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Gottfried Schimanowski, Das Vaterunser Als Elementarer Baustein Lukanischer Theologie1

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Vortrag bei der EELC-Konferenz in Moskau vom 26.-30.9.2016. Eine erweiterte und veränderte (englische) Fassung wird im Konferenzband bei WUNT erscheinen. Fremdsprachliche Texte mit den Fonts von Bible Works. Ich werde weiterhin vom Herrengebet" sprechen oder vom Vaterunser", weil sich diese Terminologie in der Literatur und Tradition so eingebürgert hat, auch wenn sich – s.u. – der Befund bei Lukas, wie bekannt, in der Anrede schon deutlich von Matthäus unterscheidet. Möglich und durchaus angemessen (vor allem für Lukas) – wenn auch etwas ungewohnt – wäre die Formulierung Abba-Gebet", die z.B. der Systematiker Jürgen Moltmann verwendet! Grundmann wertet allerdings Lk 11,1 – 13,22 als Exkurs" (z.St. S. 228), in dem die Reisesituation nicht mehr sichtbar (wird)". Wüste Lk 5,16; Gethsami Lk 22. Vgl. den zweiten zusammenhängenden Gebetsabschnitt mit einer vergleichbaren Überschrift" Lk 18,1-8.9-14. Vgl. als besonderen Akzent des Evangelisten ca. achtmal (?) Lk 3,21 (Taufe und feste Verknüpfung mit der Geistbegabung); 5,16 (einsames Gebet in der Wüste); 6,12 (einsames, nächtliches Gebet auf einem Berg vor der Berufung des Zwölferkreises); 9,18 (für sich allein).28f (zusammen mit Petrus, Johannes, Jakobus: Verklärung); 11,1 (=hier); 22,41f (Gethsemani).44 (Textkritik?). Jesus fordert auch ausdrücklich zum Gebet auf: 6,28; 11,2 (hier); 18,1 (!); 22,40.46. Hierbei hat Lk die beiden Vorgaben" durch Mk (Mk 1,35 [Lukas 4,42 allerdings ohne das Stichwort Gebet"]; 6,46 [fehlt bei Lk]) erheblich erweitert (Mt hat nur die zweite in 14,23 übernommen). Lukas erinnert zudem in der Emmauserzählung (24,30) sicherlich durch das Sprechen der Benediktion an das Abschiedsmahl mit den Jüngern (22,17.19f parr). Verankert ist dieser besondere Akzent des Evangelisten allerdings schon in den ältesten Traditionen der Jesusüberlieferung (vgl. das persönliche Beten Jesu – außerhalb des Kreuzesrufes und der Benediktion beim letzten Mahl – bei Mt 14,23 (mit dem doppelten Hinweis, dass Jesus allein war) und Mt 26,36ff (Gethsemani); nach der Darstellung der Bergpredigt soll ja auch das persönliche Gebet in der Kammer stattfinden (Mt 6,6). Vgl. die einleitende Angabe: immer wenn ihr betet" (o[tan proseu,chsqe) und den Hinweis auf das anhaltende, immerwährende Gebet (pro.j to. dei/n pa,ntote proseu,cesqai Lk 18,1). Anrede beim Herrengebet und schließlich als Abschluss als Vater im/vom Himmel" (Lk 11,13 – mit der wahrscheinlich ursprünglichen - ungewöhnlichen - Formulierung o` path.r o` evx ouvranou/!). Vgl. 5x aivte,w: Lk 11,9.10.11.12.13. Vgl. zur Formbestimmung" und die terminologischen Vielfalt neben dem in unserem Fall vorliegenden typischen proseu,comai die weitergehenden Reflexionen bei Ostmeyer, Kommunikation, Einleitung, bes. S. 29-31. Als Besonderheit der biblischen Perspektive zum Thema Beten vgl. K. Haacker, R. Feldmeier, F. Wilk. Zum Thema Fürbitte" vgl. noch Lk 22,31f (für dem vom Satan bedrohten Simon Petrus) und 23,34 (für die, die ihn kreuzigen). Zu proseúcomai und proseuch, bei Lk vgl. z.B. H.Balz, EWNT Sp.407f. Zur Abgrenzung gegenüber Johannes dem Täufer und seiner Anhänger z.B. beim Thema Fasten" vgl. Lk 5,33-35 (par. Mk 2,18-20; Mt 9,14-17). Diese Redeweise würde dann aber die vor allem von Philonenko postulierte Zweiteilung des Gebetes Jesu mit den Du-Bitten und des Gebetes der Jünger mit den Wir-Bitte ausschließen. Vgl. Hurtado (2014): Because the prayer is portrayed as given for Jesus' followers to use, it could more accurately be called the Disciples' Prayer'." (S. 38) Ebenso auch Förster, Gebet, 2007, S. 257. Inwieweit dann Jesus selbst dieses Gebet nie gemeinsam mit seinem Jüngerkreis gebetet hat, bleibt wegen der fehlenden Information, lediglich Spekulation! Vgl. Apg 1,14; 6,4. Weiter werden in dem Werk wichtige Entscheidungen der Gemeinde vom Gebet begleitet (z.B. Apg 1,24 Nachwahl des zwölften Apostels; Apg 3,3die Aussendung des Paulus und Barnabas in Antiochia). Schließlich werden auch Petrus (Apg 3,1; 9,40; 10,9; 11,15) und Paulus (Apg 9,11; 16,25; 20,36; 21,5; 22,17; 28,8) vom Evangelisten als Beter vorgestellt. Vgl. auch innerhalb von Gebeten die Kennzeichnung Jesu als Sohn" in Lk 3,21f und 9,28-36; vgl. auch Lk 10,21f. Vgl. den Hinweis durch Philonenko, Vaterunser, S. 36: Nach dem einhelligen Zeugnis der evangelischen Überlieferung hatten alle Gebete Jesu, mit Ausnahme des Gebetes am Kreuz, diese Anrede". Forschungsgeschichtlicher Perspektivwechsel vom sog. Differenzkriterium zum Plausibilitätskriterium und damit im Speziellen von der kontextuellen Individualität zur kontextuellen Individualität (nach G. Theißen). Vgl. Theißen/Merz, S. 458f. Aber auch K. Haacker, Jesus, S. 26f: Die schlichte Vateranrede Jesu entspricht den Traditionen des jüdischen Privatgebetes im Unterschied zu den mehr feierlichen Gebeten des synagogalen Liturgie." Gott gibt' wie die Hauptperson der Parabel trotz der Bedenken, die er haben kann." (Bovon z.St. S. 151. Vgl. die Metapher von der Nacht beim bittenden Freund Lk 11,5. So J. Jeremias, Gleichnisse Jesu 91997, S. 86; vgl. Brettschneider, S. 16; Haacker, Jesus, S. 33. Lk 15,12 (bis).17.18 (bis).20 (bis).21.22.27.28.29. Siehe unten zur Thematik Reich Gottes". Ebenso. Textlich allerdings umstritten, denn es fehlt in den wichtigen HSS wie z.B. P75 und Vatikanus; trotzdem entsprechen Sprache und Stil dem Evangelisten: vgl. thematisch die Meinung des Petrus nach Apg 3,17 und des Paulus Apg 13,27. Weiterhin entspricht diese Vergebungsbitte der des Stephanus Apg 7,60. Ps 30 (31),2: ku,rie (vgl. V.7.15.18 u.ö.). Diese Seite ist dem Evangelisten wohl noch erheblich wichtiger als der andere Gedanke an Gott den Schöpfer und Erzeuger. Vgl. die besonderen Kennzeichen eines lukanischen Vaterbildes durch die Begriffe euvdoki,a, ca,rij, avga,ph und eivrh,nh, nach Bovon, Lukas in neuerer Sicht S. 98.119. Vgl. Lk 6,36 vom barmherzigen Verhalten der Menschen in Entsprechung zum barmherzigen Vater (o` path.r u`mw/n oivkti,rmwn evsti,n). Mt spricht an dieser Stelle (Mt 5,48) von der Vollkommenheit". Vgl. den Sprachgebrauch der LXX. Bovon zieht eine Verbindungslinie zu den beiden Gleichnissen Lk 15. Evgl. 46x basilei,a (Apg nur noch 8x). Vgl. U. Luz, EWNT s.v. I 489f (Mt 15x red. bei ca. 55 Belegen). Vgl. Lk 4,43[anders Mk 1,38; fehlt bei Mt]; 8,1 [vgl. Mt 9,35]; 9,11 [Sondergut]). Das nehmen die Jünger auf: Lk 9,2 [vgl. Mt 10,7]. Weiterhin bleicht diese Thematik Inhalt der apostolischen Verkündigung (vgl. Apg 8,12; 14,22; 19,8; 20,25 und vor allem am Ende der Darstellung der Apg 28,23.31. Vgl. zur Hoffnung Israels bes. K. Haacker, Bekenntnis des Paulus (1985), in ders., Versöhnung 2002, S. 77-94. Zur Übersetzung von engiken" vgl. Röm 13,12. Wahrscheinlich ist ein Bezug zum Königspsalm 145 (Dieser Psalm enthält zu Beginn neben dem immerwährenden Königreich Gottes auch den Lobpreis seines Namens). Eine Parallelstelle zur Vorstellung des himmlischen Gottesreiches begegnet nun auch in dem aramäischen sog. Sohngottestext (4Q246). Die Bedeutung der Thematik ist durch die Sabbatopferlieder nun ebenfalls zeitgenössig gut belegt. Vgl. die Verkündigung des Paulus in diesem Sinne Apg 28,31. Darauf verweist auch Eketerini Tsalampouni, Jesus (2012 = Konferenz 2010 der EELC in Minsk). Vgl. Lk 8,4-10 in der lukanischen Fassung des Gleichnisses vom vierfältigen Ackerfeld. Vgl. Lk 17,20f. Hierzu passt hervorragend die (sicher spätere) Einfügung der abschließenden Doxologie! So Bovon z.St., S. 167f. Darum sollte Lk 17,21f nicht von diesem Kontext isoliert werden! Vgl. Lk 2,11 (durch die Geburt des Christus); im Zuspruch der Seligpreisung 6,20; oder auch Lk 19,11, wo das Erscheinen" des Reiches Gottes durch das nachfolgende Gleichnis interpretiert wird: es wird von der Verleihung der Königswürde an einen Fürsten und von seinem Herrschaftsantritt erzählt (zum Abschluss des Reiseberichtes, also an markanter Stelle!) usw. Vgl. Lk 22,18 (Verzicht jeglichen Weingenusses bis zum Anbrechen des Reiches Gottes) und vor allem 21,31f. Zumindest aber durch den Begriff des Menschensohnes (18,8) als assoziierter Begriff vorhanden! So z.B. H. Klein, in: Das Gebet, S. 105; bei ihm auch der enge Bezug zwischen der Reichsbitte und Lk 18,7f (ebd.). Haacker, Verkündigung Jesu, S. 71. Vgl. die Texte zu Bar Kochba (Ben Kosiba) oder auch die Bemerkungen des Josephus zu den Zeloten; vgl. M. Hengel Zeloten, passim. So kann im Zusammenhang der Nachfolgeworte diese Königsherrschaft Gottes auch zu einem einzelnen Menschen gelangen und so in den Dienst der anbrechenden Basileia bestellt werden! Zur Gesamtthematik vgl. A. Prieur, Die Verkündigung der Gottesherrschaft (WUNT 2,89), Tübingen 1996. Z.B. werden auch in frühjüdischen Texten (wie bei Josephus oder den Sibyllinen u.ö.) nach den Vorzeichen solcher wahrnehmbaren Zeichen gefragt. Interessanterweise wird gleich mehrmals nach dem Wann" der Basileia gefragt , bzw. das Bedürfnis nach einem Termin angesprochen: vgl. Lk 17,20; 19,11; 21,7 und besonders bei dem letzten Gespräch des (auferstandenen) Christus Apg 1,6-8 usw. Darauf macht als Entfaltung der Brotbitte im Gleichnis vom bittenden Freund H. Klein aufmerksam (in: Das Gebet, S. 105) Die ältere Literatur: Bauer, WB s.v. 587; vgl. U. Luz (EKK), 345 Anm.76. Weiter ausführlich: C. Spicq, Notes Bd.2 (1978) S. 292-295 (292) und W. Foerster, ThWNT 2 (1937) 590-597. Die Nachricht des Hieronymus, dass das Nazaräerevangelium (1. Hälfte des 2. Jh. n.Chr.) an dieser Stelle "machar" (morgen) überliefert, was Hieronymus an dieser Stelle so deutet: mahar quod dicitur crastinum, ut sit sensus: panem nostrum crastinum, id est futurum, da nobis hodie ( machar", das heißt für morgen", so dass der Sinn ist: Unser morgiges, das heißt zukünftiges, Brot gib uns heute."). Siehe Jeremias, Theologie 193f; Vater-Unser 34f. Beeinflusst ist diese Interpretation durch das Wortpaar heute und morgen" (vgl. z.B. Ex 19,10 anders dort aber die LXX). Siehe oben S. 4. Vgl. weiter Lk 12,37 und Mt 26,29. Vgl. die Exodusepisode 16,4 = das Tag für Tag Nötige" (Philonenko macht zu Recht auf die Auslegung des palästinischen Targum an dieser Stelle aufmerksam, in der gleich zweimal der Gegensatz von heute" und morgen" aufgegriffen wird, Vaterunser S.78; mich hat allerdings nicht seine eschatologische Deutung überzeugt). Vgl. auch Spr 30,8f: Gib mir weder Armut (peni,a) noch Reichtum (plou/toj), nähre mich mit dem (Brot), das ich nötig habe (ta. de,onta kai. ta. auvta,rka), damit ich nicht, satt geworden, dich verleugne (yeudh.j ge,nwmai), und sage: Wer ist denn der Herr [der mich sieht = Gott]?" Vgl. hierzu - wenn auch relativ alt - G.Dalmann, Arbeit und Sitte in Palästina Bd.4 (1935) S. 1-151; das ist der Bericht über seinen Palästinaaufenthalt um die Jahrtausendwende: alltägliche Beobachtungen verknüpft mit exegetischen Bemerkungen; Weiter die einschlägigen Lexikonartikel zu Brot / Backen / Bäckerei. Vgl. Jeremias, Theologie S. 194 zur Brotbitte; weiter ThW und EWNT. Möglich ist auch die andere Interpretationslinie aus der soziologischen Erfahrung der sog. Wanderpropheten, die ihren Brotvorrat für den kommenden Reisetag mit auf den Weg bekommen sollen (vgl. dazu Did 11,3-6). Bei Lk ist allerdings schon eine andere Situation im Blick der immerwährenden Versorgung" durch Gott (s. das generalisierende, iterative Präsens verbunden mit dem Ausdruck für jeden Tag", s.u.). In den Speisungsgeschichten meidet Lk allerdings weitgehend das Stichwort Brot" (nur Lk 9,13.16). Auch in der Zusammenfassung des folgenden Gleichnis (Lk 11,12) meidet der Evangelist – wohl aus Gründen der Variation – das Stichwort vom Brot und Stein (Mt 7,9) und ersetzt es durch Ei" und Skorpion". Vgl. schon die Vateranrede mit der Perspektive des Fürsorgenden! Das Thema Armut" – Reichtum" wäre eine eigene Untersuchung wert. Vgl. die Vermutung von G. Theißen, dass zumindest ein großer Teil der Jüngergruppe aus wirtschaftlich gefährdeten Verhältnissen kam. Nur bei Lk, mit der vorherigen Angabe durch das nu/n verstärkt! Die programmatische Rede in Nazareth (Lk 4,18) hatte ja die Armen ebenfalls als primäre Zielgruppe im Blick. Vgl. J. Becker, Jesus, S. 198: Wer das Herrengebet aufgreift, hat offenbar die Proklamation der Seligpreisungen auf sich bezogen und antwortet nun seinerseits mit dem Gebet." Dass das nicht unbedingt einen Gegensatz darstellt zu den eschatologisch zu verstehenden DU-Bitten Im Sinne von Mt 6,33: Euch aber muss es zuerst um sein Reich und seine Gerechtigkeit gehen, dann wird euch alles andere dazugegeben." Der eschatologische Bezug ist sicher der Schwerpunkt der zweiten lukanischen Gebetsparänese" Lk 18. Ein beliebter Ausdruck des Evangelisten: Lk 16,19; 19,47; 22,53; Apg 2,46.47; 3,2; 17,11., bes. Lk 9,23, wo der Evangelist dem traditionelle Wort vom Kreuztragen ebenfalls diese Perspektive zufügt. Wer Beständigkeit sagt, setzt die Mittel zum Durchhalten voraus", Bovon z.St. So Vögtle, Vaterunser 175; etwas zurückhaltender: Bezug 354. K. Haacker, Vaterunser, S. 167: Matthäus bietet … eine genaue Entsprechung zwischen Bitte und Beteuerung (oder: Selbstverpflichtung)." Der Tatbestand in LXX ist insofern aufschlussreich, als etwa 26 hebr. Ausdrücke für Sünde" mit nur 6 gr. Begriffen wiedergegeben sind, was zweifellos auf eine starke Thematisierung und Theoretisierung des atl. Sündenverständnisses im gr. Sprachraum hinweist", R. Knierim, THAT 1,548; vgl. ders., Die Hauptbegriffe für Sünde im AT, 1965 passim. Diese Tendenz zur Vereinheitlichung lässt sich beim Begriff Sünde" wohl auch bis heute in der Kirchensprache der europäischen Länder beobachten. Vgl. neben Mk 2 bes. Lk 7,36-50; aber auch Lk 15,1ff; 19,7. Vgl. Lk 7,48 mit Bezug auf das Gleichnis von Jesus vom Geldverleiher und den beiden "Schuldnern" (Lk 7,41f; weiter auch innerhalb des Gleichnisses vom Pharisäer und Zöllner: Lk 18,13 und die Warnung Lk 13,1-5: "Ihr alle werdet genauso umkommen, wenn ihr euch nicht bekehrt." (V. 3 und 5). Ein Thema, das ihm besonders wichtig war: vgl. Lk 10,13: 11,32; 13,3.5; 15,7.10 usw. Vgl. auch – ohne den Begriff selbst, aber dargestellt als das letzte Gespräch vor seinem Tod – die Episode am Kreuz Lk 23,21-32 und vor allem das fürbittende Vergeben Jesu selbst am Kreuz, das allerdings textlich möglicher Weise nicht ursprünglich ist – aber sicher zu Recht die Intention Jesu wiedergibt, Lk 23,34: Vater, vergib ihnen (a;fej auvtoi/j), denn sie wissen nicht, was sie tun." Vgl. die Forderung der Bergpredigt Mt 5,2f, sich mit dem Bruder/Mitmenschen zu versöhnen, bevor man Gott gegenüber tritt. Matthäus schließt hieran das Gleichnis vom unbarmherzigen Gläubiger an (Mt 18,23-35), eine Parabel, die eben auch wieder ganz klar diese alltäglichen Problemsituationen exemplarisch ausführt. Die Parabel schließt mit der negativen Schlussfolgerung (Mt 18,35): Ebenso wird mein himmlischer Vater jeden von euch behandeln, der seinem Bruder nicht von ganzem Herzen vergibt." Zur Tendenz der Radikalisierung ( sieben Mal siebzig Mal") vgl. die Kommentare. So nach K. Haacker, Vaterunser, S. 182. Ähnlich auch in Lk 13,2.4 (a`martoloi, - ovfei,lw). Vgl. auch Lk 18,13: Sei mir Sünder (tw/" a`martwlw/") gnädig." Vgl. E. Käsemann, Eine urchristliche Taufliturgie (1949), in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, 2 Bde. 19706, I 45. Vgl. den thematischen Exkurs bei Bovon I, S. 247f. Außerdem wäre das Thema der Verfehlung, die (als einzige – als Blasphämie" [gegenüber dem Menschensohn] nicht vergeben werden kann (Lk 12,10) eine eigene Untersuchung wert. So Bovon z.St. II, S. 135. Haacker, Vaterunser, S. 205. vgl. die Gute Nachricht Bibel: damit ihr in der kommenden Prüfung nicht versagt" a) Jeremias, Theologie 196; b) Eichholz 132. So auch Hans Klein 2007, Vaterunser, S. 105 (Anm. 118). Vögtle, Bezug 355; andererseits verwendet z.B. Paulus peirasmo,j mit Artikel als Bezeichnung der Alltagserfahrungen der Korinther im Gegenüber zu der Prüfungsgeschichte des Volkes Israel in der Wüste - allerdings nicht ohne Bezug zur Eschatologie (1 Kor 10,1ff; bes. V.11 und V.13). Als eschatologisches Endereignis erscheint der Ausdruck mit Artikel in Offb 3,10: daher werde auch ich zu dir halten und dich bewahren vor der Stunde der Versuchung ( tereso ek tes horas tou peirasmou"). Die über die ganze Welt kommen soll, um die Bewohner der Erde auf die Probe zu stellen." Vgl. die Frage in Lk 18,8, ob die Glaubenden bis zum Kommen des Menschensohnes durchhalten werden. Jak 1,13: Keiner, der in Versuchung gerät, soll sagen: Ich werde von Gott in Versuchung geführt. Denn Gott kann nicht in die Versuchung kommen, Böses zu, und er führt auch selbst niemand in Versuchung." Aber auch viele weitere Texte wie Gen 22,1f; Ex 15,25; Dtn 8,2; 13,4 oder Ri 2,22; 3,1.4 u.ö. Vgl z.B. das Kapitel und die Aufnahme dieser Frage bei Philonenko! Vgl. Söding für das Gespräch zwischen Katholiken und Protestanten. Vorsichtiger und kritischer noch A. Vögtle (11/1973) The Lord's prayer: A Prayer for Jews and Christians? Zuversichtlicher P. Lapide, Das Vaterunser (1984). In den letzte Jahren haben etliche jüdische Autoritäten dem zugestimmt (dass das Vaterunser als gemeinsames Gebet zwischen Juden und Christen gebetet werden kann), - ohne alle legitimen Unterschiede zwischen Juden und Christen zu verschweigen oder zu verwischen." Noch einen Schritt weiter geht H-M. Barth, das Vaterunser als öffentliche Theologie ( public theology")! Vgl. die Begrifflichkeit (auch abgesehen von der Doxologie) von JABengel (Gnomon) Summam laudis divinae imbibit". Gottfried Schimanowski, Das Vaterunser als elementarer Baustein lukanischer Theologie Das Vater-Unser-Gebet hatte schon vor knapp 10 Jahren (207) bei der vierten europäischen orthodox-westlichen Exegetenkonferenz in Sâmbăta des Sus (Rumänien) im Mittelpunkt gestanden. Dort hatte Hans Klein das Vaterunser, seine Geschichte und sein Verständnis bei Jesus und im frühen Christentum ausgelegt. Dabei war ihm die vertrautere und verbreitete Fassung des Matthäusevangeliums letztlich entscheidend wichtig. Ich setze seine Auslegung in meinem Beitrag voraus und versuche heute, den Schwerpunkt auf das Lukasevangelium und seine theologische Ausrichtung zu legen, ohne natürlich diese Thematik in seiner Fülle – und vor allem in Aufarbeitung der verzweigten exegetischen Diskussion – auszuschöpfen. Das Lukasevangelium Der äußere Rahmen des Herrengebets beim Evangelisten Lukas unterscheidet sich wesentlich von der – wahrscheinlich kirchlich und persönlich vertrauteren – Darstellung des Evangelisten Matthäus. Es ist keine längere Rede mit dem Schwerpunkt der Frömmigkeitsübungen (Almosen, Gebet, Fasten) wie beim Evangelisten Matthäus, auch nicht grundlegender Teil der Bergpredigt (hier bei Lk die sog. Feldrede), sondern Teil des langen Weges Jesu mit seinen Jüngern nach Jerusalem, dem sog. Reisebericht (Lk 9,51–19,27). Weiterhin ist der äußere Rahmen nicht mit einem bestimmten Ort verbunden (vgl. Berg" Mt 5,1 [vgl. Lk 6,12] oder aber die anderen Verweise bei Lk zu den Orten", an denen sich Jesus zum Gebet zurückzieht), sondern Teil eben dieses Unterwegsseins" und damit eine alltägliche Lebenssituation ohne direkten gottesdienstlichen, liturgischen Bezug. Diese kurzen Bemerkungen mögen zunächst einmal für den Gesamtrahmen der Akzente des Evangeliums genügen. Ich werde hier nicht näher eingehen auf die Frage nach einer zugrundeliegenden Urfassung in der sog. Logienquelle oder deren Weg zur heute beim Evangelisten vorliegenden Fassung des Herrengebetes nachzeichnen, da mich in erster Linie der jetzige Zusammenhang mit der Theologie und Gesamtbotschaft des Evangelisten in erster Linie interessiert. Die lukanische Fassung des Gebetes selbst ist nun beim engeren Kontext eingebunden in eine eigenständige dreiteilige Perspektive (lukanische Gebetsparänese): a) Zunächst der Anlass des Betens Jesu selbst, hier als lockerer Aufhänger für seine grundlegende Gebetsbelehrung auf Nachfrage der Jünger, b) sodann folgt das Gleichnis vom bittenden Freund (Sondergut) c) und schließlich ein weiteres abschließendes Gleichnis zum vertrauensvollen Gebet". Dieser Gesamtzusammenhang lässt sich damit als Gebetanweisung" oder Gebetskatechese" kennzeichnen, ähnlich wie das Kapitel 18 im weiteren Teil des Buches, wozu wir aber sicher bei einzelnen weiteren Überlegungen noch kommen werden. Hier kommt es dem Evangelisten offensichtlich auf einen grundsätzliche Orientierung und Belehrung an. Neben den inhaltlichen Beziehungen lassen sich innerhalb dieses eigenständigen thematischen Abschnittes auch zwei äußerliche Klammern feststellen: Zum einen als inclusio" die Anrede Gottes als Vater", sodann geht es in diesen ganzen Abschnitt immer um das Bitten", eben nicht – was ja durchaus auch vertrauter und verbreiteter Anteil am Gebet ist – um Dank, Klage oder Lob Gottes, oder sie in der jüdischen Gebetspraxis verankerten Benediktionen. Letztlich geht es dann in den folgenden Überlegungen um die Gewissheit und grundlegenden Ermutigung der Nachfolger Jesu, dass Gott diese Bitten hört und – zu seiner Zeit – auch erhören wird. Wie kein anderer Evangelist zeichnet Lukas Jesus als (individuellen) Beter. Immer wieder gehört die Kommunikation mit seinem himmlischen Vater zu den entscheidenden Wendepunkten seines Weges und Wirkens. Dieses vertrauensvolle, persönliche Gebet Jesu gerät damit auch zum Anlass und erzählerischen Impuls für die Frage der Jünger nach einem eigenen, typischen Gebet, das zur Identifikation der Jüngergruppe um Jesus dienen soll. Wie auch immer die sog. Urfassung des sog. Herrengebets ausgesehen haben mag und wie man sich die Überlieferungswege auch vorstellen mag (sprachlich: aramäisch und/oder hebräisch; Kurzfassung, oder auch Kenntnis der sog. Willensbitte, die Mt ergänzt – so die weithin akzeptierte Meinung, oder aber hat Lk, warum auch immer, – sie nicht aufgenommen, so M. Wolter) kann an dieser Stelle außer Acht bleiben. Auf der anderen Seite kann man durchaus im Aufgreifen des Anlasses darüber diskutieren, ob man nicht statt in der traditionellen Redeweise von Herrengebet" besser vom Jüngergebet" sprechen sollte. Denn Lukas erwähnt ausdrücklich, dass Jesus sein privates" Gebet an einem einsamen Ort beendet hat (evpau,sato), bevor es zu der Jüngerfrage und der Weitergabe des Gebetstextes kommt. Ich gehe bei meinen Überlegungen zunächst vom vorhandenen griechischen Textbestand aus und frage dann nach (drei) Schwerpunkten der lukanischen Theologie, wobei die Beobachtung, dass auch die Anfänge der Urgemeinde und nachösterlichen Schwerpunkte ganz und gar im Gebet verankert werden, außer Acht bleiben kann. Ja, man kann sogar so weit gehen und das ganze Evangelium allgemein vom Gebet her lesen (mit dem Stichwort proseu,comai) vor allem – neben dem individuellen Gebet – das Ausgerichtet sein im Gebet im Tempel.: beginnend mit dem Gebet des ganzen Volkes, Lk 1,10, bis hin zu der Angabe der Jüngergruppe nach Ostern – dem Abschluss des Evangeliums, Lk 24,53 (unter der Verwendung von euvlogei/n to.n qeo,n). 1. Die Gebetsanrede Es fällt auf, dass innerhalb der kompakten Gebetsthematik von Lk 11 gleich zweimal das Stichwort Vater" erscheint. Dies ist kaum anders zu deuten, dass die – relativ ungewöhnliche – Gottesanrede als Vater die Jünger Jesu mit der besonderen Gottesbeziehung Jesu verbindet. Da aber die Anrede im Vokativ erfolgt, kann im Hintergrund sowohl die Anrede Jesu selbst als auch die gemeinschaftliche Anrufung Gottes des Betenden stehen. Auf jeden Fall passt diese Gottesanrede nach der neuesten ausführlichen sprachlichen Untersuchung von Ursula Schattner-Rieser zu den aramäischen Qumrantexten in die zeitgenössische Tendenz, das Tetragramm in diesen Texten durch Substitute wie Gott des Himmels", König des Himmels" o.ä. zu ersetzen. Auch wenn die Vateranrede – vor allem in aramäischen individuellen Gebetstexten – nicht belegt ist, dokumentieren hebräische Belege, dass die verbreitete, vor allem durch Joachim Jeremias vertretene, Position grundlegend zu revidieren ist: diese Anrede kann man nicht als exklusives Merkmal der Gebetspraxis Jesu bestimmen (ipsissimum verbum Jesu) und vor allem nicht einordnen in eine den Kindern vorbehaltene, besonders vertrauensvolle Anrede ihres Vaters. Sie gehört vielmehr zu den möglichen vertrauten und praktizierten Gebetsanreden der jüdischen Gebetsformen. Vor allem kommt dieser Anrede Gottes neben der vertrauensvollen Seite die respektvolle einer Autoritätsperson zu. Das zeigt sich sofort – wie schon angedeutet – im unmittelbaren Kontext des Gebetes, dem direkt anschließenden Gleichnis vom bittenden Freund, in dem zwar nicht der Begriff Vater verwendet wird, sondern der des Freundes, aber eben das Äquivalent zum Familienvater, zu dem auch die Kinder gehören! Die ganze Szene wird auf das fürsorgliche Verhalten Gottes gedeutet und nach dem noch einmal verstärkenden Gleichnis vom Bitten und der Gebetserhörung, das wieder mit den Metaphern Vater und Kinder spielt auf das besondere fürsorgliche Handeln Gottes, Lk 11,13: wie viel mehr wird dann der Vater im Himmel denen den Heiligen Geist geben, die ihn darum bitten." Wenn man so will, gehört zu dieser männlich ausgerichteten Perspektive die weiblich orientierte am Ende des Reiseberichts, dem Gleichnis von der Witwe und dem ungerechten Richter, Lk 18,1ff, das ja ebenfalls mit einer exemplarischen Einleitung – hier die Aufforderung zum unablässigen Gebet" (pro.j to. dei/n pa,ntote proseu,cesqai auvtou,j kai. mh. evgkakei/n) – beginnt und schließlich mit den rhetorischen Frage abschließt (18,7): Sollte da Gott nicht erst recht dafür sorgen, dass seine Auserwählten, die Tag und Nacht zu ihm rufen, zu ihrem Recht kommen?" Ich brauche gar nicht weiter darauf zu verweisen, wie die Metapher des Vaters bei dem ebenfalls noch weitgehend bekannten Gleichnis vom verlorenen bzw. den beiden Söhnen" oder noch zugespitzter dem Gleichnis von der Liebe des Vaters" genau in diesem Sinne des gütigen, fürsorgenden Vaters (mit der zwölfmaligen Verwendung des Vaterbegriffes!) eine ganz entscheidende Rolle spielt! Weiterhin spielt die Vateranrede in der Passionsgeschichte mit dem mehrmaligen Gebet Jesu eine ganz entscheidende Rolle. Aber auch darüber hinaus in der Perikope über das Ablehnen der Sorgen Lk 12,22 und die Rangordnung der Jünger (Lk 22,29) und schließlich am Schluss der Kreuzigungsszene als allerletzte (Gebets-)Worte des Gekreuzigten Lk 23,34 und vor allem Lk 23,46! Besonders beachtenswert ist dabei, dass im letzten Text Lukas die Vateranrede zu dem zitierten Ps 30 (MT 31),6 ganz im Sinne seiner vertrauten Anredeprädikation hinzufügt. Offensichtlich hat Lukas gleich mehrere Belehrungen über das Gebet zu einem einheitlichen Komplex zusammengestellt, um das zu verdeutlichen, was er in der Kommunikation mit Gott besonders wichtig ist. Das ist zum einem die Ermutigung zum Gebet überhaupt, und zum anderen die Konkretion dessen, was er als das Kennzeichen eines vorbildlichen und fürsorglichen Vaters versteht, der auch in ungewöhnlichen Situationen nicht nur seine vertrauensvolle Beziehung zu seinem "Kindern" stark hält, sondern auch in schwierigen Situationen das auf seine Weise schenkt, was sie zum Leben brauchen (wozu die weiteren Themen des Herrengebetes wie vor allem die Brotbitte dient). In diesem Sinne ist darum vor allem auf die damit zusammenhängende Gottesvorstellung des Evangelisten zu achten und zu ihm eine Brücke zu schlagen, in dem auch der Begriff der Barmherzigkeit" eine wichtige Rolle spielt. 2. Die Bedeutung des Reiches Gottes als zukünftig erwartetes und schon gegenwärtiges Allein schon der statistische Befund macht deutlich, dass die Thematik für Lukas eine große Bedeutung besitzt. Hier im Herrengebet ist bei der Bitte um das Reich eindeutig der zukünftige Aspekt der entscheidende. Die Thematik ist für die LeserInnen sicher eine bekannte Größe. Sie steht im Zentrum der Verkündigung Jesu. Denn so hat ja Jesus offensichtlich vom Reich Gottes gesprochen, wenn er es als (unmittelbar) bevorstehend ankündigt (Mk 1,15 parr Mt 4,17; Lk 4,15, wo allerdings dieser Begriff nicht erscheint): Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!" Ich brauche hier nicht näher auf die komplizierte, ausführliche exegetische Diskussion um die Herkunft und Hintergründe für die Verwendung dieser Vorstellung in der Verkündigung Jesu einzugehen. Das scheint aber schon beim ersten Überblick deutlich zu sein: die Hoffnung auf Gott und sein machtvollen Eingreifen ist die Erwartung auf das sichtbare Anbrechen seiner Herrschaft; es ist die Bitte um die eine kommende Welt. Sie ist nahe - aber eben noch nicht da": es bleibt die Hoffnung für die Armen; es bleibt, die Befreiung der Unterdrückten zu erwarten; es bleibt die Bitte um die Erlösung für die Verlorenen – das ist die im apokalyptischen Judentum gewachsene Glaubenshoffnung auf eine Wende der Weltgeschichte zum Heil durch Gottes eigenes Eingreifen. Das ist eine Perspektive, die den Blick derer, die mit den Worten von Jesus zu Gott beten, im ersten Teil des Vaterunsers das bekannt macht und daran erinnert, in welchem Horizont sich die Beziehung zwischen Gott und seiner Gemeinde abspielt. Eschatologie" als Blick in die Zukunft der Welt. Ein Blick, der vom Evangelium der Hoffnung bestimmt ist und nicht von der Selbstbezogenheit und Kleinkariertheit oder von der Resignation! Darum ja auch die bleibende Bitte um sein Kommen. Die bei Lukas im Vergleich mit Mk 1,15 ausgesparte Begrifflichkeit erscheint nun kurz darauf in narrativer Form durch die sog. Antrittspredigt, besser: seine programmatische Predigt, in Nazareth, Lk 4,16-20. Diese paradigmatische Episode in Kafarnaum wird dann schließlich abgeschlossen durch die seine Mission und Botschaft zusammenfassende Notiz (Lk 4,43) von der Verkündigung des Reiches Gottes, zu der er gesandt worden ist (evpi. tou/to avpesta,lhn). Damit stellt nun für der Evangelist das für ihn Besondere heraus, dass diese basilei,a mit dem Kommen Christi, seiner Botschaft und seinem Wirken, unauflöslich verbunden ist. Der Abschluss des zweiten Werkes aus der Feder des Lukas dokumentiert in dieser Weise eindrücklich, dass neben der Person Jesu selbst die Verkündigung des Reiches Gottes in seinen Augen das bleibende Thema der Christen – über den ganzen damaligen Erdkreis hinaus – als bleibende Aufgabe und Herausforderung bestehe bleibt . Das Reich ist in diesem Sinne zum Teil schon gegenwärtig, wenn auch auf eine proleptische und wenn man so will geheimnisvolle Weise. Das stellen nun in eindrucksvoller Weise die beiden Notizen von der Gegenwart – und damit dem Wanken, ja Zerbrechen des Reiches des Bösen – dar. Das Wirken des Fingers Gottes" in seinem Heilungs- und Befreiungswunder zeigt, dass diese basilei,a schon zeichenhaft präsent ist. Das verbindet diese Notiz mit der rätselhaften Auseinandersetzung mit den Pharisäern Lk 17,20f, dass die Basileia evnto.j u`mw/n sei. Aber wahrscheinlich wird in dieser Weise vom Evangelisten die Gegenwart auf so ungewöhnlich Weise betont, damit die folgenden Verse eben die Zukunft in Worte fassen können. So kann sich Gottes Macht schon beginnen zu entfalten. In dieser Weise werden auch die ausgesandten Jünger die unmittelbare Nähe, ja gegenwärtige Macht der basilei,a in den Heilungen erleben, nach der Ankündigung und Aufforderung Lk 10,9: Heilt die Kranke, die dort sind und verkündet den Bewohnern der Stadt: Das Reich Gottes ist zu euch gekommen' (h;ggiken evf' u`ma/j h` basilei,a tou/ qeou/)… Aber das sollt ihr wissen: Das Reich Gottes ist gekommen (h;ggiken h` basilei,a tou/ qeou)'." Das Gleichnis von der bittenden Witwe Lk 18,1-8 verstärkt aber noch einmal unmittelbar mit dem Thema Gebet/Bitten verbunden auf eindrucksvolle Weise die für den Evangelisten wesentliche Verknüpfung von Gebet und der bleibenden Bitte um das Kommen des Reiches Gottes. Ein Bitten nun, weniger für den Alltag und seine Bedürfnisse, die die dann im Gebet folgenden Wir-Bitten angesprochen werden (zu denen wir in Kürze kommen werden), sondern die eine grundlegende eschatologische Perspektive, die in den sog. DU-Bitten zum Ausdruck kommt. Ein Gebet, wie die Einleitung schon bestimmt, unablässig zu beten, ohne sich entmutigen zu lassen (mh. evgkakei/n)." – allerdings ohne direkt den Begriff des Gottesreiches aufzugreifen. Hier bei Lukas kann dabei durchaus der durative Charakter, wie sie in seiner Fassung durch das verwendete Präsens zum Ausdruck kommt, bestimmend sein. Letztlich meint also der Ruf nach dem Reich Gottes so etwas wie den Herrschaftsantritt Gottes, seine (legitime) Machtergreifung." Die Betenden werden so in die Bewegung Gottes zur Wiedergewinnung seiner Herrschaft eingebunden. Anders aber als die Zeloten und später einzelne rabbinische Lehrer sollen die Betenden die Umsetzung des Reiches nicht in irgendeiner Weise beeinflussen oder gar sein Kommen beschleunigen. Sie nehmen vielmehr die Botschaft Jesu auf und stellen sich schon jetzt mit ihrem Gebet auf die Gottesherrschaft ein. Eine Berechnung und zeitliche Fixierung wird aber an vielen Stellen des lukanischen Werkes deutlich abgelehnt. 3. Die Bitte um die (tägliche) Versorgung im Alltag Sie ist die erste der drei WIR-Bitten und hat damit wie die Vateranrede eine Schlüsselstellung inne. Bei Lukas wird nun ja nicht die vorherige Bitte um das Reich Gottes entfaltet, sondern gerade die Bitte um das tägliche Brot und die existentielle Bedürftigkeit. Bei der Interpretation stehen sich schwerpunktmäßig zwei Thesen gegenüber: eine Gruppe der Forscher stellt sie in den eschatologischen Zusammenhang der vorausgehenden DU-Bitte. Die andere Gruppe deutet das Stichwort Brot" im alltäglichen Sinn und lässt sich bei der Vokabel epousios" von der griechischen Wortbildung leiten. Wenn überhaupt, dann ist dieses Wort in der ganzen Antike nur noch einmal belegt (in einem Papyrusfragment, das inzwischen verlorengegangen ist). Andererseits ist von vornherein nicht zu überspielen, dass beide Evangelisten gemeinsam dieses sonst ganz unbekannte Wort in einem im ersten Teil identischen griechischen Wortlaut überliefern: ton arton hemon ton epiousion"! Wir müssen uns beide Lösungsvorschläge noch etwas näher verdeutlichen. So kommt die Untersuchung von Ursula Schattner-Rieser zu dem Ergebnis, dass auch beiden Evangelisten (Mt und Lk) eine gemeinsame (aramäische) Vorlage kennen, auch wenn ihre Formulierungen sich nun in der griechischen Fassung unterscheiden. Ausgehend von einem ab dem 2. Jahrhundert belegten, wahrscheinlich aber älteren, Verständnis interpretiert Joachim Jeremias das Brot als "Lebensbrot" oder Brot der (kommenden) Heilszeit." Die Bitte würde sich dann auf die auch in der Jesusverkündigung anzutreffende Vorstellung. vom eschatologischen Mahl im Reich Gottes beziehen (Lk 22, 30): Ihr sollt in meinem Reich mit mir an meinem Tisch essen und trinken …" Auch die sprachlich vom jüdischen Hintergrund nicht selbstverständliche Verbindung von eschatologischer Speise und der Vokabel für die Alltagsspeise Brot" kommt im Zusammenhang einer Mahlzeit vor, an der Jesus und seine Jünger teilhaben. Einer der Mitgäste, der offensichtlich nicht zu den Jüngern gehört, sagt (Lk 14,15): Selig ist, der das Brot isst im Reich Gottes ( phagetai arton…")." Dieses eschatologische Brot für morgen" steht damit nach Jeremias im Mittelpunkt der Brotbitte des Vaterunsers. Die Schwierigkeit dieses Verständnisses liegt allerdings darin, dass Jeremias hier etwas ganz Entscheidendes übersieht: artos" (Brot) wird im Wortlaut, den beide Evangelien überliefern, durch ein Possessivpronomen hämon" (unser) näher bestimmt. Es muss also die Rückfrage nach der Gemeinschaft gestellt werden, die hier im Blick ist! Ist es wirklich antizipierend die eschatologische Heilsgemeinde der Jünger, die schon jetzt mit Jesus, ihrem endzeitlichen Richter und Gastgeber, an einem Tisch sitzt? Anton Vögtle hat sich mit Recht in einem Aufsatz aus dem Jahr 1975 mit dieser Auffassung kritisch auseinandergesetzt und auf die ständige Gefahr der Überinterpretation dieser Bitte verwiesen. Kann man wirklich in der Umgebung Jesu ohne direkten Hinweis von der Selbstverständlichkeit ausgehen, dass das Brot" als Inbegriff des eschatologischen Mahles galt? Auch die sprachliche Herleitung des Verständnisses für morgen" (mahar = epiousios) sei nicht unbedingt zwingend. [[Vögtle leitet das Wort von ep-ienai" ab (allerdings nicht anders als auch Jeremias = hinzukommen') Vögtle versteht es allerdings nicht zeitlich, sondern im (übertragenen) Sinn: Unser notwendiges (Quantum) Brot, das Brot, das wir brauchen, gib uns heute!" (S. 353). M.E. ist aber trotz der am Ende stehenden Zeitbestimmung sämeron" (= heute, bei Mt) nicht unbedingt eine störende Doppelung in Rechnung zu stellen, auch wenn man weiterhin auf einer temporalen Komponente des Verständnisses von epiousios" bestehen sollte mit dem Sinn: unser morgiges Brot gib uns heute". ton arton hemon ton epiousion" könnte einen nicht weiter belegten terminus technicus der damaligen Alltagssprache beinhalten, und zwar aus folgendem, bisher, soweit ich sehe, in diesem Zusammenhang nicht weiter reflektierten Gedankengang: Das Brot wurde damals bei den unteren Bevölkerungsschichten normalerweise selbst gebacken, und zwar immer alle ein bis zwei Tage; d.h.. jeweils der Bedarf für einen, höchstens zwei Tage. Unser morgiges Brot" wäre in diesem Sinne genau der notwendige Vorrat von einem konkreten Backvorgang. In diesem Sinne heißt es im Alten Testament am Schluss des Heiligkeitsgesetzes (Lev 26,26): Ich entziehe euch dann euren Vorrat an Brot, so dass zehn Frauen euer Brot (lahmechäm) in einem einzigen Backofen backen, dass man euch das Brot abgewogen zuteilt und ihr euch nicht satt essen könnt." (Der Anfang wörtlich: Beim Zerbrechen für euch - den Brotstab" = der Holzpflock, an dem die ringförmigen Brote hängen; oder: Ich zerbreche …)]] Es ist wohl nicht zufällig, dass im weiteren Verlauf des Lukasevangeliums bald der Abschnitt über das Sorgen" erscheint (Lk 12,22-32, par. Mt 6,19-34). Dort geht es ganz konkret um die Sorge des täglichen Überlebens, exemplifiziert am Brot" (mit der Frage: was sollen wir essen?), Getränk" (mit der Frage: was sollen wir trinken?) und an der Kleidung" (mit der Frage: was sollen wir anziehen?). Die Bitte um den täglichen Brotvorrat" würde nun geradezu diese Sorge des Alltags vertrauensvoll in die Fürsorge des Schöpfers legen. Damit ist die alltägliche Sorge um die Nahrung mit ihrem Grundnahrungsmittel sicher zunächst der entscheidende Hintergrund, von dem her die Brotbitte zu verstehen ist. Es sind ja primär nicht die Reichen und Bedürfnislosen, denen diese Bitte in den Mund gelegt wird, sondern die Gemeinschaft der Bedürftigen, die sogar von anderen auf ihren Wegen unterstützt werden mussten (vgl. Lk 8,3). Diesen Gegenwartsbezug hat der Evangelist auch schon bei der knapperen Formulierung der Seligpreisungen im Blick, Lk 6,20ff, in denen die Jüngergruppe als Arme (ptwcoi,), Hungernde (peinw/ntej) und Klagende (klai,ontej) angesprochen werden. Gerade ihnen wird die Sättigung und der eschatologische Trost zugesprochen. Bei der Frage nach dem Sinn der Brotbitte macht es offensichtlich einen entscheidenden Unterschied, ob die WIR-Bitte des Vaterunsers spiritualisiert wird und ihr einen sogenannten tieferen Sinn" gegeben wird oder nicht. Es ist ein entscheidender exegetischer Grundsatz, zunächst das Verständnis herauszuarbeiten, das vom Kontext und von der gesellschaftlich-kulturellen Umgebung am nächsten liegt. Das ist aber hier nicht in erster Linie die gottesdienstliche Heilsgemeinde, sondern die Gemeinschaft der Bedürftigen, der Nachfolger Jesu, die mitten in den Herausforderungen des Alltags der Antwort Gottes gewiss sein darf. Es handelt sich damit am ehesten um eine Art von Grundsicherung", d.h. die notwendige Versorgung zum Überleben. Lukas legt nun den Schwerpunkt auf die Nachhaltigkeit und Dauer dieser Nahrungsfürsorge (kat' h`me.ran). In diesem Sinne versteht Lukas wohl auch die folgende grundlegende Belehrung zum Gebet mit den allgemeineren Wortpaaren bitten (aivte,w) /empfangen, suchen (zhte,w) /finden und anklopfen (krou,w) /öffnen. Andererseits ist bei ihm die Ermutigung zum Bittgebet in jeder denkbaren Notlage nicht zu übersehen. Neben dem anschließenden Gleichnis gehört das ebenfalls nur bei Lukas überlieferte Gleichnis von der bittenden Witwe in diesem Zusammenhang. Soziale Aspekte sind dabei dem Evangelisten auf jeden Fall grundlegend wichtig. 4. Bitte um Vergebung Die zweite WIR-Bitte besteht aus zwei Teilen, der eigentlichen Bitte als Vorsatz ( vergib uns unsere Sünden/Schuld") und dem mit kai, angeschlossene Nachsatz, der verstärkend eine eigene Verpflichtung einbringt: wie auch wir jedem vergeben, der an uns schuldig geworden ist". Der Nachsatz ist in beiden Evangelien nur mit minimalen unterschiedlichen sprachlichen Nuancen behaftet; so besteht kein zwingender Grund, seine Ursprünglichkeit in Frage zu stellen. Interessanterweise ist dies das wohl einzige Mal, dass ein Zusammenhang zwischen dem Vergeben Gottes und dem menschlichen Handeln hergestellt wird. Sprachlich scheint Matthäus im ersten Teil die Urfassung bewahrt zu haben, was die Aufnahme des Wortes Schuld (ta. ovfeilh,mata) im Nachsatz durch eine verwandte Vokabel vermuten lässt. Demgegenüber erscheint bei Lukas im Vordersatz der theologische Fachbegriff für Sünde (taj. a`marti,aj), wie er sich seit der LXX herausgebildet hat. Wie auch immer dieser Unterschied zu erklären ist, wir werden dies in der Interpretation zu berücksichtigen haben. In der Verkündigung Jesu selbst erscheint zwar das Stichwort Vergebung" (avfi,hmi) selten. Dafür aber umso eher durch das Verhalten, wie er sich den Menschen zuwendet, die zu den sog. Sündern oder auch durch eine Krankheit Gezeichneten gezählt werden. [[Damit hat es schon für die Verkündigung Jesu ein unüberschätzbares Gewicht – in Fortsetzung der Bußpredigt des Täufers.]] Denn neben dem Ruf zur Umkehr gehört sie wie die Botschaft vom Reich Gottes ins Zentrum seiner Verkündigung. Weiterhin war dieses Thema auch immer wieder ein Punkt der Auseinandersetzung mit seinen Kritikern und Gegnern. So z.B. ausdrücklich offensichtlich schon zu Beginn seines öffentlichen Wirkens in der Geschichte von der Heilung des Gelähmten (Mk 2,5 parr Lk 5,20; Mt 9,2): "Deine Sünden sind dir vergeben!" Diese Auseinandersetzung mit seinen Gegnern scheint schon recht früh zu der außergewöhnlichen programmatischen Selbstaussage Jesu geführt zu habe (Lk 5,32; Mk 2,17b; Mt 9,13b): Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen; ich bin gekommen, um Sünder (a`martolou,j) zur Umkehr (eivj meta,noian) zu rufen." Lukas spricht in diesem Zusammengang recht präzis vom Ruf zur Umkehr (Lk 5,32: eivj meta,noian). Hat Jesus also die Vergebung der Sünden weniger zum Thema seiner Verkündigung gemacht, so aber umso deutlicher im beispielhaften gegenwärtigen Handeln in der Begegnung mit den Menschen. Genau diesen Aspekt scheint der Nachsatz zur Bitte an Gott im Vaterunser zu bekräftigen. Diesem gegenwärtigen Vergebungszuspruch Gottes in Jesus gilt es durch die eigene Vergebungsbereitschaft zu entsprechen. Gerade diese Seite hat Matthäus im direkten Anschluss an das Vaterunser verstärkend herausgearbeitet (Mt 6,14f): "Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, dann wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben." Vergebung" ist also im Bereich der synoptischen Evangelien ein Phänomen der alltäglichen Erfahrung: Menschen wird gegenwärtig ein neuer Anfang ermöglicht; bzw. soll sich immer wieder zwischen ihnen ereignen und ermöglicht werde. Diese Erfahrungen fallen einem nicht selbstverständlich zu; sie gilt es immer neu zu entdecken und gegen alle Widerstände und Vorbehalte zu praktizieren, wie es sehr schön die Geschichte der Petrusfrage zeigt (Mt 18,21f par Lk 17,4.). Die bei Lukas verwendete Symbolzahl Sieben" verweist sicher darauf, dass die Vergebungsbereitschaft nicht quantitativ zu messen ist sondern qualitativ. Für Lukas ist hierbei die Erzählung der stadtbekannten Frau in Lk 7,36ff bezeichnend. Neben dem vor allem für eine Heilungsgeschichte typischen Stil Dein Glaube hat dir geholfen" ist das Vergebungswort Jesu besonders herausgestellt, Lk 7,48: Deine Sünden (ai` a`marti,ai) sind dir vergeben." Offensichtlich gibt Jesus der Frau mit seinem Zuspruch der Vergebung den entscheidenden Anstoß für einen Bruch mit der Vergangenheit und den Beginn zu einem neuen Leben. Das war für die pharisäischen Kritiker kaum zum ertragen. Zwar dachten sie wohl auch groß von der Umkehr, aber sie stellten sie mehr oder weniger in die Macht des menschlichen Willens." In dieser Geschichte erscheint nun auch der Begriff Sünde" (V.39: a`martolo,j; V. 47.48: ai` a`marti,ai; V. 49: a`marti,aj) wohl gleichbedeutend mit dem Begriff der Schuld (V.41: creofeile,thj; ovfei,lw) wie hier. Wohl nach Ostern wird die Verkündigung der Sündenvergebung – nachdem sie schon in der das Evangelium abschließenden Begegnung des Auferstandenen mit der Jüngergruppe eine zentrale Rolle gespielt hat (Lk 24,47) – neben dem Umkehrruf zur zentralen Heilsbotschaft der Kirche und zum Abendmahlskerygma. Sündenvergebung als Heilsbotschaft scheint die Urgemeinde als ein ganz und gar gegenwärtiges Geschehen empfunden zu haben (Apg 10,42). Der Zuspruch der Sündenvergebung in der Predigt der Apostel eröffnet allen Glaubenden die gegenwärtige Erfahrung des Heils (Apg 13,38: in der Predigt des Apostels Paulus am Sabbat in der Synagoge von Antiochien in Pisidien). Ich brauche hier dieses Thema nun nicht weiter zu entfalten. Die Betenden lassen in der Gebetsbitte ein Versprechen zu erkennen, immer wieder (die iterative, durative Seite ist zu beachten) – im Alltag neu – menschlichen Schuldnern zu vergeben. Lukas unterstreicht hier im Gebet offensichtlich die Verpflichtung gegenüber jeglichem Menschen (panti,). Wahrscheinlich steht für das Gebet auch die Vorstellung im Raum, im Sprechen des Gebetes performativ" sich der Vergebungsbereitschaft zu öffnen. 5. Die Versuchungsbitte Diese – wieder mit kai, angeschlossene – kurze Bitte, mit der das Gebet wohl seinen Anschluss gefunden hatte, ist die einzige, die negativ formuliert wird, womit wohl eine besondere Sorge oder Bedürftigkeit zum Ausdruck gebracht wird. Sie lautet bei Lk und Mt gleich; allerdings wird sie bei Mt – wie im ersten Teil des Gebetes – ergänzt durch die positive Erlösungsbitte. Die Kürze scheint mir mit seinem dadurch entstehenden Achtergewicht" oder Achtersog" durchaus ursprünglich zu sein. In den Evangelien wird von zwei Versuchungen geredet. Beide Mal ist Jesus selbst betroffen, bzw. seine Jünger. Am Anfang der synoptischen Evangelien wird die sog. Versuchungsgeschichte überliefert (Mt 4,1-11; Mk 1,12 f; Lk 4,1-13); sie beginnt mit den Worten (Lk 4,1f): Erfüllt mit dem Heiligen Geist verließ Jesus die Jordangegend. Vierzig Tage war er, vom Geist geführt, in der Wüste und wurde vom Teufel versucht (peirazo,menoj u`po. tou/ diabo,lou)". Das Markusevangelium hat über die Versuchung von Jesus nur eine kleine Notiz; Lukas und Matthäus berichten dagegen ein regelrechtes Streitgespräch mit dem Satan / Versucher. Es ist ein bildhafter erzählender Text mit Anspielungen, die viele Deutungen offen lassen. Obwohl es zunächst wie eine einmalige, zugespitzte Situation aussieht, lässt sich die Versuchung durch den Satan wohl kaum als eine exemplarische Vorwegnahme einer endzeitliehen Versuchung deuten. Diese Versuchung Jesu ist eine Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Satan, der Jesus von seinem gottgewollten Weg abbringen will." Am ehesten ist die Geschichte in den Zusammenhang von vielen Stellen zu bringen, in denen ausdrücklich erwähnt wird, dass Jesus von vielen Seiten versucht" / auf die Probe gestellt" wird. Dann spiegelt sich also das wider, was das Wort Jesu in der Passionsgeschichte an seine Jünger so zusammenfasst (Lk 22,28f): In (allen) meinen Versuchungen (evn toi/j peirasmoi/j mou) habt ihr (treu) bei mir ausgehalten. Darum gebe ich euch Anteil an dem Reich, das mein Vater mir übertragen hat." Das ganze Leben Jesu wird hier so gedeutet, dass es vielen Versuchungen" ausgesetzt ist. Seine Jünger haben hierbei ihren Herrn begleitet und darin ausgehalten. Es wird deutlich: zwar sind Versuchungen nicht grundsätzlich zu trennen von eschatologischen Ereignissen - sonst könnte Jesus seinen Jüngern nicht das Reich (und die wichtige Richterfunktion dabei) versprechen -; aber es sind doch eine ganze Reihe von Auseinandersetzungen und Prüfungen, die es im Alltag (!) zu bestehen gilt. Die zweite Geschichte, die als Versuchung ausdrücklich gewertet wird, ist die Gethsemani-Perikope (Mk 14,32-42 par. Lk 22,39-46; Mt 26,36-46). Als Jesus beim ersten Mal zurückkommt, sagt er widerholend zu den drei schlafenden Jüngern bei ihm (Lk 22,46): Wie könnt ihr nur schlafen? Steht auf und betet (proseu,cesqe! Zum ersten Mal 22,39), damit ihr nicht in Versuchung (eivse,lqhte eivj peirasmo,n) geratet." In der Leidenssituation kurz vor der Verhaftung bittet Jesus also seine ihm vertrautesten Jünger, dass sie ihm beistehen sollen in der Anfechtung. Wie im Vaterunser erscheint hier das artikellose Substantiv peirasmo,j. Gemeint ist wohl die aktuelle Solidarität mit dem leidenden Jesus in Gethsemani; konkret die abzusehende Verhaftung oder der Prozess, bis zu den Ereignissen von Karfreitag und dem Tod am Kreuz. Das heißt aber, dass nicht die letzte große Endanfechtung" oder der Horizont äußerster, eschatologischer Versuchung" im Blick ist, wie mancher Ausleger meint. Stände ein eschatologisches Endereignis im Mittelpunkt, dann müsste in der griechischen Sprache wenigstens der bestimmte Artikel verwendet worden sein. Schließlich verweist noch eine letzte Parallelstelle der Evangelien grundsätzlich in die Richtung der alltäglichen Anfechtungen. Es ist die Auslegung des Gleichnisses Jesu vom Sämann (Mk 4,13-20 parr.); Lukas deutet das Bild der auf den Felsen fallenden Samenkörner interessanter Weise mit folgenden Worten (Lk 8,13): Auf den Felsen ist der Samen bei denen gefallen, die das Wort freudig aufnehmen, wenn sie es hören; aber sie haben keine Wurzeln: Eine Zeitlang glauben sie, doch in der Zeit der Prüfung (evn kairw"/ peirasmou/) werden sie abtrünnig." Es gibt keine Ausnahmen; alle Parallelen innerhalb der Synoptiker kennen die Situation der Prüfung - ohne irgendwie weiter darüber zu reflektieren, wer der Urheber dieser Versuchungen" grundsätzlich ist. Dass auch Gott selbst letztlich, als der Schöpfer, Menschen in diese Situation hineinführen kann, ist vorausgesetzt; dass dieser Gedanke abgewehrt wird, setzt erst einen späteren Reflexionsgrad voraus. Dieser Befund wird auch durch außerneutestamentliche Texte bestätigt. Selbst wenn die Formulierung sprachlich etwas anders ist, scheint ein altes jüdisches Tagesgebet dem Verständnis der letzten Vaterunserbitte sehr nahe zu kommen (bBer 60b): Leite mich nicht in die Gewalt der Übertretung und bringe mich nicht in die Gewalt der Sünde und nicht in die Gewalt der Schuld und nicht in die Gewalt der Versuchung und nicht in die Gewalt von Schändlichem." Ähnliche Worte enthält ein Psalm, der in der syrischen Übersetzung des AT überliefert wird (Syr III / Ps 155), der auf Hebräisch auch in den Höhlen von Qumran gefunden worden ist (11 QPs XXIV, 11f): Bring mich nicht in Situationen, die zu hart für mich sind; entferne die Sünden meiner Jugend von mir und lass meiner Übertretungen nicht gedacht werden gegen mich." Die Bitte und führe mich nicht in Versuchung" hat die Situation des Alltags vor Augen. Die Beter sind eben nicht solche Glaubenshelden" wie Abraham oder Hiob. Im Hintergrund steht das schmerzliche Wissen darum, dass solche Versuchungen" nicht bewältigt worden; darum im Vaterunser die Bitte an Gott, vor dem Versagen zu bewahren. Diese Dinge des Alltags betreffen in dieser Gebetsfassung also die tägliche Versorgung mit Nahrung, der immer wieder neu zu gewährende Neuanfang und die Sorge, den Glauben zu verhindern oder zu verlieren. Das Sprechen und Beten dieser Bitten ermöglicht schon einmal einen ersten, wichtigen Schritt, sich diesen alltäglichen Herausforderungen zu stellen und zu bewähren. [[Sprachlich wird man schließlich den neueren Diskussionsvorschlägen ein gewisses Recht geben müssen. Die Assoziationen von ethisch-moralischer Versuchung wären eine ebenso falsche Verengung wie das ausschließlich eschatologische Verständnis, die Beschränkung auf die eine letzte Versuchung vor der Parusie.]] 6. Zusammenfassung Ich konnte in meinem Beitrag aus zeitlichen Gründen nicht auf alle einzelnen Teil des VU eingehen. Z.B. wäre noch die erste Du-Bitte interessant (vgl. J. Moltmann zur Heiligung des Namens und die ausführliche neuere Monographie von Katrin Juschka (2015). Hierbei wäre auch die textlich interessante Frage nach der Bitte um den Heiligen Geist zu platzieren! Aber die wichtigsten Schwerpunkte sollten doch behandelt worden sein! Spannend wäre es auch, einen exegetischen Schwerpunkt auf eine ökumenische Ausrichtung zu legen! Auf jeden Fall gehört es in den Alltag christlicher Frömmigkeit, ohne allerdings einem gedankenlosen Ritual allein zu verfallen. Dagegen lohnt es sich, nicht nur wegen seiner Bekanntheit, sondern auch wegen der inhaltlich, komprimierten, wenn man so will katechetischen" Kompaktheit, als Leitfaden der Gemeinschaft der Christusnachfolger für die Botschaft und das Wirken Jesu. Immerhin streiten sich die verschiedenen christlichen Konfessionen und Glaubensgemeinschaften zwar über Themen wie das Abendmahl/die Eucharistie und oft auch über die Taufe, aber nicht über das Vaterunser. Dieses Gebet eint darum den oft zersplitterten Leib Christi und könnte ihn auf seine Weise ein wenig enger zusammenführen. Lukas hatte offensichtlich ebenfalls schon zu seiner Zeit eine globale Perspektive im Blick, ohne die grundlegenden jüdischen Wurzeln zu überspielen oder gar zu vergessen! Literatur: Avemarie, Friedrich, Zeugnis in Öffentlichkeit. Zur Entwicklung des Begriffs der Heiligung des Gottesnamens in der frühen rabbinischen Überlieferung", in: Doering, L. u.a. (Hg.), Judaistik und neutestamentliche Wissenschaft, 2008, 257-278. H-M. Barth, Das Vaterunser als Thema öffentlicher christlicher Theologie. Neue Perspektiven für das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft, in: DtPfrBl 116 (2016), 64-67. Francois Bovon, Lukas in neuer Sicht, 1985. 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