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Die von uns gebrauchten Methoden sind sehr einfache Untersuchungsmethoden Ein Interview mit Martin Guttmann (von Benedikt Ledebur) B: Hast du in den Zeitungen über Madame Tussauds Krippenszene mit Victoria und David Beckham als Maria und Joseph gelesen? Als Hirten haben sie die Schauspieler Hugh Grant und Samuel L. Jackson genommen, und Tony Blair, Bush und der Herzog von Edinburgh sind die heiligen drei Könige. Bevor man diese Wachsfiguren herstellte, hatte man 300 Besucher gefragt, welche Berühmtheiten in welcher Rolle zu sehen sein sollten. Ein Sprecher eines hochrangigen Bischofs der Kirche von England hat das als Skandal verdammt. M: Das ist für mich keine besonders nachhaltige oder ernsthafte Reaktion. Sie wollen lediglich die Religion aus der Logik des Boulevards raushalten. Dieser Logik zufolge ist nämlich Beckham berühmter als Jesus, zumindest stehen sie in Berühmheitsskala gleichauf. B: Ich wollte das Augenmerk auf die Mechanik dieser institutionellen Reaktion lenken. Hat nicht auch der Vatikan auf dieses Projekt reagiert? M: Die Reaktion des Vatikans war um einiges nuancierter als jene der Kirche von England. Der Vatikan sagte, dass zwischen der künstlerischen Darstellung Jesu und Maria auf der einen Seite, und jener der Könige und Hirten auf der anderen, ein großer Unterschied bestünde. So habe es innerhalb der gesamten christlichen Kunst immer die Tradition gegeben, Berühmtheiten und auch Stifter als Hirten oder Könige darzustellen, jedoch eben nie als Jesus oder Maria. Das ist ein guter Punkt. Zu Beginn der Renaissance war es der Brauch, Personen, die religiöse Bilder in Auftrag gegeben hatten als betende Figuren an den Rändern des Bildes abzubilden, wobei sie stets im Profil dargestellt wurden. Jesus und Maria hingegen wurden immer als spezifische Personen dargestellt. Das Problem ist demnach wahrscheinlich, dass Jesus und Maria, wenn sie als auf einer Ebene mit den Hirten und Königen stehend behandelt werden, sozusagen degradiert werden. Und das ist natürlich Blasphemie. Das zweite Problem besteht darin, dass Jesus und Maria als symbolische Figuren und nicht als spezifische Personen behandelt werden. B. Die Reaktion der katholischen Kirche hat ja eine lange Tradition. Sogar als religiöse Institutionen selbst Bilder religiösen Inhalts in Auftrag gaben, stand eine freie Interpretation für sie außer Frage. M: Zu Beginn der Renaissance wurde es als unziemlich betrachtet, sein eigenes Portrait in Auftrag zu geben. Die einzige Möglichkeit, portraitiert zu werden, bestand darin, ein religiöses Bild in Auftrag zu geben, in welches man selbst dann als betende Figur Eingang fand. Es war also die Kirche, die das Monopol der Portraitmalerei innehatte. Die These des Humanismus war dann, dass es keiner religiösen Entschuldigung oder Ausrede bedarf, sich portraitieren zu lassen und von diesem Zeitpunkt an finden wir dann Maler wie Bronzino, Raffael und Leonardo, die säkulare Portraits ohne irgendeinen religiösen Vorwand schaffen. Das säkulare Portrait folgte der kapitalistischen Logik: wenn sowohl die Nachfrage nach Portraitmalerei als auch das Angebot bestehen, dann ist das Verbot eines Vertrags zwischen Auftraggeber und Künstler ja sinnlos. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts wurden die säkularen Portraits und andere Praktiken der HochRenaissance dann zunehmend kritisiert. Die Periode wurde als zu materialistisch empfunden, man unterstellte ihr, sich zu weit von Spiritualität und Religion entfernt zu haben, und sogar Leute wie Boticelli ließen sich von Savonarola beeinflussen und warfen ihre eigenen Gemälde, die sie dann auch für oberflächlich und materialistisch hielten, ins Feuer. So begann die Reformation. Die Gegenreformation musste auf diese Kritik eingehen und dementsprechend ihre kulturelle Strategie völlig anders ausrichten. B: Für Caravaggio bedeutete das Vorhandensein privater Käufer, die ihm seine religiösen Gemälde, die die Kirche abgelehnt hatte, abkauften ja eine künstlerische Freiheit beim Malen religiöser Gegenstände. M: Caravaggio war ein wirklich wilder Mann, der es darauf ankommen ließ. Er war ein Verbrecher, ein Gesetzloser. Er malte eine Prostituierte, mit der er befreundet war. Rom war ja damals um einiges kleiner und die Leute gingen viel öfter zu Prostituierten. Als diese Frau dann tagsüber plötzlich als Maria Magdalena auftauchte, erkannten die Leute sie sofort wieder und das war natürlich eine wirkliche Provokation. Trotzdem dürfen wir nicht vergessen, dass dies die Zeit der Reformation war und Leute mit tatsächlichen religiösen Gefühlen den Bezug zwischen Religion und Alltagsleben betonen wollten. Als also Caravaggio die Rolle der Maria Magdalena mit einer Prostituierten besetzte, hätte man auch meinen können er folge gewissermaßen der katholischen Tradition. Er rückte die Armen und Unterdrückten in das Herz der religiösen Empfindsamkeit. B: Was ist mit den niederländischen Portraits des Barock? M: In Rom kämpfte die Kirche während der Gegenreformation verzweifelt darum, ihren Einfluss zurückzugewinnen. Mit diesem Ziel im Hinterkopf investierten sie Unsummen in Architektur und Kunst, um den Grandeur ihrer Institution hervorzuheben. Im Norden führte der Einfluss der Reformation zu einer allgemeinen Demokratisierung der Darstellung. Es wurde immer deutlicher, dass jeder Form des Portraits und sogar Gattungsmalerei eine spirituelle oder sogar religiöse Signifikanz innewohnt. Von diesem Punkt an gab es also eine Synthese von religiösen und nicht-religiösen Bildern und die Grenzen dazwischen begannen zu verschwimmen. Wenn Rembrandt einen alten nachdenkenden Mann malte, dann war das ebenso sehr ein Portrait des heiligen Hieronymus wie das irgendeines Niederländers. Durch die Reformation hatte die Kirche nicht mehr länger das Monopol über die Interpretationen des religiösen Bildes inne. B: Sie versuchen es bis heute! M: Keinem ist das Gewicht visueller Bildwerke besser bekannt als der katholischen Kirche. B: In einem deiner früheren Interviews habe ich gelesen, dass, als ihr Portraitaufnahmen in Italien machtet, die Menschen ganz anders posiert haben als die Leute in anderen Ländern. M: In Italien gibt es eine direkte Kontinuität der visuellen Repräsentation von der Hochrenaissance bis heute. Es werden die gleichen visuellen Codes verwendetet, wenn heutzutage ein Politiker oder ein Geschäftsmann Macht und Reichtum projizieren will. B: Vielleicht sollten wir etwas allgemeiner über visuelle Codes reden? M: Politiker, Anwälte und Geschäftsleute besuchen mit einer gewissen Routine Workshops für public communication und Rhetorik. Es wird ihnen beigebracht, wie sich anziehen sollten aber auch welche Körperhaltungen vorteilhaft sind, welche Handbewegungen ratsam sind usw. All diese Codes kommen direkt aus der Tradition des Portraitierens und die Wichtigkeit der Portraitkunst liegt auch genau darin. Sie hält westliche Codes der Selbstpräsentation fest. In diesem Punkt fallen also die kunsthistorische Perspektive und die zeitgenössische soziopolitische Perspektive völlig zusammen. Jeder Einblick in die Methoden der historische Portraitmalerei ist also auch ein Einblick in das, was einen Menschen mächtig und reich erscheinen lässt. Das war schon immer die Grundlage unseres Interesses an der Portraitkunst. B: Mit welchen Mitteln stellt ihr eure Art von Portraits her, also welche Elemente müsst ihr einführen, um die Codes visueller Repräsentation zu analysieren und zu kritisieren? Kann man überhaupt sagen, dass eure Portraits eine Kritik visueller Repräsentation sind? M: Die von uns gebrauchten Methoden sind sehr einfache Untersuchungsmethoden. Wir stellen Repräsentationen her, die einen Großteil der Codes konstant halten und nur einige ändern. Dadurch wird der systematische Beitrag der Variablen verdeutlicht. Von Anfang an haben wir beispielsweise immer mit Fotographie gearbeitet und nie mit Ölmalerei. Die Frage dabei war, ob die Verschiedenheit der Medien einen signifikanten Einfluss auf die Interpretation der Portraits hat. Wir stellten fest, dass es eher eine Kontinuität als einen Bruch gab, teils sicher auch weil viele Konventionen der Malerei, wie Komposition, Licht, Schatten usw., direkt in die Fotographie übernommen wurden. B: Gibt es noch andere Beispiele? M: In traditionellen Portraits wird eine Einheit des Raumes angedeutet oder behauptet. Wir hingegen benutzen große fotographische Hintergründe die sich ganz offensichtlich vom Raum, den die Figuren einnehmen, absetzen. Wir haben bemerkt, dass es sogar im traditionellen Portrait einen zunehmenden Kontrast zwischen dem Individuum und dem es umgebenden sozialen Raum gibt. Dies ist eines der Paradoxa des Individualismus. Man will sich allein auf die Essenz der Figur konzentrieren und deshalb muss man sie als von ihrem Kontext entfremdet oder ihm entrückt darstellen. Dies impliziert jedoch ein gewisses Maß and Diskontinuität und Beeinträchtigung. Wir haben geglaubt, dass unsere Portraits dieses Problem herausstellen und neues Licht darauf werfen. B: Was ist mit den Anspielungen auf bestimmte Gemälde, die man in euren Portraits findet? M: In vielen Fällen zogen wir ein bestimmtes Portrait als Ausgangspunkt heran. Wir behalten dann genug Merkmale des Originals bei, so dass es erkennbar bleibt, aber ändern eben auch verschiedene Aspekte, so dass der Vergleich interessant und sinnvoll ist. In anderen Fällen verwendeten wir bestimmte Bezüge um unser Material, das wir nicht direkt importieren konnten oder wollten, einzuführen.“ The Marriage Contract” (Der Ehevertrag) aus dem Jahr 1986 zum Beispiel beruht auf der Ikonographie der “Unequal Lovers” (Ungleiches Liebespaar), die in nördlichen Holzschnitten sehr beliebt war. Gewöhnlich waren diese Holzschnitte komisch, zeigten beispielsweise einen alten Mann mit einem Beutel Gold in der Hand, der neben einer schönen, jüngeren Frau sitzt. Die Idee dahinter war, dass er das Geld gibt und sie ihre Schönheit, dass es also eine Art von Handel ist. Diese gesamte Information wird dem Betrachter vor Augen geführt wenn er sich all dieser Konnotationen bewusst wird. B: Es finden sich in euren Portraits aber doch auch direkte Zitate historischer Bilder, wie beispielsweise Tizians “Allegorie der Besonnenheit”. M: Wir haben Panofsky zur Genealogie dieses Bildes gelesen. Oben sind drei männliche Figuren und unten drei Tiere. Dies ist eine alte Genealogie die, wenn ich mich recht erinnere, ägyptischen Ursprungs ist. Wir wollten ein Rätsel auf der Grundlage dieser Ikonographie konstruieren. Unser Ziel war, dass der Betrachter die drei Figuren innerhalb des ikonographischen Rahmens der “Allegorie der Besonnenheit” setzt. B: Du hast über den Einfluss gesprochen, die das Importieren von Qualitäten der traditionellen Portraitkunst in die Fotographie hat, und zwar dahingehend, dass die Malerei als solche beleuchtet wird. Eure Arbeit hat aber natürlich auch Auswirkungen oder Einfluss auf die Fotographie. M: 1980, als wir mit unserer Arbeit begannen, wurde die Fotographie für nahtlos gehalten, das heißt, eine Fotographie anzuschauen hieß das Ergebnis einer direkten Begegnung mit der Realität zu betrachten. Wir haben uns nun sehr bemüht, in unseren Fotographien eine Tiefenstruktur herzustellen, um den Eindruck der Nahtlosigkeit zu untergraben, ohne jedoch eine offensichtliche Collage zu schaffen. Wir taten dies vor unserem ganz offensichtlich künstlichen Hintergrund. Manchmal platzierten wir die gleiche Person zweimal in der gleichen Fotographie. Das waren alles Mittel, um die Lesegewohnheiten der Fotographie zu reformieren. Vierundzwanzig Jahre später ist es den Leuten viel eher bewusst, dass Fotographien Konstrukte sind. Das gilt sogar für einen Großteil der Pressefotographie, die ja ständig Gebrauch von Photoshop macht, so dass die Tradition einer reinen Begegnung über die Fotographie völlig zerstört ist. Dementsprechend unterscheiden sich unsere jetzigen Ziele auch von den damaligen. Wir wollen nun die Vorstellung, dass Fotographie sehr wichtige Dokumente liefert, dass sie Sozialforschung konstituieren kann, wiederbeleben. B: Versucht ihr die Fiktion der direkten Begegnung wieder einzuführen? M: Es ist etwas komplexer. Unsere Fotographien werden immer noch als Konstrukte angesehen. Trotzdem wollen wir für sie einen Kontext herstellen, in dem ihr Wert als Verhaltensdokumente und als Repräsentationen des sozialen Raums klarwerden. In “The Sick Soul” (Die kranke Seele) beispielsweise versuchten wir die Kontinuität von visueller Sozialforschung und einer bestimmten Art der reality show herauszustreichen. Die Konstruiertheit der Photographie und ihr dokumentarischer Wert stehen ja nicht notwendigerweise im Widerspruch zueinander. Es gibt ja auch Soziologen, die die Fotographie als ein Mittel gebrauchen, um Information von Leuten zu sammeln. Die Idee ist jedoch, dass die Information nicht im Objekt selbst enthalten ist, sondern dass sie Teil eines experimentellen Aufbaus ist, der es uns erlaubt, verschiedene Verhaltensmuster und unterschiedliche Arten sozialer Phänomene zu verstehen. Ein Soziologe zum Beispiel fotografiert Leute und interviewt sie dann über Inhalte. Die Annahme dabei ist, dass das Foto die Kommunikation zwischen Forscher und Gegenstand unterstützt. Man nennt diese Methode Photo-Elicitation-Methode, also eine Methode, bei der vermittels der Fotographie gewisse Daten überhaupt erst greifbar werden. B: Die Frage nach der Beziehung zwischen der Konstruiertheit der Fotographie und ihrem dokumentarischen Wert ist sehr interessant. Steht nicht die Logik des “experimentellen Aufbaus” im Gegensatz zu den oft von Soziologen verwendeten statistischen Methoden? Die Struktur eines experimentellen Aufbaus hängt ja von einer exisistierenden Theorie ab. Natürlich muss man in der Soziologie auch einen Begriff des eigenen Forschungsfeldes haben, um solche Zufalls-Tests vorzunehmen. In eurem Grazprojekt mit der Open Public Library (Offene Öffentliche Bibliothek) habt ihr ein solches Feld selbst geschaffen oder dort interveniert, indem ihr nämlich die Vorstadtöffentlichkeit mit euren Außen-bibliotheken konfrontiert habt. Wenn man jedoch “dokumentarischer Wert” im Kontext der Soziologie hört, dann gibt es gleich diese naive Assoziation des Nicht-Manipulierens des Forschungsfeldes. In einem Interview sagst du :“ Wir gebrauchen die fotographische Sprache, ohne dabei den “fotographischen Moment” die “Gerahmte Realität” etc. anzunehmen. M: Du fragst also, ob es einen Widerspruch zwischen der Tatsache, dass wir diejenigen sind, die den Aufbau vornehmen und unsere Erwartung, etwas nicht-triviales daraus zu lernen, gibt. Das zielt ja auf die Kunst des Experimentierens im allgemeinen. Man muss bestimmte Variablen kontrollieren und die restlichen beobachten. In unseren Portraits kontrollieren wir viele der Variablen, wie den Hintergrund, die Beleuchtung, das Kostüm und die Pose, wohingegen die Gesichtsausdrücke, die Körpersprache und wie die Leute in ihrer Körpersprache auf andere Leute im gleichen Aufbau reagieren, nicht von uns kontrolliert werden. Es gibt eine Grenze der Kontrolle und gerade das wird in den Portraits thematisiert. Deshalb bleibt auch noch genug für eine bedeutungsvolle Beobachtung übrig, auch wenn wir den Aufbau konstruieren. Gleichzeitig sind die Portraits natürlich nicht nur einfache Experimente und wir wollen auch nicht, dass sie das sind. Die Suche nach soziologischem Wissen ist nicht das oberste Ziel unserer Portraits. Sie sind vor allem für die portraitierte Person gedacht. Aus irgendeinem Grund dient die visuelle Repräsentation von Menschen immer als eine Art Brennpunkt, um welchen die Leute ihre Vorstellungen von Subjektivität, Identität und ihrem Innenleben entwickeln. Dies stellt ein Wissensmodell dar, das nicht auf wissenschaftliche Publikationen abzielt. B: Manchmal werden eure Portraits aber auch von den Auftraggebern abgelehnt. Für wen sind diese Portraits gedacht? Oder stellen auch diese Reaktionen bestimmte Daten dar, die euch etwas über die Gesellschaft mitteilen? Vielleicht ist es sogar ein Feedback zum Aufbau. Seht ihr diese abgelehnten Auftragsarbeiten als Scheitern oder als Erfolge? Wollt ihr Ablehnungen provozieren? M: Wenn die Betrachter ein angenommenes Portrait ansehen, dann sehen sie zwei sich überlagernde Dinge: Zum einen den Aufbau, den sie ja aus der Kunstgeschichte kennen und zum anderen die individuelle Antwort auf den Aufbau, also die Gesichtsausdrücke, die Körpersprache etc. Sieht der Betrachter hingegen eine abgelehnte Auftragsarbeit, dann ist das ja keine Darstellung, mit der der Auftraggeber einverstanden ist. Was sieht der Betrachter also? Diese Fälle erzwingen einen anderen Ansatz. Der Betrachter muss eine Theorie zu den Gründen der Ablehnung entwerfen und das ist eine interessante Aufgabe. B: Es scheint, daß am Anfang das Schema eures Forschens, das sich in den Portraits verwirklichte, ziemlich grundsätzlich war. Jetzt untersucht ihr eure vorhandenen Portraits nochmals, ihr erfindet neue Kategorien, ihr erhaltet neue Informationen. M: Ja, manchmal wählen wir die Portraits aus, die wir bereits gemacht haben. Wir hatten beispielsweise eine Arbeit, die “rejected men, rejected women and rejected children” (abgewiesene Männer, abgewiesene Frauen und abgewiesene Kinder) hieß. Es war eine Portraitgalerie aus abgewiesenen Portraits. Der Betrachter wurde aufgefordert, auf der Grundlage dieser unterschiedlichen Fälle Verallgemeinerungen anzustellen. In einer anderen Arbeit kategorisierten wir unsere bestehenden en face- Portraits in Hinblick auf die Blicke der Portraitierten. Wir schauten uns die Augen der Personen an und ordneten sie gemäß der Kraft des Blickes an. Dies ist sicherlich eine bedeutsame Information, aber wir mussten eine neue Kategorie erfinden, um diese Information explizit zu machen. B: Für die Innsbrucker Ausstellung habt ihr eine neue Portraitserie zusammengestellt. Was ist das Besondere an diesen Portraits? M: Die Serie für Innsbruck baut auf unserer Betrachtung der Portraits von Klimt, Schiele und Kokoscha auf. Klimt ist der Wichtigste, weil man ihn nicht auf bloßen Expressionismus reduzieren kann. Die von Klimt portraitierten Personen kamen aus einer bestimmten Klasse, sie waren liberal, bourgeois und hatten in den meisten Fällen einen jüdischen Hintergrund. Diese Klasse bestimmte das kulturelle Leben Österreich bis in die 90er Jahre des 19. Jahrhunderts. Danach wurden sie mehr und mehr isoliert und verloren an sozialer Relevanz. Das war der Zeitpunkt, zu welchem die Sozialdemokraten, die Deutschnationalen und Luegers Partei, die ja den Beginn der Christlichen Demokratie darstellte, die politische Szene zu dominieren begannen. Schorske sagt, dass die jüngere Generation diese Zeit mit großer Aufregung und dem Gefühl der Isolation erlebte. Durch das Fehlen des sozialen Kontextes wurden sie in die Innerlichkeit getrieben. Das hatte zur Folge, dass für viele der kreativen Persönlichkeiten dieser Zeit die Grenze zwischen dem Ich und der Welt verwischt wurde, sie wussten also nicht mehr, was Teil der Vorstellung war und welcher Aspekt des Lebens ihnen von außen auferlegt wurde. Das kann man in den Portraits sehr gut sehen. Es gibt eine Kontinuität von Körper und Hintergrund, die die schlecht definierten Grenzen zwischen dem Innen und Außen andeutet. Das ist genau die sozio-psychologische Verfassung, die uns interessierte, das, was wir als Wiener Portraits definierten. B: Wie ich in einer eurer Photographien sehen konnte, verwendet ihr ja einen sehr spezifischen Hintergrund für die neuen Portraits. M: Wie verwenden in dieser Serie einen reflektierenden metallischen Prospekt als Hintergrund. Diese Idee stammt von Klimt. Für ihn war das ein byzantinischer Einfluss, jedoch hatte dieser Hintergrund auch andere Dimensionen: er schuf eine derart lebhafte und expressive Umgebung für die Portraitierten, dass er direkt aus ihrem Geist zu kommen schien. Er war nicht länger mehr eine unbelebte Umgebung, sondern eine Umgebung, die von dem projizierenden Denken geprägt ist. Jede Form wird doch, wenn sie durch Aluminiumfolie reflektiert wird, deformiert, fragmentiert und stellt sich selbst einer symbolischen Lesart zur Verfügung, ganz als ob sie eine direkte Transkription des Geistes wäre. B: Gab es signifikante Unterschiede in der Reaktionen der Portraitierten? M: Wir behandeln diese reflektierenden Umgebung als einen Effekt ohne dabei die Idee, dass es sich um eine direkte Projektion des Denkens handelt, zu akzeptieren. Das hat jedoch eine merkwürdige Folge. Es ist das Portrait einer Person, die in einem Vergnügungspark gefangen ist. Klimt behauptete ja gewissermaßen, dass er das Innenleben der Portraitierten male. Wir lassen es zurück in die Realität springen. B: Welche Realität? Und war die Umgebung so stark, dass sie die euch bis jetzt bekannten typischen Reaktionen der Portraitierten weggeschwemmt hätte? M: Unsere Sicht des Expressionismus gleicht jener der Dadaisten. George Grosz zum Beispiel nahm die psychologischen Erkenntnisse der Expressionisten sehr ernst, versuchte jedoch, sie in einem sozialen Kontext zu zeigen. Das sieht man auch in den Romanen dieser Zeit. Döblin ist beispielsweise völlig vom Innenleben seiner Figuren fasziniert, versucht aber, sie in ein soziales Schema hineinzustellen. Er versucht, eine Art Collage herzustellen, das psychologische Drama der Charaktere wird mit dem politischen Drama jener Zeit zusammengeklebt. Keine dieser Dimensionen wird als objektive Realität präsentiert. Es ist also nicht so, dass die politische Dimension die reale wäre und die innere nur eine Illusion. B: Ich finde, dass auch Musil ein gutes Beispiel dieser literarischen Kategorie ist. Wir finden ja auch ähnliche Themen in der damaligen Philosophie und Psychologie. Glaubst du nicht, dass die Wiener Expressionisten, weil man ja Freud im Hintergrund hatte, eine andere Zugangsweise zur Realität des inneren Lebens hatten und eine liberalere Einstellung zur Sexualität? M: Ich glaube, dass es in Wien eine größere Verpflichtung zur Darstellung des Innenlebens durch die Kunst gab. Obschon es für Klimt oder Schiele sehr schwer war, Portraits von bestimmten Personen anzufertigen, schafften sie es irgendwie. Die deutschen Expressionisten versuchten ja vor allem sich selbst auszudrücken, die Österreicher hingegen versuchten bestimmte Menschen zu portraitieren, auf denen dann eine enorme Last von Fragmentierungen und Verfremdungen lag, und zwar eine Last von IHREN Fragmentierungen und Verfremdungen und nicht von jenen der Künstler. Schiele thematisierte diesen Punkt sogar, als er sich selbst als eine sexuell erregte Subjektivität in seine Zeichnungen einfügte, als jemand, der auf seine Umgebung reagiert und nicht als derjenige, der alles erfindet. B: Es scheint mir auch, dass der Wiener Expressionismus viel weniger symbolisch ist. Aber lass uns zu einem anderen Thema übergehen. Seit 1990 habt ihr auch Arbeiten im öffentlichen Raum gemacht. Wie verhalten sich diese Arbeiten zu euren Portraits? M. Eine unsere größten Entdeckungen war, dass die Logik der Portraitkunst viel mehr abdeckt als das, was mit der visuellen Repräsentation von Individuen und kleinen Gruppen verbunden ist. Als Portrait definieren wie jeden Aufbau, der eine Antwort hervorruft. Diese Antwort wird dokumentiert und dann wieder jenen, die antworteten, vor Augen geführt, als ein Mittel der Selbstreflexion. Diese Formel kann dann auch auf das, was wir ein Gemeinschaftsportrait nennen, angewendet werden. In diesem Kontext ist der Aufbau nicht mehr länger eine Anordnung für das Portrait und die Methode der Dokumentation beinhaltet nicht mehr die Fotographie, das Prinzip bleibt aber das gleiche, nämlich einen Wissenkörper über das persönliche oder Gruppenverhalten zu erstellen und diesen all jenen, die in irgendeiner Form reagiert haben, zur Verfügung zu stellen. B: Ist das das, was ihr eine “soziale Skulptur” nennt? M: Wir haben drei zusammenhängende Konzepte, die wir verwenden, um unsere öffentliche Arbeit zu beschreiben: das community-portrait ( Gemeinschaftsportrait), die social sculpture (Sozialskulptur) und das spontaneous opera (Spontanwerke). Die Spontanwerke betonen die Fähigkeit der Menschen zur spontanen Selbstdarstellung. Die soziale Skulptur unterstreicht den Gedanken, dass Kunst aus institutionellen Anordnungen, ideationalen Konstrukten und Lebensarten gemacht werden kann. Zuletzt betont das Gemeinschaftsportrait die Beziehung zwischen Künstler und Gegenstand. Letzteres beschreibt in nuce den Komplex der ethischen Beziehungen zwischen allen Teilnehmern unserer Projekte. Das Element der Kontinuität in unserer Arbeit ist, dass sie immer mit dem Portrait in Beziehung steht. B: Kürzlich nahm ich an der Präsentation eures Projektes, der Open Public Library (Offene Öffentliche Bibliothek) auf dem jüdischen Friedhof von Krems teil. Wie kann dieses Projekt als Portrait in eurem erweiterten Sinne verstanden werden? Ist der historische Kontext nicht viel zu dominant, um ein Forschungsprojekt bilden zu können? So habt ihr zum Beispiel in der Open Public Library in Graz Soziologiestudenten miteinbezogen, um Daten zu sammeln, im Kremser Projekt tatet ihr das nicht. M: Diese dreigeteilte Unterscheidung, die ich eben getroffen habe, ist eine Liste von verschiedenen Aspekten, die jedes der Projekte aufweist, und manchmal dominiert ein Aspekt den Rest. Im Fall der Kremsbibliothek ist die soziale Skulptur der dominierende Aspekt. Die Idee dort ist es, ein Bibliothek in einen Friedhof zu legen und dadurch eine Möglichkeit zu schaffen, das Wesen der beiden Institutionen und ihre Beziehung zueinander zu reflektieren. Das ist eine Collage in einem anderen Sinne des Wortes. Das neue Ganze, das geschaffen wird, wenn eine Bibliothek mit einem Friedhof zusammengelegt wird, lässt die Einzelteile nicht verschwinden, trotzdem zeigt sich eine neue Landkarte der Beziehungen, die eine zaghafte Art von Einheit in diesem Projekt bildet. Warum sollte man nicht auf einem Friedhof Bücher lesen? Warum nicht in einer Bibliothek beerdigt werden? B: Ich ziehe da das erste vor. M: Die Frage der Gemeinschaftsportraitkunst in diesem Fall kann man so sehen, dass dieser Aspekt dem Betrachter bewusst wird, sobald er über die von den Besuchern zur Verfügung gestellten Bücher nachdenkt, wenn er darüber nachdenkt, wie die Bücher und Büchereien von den Besuchern behandelt werden oder darüber, ob es Vandalismus oder Diebstahl gibt usw B: Um auf eine allgemeinere Frage zurückzukommen: einerseits enthält das Projekt ja die historische Untersuchung des Hintergrundes der Sphäre mit der ihr euch beschäftigt, dann sind da aber auch soziologische Forschung und Datensammeln und außerdem das Kunstwerk selbst. In welchem Verhältnis stehen diese drei Dinge? Versucht ihr, eine Synthese von Wissenschaft und Kunst herzustellen? M: Wir verstehen Kunst und Wissenschaft als zwei verschiedenen Arten von Institutionen. Die Unterscheidung hängt nicht so sehr vom Inhalt ab als von den verschiedenen Lebensarten innerhalb dieser Institutionen. Ich habe zehn Jahre lang Philosophie an der Universität in Stanford unterrichtet, demnach hatte ich genug Zeit, um über die Unterscheidung nachzudenken. Was ich entdeckte war, dass momentan die akademischen Institutionen so streng und starr sind, dass jeder wissenschaftliche oder akademische Inhalt völlig von der institutionellen Umgebung der akademischen Welt bestimmt wird. Das heißt, dass es, mit Ausnahme der Mathematik, für den Außenstehenden völlig unmöglich ist, am wissenschaftlichen oder literarischen Leben teilzunehmen. Das bedeutet eben auch, dass die, die sich an die Regeln halten, nicht mit wirklichen Herausforderungen konfrontiert werden. Das ist eine sich völlig selbsterhaltende Situation, ohne wirkliche Verantwortlichkeit oder Offenheit gegenüber radikaler Kritik. Für die Kunst gilt das nicht unbedingt, vielleicht liegt es am kommerziellen Aspekt, dass es mehr Prüfung und dementsprechend mehr Verantwortlichkeit gibt. Wegen ihrer Offenheit kann die Kunst für sich neue Projekte, neue Standards und neue Wünsche annehmen, während sie doch Kunst bleibt. Es ist die Sache des Künstlers, die Einsätze neu zu definieren und zu erhöhen. B: Das ist eine sehr starke These. Sind nicht die Gesetze des Markts genauso beschränkend wie die Regeln des akademischen Lebens? Akademische Institutionen wurden ja tatsächlich von der Gesellschaft gegründet, um zu verhindern, dass äußerer und ökonomischer Druck den Inhalt und die Richtung der Forschung beeinflussen und um akademische Freiheit zu fördern. M: Ich glaube, es gibt da ein generelles Problem der Atrophie und der Trägheit der Institutionen in einer demokratischen Gesellschaft. Es ist fast Gesetz, dass bei Abwesenheit des Drucks von außen, Institutionen einen Großteil ihrer Mittel und ihrer Kraft darauf verwenden, ihre eigenen Strukturen zu erhalten. Darum ist die Abwesenheit von äußeren Zwängen auch nicht immer gut. Zufälligerweise ist dies der Grund warum konzeptuelle Kunst als Kritikerin der Institutionen in einer demokratischen Gesellschaft eine wichtige Rolle spielt. B: Produziert nicht die Vorgabe von Objektivität selbst die Entfremdung, Trägheit und den Mangel and Selbstreflexion? Ist das nicht der Grund, weshalb die Wissenschaft an ihrer Terminologie und ihren Paradigmen festhält und nie versucht, eine Synthese mit ihren Hintergründen herzustellen? M: Ich halte es mit Kuhn, der meinte, dass die Wissenschaft ohne Krise nicht wirklich selbstreflektiv ist. Nur in der ersten Phase der wissenschaftlichen Revolution ist die akademische Welt gezwungen, ihre eigenen Methoden und Hintergrundannahmen zu reflektieren. Die normale Wissenschaft wird immer eine nicht-selbstreflektives Feld sein. Das ist die philosophische Folge des Trägheitsgesetze demokratischer Institutionen. B: Sollten wir nicht zwischen äußeren Zwängen einerseits und internen Inkonsistenzen, die den Wissenschaftler zur Selbstreflexion zwingen, unterscheiden? Die Revolution, an die Kuhn dachte, findet doch nur dann statt, wenn die alte Theorie gewisse Phänomene nicht erklären kann? M: Der Geist der Kuhnschen Theorie ist ja, dass jede Krise äußerlich ist. Wissenschaftliche Theorien begehen ja keinen Selbstmord, selbst wenn einmal ein deviantes Phänomen auftaucht. Solche Phänomene können immer beiseite geschoben und als aus falschen Beobachtungen entstanden behandelt werde. In gewissem Sinn haben demokratische Institutionen abgesehen von der Wissenschaft, interne Zwänge. So zum Beispiel wenn eine Institution, die der Öffentlichkeit dienen soll, aus der Öffentlichkeit solche starke Barrieren herstellt, dass man von internem Widerspruch reden könnte. Dies wäre dann eine institutionelle Analogie zur wissenschaftlichen Krise. Kurz, ich sehe Kuhns Theorie als etwas, das zusammen mit der Theorie der Trägheit in demokratischen Institutionen untersucht werden sollte. B: Als eine Art von Modell. Man hat also die vordefinierte Beschreibungsebene in einer bestimmten Wissenschaft, die dann das Erscheinen gewisser Phänomene zulässt, dass ist das Äußere und dann eine von allen Wissenschaftlern gebilligte Theorie, die die Phänomene erklärt. Das ist das Innere. Kuhns Theorie war ja nur deshalb möglich, weil eine neue Beschreibungsebene eingeführt wurde, die Wissenschaftssoziologie, die es ermöglichte, Phänomene wie den Paradigmenwandel zu beschreiben. Es scheint mir, dass im akademischen Betrieb, wie auch in jedem anderen Feld menschlichen Strebens, einschließlich der Kunst, gewisse Kontrollmechanismen existieren und die Notwendigkeit, neue Felder zu schaffen, um einen Wandel zu ermöglichen. M: Natürlich hat die Kunst interne Kontrollmechanismen und natürlich ist es schwer, diese zu durchbrechen, die Kunstwelt zu reformieren und eine neue Art von Kunst zu machen, jedoch glaube ich wirklich, dass es genügend Personen gibt, die die Kunstwelt beobachten und von der Kunstwelt dazu ermächtigt werden, ihre Meinung auszudrücken. B: Durch kaufen oder nicht kaufen? Mit diesen Argumenten könntest du sogar die rechte Universitätspolitik der Österreichischen Regierung unterstützen, die ja versucht, Neoliberalismus und freie Marktwirtschaft in den akademischen Betrieb einzuführen. M: Es stimmt, dass es ein Qualitätsproblem in der akademischen Welt gibt, jedoch glaube ich nicht, dass die Lösung dazu heißt, marktwirtschaftliche Kräfte einzuführen. Die Kunst und die Poesie haben für dieses Problem eine andere Lösung. Seit den Anfängen der Moderne hielten Künstler ihre Aktivitäten für eine Kritik der Wissenschaft im Namen der Wissenschaft, vielleicht sogar für eine Kritik des Wissens im Namen des Wissens. Die wichtigsten frühen Modernisten wie Jarry, Roussel, Duchamps, Picabia, Malevic und viele andere sahen ihre Praxis als eine spielerische Wissenschaft. Sie beschäftigten sich mit Geometrie, Feldtheorie, Mechanik etc., um diese Felder mit einer Extraportion Freiheit zu versehen, die ihnen in der akademischen Welt ja abging. Als Jarry die Pataphysik als die Wissenschaft der Ausnahmen aller bekannten wissenschaftlichen Gesetze erfand, verwendete er Absurditäten als ein Mittel, das Denken von der Eintönigkeit der akademischen Vorstellungen zu befreien. Als Duchamps über die Geometrie höherer Dimensionen forschte, als er durch die Herstellung gebogener Lineale den Zufall in das Maßsystem einführte, da tat er genau das gleiche. Es handelte es sich also nicht so sehr um eine Reform die nur die Kunst oder nur die Wissenschaft betroffen hätte, sondern gleichsam um eine übergreifende Erweiterung des menschlichen Bewusstseins und um eine Befreiung der Vorstellungskraft. Das ist die Tradition, innerhalb derer wir uns verstehen, und die unsere eigene Arbeit motiviert. Die gleichen Eigenschaften kann man auch in der Kunst von Franz West und Rudolf Polanszky ausmachen. Akademikern erscheint diese Tradition immer als jugendlich. Man kann eigentlich ihren Beitrag zur Kultur nicht genug betonen.