolonialer Topoi begegnen die Texte mit genuin literarischen Mitteln, wie erzähltechnischer Polyphonie, Intertextualität, satirisch verdichtender, grotesker Übertreibung und literarischer Selbstreflexion. Diese Strategie setzt beim Leser allerdings die Bereitschaft voraus, die Romane auch als komplexe ästhetische Kunstwerke zu lesen, die den deutschen/westlichen Afrikadiskurs und damit unsere Wahrnehmung des Fremden reflektieren und nicht lediglich als gescheiterte Versuche einer authentischen Afrikadarstellung anzusehen sind. Die Texte demonstrieren also nicht nur, dass das literarische Wagnis der Fremddarstellung im postkolonialen Kontext stets das Risiko ästhetischen Scheiterns in sich trägt, sondern sie stellen das eigene Scheitern sogar systematisch aus. Das so inszenierte Scheitern macht letztlich das notwendige Scheitern authentischer Fremderfahrung nachvollziehbar und zudem Fremdheit als Effekt diskursiver Verfremdung erfahrbar. Siglenverzeichnis IK = Widmer, Urs: Im Kongo. Roman. Mit fünfzehn farbigen Illustrationen von Tina Good. Frankfurt/M. u. a.: Büchergilde Gutenberg 2004. KA = Buch, Hans Christoph: Kain und Abel in Afrika. Berlin: Volk & Welt 2001. US = Hamann, Christof: Usambara. Göttingen: Steidl 2007.   Literaturverzeichnis Agossavi, Simplice: Fremdhermeneutik in der zeitgenössischen deutschen Literatur. An Beispielen von Uwe Timm, Gerhard Polt, Urs Widmer, Sibylle Knauss, Wolfgang Lange und Hans Christoph Buch. St. Ingbert: Röhrig 2003. Arnds, Peter O.: „Into the heart of darkness: Switzerland, Hitler, Mobutu, and Joseph Conrad in Urs Widmer’s novel ‚Im Kongo‘“. In: The German quarterly 71 (1998) N.4, S. 329–342. Beck, Laura: Kolonialgeschichte(n) neu schreiben. Postkoloniales Rewriting in Christof Hamanns „Usambara“. Marburg: Tectum 2011 (= Literatur – Kultur – Text, Bd. 9). Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Dt. Übers. von Michael Schiffmann u. Jürgen Freudl. Tübingen: Stauffenburg 2000. Buch, Hans Christoph: Kain und Abel in Afrika. Berlin: Volk & Welt 2001. Buch, Hans Christoph: „Karibische Kaltluft“. In: Schriftsteller und ‚Dritte Welt‘: Studien zum postkolonialen Blick. Hg. von Paul Michael Lützeler. Tübingen: Stauffenburg 1998, S. 129– 152. Buch, Hans Christoph: Die Nähe und die Ferne. Bausteine zu einer Poetik des kolonialen Blicks. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991. Catani, Stephanie: „Metafiktionale Geschichte(n). Zum unzuverlässigen Erzählen historischer Stoffe“. In: Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und 722 Daniela Gretz phantastischer Entdeckungsreisen. Hg. von Christof Hamann u. Alexander Honold. Göttingen: Wallstein 2009, S. 143–168. Freud, Sigmund: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991. Freud, Sigmund: „Das Unheimliche“ [1. Aufl. 1919]. In: ders.: Studienausgabe, Bd. IV: Psychologische Schriften. Hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey. Frankfurt/M.: Fischer 1970, S. 214–274. Förster, Nikolaus: „Orte der Finsternis, Spielarten des Exotischen. Erzählstrategien an den Grenzen der Sprache“. In: ders.: Die Wiederkehr des Erzählens. Deutschsprachige Prosa der 80er und 90er Jahre. Darmstadt: WBG 1999, S. 58–83. Gerhard, Ute: „‚Blaue Blume‘ und ‚Spießerpflanze‘. Spuren des deutschen Kolonialismus in Christof Hamanns Roman Usambara“. In: Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und phantastischer Entdeckungsreisen. Hg. von Christof Hamann u. Alexander Honold. Göttingen: Wallstein 2009, S. 323–329. Göttsche, Dirk: „Colonialism and National Socialism. Intersecting Memory Discourses in PostWar and Contemporary German Literature“. In: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 9 (2010), S. 217–242. Göttsche, Dirk: „Der neue historische Afrika-Roman: Kolonialismus aus postkolonialer Sicht“. In: German life and letters 56 (2003) N.3, S. 261–280. Göttsche, Dirk: „Zwischen Exotismus und Postkolonialismus. Der Afrika-Diskurs in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“. In: Interkulturelle Texturen. Afrika und Deutschland im Reflexionsmedium der Literatur. Hg. von Mustapha Diallo. Bielefeld: Aisthesis 2003, S. 161–244. Grünwald, Tim: „‚In den Kongo, wo die Schwarzen am schwärzesten sind‘. Colonial discourse in Urs Widmer’s ‚Im Kongo‘“. In: Focus on German studies 12 (2005), S. 117–134. Hamann, Christof: „Der Erzähler und sein Autor. Nachträgliche Gedanken zu meinem Roman Usambara“. In: Literatur für Leser 33 (2011) H. 4/10, S. 205–209. Hamann, Christof: Usambara. Göttingen: Steidl 2007. Hofmann, Michael: Postkoloniale Begegnungen in der globalisierten Welt. Indien und Afrika in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur: Ilija Trojanow: Der Weltensammler und Christof Hamann: Usambara, 2010. http://www.germanistik.ch/publikation.php?id=Postkoloniale_Begegnungen_in_der_ globalisierten_Welt (Stand: 13.12.2011). Köhler, Sigrid: „Postkolonialer Blick auf die Allmachtsphantasien des Ich-Erzählers in Urs Widmers Im Kongo“. In: dies.: Körper mit Gesicht. Rhetorische Performanz und postkoloniale Repräsentation am Ende des 20. Jahrhunderts. Köln: Böhlau 2006, S. 85–104. Kristeva, Julia: Fremde sind wir uns selbst. Übers. von Xenia Rajewsky. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990. Lubrich, Oliver u. Hans Christoph Buch: „Wie ich Livingstone fand. Reise ins äußerste Afrika“. In: Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und phantastischer Entdeckungsreisen. Hg. von Christof Hamann u. Alexander Honold. Göttingen: Wallstein 2009, S. 171–179. Lützeler, Paul Michael: Bürgerkrieg global – Menschenrechtsethos und deutschsprachiger Gegenwartsroman. München: De Gruyter 2009. Lützeler, Paul Michael: „Hans Christoph Buch, Kain und Abel in Afrika“. In: ders.: Postmoderne und postkoloniale deutschsprachige Literatur. Diskurs – Analyse – Kritik. Bielefeld: Aisthesis 2005, S. 202–204. Expeditionen ins ‚i/Innere Afrika/s‘ 723 Lützeler, Paul Michael (Hg.): Der postkoloniale Blick. Schriftsteller berichten aus der Dritten Welt. Frankfurt/M. Suhrkamp 1997. Paul, Jean: „Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele“ [1. Aufl. 1825]. In: ders.: Sämtliche Werke, Abt. I, Vol. 6. Hg. von Norbert Miller. München 1960–1985, S. 1105–1236. Stockhammer, Robert: Ruanda. Über einen anderen Genozid schreiben. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005. Widmer, Urs: Im Kongo. Roman. Mit fünfzehn farbigen Illustrationen von Tina Good. Frankfurt/M. u. a.: Büchergilde Gutenberg 2004. Widmer, Urs: Die sechste Puppe im Bauch der fünften Puppe im Bauch der vierten und andere Überlegungen zur Literatur. Grazer Poetikvorlesungen. Zürich: Diogenes 2003. Yeo, Lacina: „Die Rehabilitation Subsahara-Afrikas in der deutschsprachigen Literatur nach 1960. Ein Beitrag zum postkolonialen Diskurs“. In: Koloniale und postkoloniale Konstruktionen von Afrika und Menschen afrikanischer Herkunft in der deutschen Alltagskultur. Hg. von Marianne Bechhaus-Gerst u. Sunna Giesecke. Frankfurt/M.: Lang 2006, S. 195–213.