Preview only show first 10 pages with watermark. For full document please download

Mobilisierung Der Strahlenforschung Im Nationalsozialismus. Der Fall Boris Rajewsky

   EMBED


Share

Transcript

Schriftenreihe des Frankfurter Universitätsarchivs Herausgegeben von Notker Hammerstein und Michael Maaser Band 5 »Politisierung der Wissenschaft« Jüdische Wissenschaftler und ihre Gegner an der Universität Frankfurt am Main vor und nach 1933 Herausgegeben von Moritz Epple, Johannes Fried, Raphael Cross und Janus Gudian WALLSTEIN VERLAG Mit der Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf Alfons und Gerrrud Kassel-Stiftung Stiftung Polytechnische Gesellschaft Frankfurt am Main Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung, Köln Vereinigung von Freunden und Förderem der Goethe-Universität Frankfurt am Main GEfHJJ\ HEi'H~El STIFTUNG Alfons und Gcrlrud Kassel-Stiftung ( Stiftung Polytechnische Gesellschaft Frankfurt am Maln Fritz Thyssen Stiftung 1:u , ,WI:d<~n ~~)1 J 11 ~~ 011 dvi'Jlli! Q ..l:ft.. FREUNDE DER UNIVERSITÄT )l 0 X J ~------~~-------~- ~ .·"' :~ .. ~~l... !" r: .... ~ · 'i :·1 ;_;7S"~"llT ,:ü:t t.J·~ -·~Jt~.-.; ~ .·-~· r~: _:;:.~,...:cr:ir..:~r:~ :_.: !r_;tl \·.::·. .------,....----*::~ ) / Inhalt Vorwort . . . . 9 ]ANUS GUDIAN roo Jahre Universität- die Stunde des Historikers Überlegungen zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik . I I I. Einführung STEVEN E. ASCHHEIM The Weimar Kaieidoscape and, incidentally, Frankfurt's not Minor Place in it SHULAMIT VOLKOV Integration through Accomplishment Jews in the Kaiserreich . . . . . . . . 95 li. Biographische Artikel EMMANUEL FAYE Eric Voegelins Haltung zum Nationalsozialismus Überlegungen zum Briefwechsel Krieck-Voegelin (1933-1934). I I I CARSTEN KRETSCHMANN Geschichte als Politik Walter Platzhoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I47 ROllERT E. LERNER Ernst Kantorowicz's Decision I73 MICHAEL ZANK Martin Buber an der Universidt Frankfurt (1923-1933) Universitätsgeschichtliche Erinnerung und wissenschaftsgeschichtliche Annäherung . . . . . . . I93 6 INHALT DAVID DYZENHAUS Hermann Hellerand the »]ewish Element« in German Public Law Theory . . . . . . . 209 PETER C. CALDWELL Ernst Forsthoff in Frankfurt Political Mobilization and the Abandonment of Scholarly Responsibility . . . . . . . . . . 249 HEINZ D. KURZ Pranz Oppenheimer und das Problem der Erlösung der Menschheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . DAVID KETTLER Kar! Mannheim in Frankfurt. A Political Education MARTIN JAY Ungrounded: Horkheimer and the Faunding of the Frankfurt School . . . . . . . . . . . 337 MITCHELL G. ASH Ganzheit und Gestalt Der Umgang jüdischer und nichtjüdischer Wissenschaftler in Frankfurt mit umkämpften kulturellen Codes vor und nach 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 ALEXANDER VON SCHWERIN Mobilisierung der Strahlenforschung im Nationalsozialismus Der Fall Boris Rajewsky . . . . . . . . . . . . . . . . . . . JOHN C. STILLWELL Max Dehn . . . . . . 395 INHALT 7 III. Ausblick JEPFREY HERF The Displacement of German History in the Dialectic ofEnlightenrnent . . . . . . . . . . 447 MOSI-IE ZIMMERMANN Eine paradoxe Mutation Die jüdisch-völkische Geschiehtsauffassung IV. Anhänge Abkürzungs- und Siglenverzeichnis Abbildungsnachweise 490 Die Autoren . . . . . 492 Personen- und Figurenregister 494 ALEXANDER VON SCHWERIN Mobilisierung der Strahlenforschung im Nationalsozialismus 1 Der Fall Boris Rajewsky Rajewsky und die Biophysik in Frankfurt Boris Rajewsky gehört zu denjenigen Frankfurter Gelehrten, die nie in Gefahr standen, in Vergessenheit zu geraten. Anlässlich einer Gedenkund Feierstunde zu seinem roo. Geburtstag im Jahr 1993 berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung ausführlich über seine Arbeit als Strahlenforscher und Biophysiker. Als Gründungsdirektor des heutigen Max-Planck-Instituts für Biophysik und Ordinarius an der Medizinischen und Naturwissenschaftlichen Fakultät hat Rajewsky die Biophysik in Deutschland groß gemacht, ein Forschungsgebiet, das seit den fünfziger Jahren in zweifacher Hinsicht ungeahnt an Bedeutung gewonnen hat: zum einen durch die militärische und zivile Anwendung der Atomphysik und die daraus resultierende Notwendigkeit, die Wirkung von Strahlen auf den Menschen zu verstehen und den Strahlenschutz zu entwickeln, zum anderen durch die molekularbiologische Revolution in der Biologie, die bis zur heutigen Genomforschung führt. Entscheidende Impulse dafür kamen aus der Biophysik. Bei seiner Emeritierung im Jahr 1966 konnte Rajewsky auf ein beachtliches Werk zurückblicken, vielfach geehrt für seine Arbeit als Biophysiker und seinen Einsatz für die Frankfurter Universität, das Frankfurter Kulturleben und die Entwicklung des Strahlenschutzes in Deutschland, unter anderem mit sechs Ehrendoktorwürden, dem Großen Bundesverdienstkreuz (1953) und dem Großen Bundesverdienstkreuz mit Stern (1963). 2 Auf wen solche Auszeichnungen herunterregnen, hat meist nicht I 2 DFG-Sachbeihilfe-Projekt WA 1145/3-2 an der Abteilung für Geschichte der Naturwissenschaften mit Schwerpunkt Phannaziegeschiclue, TU Braunschweig. Für eine umfangreiche Aufzählung der Ehrungen siehe Erwin Schopper, Boris Rajewsky, 1893-1974, in: Geschichte der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankhin am Main: Physiker und Astronomen in Frankfurt, hg. von Klaus Bethge/Horst Klein. Neuwied 1989, 128-143· ALEXANDER VON SCHWERIN nur Großes vollbracht. Solche Ehrungen sind auch ein verlässlicher Hinweis auf eine beachtliche Machtfülle. So war Rajewsky Gründer, Mitglied und Ehrenmitglied verschiedener Gesellschaften und Organisationen wie der Deutschen Röntgengesellschaft, der Deutschen Gesellschaft für Biophysik und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina in Halle; Rajewsky war omnipräsenter Forschungsorganisator in Sachen Strahlenbiologie und Biophysik in Max-Planck-Gesellschaft und Deutscher Forschungsgemeinschaft (DFG); als beratender Experte gestaltete er in der Deutschen Atomkommission und als Vorsitzender des vom Deutschen Bundestag 1956 initiierten Sonderausschusses Radioaktivität den Strahlenschutz in der Bundesrepublik Rajewsky war während seiner gesamten beruflichen Laufbahn eng mit der Stadt Frankfurt und der Frankfurter Universität verbunden) Davon zeugt unter anderem die Goethe-Plakette, mit der die Stadt Frankfurt Rajewsky im Jahr 1951 für seine Verdienste am Wiederaufbau der Universität nach Kriegsende, für den er insbesondere mit Hilfe seiner guten Verbindungen zu wohlhabenden Bürgern und Industriellen schon früh die Weichen stellen konnte, dankte. Zum 25-jährigen Bestehen des von Rajewsky seit 1938 geführten Max-Planck-Instituts für Biophysik stifteten die Hessische Landesregierung und der Magistrat der Stadt Frankfurt die Mittel für die Boris Rajewsf>Persilscheinkultur<<. Zum Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Kaiser-Wilhelm/Max-Planck-Gesellschaft, in: Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit, hg. von Bernd Weisbrod. Göttingen 2002, 223-252. 12 Zu Narrativen der Reinigung siehe Heiko Stoff, Adolf Butenandt in der Nachkriegszeit, 1945-1956. Reinigung und Assoziierung, in: Adolf Butenandt und die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Wissenschaft, Industrie und Politik im »Dritten Reich<<, hg. von Wolfgang Schied er/ Ach im Trunk. (Geschichte der KaiserWilhelm-Ges. im Nationalsozialismus, Bd. 7) Göttingen 2004, 367-402; RADIZ Schlema (wie Anm. 6). DER FALL ßORIS RAJEWSKY 399 Medizin'- ab 1937lr938: Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für Biophysiküber die Jahre zunehmend in nationalsozialistische Herrschaftsstrukturen einpassten. Das Schicksal der Wissenschaft und insbesondere naturwissenschaftlicher Forschung war im Nationalsozialismus weniger durch ihre Politisierung bestimmt. Der Forschungsalltag und wissenschaftlich-technische Pragmatik bestimmten - möglicherweise mehr, als wir es immer noch wahrhaben wollen - die Beziehung von Wissenschaft und nationalsozialistischer Politik. Der Aspekt des Gebens und Nehmens in der Forschung ist eine nicht zu unterschätzende, gestaltende Kraft. Wissenschaftliche Verbindungen und »Tauschbeziehungen« schaffen eigene Realitäten im Verhältnis von Politik und Wissenschaft. DerTausch von Ressourcen ist, wie Mirehell Ash betont, für das Verständnis für die Wissenschaft im Nationalsozialismus absolut wichtig - Ressourcen im weiten Sinne verstanden: Geldmittel, Apparate, Materialien (insbesondere bei kostenintensiven Wissenschaften), aber auch symbolisches Kapita\. 13 Eine solche Perspektive mag ein neues Licht aufRajewskys Wirken werfen. Sie erfordert aber, einen Schritt zurückzutreten aus dem Dickicht der Nachkriegszeugnisse und sich ausschließlich auf historisches Quellenmaterial zu beziehen. Die Lesart, die die Verteidigungsstrategie im Frankfurter Spruchkammerverfahren prägte, hob naturgemäß auf die rein politischen Aspekte von Rajewskys Wirken an der Frankfurter Universität ab. Die politische Verfolgung von Rajewskys Vorgänger, dem Institutsgründer Friedrich Dessauer, diente dabei als Folie, um Rajewskys Karriereweg zu beschreiben. Einem geschickten Kampf gegen böswillige politische Mächte ist es demnach zu verdanken, dass Rajewsky Nachfolger Dessauers geworden ist und Dessauers Institut überlebt hat. Bei genauer Betrachtung handelte es sich allerdings - im Fall von Rajewsky um einen Kampf gegen wirtschaftlich-finanzielle Mächte. Im Folgenden soll am Beispiel Rajewskys Schritt für Schritt nachverfolgt werden, welche Handlungsoptionen die wissenschaftliche Elite im Nationalsozialismus bewahrt und genutzt sowie wie sie diese erweitert hat. Es geht nicht in erster Linie um die Beantwortung persönlicher Schuld, sondern darum, die Radikalisierungsdynamik zu verstehen, 13 Mirehell G. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, in: Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kominuitären im Deutschland des 20. Jahrhunderts, hg. von Rüdigcr vom Bruch/Brigitte Kaderas. Stuttgart 2002, 32-51; siehe auch Heim (wie Anm. 9), 245. 400 ALEXANDER VON SCHWERIN der die Forschung in verschiedenen Ausgangskonstellationen unterlag. Statt von Politisierung der Wissenschaft könnte man von ihrer Praktisierung sprechen: der zunehmenden und offensiven Ausdehnung des Anwendungsbezugs der Wissenschaft. Wobei diese nicht erst ab 1936 mit Verabschiedung des Vierjahresplans einsetzen musste. Dies macht das Beispiel Rajewsky und dessen spezifische Ausgangssituation -als Immigrant im Frankfurter Kontext und als Schüler des verfolgten Dessauers - besonders interessant. Herkunft und Etablierung in Frankfurt Leicht war der Weg sicher nicht als Immigrant ins Frankfurter Establishment und führt zurück in die verworrene und für das 20. Jahrhundert so bestimmende Geschichte des Ersten Weltkriegs. Rajewsky wurde 1893 in Tschigirin, einer ukrainischen Kleinstadt keine 250 Kilometer südlich von Kiew, in eine alte ukrainische Adelsfamilie hineingeboren. 14 Rajewskys Vater war höherer Staatsbeamter, der Großvater griechisch-katholischer Priester, die Großmutter stammte aus einem Priester-Haushalt. Rajewskys Mutter entstammte einer Familie von Großgrundbesitzern. Zwischen 1912 bis 1916 studierte Rajewsky an der Mathematisch-physikalischen Fakultät der Universität des Heiligen Wladimir zu Kiew, promovierte Ende 1918 mit einem elektrophysikalischen Thema und begann anschließend eine Assistententätigkeit am Physikalischen Universitätsinstitut, die er jedoch bald schon unterbrechen musste. Die Zeit nach dem Studium war für Rajewsky geprägt durch die Teilnahme am Ersten Weltkrieg und Beteiligung an den Kämpfen im Zuge der Russischen Revolution. In einem Expeditionskorps der zaristischen Armee nahm Rajewsky als Artillerieoffizier an dem auf das neutrale Persien übergegriffenen Weltkriegsgeschehen teil (Mai 1916 bis Herbst 1917). Nach der Februarrevolution 1917 und dem Sturz der Zarenregierung verstärkten sich derweil die separatistischen Bestrebungen in der 14 Zu biographischen Angaben hier und im Folgenden siehe Rajewskys Angaben im Fmgebogen zur Durchfiilmmg des Gesetzes zur Y'(liederherstellrmg des ßerufsbemntentums vom 1· April 1933. Universitätsarchiv Frankfurt (im Folgenden: U Ar), Abt. 14, Nr. 389; Personalfragebogen, 18. April 1959. UAF, Abt. 14, Nr. 390; Boris Rajewsky: Lehrgang und Lebenslauf (1929). UAF, Abt. 144, Nr. 448, BI. 141 L; ders., betr. Beantwortung des Fragebogens, 13. April 1933. Bundesarchiv (im Folgenden: BA), Dahlwitz-Hoppegarten, ZB li 4532, A.2; Personalfragebögen aus den Jahren 1933, 1934, 1936 und 1939. Ebd. DER FALL ßORIS RAJEWSKY 401 Ukraine, deren sozialistisch dominierte Regierung im November die Unabhängigkeit ausrief und nach der Oktoberrevolution vier Monate später im Januar 1918 die Ukrainische Volksrepublik. Dagegen formierte sich nationalistisch-konservativer Widerstand, den der ehemalige zaristische General, Aristokrat und Großgrundbesitzer Pavlo Petrovich Skoropadsky anführte und in dessen Armee Rajewsky als Offizier diente. Mit deutscher Hilfe übernahm Skoropadsky die Macht, die er bis Dezember 1918 halten konnte, danach regierte der Bürgerkrieg. Rajewsky schloss sich in dieser Zeit zunächst als »Freiwilligenführer« den deutschen Kolonisten auf der Krim an und kämpfte nach einer Verwundung ab 1919 bis März 1920 in der Weißen Armee. Der Sieg der Bolschewiken wandelte die Ukraine in eine Sowjetrepublik und zwang insbesondere die Angehörigen der Führungsschicht in die Emigration; Skoropadsky floh nach Berlin, Rajewsky erreichte über den Umweg Bulgarien mittels eines englischen Wissenschaftsstipendiums im Jahr 1922 Frankfurt. In Frankfurt fand Rajewsky schnell Anschluss an das erst ein Jahr zuvor von dem Physiker Friedrich Dessauer gegründete Institut für physikalische Grundlagen der Medizin. 1 5 Als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter konnte er auch für seine ebenfalls nach Deutschland emigrierte Mutter sorgen. Im Oktober 1927 erhielt er die deutsche Staatsangehörigkeit. 16 Nachdem er sich noch einmal einer deutschen Doktorprüfung unterzogen hatte, habilitierte Rajewsky zügig, sodass er seit August 1929 die Venia Legendi für Physik und physikalische Grundlagen der Medizin innehatte. 17 Parallel dazu stieg er schnell zu Dessauers erstem Assistenten und Stellvertreter am Institut auf.I 8 Dessauer war zu dieser Zeit als Zentrums-Politiker bereits intensiv in die Weimarer politischen Geschehnisse involviert. Dessauer entstammte einer großbürgerlichen, katholischen Fabrikantenfamilie und war Begründer des erfolgreichen Röntgenunternehmens Veifa. Der Verkauf des Unternehmens im Jahr 1921 erlaubte die Gründung einer Stiftung und des Instituts für physikalische Grundlagen der Medizin. 19 Im folgenden Jahr wurde Dessauer auf einen eigens eingerichteten Lehrstuhl 15 Karlsch (wie Anm. ro), 402. 16 ßoris Rajewsky, betr. Beantwortung des Fragebogens, 13. April 1933· DahlwitzHoppegarten (wie Amn. 14). 17 Walter ßehrmann, Dekan der Naturwissenschaftlichen Fakultät, an Kuratorium, 9· Dezember 1929. UAF, Abt. 14, Nr. 389. 18 Karlsch (wie Anm. ro), 403. 19 Ebd., 400. l 402 ALEXANDER VON SCHWERIN für physikalische Grundlagen der Medizin an der Frankfurter Universität berufen und das Institut an die Universität angegliedert. Das Institut blieb allerdings im Wesentlichen ökonomisch selbständig, haupts~ichlich finanziert durch die Stiftung und zunehmend den Verkauf von Apparaten aus der beeindruckenden Institutswerkstatt sowie Patentlizenzen, Beratungen und Gutachten. 20 Seit 1925 befasste sich Dessauer als Reichstagsabgeordneter vor allem mit wirtschaftspolitischen Fragen und setzte sich für ein kooperatives Wirtschaftsmodell ein, in dem Wissenschaft und Technik eine größere Rolle einnehmen sollten. 21 Bereits in dieser Zeit sah sich Dessauer Anfeindungen völkischer, aber auch rechtskatholischer Kreise ausgesetzt, die sich nach Machtantritt der Nationalsozialisten dramatisch zuspitzten. 22 Von Beginn an waren die Angriffe auf Dessauer antisemitisch begründet. Man dichtete ihm eine verheimlichte jüdische Abstammung an, die sein Verhalten als Politiker, Wissenschaftler und Unternehmer bestimmen würde. 2 J Zu den treibenden Kräften gehörten Jakob Sprenger, der spätere Gauleiter von Hessen-Nassau, und an der Universität Frankfurt der Radiologe Hans Holfelder. Nach einem nervenaufreibenden Gerichtsprozess, Inhaftierung, Krankheit und einem Überfall auf sein Haus durch aufgestachelte Studenten sah sich Dessauer im Frühjahr 1934 zur Emigration in die Türkei gezwungen. 24 Eine maßgebliche Hilfe dabei war die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft im Ausland mit Sitz in der Schweiz, die der jüdische und kommunistisch gesinnte emigrierte Frankfurter Pathologe Philipp Schwanz als Anlaufstelle für emigrierende Akademiker ins Leben gerufen hatte. 2 5 20 Universitätsinstitut für physikalische Grundlagen der Medizin [ ... ], Haushaltsvoranschlag für die Zeit vom 1.4.1931-31. 3· 1932. UAF, Abt. li, Nq, BI. 335· Zur Finanzierung des Instituts generell siehe Hehrmann (wie Anm. 17), 400 f.; Alexander von Schwerin, The Origins of German Biophysics in Medical Physics (I900-I930), in: Physics and Politics. Research and Research Support in T\vemierh Cenrury Germany in International Perspective, hg. von Helmuth Ti-ischlcr/Mark Walker. (Beirr. zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschafr, Bd. 5) Sruttgart 2010, 37-59, 49: zum Zusammenhang mit Dessauers Abwesenheit siehe Ber. des stellvertretenden Instirutsdirektors, Priv. Doz. Dr. Rajewsky, in der Sitzung am 13. Januar 1933· UAF, Abt. li, Nr. J, BI. 369. 21 Michael Habersack, Friedrich Dessauer (1881-1963). Eine politische Biographie des Frankfurter Biophysikers und Reichstagsabgeordneten. (Veröff. der Komm. für Zeitgeschichte. Reihe B, Forschungen, Bd. 119) Paderborn 20II, 239-252. 22 Siehe dazu ausführlich ebd., 267-351. 23 Ebd., 267-275, 318-321. 24 Die Dessauers verließen im Juli 1934 Deutschland, ebd., 355-366. 25 Ebd., 353 f. DER FALL BOlUS RAJEWSKY Unscharfe Verhältnisse: Der Strahlenforscher Friedrich Dessauer (links) und sein enger Mitarbeiter Boris Rajewsky beraten über Messergehnisse aus Strahlenversuchen im Jahr 1930. Welche Spuren Dessauers Verfolgung und Emigration in ihrem Verhältnis hinterlassen haben, ist heute nur noch schwer zu beurteilen. Rajewsky kam als Dessauers Stellvertreter sehr schnell im Laufe der Ereignisse eine Schlüsselfunktion zu, die er in doppelter Weise nutzte. Er unterstützte Dessauer w~ihrend dessen Haftzeit und kümmerte sich um das Institut, das er faktisch ab Juli 1933 leitete. 26 Als das Wissenschaftsministerium Dessauer auf Betreiben von Frankfurter Kollegen und des Dekans der Naturwissenschaftlichen Fakultät, Robert Schwarz, Anfang 1934 beurlaubte, übertrug Dessauer alle Vollmachten auf Rajewsky. 2 7 Mit Schreiben vom 14. Mai 1934 versetzte das Wissenschaftsministerium Dessauer in den RuhestancU 8 Von diesem Zeitpunkt an mussten sich die Machenschaften derjenigen, die es auf das frei werdende Ordinariat 26 Kurator August Wisser beauftragte Rajewsky mit der Vertretung. August Wisser an Rektor, 20. Juli 1933. UAF, Abt. 144, Nr. 448, BI. ro6. Zu Rajewskys Unterstützungsüitigkeit siehe Habersack (wie Anm. 21), 353 f. 27 Habersack (wie Anm. 21), 348. 28 Wilhelm Stuckart, Preußischer Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, an.,Universitätskuratorium, 14. Mai 1934· UAF, Abt. 14, Nr. 568. i ALEXANDER VON SCHWERIN und das Stiftungsinstitut abgesehen hatten, auch gegen Rajewsky richten. Namentlich Holfelder suchte seinen Einfluss als neu gewählter Dekan der Medizinischen Fakultät zu nutzen, um Rajewsky als Nachfolger Dessauers zu verhindern. 2 9 Ob neben Holfelder auch die Dozentenschaft oder andere Parteiangehörige aktiv gegen Rajewsky vorgingen, ist fraglich. Rajewsky erldärte nach dem Krieg, dass auf ihn Druck ausgeübt worden sei, sich zum Nationalsozialismus zu bekennen und er diesem nachgegeben habe, um seine Person glaubwürdig zu machen und das Institut zu retten.3° Verschiedene Zeugen gaben zu Protokoll, dass die Dozentenschaft, »die Partei« bzw. die Gauleitung Rajewsky gegenüber misstrauisch oder feindlich eingestellt waren und seine Berufung als Nachfolger Dessauers zu verhindern trachteten; ähnliche Hinweise finden sich in der LiteraturY Belegen lassen sich indes nur Aktivitäten Holfelders. Mit Rajewsky hatte Holfelder es indes mit einem Gegner zu tun, der, abgesehen von seiner Herkunft, nicht so leicht angreifbar war wie Dessauer. Rajewsky hatte bereits 1927 die deutsche Staatsbürgerschaft erlangt und entsprach dem Prototyp des vorderhand unpolitischen, ganz von seiner Arbeit eingenommenen Wissenschaftlers, dessen berufliche Ambitionen und diplomatisches Geschick Holfelder sicher unterschätzte. Rajewsky passte sich entschlossen der veränderten Situation an der Frankfurter Universität an und näherte sich der nationalsozialistischen Bewegung an. Im April trat er dem Opferring der NSDAP und dem Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) bei, im August dem Reichsluftschutzbund, im Oktober der Preußischen Dozentenschaft, im 29 Holfelder wurde in der Dekanatssitzung am 9· November 1933 gewählt, vgl. Kat ja Weiske, HansHolfelder-Radiologe in Frankfurt, Nationalsozialist, Gründer des SS-Röntgensturmbanns, in: Mengele, Hirt, Holfelder, Berner, von Verschuer, Kranz: Frankfurter Universitätsmediziner der NS-Zeit, hg. von Udo Benzenhöfer. Münster 2010, 43-60, 47· 30 Boris Rajewsky: Meldebogen, Anlage 1. Archiv der Max-Planck-Gcs. (im Folgenden: MPG-Archiv), X. Abt., Rep. 21, 59 [Akte zum Spruchkammerverfahren], BI. 4a; ders., Meldebogen, Anlage 2. Ebd., BI. 4d-4e. 31 Vgl. u. a. Fritz Külz: Erldärung, 12. Juni 1946. MPG-Archiv (wie Anrn. 30), 95, BI. 12; ders., [Erklärung,] I. Juni 1946. Ebd., BI. 19b. Hammerstein gibt an, dass die Dozentenführung Rajewsky >>misstraute« und zu »verhindern<< suchte, d:~ss Rajewsky »seinem Lehrer und Mentor<< nachfolgte, belegt dies :~ber nicht, vgl. Notker Hammerstein, Die Johann Wolfg:~ng Gocthe-Universit1it Frankfun am Main, Bd. I: Von der Stiftungsuniversität zur staatlichen Hochschule 1914-1950. Neuwied u. :1. 1989 (wieder Göttingen 2012; Seitenangabe nach dieser Ausg.), 385. DER FALL llORIS RAJEWSKY November schließlich der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) und der SAY Welche Gründe genau Rajewskys Handeln auch bestimmten, die Liste zeigt sicherlich zweierlei: Rajewsky näherte sich sofort nach tvlachtantritt und konsequent der nationalsozialistischen Bewegung an. Die Dramaturgie dieser Annäherung legt nahe, dass sie in irgendeinem Zusammenhang mit den Angriffen aufDessauer gestanden hat. Rajewsky begann von diesem Moment an, seine kommunikativen Fähigkeiten auszuspielen. Anders als Dessauer genoss Rajewsky weithin die Unterstützung seiner Kollegen. Im Frühjahr 1933 lobte Dekan Schwarz, Rajewskys Forschung habe »weithin Anerkennung gefunden«, und regte noch auf Initiative Dessauers an, eigens einen Lehrauftrag für Biophysik einzurichten)! Anfang 1934 nahm Dessauer, bereits beurlaubt, wohlwollend zur Kenntnis, dass die Naturwissenschaftliche Fakultät Rajewsky als nicht-beamteten außerordentlichen Professor vorzuschlagen gedachte, ein richnmgsweisendes und frühes Signal für eine mögliche Dessauer-Nachfolge.3 4 Unterstützung für Rajewsky kam auch von anderer Seite. Dessauers Institut war bekanntlich ein Stiftungsinstitut und verfügte deshalb, anders als gewöhnliche Einrichtungen der Universität, zusätzlich über den Rückhalt bei den Stiftern, darunter einflussreiche Frankfurter Größen aus Politik, Industrie und Wirtschaft. Dem Stiftungsvorstand der Oswalt-Stiftung gehörten der Physiologe Geheimrat Albrecht Bethe, die Physiker Carl Deguisne und Erwin Madelung, Rajewsky als Stellvertreter Dessauers und schließlich als Vorsitzender und Vertreter des Wissenschaftsministeriums Der SA-13eitritt erfolgte am 4· November 1933 (Angaben in Fragebögen zwischen 1934 und 1939· Dahlwitz-Hoppegarten, wie Anm. 14). Rajewsky erklärte später unter anderem, dass er die SA als das geringere Opfer gewählt habe bzw. dass es ihm gelang, >>dem Parteizwang zu entgehen«. 13oris Rajewsky: Meldebogen, Anlage 1. MPG-Archiv (wie Anm. 30), 131. 4a; 13oris Rajewsky: Meldebogen, Anlage 2. Ebd., 131. 4d-4e. Zu dem fraglichen Zeitpunkt galt allerdings bekanntlich bereits eine Aufnahmesperre für die NSDAP. J3 Roben Schwarz, Dekan der Naturwissenschaftlichen Fakultät, an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 26. Mai 1933. UAF (wie Anm. 17), darunter die Unterstützung des Antrags durch den Universitätskurator August Wisser, 2. Juni 1933· 4 3 Friedrich Dessauer an Dekan Robert Schwarz, 28. Februar 1934· UAF (wieAnm. 26), 131. 93· Dessauer hatte einen solchen Vorschlag schon ein Jahr zuvor Schwarz unterbreitet. .Friedrich Dessauer an Dekan Robert Schwarz, 10. Februar 1933. Ebd., BI. 109. Die Fakultät holte Gutachten ein, nach Dessauers Entlassung ging es aber bereits um die Nachfolgefrage. Ebd., 131. 89-91. 32 ALEXANDER VON SCHWERIN der stellvertretende Universitätskurator August Wisser an.J5 Im November 1933 wählte der Stiftungsvorstand auf Initiative Rajewskys und Wissers den Direktor des Staatsinstituts für experimentelle Therapie sowie des Georg-Speyer-Hauses Wilhelm Kolle und den Industriellen und Chemie-Nobelpreisträger Carl Bosch hinzu.J 6 Sicherlich zahlte sich dieser Schachzug aus, denn als Aufsichtsratsvorsitzender der I. G. Parben AG verfügte Bosch über eine gewichtige Stimme, vor allem aber auch über Geldmittel.J? In seinem Jahresbericht an den Aufsichtsrat im Mai 1934 rekapitulierte Rajewsky, dass er das Institut in einer »schweren Krisenzeit« übernommen habe, und bedankte sich bei Wisser für sein Vertrauen und seine Unterstützung sowie bei Kolle und Bosch, dass sie dem Institut »ZU Hilfe« gekommen waren.3 8 Mit »Krisenzeit« meinte Rajewsky, genau besehen, nicht unmittelbar politische Schwierigkeiten, sondern die prekäre ökonomische Situation des Instituts, die infolge der Ereignisse um Dessauer eingetreten war. In Reaktion auf die Anldageerhebung und Kampagne gegen Dessauer waren im Laufe des Jahres 1933 offenbar die Aufträge für die Institutswerkstatt beständig zurückgegangen, was sich sofort dramatisch bemerkbar machte, weil sich das Institut, wie erwähnt, zum großen Teil über die Leistungen der Werkstatt finanzierte. »Es entstand eine Krise, insbesondere wegen Mangels an Betriebsmitteln«, die Rajewsky zwang, die Fehlbeträge anderweitig zu akquirieren.J9 Kurator Wisser verschaffte durch die vorzeitige Überweisung des Universitäts-Zuschusses eine »erste Atempause«, während Rajewsky bei Bosch sowie dem Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Gold- und Silberscheideanstalt (Degussa) Ernst Busemann mit Erfolg vorstellig wurde und in >>großherziger Weise« weitere finanzielle Hilfe zugesagt bekam.4° Durch die Hilfe aus Kreisen der 35 Zu den Protokollen siehe UAF, Abt. II, Nr. 3· 36 Wilhelm Kalle an August Wisser, 8. November 1933. Ebd., BI. 3; August Wisser an Carl Bosch, 7· November 1933. Ebd., BI. 363; siehe auch Karlsch (wie Anm. ro), 406. 37 Zu Bosch siehe Rüdiger Hachtmann, Wissenschaftsmanagement im »Dritten Reich<<: Geschichte der Generalverwalnmg der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. (Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Ges. im Nationalsozialismus, Bd. 15) Göttingen 2007, 614-618. 38 Boris Rajewsky, Bericht des Instituts für physikalische Grundlagen der Medizin [... ] für das Etatjahr 19331!934, 27. April 1934. UAF (wie Anm. 35), BI. 426. 39 Ber. des stellvertretenden Institutsdirektors (wie Anm. 20). 40 Boris Rajewsky, Bericht des Instituts für physikalische Grundlagen der Medizin [... ] für das Etatjahr 19331!934, 27. April 1934. Ebd., BI. 370. DER FALL BOlUS RAJEWSKY Industrie und die Freunde und Förderer des Instituts konnte das Haushaltsjahr letzdich im Plus abgeschlossen werden; und indem Bosch und Kolle die Freunde und Förderer auf erhöhte Zuwendungen verpflichten konnten, konnte Rajewsky auch für das kommende Haushaltsjahr 19341I935 einen ausgeglichenen Voranschlag vorlegenY Im Frühjahr 1934 - also kurz vor der Entlassung Dessauers am 14. Mai - schien die schwierigste Phase des Instituts bereits überstanden. Der Stifnmgsvorstand der Oswalt-Stiftung war sich zudem darin einig, Rajewsky im anstehenden Berufungsverfahren nach Kräften zu unterstützen.4 2 Im Juli gingen beim Wissenschaftsministerium die Stellungnahmen zur Nachfolge Dessauers ein. Die Naturwissenschaftliche Fakultät schlug Rajewsky uni loco als Nachfolger mit der Begründung vor, dass er als Einziger für die Nachfolge in Betracht käme; das Ministerium solle deshalb auf die Aufstellung der sonst üblichen Liste verzichten:IJ In gleicher Weise äußerte sich Kurator Wisser. Die Forschungsarbeit am Institut sei einmalig in der Weise, wie sie die enge Zusammenarbeit mit anderen medizinischen, naturwissenschaftlichen Instituten sowie der Industrie namentlich der in Frankfurt residierenden I. G. Farbenindustrie A. G. erfordere; zudem trete Rajewsky, wie Wisser ergänzte, »rückhaltlos für den nationalen Staat« ein.44 Der informierte Dozentenführer Otto Girndt stimmte ebenfalls zu.45 Auch der Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt Friedrich Krebs, NSDAP-Mitglied und von Göring ernannter Preußischer 41 Ebd., BI. 418 f. Auch halfRajewsky in einer finanziell bedrohlichen Patentstreitigkeit zwischen dem Institut und dem Röntgen-Apparate-Hersteller C. H. F. Müller aus, indem er die Expertise seiner Patentabteilung zur Verfügung stellte. Ebd., BI. 455· 42 August Wisser, Protokoll der Sitzung des Vorstandes der Stiftung Institut für physikalische Grundlagen der Medizin am II. Mai 1934· Ebd., BI. 420. 43 Hugo Dieterle, Dekan der Naturwissenschaftlichen Fakultät, an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 18. Juli 1934. UAF (wie Anm. 28), BI. 91f. 44 August Wisser an den Herrn Minister usw. - unmittelbar-, 20. Juli 1934. Ebd., BI. 93· Schließlich wurden auch auf einer entscheidenden (unbenannten) Sitzung keine Bedenken gegenüber dem Vorschlag laut, vgl. eingeklebter Protokoll-Auszug vom 31. Juli 1934. Ebd., BI. 93v. 45 Otto Girndt, handschriftliche Notiz (»Einverstanden!«) vom 25. Juli 1934 auf dem Brief von August Wisser-, Kuratorium, 20. Juli 1934, an Dozentenschaft. Ebd., BI. 94· Der Toxikaloge Girndt war von Oktober 1933 bis zum September 1934 Führer der Dozentenschaft, vgl. Michael Grüttner, Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik. Beideiberg 2004, 6o. ALEXANDER VON SCHWERIN Staatsrat, unterstützte das Ansinnen.4 6 Ob dies von der Gauleitung, die die Entfernung Dessauers betrieben hatte und zu der Holfelder einen kurzen Draht pflegte, gesagt werden kann, ist weniger wahrscheinlich. 17 Holfelder jedenfalls versuchte nun auf eigene Faust - an Rektor und Kurator vorbei - beim Wissenschaftsministerium zu intervenieren und sprach beim Berliner Hygiene-Professor und Referenten für Medizinische Fakultäten im Wissenschaftsministerium Heinrich Zeiss vor.4 8 Anschließend fasste er seine Gründe schriftlich zusammen. Es sei anzuerkennen, dass Rajewsky ernstlich bemüht sei, sich vom Einfluss der »spekulativen Arbeitsmethoden« Dessauers zu lösen, es ging aber nicht an, »so lange noch vier wesentlich ältere deutsche Gelehrte von Weltruf und einwandfreiem Charakter auf die Berufung zum Ordinarius warten, gerade den Frankfurter Lehrstuhl mit einem an Leistung zweifellos zurückstehenden jungen russischen Flüchtling zu besetzen«:l9 Holfeldcrs Intervention erfolgte genau in dem Moment, als im Wissenschaftsministerium Pläne kursierten, die Frankfurter Universiüit bis auf die Medizinische Fakultät aufzulösen.5° Nicht zuletzt aus diesem Grund, kann vermutet werden, zog sich die Entscheidung über Rajewskys Berufung hin. In der Universität veränderte sich derweil die Lage weiter günstig für Rajewsky. Der seit April 1934 vertretungsweise und seit August de jure amtierende Rektor Walter Platzhoff stand klar hinter Rajewsky. Holfeldcrs Zeit als Dekan der Medizinischen Fakultät dagegen endeteY Im November meldete sich der Stiftungsvorstand der Oswalt-Stifrung beim Ministerium mit der unverhohlenen Drohung, dass die privaten Unterstürzer des Instituts ihre Finanzierung an die Nachfolge Rajewskys gebunden hätten und sich bei einer negativen Entscheidung zurückziehen 46 Hammerstein (wie Anm. 31), 385 f. Zu Krebs siehe auch Haclumann (wie Anm. 37), 53447 Hammerstein macht diese Angabe ohne weiteren Beleg: Hammerstein (wie Anm. 31), 385. 48 Hans Holfelder, Dekan der Medizinischen Fakultät, an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, z. Hd. Professor Heinrich Zeiss, 31. August 1934· Archiv Senckenbergisches Institut für Geschichte und Ethik der Medizin (im Folgenden: IfM), 12 (MPI für Biophysik), r; vgl. auch Hammerstein (wie Anm. 31), 467. 49 Holfelder (wie Anm. 48), 6. 50 Hammerstein (wie Anm. 31), 302. 51 Holfelder wurde am 9· November 1934 turnusmäßig (von Emil Küster) abgelihr, Weiske (wie Anm. 29), 47· Hammerstein sieht hinter Holfelders Rücktritt das gezielte Wirken von Platzhoff: Hammerstein (wie Anm. 31), 467. DER FALL BORIS RAJEWSKY könnten.5 2 Im Ministerium, das prinzipielle Einwände gegen Rajewsky offenbar nicht hatte, kamen die Dinge daraufhin wieder in Bewegung. Rajewsky wurde zunächst beauftragt, Dessauers Professur und die Leitung des Instituts im laufenden Wintersemester vertretungsweise wahrzunehmen.53 Anfang Dezember folgte der Bescheid, Rajewsky sei als Nachfolger Dessauers auf den Lehrstuhl für Physikalische Grundlagen der Medizin in Aussicht genommen, Ende des Jahres die Berufung und die Ernennung zum Direktor des Instituts für physikalische Grundlagen der Medizin.5 4 Im Januar 1935 erhielt Rajewsky zudem die volle Mitgliedschaft in der Medizinischen Fakultät- wie sie auch Dessauer gehabt hatte.55 Seitdem vertrat er also die medizinische Physik in der Medizinischen und Naturwissenschaftlichen Fakultät. Das Nachsehen hatte dieses Mal der scheidende Dekan der Medizinischen Fakultät Holfelder, dessen ganzes Bestreben gewesen war, Dessauers Institut in verlässlich nationalsozialistische Hand zu bringen. Holfelder fand für dieses Ansinnen keinen ausreichenden Rückhalt. Selbst die nazistisch gesinnte Professorenschaft und Universitätsverwaltung-Dozentenführer Girndt, SA- und NSDAP-Mitglied, sowie Kurator Wisser, NSDAP-Mitglied, waren in anderen Fällen gewiss nicht zimperlich56 - sahen nicht die Notwendigkeit, dem integren und in seinem Bekenntnis zum nationalsozialistischen Staat konsequenten Rajewsky seine Ansprüche auf das Institut Dessauers abzusprechen. 52 Der Vorstand der Stiftung Universitäts-Institut für physikalische Grundlagen der Medizin (Oswalt-Stiftung) an Preußischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 12. November 1934. MPG-Archi~ (wie Anm. 30), 95, BI. 29; siehe auch Karlsch (wie Anm. 10), 406. 53 Franz Bacher, Der Preußische Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, an Naturwissenschaftliche Fakultiit, 15. November 1934. UAP (wie Anm. 26), BI. 84. 54 Die Berufung erfolgte rückwirkend zum I. Oktober 1934- Der Preußische MilÜster für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung an Universitätskuratorium, 3· Dezember 1934. UAF (wie Anm. 17), BI. 31; Theodor Vahlen, Der Reichs- und Preußische Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (im Folgenden: RMWEV) an Universitiitskurator, 28. Dezember 1934. Ebd., BI. 32. 55 Vgl. RMWEV, Theodor Vahlen, an Boris Rajewsky (Abschriftlich an die Medizinische Fakultät), 28. Februar 1935. IfM (wie Anm. 48). 56 Helmut I-leiber, Universität unterm Hakenkreuz, Teil li: Die Kapitulation der Hohen SchuleiL Das Jahr 1933 und seine Themen, Bd. 2. München 1994, 598 ff. 410 ALEXANDER VON SCHWERIN Karrierewege im Nationalsozialismus, ein Vergleich Die Jahre 1933 und 1934 markieren entscheidende Wendepunkte in den Lebensläufen der beiden Wissenschaftler Rajewsky und Holfelder, die neben aller Gegnerschaft und vielem Trennenden auch Parallelen aufweisen. Anders als Rajewsky war der zwei Jahre ältere Holfelder aktiver Nationalsozialist und glühender Antisemit. Mit Rajewsky teilte er die Erfahrung der Teilnahme am Ersten Weltkrieg- als 1ruppenarztund der anschließenden Mitgliedschaft in Freikorps.57 Mit seinen Kriegsersparnissen ließ Holfelder >>antisemitische Flugblätter« drucken, die er >>mit Kameraden vom Landesjäger-Korps während des Schichtwechsels an die Arbeiter der Leunawerke« verteilte.58 Es folgte die Betätigung in verschiedenen völkischen und antisemitischen Vereinigungen wie dem Deutsch-Völkischen Schutz- und Trutzbund und dem Reichshammerbund. 1933 folgten N5DAP- und 55-Mitgliedschaft. Parallel dazu entwickelte sich seine Karriere als hervorragender Radiologe und radiologischer Forscher vorbildhaft. 1933 waren Holfelder und Rajewsky Anfang vierzig und in einer ähnlichen kritischen Phase ihrer Karriere. Beide konnten als begabte Wissenschaftler gelten und waren äußerst ehrgeizig,59 Holfelder war schon 1926 Direktor eines neu errichteten städtischen Instituts für Röntgentherapie geworden und 1929 Ordinarius für Allgemeine Klinische Röntgenkunde an der Universität. Als Verfechter der Zentralisierung der Röntgenmedizin sah er sich darüber hinaus dazu berufen, die Gesamtleitung für die Frankfurter Röntgenmedizin zu übernehmen. Hinderlich auf diesem Weg war allerdings, dass sein Institut bislang nicht zur Riege der Universitätsinstitute zählte. Rajewsky hatte ein solches Problem nicht, ein gewisses Manko war neben den Belastungen aus der Dessauer-Ära nur, dass er noch kein ordentliches Ordinariat beldeidete. 60 In den nächsten Jahren schafften es beide, Rajewsky und Holfelder, sich weiter zu etablieren und herausragende Karrieren zu beschreiten, wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise. Zugute kam beiden, dass sie kom57 Zu den Angaben zur Biographie von Holfelder siehe Hammerstein (wie Anm. 31), 463 f.; Weiske (wie Anm. 29), 43-60. 58 Zitiert nach Weiske (wie Anm. 29), 48. 59 Nie der befragten Radiologen und medizinischen Physiker beurteilten Holfeldcrs Eignung überaus positiv- mit Ausnahme Dessauers: Weiske (wie Anm. 29), 46 f. 6o Rajewskys Berufung erfolgte als planmäßiger außerordentlicher Professor Dessauer hatte eine ordentliche Professur bekleidet. Theodor Vahlen, RMWEV, an Universitätskurator, 28. Dezember 1934· UAF (wie Anm. 17), BI. 32. DER FALL BOlUS RAJEWSKY 4II munikative und durchsetzungsstarke Persönlichkeiten waren, die sich nicht aufihre forscherische Tätigkeit allein verließen, sondern in der Lage und willens waren, ihre Ziele auch außerhalb des Laboratoriums, der Klinik und der Universität mit Nachdruck zu verfolgen. Rajewsky verließ sich dabei in erster Linie auf die Frankfurter Beziehungen und pflegte diese sorgsam. Holfelder verließ sich auf seine Beziehungen zur SS. Holfelder engagierte sich seit Mitte der dreißiger Jahre äußerst ambitioniert in einem neuen Anwendungsgebiet der Radiologie: der Röntgenprophylaxe der Tuberkulose. Seine Verbindungen zur SS waren ihm dabei hilfreich, denn hier konnte er Technik und Vorgehen bei der Reihendurchleuchtung erproben - zuerst im großen Stil auf dem Reichsparteitag 1936. 61 Reichsführer-SS Heinrich Himmler beauftragte Holfelder gleich mit dem Aufbau einer eigenen Röntgenrruppe. Holfeldcrs sogenannter SS-Röntgensturmbann führte von da ab systematisch Screenings zur Tuberkulose-Prophylaxe auch in der Bevölkerung durch. Ganz anders aber entwickelte sich Holfeldcrs Karriere an der Universität. Diese stockte, da seine Ambitionen zum Ausbau seines Röntgen-Instituts in der Medizinischen Fakultät aufWiderstand stießen. Die Lösung, auf die man sich schließlich verständigte, war, Holfelder an die Reichsuniversität Posen wegzuloben. Ausschlaggebend war nicht zuletzt, dass Holfelder mit seinem» kompromissfeindlichen Durchsetzungs- und Herrschaftsanspruch« seit 1933 immer wieder zum Ärger aller Beteiligten die kooperative Balance innerhalb der Universitätsgremien und zwischen Universität und Stadtverwaltung nachhaltig störte. 62 Doch ohne Verbündete im akademischen Interessengeflecht halfen Holfelder auch seine besten Verbindungen zur SS oder zum Gauleiter nicht entscheidend. Ein ihm zugetaner Kollege beldagte, Holfelder hätte auf diese Weise versäumt, seine »Zitadelle gegen jede Belagerung wie auch den schwersten Sturm zu feien«. 63 Rajewsky dagegen festigte stetig seine Stellung, indem er seine Verbindungen nach allen Seiten hin ausbaute. Ausdruck des Vertrauens in seine Person war, dass er 1936 in das Amt des Dekans der Naturwissenschaftlichen Fakultät gewählt und 1938 zum Prorektor ernannt wurde. 64 Das Vertrauen 61 Zu Holfeldcrs Röntgensturmbann siehe Weiske (wie Anm. 29); siehe auch Alcxander von Schwerin, Srahlenforschung. Bio- und Risikopolitik der DFG, 1920-1970. Stuttgart 2015, 216-221. 62 Zum Zitat siehe Hammerstein (wie Anm. 31), 465. 63 Heinz Lossen an Adolf Zwicker, 28. April 1943. IfM (wie Anm. 48), 82 (Akte Radiologie), Teilakt 3· 64 Hammerstein (wie Anm. 31), 465; Heiber (wie Anm. 56), 582. 'i 412 ALEXANDER VON SCIIWERIN war auch Ausdruck der kooperativen Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen. Denn Rajewsky nahm gleich schon nach seinem Amtsantritt eigene Pläne zum Ausbau von Dessauers ehemaligem Institut in Angriff."' Nicht nur die Universität hatte für solche Pläne ein offenes Ohr. Auch Oberbürgermeister Krebs - im Urteil von Rüdiger Hachtmann einer der einflussreichsten Kommunalpolitiker im Nationalsozialismus- erkannte schnell, dass man mit Rajewsky nun einen Partner an der Universit~ü hatte, dessen Ambitionen und dynamische Qualitäten in einer für Stadt und Universität problematischen Situation unentbehrlich waren. 66 Denn die von der nationalsozialistischen Regierung in den dreißiger Jahren betriebene reichsweite Reorganisation der Universitätslandschaft war für die Universität insgesamt eine krisenhafte Zeit. Frankfurt stand wegen seines hohen Anteils an jüdischen Professoren immer wieder auf der Liste der abzuwickelnden Institutionen. Nach Besprechungen im Wissenschaftsministerium in Berlin war seit Herbst 1934 allen Frankfurter Stellen klar, dass man alles tun musste, um die ökonomische Situation und die Bedeurung der Universität zu stärken. 67 Am besten konnte dies durch den offensiven Ausbau der Universität und die Schaffung prestigeträchtiger Forschungsstellen geschehen. Dementsprechend bemühte sich die Stadtverwaltung bereits seit 1933 darum, ein Kaiser-Wilhelm-Institut in Frankfurt anzusiedeln.68 Frankfurt stand mit solchen Bestrebungen nicht allein da. Bürgermeister deutscher Städte drängten sich geradezu um solche Renomrnierprojekte, in Krisenzeiten zurnal. Nachdem man bislang wenig erfolgreich bei der Kaiser-Wilhelrn-Gesellschaft (KWG)-Verwaltung vorgesprochen hatte, kam Rajewsky mit seinen Ausbauplänen im rechten Moment. Anfang 1936 machte Rektor Platzhoff Rajewsky deshalb den Vorschlag, sein Institut in ein KWG-Institut umzuwandeln und einen solchen Plan einmal mit Bosch zu besprechen, der passenderweise als Stiftungsvorstand nicht nur dem Medizinphysik-Institut verpflichtet war, sondern auch im Verwaltungsrat und im Senat der KWG saß. 69 Von verschiedenen Seiten umwarb man in den folgenden Monaten KWG-Präsident Max Planck.7° Die Angelegenheit nahm richtig Fahrt auf, als Bosch ein 65 Boris Rajewsky an Naturwissenschaftliche Fakultät, 11. Februar 1935. MPG-Archiv (wie Anm. 30), 100. 66 Zu Krebs siehe Hachtmann (wie Anm. 37), 53467 Hammerstein (wie Anm. 31), 303-305. 68 Hachtmann (wie Anrn. 37), 532-536. 69 Ebd., 617. 70 Ebd., 536; Friedrich Krebs an Max Planck, 2. November 1936. MPG-Archiv (wie Anm. 30), 100. DER FALL llORIS RAJEWSKY Jahr später Planck im Amt als Präsident der KWG folgte.7 1 Die Gründung des KWI für Biophysik erfolgte nun in Rekordzeit zum r. Dezember 1937. Die Stadt Frankfurt stellte zu diesem Zweck kostenlos ein Gebäude mit großem Grundstück in der Forststraße 70 - die Villa des vertriebenen Frankfurter Industriellen Georg Speyer - zur Verfügung.7 2 Rajewsky repräsentierte fortan in Personalunion die Verbindung von Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und Frankfurter Universität. Der Gewinn an Staatswichtigkeit und Unentbehrlichkeit erfüllte nicht nur die Wünsche von Stadt und Universität, sondern bedeutete auch für Rajewsky einen weiteren Schub in seiner Karriere. Die Universität erreichte endlich, dass das Wissenschaftsministerium Rajewsky zum ordentlichen Ordinarius - nun auch für Biophysik - ernannte und die Stelle damit wieder in den Status vor Dessauers Entlassung zurückversetzte.?> Seine Etablierung vervollständigte die NSDAP-Mitgliedschaft, die Rajewsky 1938 rückdatiert zum Mai 1937 erhielt.74 Einzig im NSDDozentenbund waren Einzelne der Meinung, dass die »weitere Bevorzugung eines im Grunde genommen doch russischen Menschentyps nicht erwünscht sei«.75 Das änderte aber nichts daran, dass Rajewsky auch in den Dozentenbund aufgenommen wurde.7 6 Der Gau-Dozentenführer Heinrich Cordes brachte das Erfolgsrezept Rajewskys auf den Punkt. Der Erfolg Rajewskys begründe sich darin, dass er »Beziehungen zu allen möglichen staatlichen, städtischen und politischen Stellen« unterhalte und »Persönlichkeiten aus dem politischen und wirtschaftlichen Leben für sich zu gewinnen versteht«J7 Dabei profitierte Rajewsky in Wahrheit natürlich von dem schon in Dessauers Zeiten etablierten Netzwerk lokaler Honoratioren, Industrieller und Universitätsstrukturen. Rajewskys konsequente Fortführung dieses Modells drückte sich auch darin aus, dass er in den Verwaltungsrat der industrienahen 71 72 73 74 August Wisser, Kuratorium der Universität, an Boris Rajewsky. Ebd. Karlsch (wie Anm. ro), 408. RMWEV an Universitätskuratorium, 24. Mai 1940. UAF (wie Anm. 17), BI. 68. Rajewsky gibt an, dass der >>Gauleiter«, also ausgerechnet Dessauers Erzfeind, ihn in die Partei gehievt habe. Boris Rajewsky, Meldebogen, Anlage 3· MPG-Archiv (wie Anm. 30), 59, BI. 4a; siehe auch Karlsch (wie Anm. ro), 406 f. 75 Gutachten des Gaudozentenbundführers Heinrich Cordes über Boris Rajewsky, 8. Jull 1939. UAF, Abt. ro, Nr. 95, BI. 9· 76 Hermann Hiltner, NSDAP, Reichsleitung, Reichsdozentenführer: Hauptstelle Organisation und Personal, an Heinrich Cordes, 9· August 1939· UAF, Abt. 19, Nr. 95, BI. u. 77 Gutachten (wif:! Anm. 75). ALEXANDER VON SCHWERIN Helmholtz-Gesellschaft berufen wurde. Seinem Kollegen und Frankfurter Dozentenbundführer Heinrich Guthmann teilte er die Neuigkeit umgehend mit »für den Fall, daß das dem Dozentenbund von Nutzen sein sollte [... ] Ich bin gern bereit, mich im Verwaltungsrat für die Interessen unserer Dozentenbundsmitglieder gegebenenfalls einzusetzen<>tmzivilisierter Zivilität« geprägt. 100 Die Nähe zu wichtigen Entscheidungsträgern bedeutete für die Wissenschaftler eine von lästiger bürokratischer Kontrolle befreite, bevorzugte Förderung. 101 Ihre ansehnlichen Karrieren waren dabei kein unerklärlicher Glücksfall, 99 Habersack (wie Anm. 21), 447-449, 460-462. roo Herbert Mehrtens, Wissenschaftspolitik im NS-Staat- Strukturen und regionalgeschichtliche Aspekte, in: Exodus von Wissenschaften in ßerlin. Fragestellungen - Ergebnisse - Desiderate. Entwicklungen vor und nach 1933, hg. von Wolfram Fischer u. a. (Forschungsbcrichte, Bd. 7) ßerlin 1994, 245-266, 250 f. IOI ßernd Gausemeier, Natürliche Ordnungen und politische Allianzen. Biologische und biochemische Forschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten 1933-1945. (Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Ges. im Nationalsozialismus, ßd. 12) Göttingen 2005, 126 f. 422 ALEXANDER VON SCHWERIN den man sich durch wenige Lippenbekenntnisse erkaufen konnte. 102 Im Antibolschewismus fanden Rajewsky und die Nationalsozialisten ihren gemeinsamen Nenner und eine Grundlage, gemeinsam gegen die Welt in den Krieg zu ziehen. 103 Dem ehemaligen Mitarbeiter Kar! Bugay- »mein lieber, tapferer Flieger!«- gratulierte Rajewsky im August 1942 zum ersten abgeschossenen »Tommy« und wünschte ihm weiterhin »recht ordentliche Beute«, »Siegheil!<< 104 Im Grunde ging es Rajewsky nicht anders als dem 55-Mitglied Holfelder. Rajewsky hatte in den Worten Hammersteins >>sowohl Gegner und Neider als auch Freunde und Gönner unter den Nationalsozialisten<<. 10 5 Anders als solche Nationalsozialisten vom Schlage Holfelders hatte sich Rajewsky wie viele andere seiner Kollegen ideologisch nicht exponiert, sein Denken war nicht nationalsozialistisch geprägt, einige haben wie Rajewsky Bedrängten geholfen - gleichzeitig haben sie ihre Karriere stringent weiterverfolgt und ihr Bestes gegeben, haben Know-how bereitgestellt und ihren praktischen Beitrag geliefert. Sie waren kein hilfloses Objekt nationalsozialistischer Politik, sondern haben aktiv an deren Gestaltung teilgenommen. Es ist insofern alles andere als überraschend, dass Rajewsky recht bald >>als einer der wenigen zuverlässigen Vertrauensleute der Nationalsozialisten bei Rektor und Dozentenbund angesehen wurde<<. 106 Im Ergebnis hatten sich Rajewsky und das KWI für Biophysik als unentbehrlicherTeil des nationalsozialistischen Atomforschungsprogramms und dessen Strukturen etabliert. Und wie in unzähligen vergleichbaren Fällen sollten die Karrieren im NS die Garantie dafür werden, dass sie auch im Nachkriegsdeutschland zu den Gewinnern gehören würden, so auch im Fall Rajewskys. Als die Bundesrepublik in den fünfziger Jahren die Atomforschung wieder aufnahm, standen entsprechende Strukturen und Experten bereit, und Rajewsky avancierte zum obersten Strahlenschiitzer im deutschen Atomprogramm. 102 Ebd.; siehe auch Heim (wie Anm. 9), 245, die hier von einer >>lnteresscnkoalirion« spricht. 103 Vgl. die Einschätzung des NSD-Dozentenbundes in UAF (wie Anm. 75). 104 Boris Rajewsky an Kar! Bugay, 21. August 1942. MPG-Archiv, Ill. Abt., Rep. 71, 102; Boris Rajewsky an Kar! Bugay, 30. Juli 1942. Ebd. 105 Hammerstein (wie Anm. 31), 387. ro6 Ebd., 386, Anm. 14. DER FALL BOlUS RAJEWSKY Abstract Alexander v. Schwerin (Berlin) konstatiert zu Anfang seines Aufsatzes Mobilisierung der Stmhlenforschung im Nationalsozialismus- Der Fttfl Boris Rajezvsky, Letztgenannter sei sowohl im Dritten Reich als auch in der BRD aufgrundseiner wissenschaftlichen Expertise unentbehrlich gewesen und habe in beiden politischen Systemen Karriere gemacht. Gerade vor diesem Hintergrund sei es kaum anzunehmen, dass sich ein solch m~ichtiger Wissenschafder (er hatte etwa 22 Habilitanden und avancierte in der BRD zum obersten Strahlenschlitzer des deutschen Atomprogramms) den politischen Anforderungen der Zeit habe entziehen können. Dem russischen Emigranten sei es sehr schnell gelungen, das Vertrauen einflussreicher Nationalsozialisten zu gewinnen und auf diese Weise die auf seine Vertrauenswürdigkeit abzielenden Schwierigkeiten bezüglich seiner Herkunft zu überwinden. Als Assistent Friedrich Dessauers konnte er dessen Nachfolge als Direktor des Instituts für physikalische Grundlagen der Medizin antreten (des späteren Kaiser-WHhelm-Instituts für Biophysik, welches in der von den Nationalsozialisten enteigneten Villa des Bankiers Georg Speyer residierte, eines Gründermäzens der Frankfurter Universität). Der Eintritt in die SA habe Rajewsky zufolge allein dazu gedient, seine Person den Nationalsozialisten glaubwürdig zu machen und somit auch sein Institut zu retten - so die Argumentation nach dem Krieg. Diese Aussagen werden von v. Schwerin mit einem Schreiben Rajewskys an den Führer des Frankfurter Dozentenbundes kontrastiert, in welchem dieser seiner Bereitschaft Ausdruck verlieh, sich in seiner Stellung als Verwaltungsrat in der Helmholtz-Gesellschaft für die Interessen der Dozentenbundmitglieder einzusetzen. In seiner Arbeit sei Rajewsky ein geschickter Wissenschaftsmanager und -politiker gewesen, der umfangreiches Networking bis in die höchsten Staatsämter des Dritten Reiches betrieben habe. Zudem sei er von dem Umstand begünstigt gewesen, dass sein Arbeitsfeld, die Verwendung von Strahlentechniken und radioaktiven Stoffen, rapide an ökonomischer Relevanz gewann und sein Institut mit der Überwachung und Messung von Radioaktivität zur Ermittlung gesundheitsschädlicher Grenzwerte und Toleranzdosen betraut wurde. Geradezu unentbehrlich aber sei Rajewsky geworden, als auch die Rüstung Röntgenstrahlen zu verwenden begann. Im weiteren Verlauf des Krieges beauftragte das 0 KH das Institut Rajewskys, die Wirkung von radiologischen Waffen zu erforschen, woraufhin einige Institutsmitarbeiter mit dem Wissen Rajewskys Versuche mit radioaktiven Inhalationen an nichtinformierten Patienten ausführten. Rajewsky, so das Fazit, habe dem Nationalsozialismus aktiv zugearbeitet und sich diesem in seiner Denk- und Arbeitsweise angeglichen: Zwar habe er sich niemals ideologisch exponiert, doch lege die praktische Seite seines Arbeitens Zeugnis ab. In seinem Entnazifizierungsverfahren sei lediglich die persönliche Gesinnung zum Gegenstand erhoben worden, nicht aber Rajewskys praktische Arbeit als Wissenschaftler sowie die Forschung des von ihm geleiteten Instituts. Die Wissenschaft allerdings habe unter der Führung Rajewskys die sich ihr durch das politische Klima bietenden Möglichkeiten weidlich ausgenutzt. ALEXANDER VON SCHWERIN Alexander v. Schwerin (Berlin) opens his essay, Mobilisierung der Strahlenforschung im Ntttionalsozialisrnw- Der Fall Boris Rajewsky (>>Mobilization of Radiation Research under National Socialism- the Case of Boris Rajewsky«), with the observation rhar Rajewsky's scientific expertise made him indispensable in both the Third Reich and West Germany and that he enjoyed a successful career under both political systems. Against this background, it is scarcely credible that such a powerful seieneist (he had around 22 postdoctoral students and became the mostsenior radiation protection scientist in the West German nuclear program) could escape the political demands of rhe time. According to v. Schwerin, the Russian emigrant very quickly succeeded in gaining rhe trust of influential Nazisand thereby in defusing the questions regarding his trustworrhiness raised by his origin. As the former assistant ofFriedrieb Dessauer, he was in a good position to succeed the latteras the director of the Institute for rhe Physical Faundarions of Medicine (subsequently rhe Kaiser Wilhelm Institute for Biophysics, which was housed in the villa of the banker Georg Speyer, a founding patron of the University ofFrankfurr, that had been expropriatcd by the Nazis). Rajewsky argued after the war that joining the SA served the sole purpose of making his person credible in the eyes of the Nazis and thus also of saving his imtitute. Von Schwerin contrasts these Statements with a Ietter by Rajewsky to the head of the Frankfurt Dozentenbund (the National Sodalist university lecturers' association), in which Rajewsky expressed his willingness to promote the interests of members of the Dozentenbund in his capacity as a member of the Administrative Board of the Helmholtz Association. In his work, Rajewsky was an able science manager and science politician who maintained an extensive system of comacts reaching into the highest state offices of the Third Reich. In addition, he benefited from ehe fact that his field, the usc of radiation techniques and radioactive substances, rapidly acquired economic relevance and that his institutewas entrusted with monitaring and measuring radioactivity co determine harmfullimits and maximum tolerance doses. Rajewsky became all but indispensable, however, when x-rays also began to be used for armaments. Later in the war, the Army High Command commissioned Rajewsky's institute co study thc effects of radiological weapons. As a result, some members of the institute's staff ran experiments with Rajewsky's knowledge using radioactive inhalants on patients wichout informing them. Von Schwerin concludes that Rajewsky collaborated activdy with National Socialism, to which he accommodated his way of thinking and working. The practical side ofhis work testifies to this, even though he never exposed himself to ideological reproach. In his denazification trial, only Rajewsky's personal ourlook was subjected to examination but not his practical work as a scientisr or rhe research of the institute that he headed. However, under Rajewsky's leadership scientific research rook full advantage of the opporrunities afforded by thc political climate. /