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Plessner Und Henri Bergson: Das Leben Als Subjekt Und Objekt Des Denkens

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Heike Delitz Plessner und Henri Bergson: Das Leben als Subjekt und Objekt des Denkens Einführung „[U]nter welchen Bedingungen läßt sich der Mensch als Subjekt geistig-geschichtlicher Wirklichkeit, als sittliche Person von Verantwortungsbewußtsein in ebenderselben Richtung betrachten, die durch seine physische Stammesgeschichte und seine Stellung im Naturganzen bestimmt ist? […] Gelingt die Wahrung des Einen Grundaspekts nicht, so folgt unmittelbar daraus eine doppelte Wahrheit, […] der Mensch als Selbst, als Ich, als Subjekt eines freien Willens und der Mensch als Natur, als Ding, als Objekt kausaler Determination. Dann hat man die unwürdige und unerträgliche Lage […], den Menschen als Produkt einer Phylogenie und die Phylogenie als Produkt des Menschen, des irgendwie im Menschen Ereignis gewordenen schöpferischen Geistes gelten zu lassen. Wie vorsichtig man bei der Herstellung des einen Grundaspekts sein muß, hat Bergson in seiner Kritik Spencers gezeigt.“1 „Erkenntnistheorie und Lebenstheorie […] müssen sich […] immer weiter vorwärts treiben. […] [G]elänge ihr gemeinsames Unternehmen, so führten sie uns die Bildung der Intelligenz und damit die Entstehung jener Materie selbst vor Augen, deren allgemeine Beschaffenheit unsere Intelligenz abbildet. Sie würden bis zur Wurzel von Natur und Geist hinabsteigen. Den falschen Evolutionismus Spencers – der darin besteht, die aktuelle, schon entwickelte Wirklichkeit in kleine, nicht minder entwickelte Stücke zu zerschneiden, sie dann wieder aus diesen Bruchstücken zusammenzusetzen und so von Anfang an alles 1 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), 3. Aufl., Berlin 1975, S. 6. 10 Heike Delitz vorauszusetzen, was es erst zu erklären galt – würden sie durch einen echten Evolutionismus ersetzen, der die Wirklichkeit in ihrer Entstehung und ihrem Wachstum verfolgen würde.“2 Der virtuelle Dialog zwischen Plessner und Bergson, der sich in beiden Zitaten ankündigt, ebenso wie der Punkt, an dem sie sich trennen – dieser Dialog wurde bereits von Max Scheler abgebrochen. Zunächst (1913) und wirkmächtig hat nämlich Scheler Bergsons Philosophie als „Versuch einer Philosophie des Lebens“ neben Nietzsche und Dilthey klassifiziert. Er liest Bergson dabei wie fast die gesamte deutsche Rezeption nach ihm: psychologistisch, als Philosophie des inneren Lebens; intuitionistisch und biologistisch. Schöpferische Evolution (1907), dasjenige Hauptwerk Bergsons, das – gemeinsam mit Materie und Gedächtnis (1896) – der Philosophischen Anthropologie sehr nahe kommt,3 fand Scheler „merkwürdig“ und „sehr problematisch“. Bergson biete darin ein eher „künstlerisch empfundenes Gesamtgemälde“, als eine Philosophie des Lebens. Bergsons Fund ist für ihn die enge Verbindung von Erkenntnis- und Lebenstheorie, die den „Zirkel“ der „entwicklungsgeschichtlich-biologischen Ableitung der Intelligenz z. B. durch Herbert Spencer“ korrigiert.4 Darüber hinaus habe Bergson aber allenfalls ein erstes „Antippen der philosophischen Probleme der Biologie“ vollbracht, eine Aufgabe, für die Scheler die Philosophische Anthropologie vorsieht, und zwar in einer „genaueren, strengeren – und deutscheren Art des Verfahrens“. Sie werde „wie der erste Tritt eines jahrelang in einem dunklen Gefängnis Hausenden in einen blühenden Garten“ sein.5 Ohne hier weiter ins Detail zu gehen, lässt sich sagen, dass in dieser Bergson-Lektüre die Kritik an einer als monistisch verstandenen Metaphysik überwiegt.6 Hat Scheler die Modernität Bergsons übersehen 2 3 4 5 6 H. Bergson, Schöpferische Evolution (1907), Hamburg 2013, S. 7 f. H. Delitz, „Henri Bergson: Matière et Mémoire und L’évolution créatrice – die doppelte Grundschrift der Philosophischen Anthropologie à la française“, in: J. Fischer (Hrsg.), Philosophische Anthropologie – Hauptautoren und Grundschriften, Nordhausen 2014 (im Druck). M. Scheler, „Versuche einer Philosophie des Lebens. Nietzsche – Dilthey – Bergson“ (1913), in: ders., Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze. Gesammelte Werke, Bd. 3, Bern 1955, S. 313-339, hier S. 338 und S. 337. M. Scheler, „Versuche einer Philosophie des Lebens“, S. 339. Vgl. W. Henckmann, „La réception de la philosophie de Bergson par Max Scheler“, in: Annales Bergsoniennes II, Paris 2004, S. 363-389, v. a. S. 382 ff.; A. François, „La critique schélérienne des philosophies nietzschéenne et bergsonienne de la vie“, in: Plessner und Henri Bergson 11 müssen, weil er selbst noch zu altmodisch, zu cartesianisch dachte? Die zentralen Konzepte sind ihm jedenfalls entgangen: die allgemeine Philosophie der Differenz anstelle der Identitätsphilosophie, sowie das ihr entsprechende, temporal angelegte Immanenzkonzept. Auch Plessner hebt die Kritik an ‚Spencers Zirkel‘ als Leistung Bergsons hervor. Wie Scheler liest er ihn ansonsten als Intuitionist, sowie als den Verzauberer des Lebens, das es nun zu entzaubern gelte. So lasen Bergson fast alle Zeitgenossen, hierzulande7 und auch in Frankreich selbst. Auch dort hat man die „Originalität und Kraft“ des bergsonschen Denkens verkannt;8 zu lange suchte man in ihm nur die „einfachen Antithesen der Thesen seiner Widersacher“.9 An diesen Lektüren ist Bergson im Übrigen nicht unschuldig. Die Wahl seiner Begriffe war wenig glücklich.10 In den 1950ern jedenfalls setzte eine französische Neulektüre Bergsons ein, bei so illustren Autoren wie Jean Wahl, Jean Hyppolite, Maurice Merleau-Ponty, Georges Canguilhem und Gilles Deleuze. Seither gilt Bergson als Erfinder einer singulären Philosophie, die quer zur philosophischen Tradition liegt, quer auch zu den Schubläden der Lebensphilosophie oder der Philosophie des inneren Lebens. Seither erscheint auch Bergsons Intuition in anderem Licht: als strenge Methode mit präzise angebbaren Schritten. In der Reformulierung des Konzeptes des élan vital gilt diese Philosophie schließlich auch nicht mehr als alter, substanzontologischer Vitalismus, sondern als Neuer Vitalismus im Sinne des Denkens des 7 8 9 10 Bulletin d’analyse phénoménologique VI, n. 2: La nature vivante (Actes n. 2), 2010, S. 73-85. Vgl. zur deutschen Bergson-Rezeption R. W. Meyer, „Bergson in Deutschland. Unter besonderer Berücksichtigung seiner Zeitauffassung“, in: R. Boehm, W. N. Krewani, R. W. Meyer, E. W. Orth, Studien zum Zeitproblem in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Freiburg, München 1982, S. 10-64; G. Pflug, „Die BergsonRezeption in Deutschland“, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 45/1991, S. 256-266; G. Raulet, „Ein fruchtbares Missverständnis. Zur Geschichte der Bergson-Rezeption in Deutschland“, in: G. Plas, G. Raulet (Hrsg.), Konkurrenz der Paradigmata. Zum Entstehungskontext der philosophischen Anthropologie, Nordhausen 2011, 1. Tb., S. 231-278. J. Hyppolite, „Vie et existence d’âpres Bergson“ (1950), in: ders., Figures de la pensée philosophique. Ecrits de Jean Hyppolite (1931-1968) I, Paris 1971, S. 489-498, hier S. 490. M. Merleau-Ponty, „Lob der Philosophie“ (1953), in: ders., Vorlesungen 1, Berlin 1973, S. 15-50, hier S. 20. Vgl. zu Bergsons Begriffswahl und der Aufschlüsselung ihrer Bedeutungen F. Worms, „Vocabulaire de Bergson“, in: J.-P. Zarader (Hrsg.), Vocabulaire des Philosophes (XX siècle), Paris 2002, S. 15-19. 12 Heike Delitz Lebens als Subjekt und Objekt. Vieles davon ist auch das Verdienst von Deleuze, der Bergsons Philosophie als allgemeine Philosophie der Differenz11 (v. a. Schöpferische Evolution) und als allgemeine Philosophie der Immanenz (v. a. Materie und Gedächtnis) sichtbar machte.12 In Bergson sieht die französische Forschung seither eine Position, welche die identitätslogische Philosophie als Denken in Zuständen und Pseudoproblemen ersetzt, indem sie das Werden an die Stelle des Seins, der Identität setzt, weswegen es richtiger eine Philosophie der Differentiation13 hieße. Grundlegend ist für Bergson die ständige, unvorhersehbare Veränderung, das Anders-Werden. Seine Immanenzontologie wiederum beinhaltet einen radikalen Nichtcartesianismus, die Aufhebung der Trennungen von Unausgedehntem und Ausgedehntem, Körper und Geist, Materie und Vorstellung in einem (wie Deleuze sagt) pluralen Monismus. Dieser neu gelesene Bergson, den es hierzulande erst sichtbar zu machen gilt – weshalb er im Folgenden mehr Raum erhält als der mittlerweile ‚remigrierte‘ Plessner – erweist sich heute als aktueller denn je. Dieser Bergson ist (ebenso wie Plessner) unser Zeitgenosse, sofern das sozial- und kulturwissenschaftliche Denken die Materialität, die Artefakte, die Affekte, den Körper in deren Eigendynamik neu entdeckt. Bergson ist der Autor einer eigenen, französischen philosophischen Anthropologie inklusive der Kritik aller reduktionistischen Selbstverständnisse des Menschen.14 1. Plessner über Bergson (der reale Monolog) Es ist wohl nicht zu viel gesagt, wenn man feststellt, dass Plessners Hauptwerk – im Ziel einer distanzierten oder ‚nüchternen‘ Philosophie des Lebens – von der ersten Seite mit, aber auch gegen Berg11 Vgl. z. B. G. Deleuze, „Henri Bergson, 1859–1941“ (1956), in: ders., Die einsame Insel. Texte und Gespräche von 1953–1974, Frankfurt a. M. 2003, S. 28-44. 12 Z. B. in G. Deleuze, Henri Bergson zur Einführung (1966), Hamburg 1989. 13 Resp. „différent/ciation“: G. Deleuze, „Die Methode der Dramatisierung“ (1967), in: ders., Die einsame Insel, Frankfurt a. M. 2003, S. 139-170, hier S. 143; ders., „Cours sur le Chap. III de l’évolution créatrice de Bergson“ (1960), in: Annales bergsoniennes 2. Bergson, Deleuze, la phénoménologie, Paris 2008, S. 166-188. 14 ��������������������������������������������������������������������������������������� J. Fischer, „Philosophische Anthropologie als kritische Theorie?“, in: G. Plas, G. Raulet, M. Gangl (Hrsg.), Philosophische Anthropologie und Politik, Nordhausen 2013, S. 61-76. Plessner und Henri Bergson 13 son entworfen sei. Mit Bergson: insofern Bergson eine philosophische Biologie entfaltet hat und insofern er buchstäblich vitalistisch dachte, die vitalen, tragenden Kräfte im Menschen sichtbar machend.15 Und gegen Bergson: insofern Plessner stets zugleich gegen die „Lebens­ ideologie“, gegen die Bezauberung seiner Zeit durch den Begriff des Lebens anschreibt.16 In diesem Kontext wird Plessner sagen, dass eine recht verstandene Philosophie des Lebens immer den „Einen Grundaspekt“ finden müsse, von dem aus beide Aspekte menschlichen Lebens erreichbar sind: das organische wie das kulturelle Leben, das „Objekt kausaler Determination“ ebenso wie das „Subjekt eines freien Willens“. Bergson habe in seiner Spencer-Kritik immerhin gezeigt, „wie vorsichtig“ man bei der Konzeption dieses einigenden Grundaspekts sein müsse.17 Herbert Spencer wollte die apriorischen Voraussetzungen des Erkennens empirisch klären, die Kategorien zu Anpassungsergebnissen machend, die er aber zugleich voraussetzen musste. In der Aufdeckung dieses Zirkels sieht Plessner (wie schon Scheler) also Bergsons Leistung. Und Bergsons positiven Vorschlag deutet sich Plessner ebenfalls wie Scheler: als „Irrationalismus“, als „unbestimmte Anschauung vom schöpferischen Wesen des Lebens“ in der Opposition gegen die Naturwissenschaft, deren Quelle (der Intellekt) nur eine „Spielform des Lebens“ unter anderen sei.18 Im Zentrum dieser Bergson-Lektüre steht erneut der (missverständliche) Begriff Intuition; auch Pless15 Vgl. dazu J. Fischer, Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts, Freiburg, München 2008 (Bergson hielt neben Driesch für Plessner die „Möglichkeit einer nichtmechanistischen philosophischen Biologie […] offen“, S. 36). Und dezidiert gegenüber allen, die Plessner verharmlosend lesen: Es sei der „Explosivcharakter der philosophisch-anthropologischen Kategorie ‚exzentrische Positionalität‘“ zu betonen, wozu „theoriegeschichtlich auch einmal die Bedeutung des lebensphilosophischen Ansatzes“ für seine Philosophie „ganz ernst“ genommen werden müsste, und zwar derjenigen Bergsons. Ohne sie ist Plessner „nicht zu verstehen, so sehr er ihn selbst in der Theoriebildung ‚entzaubert‘ und verwandelt hat. Plessner hat die Kategorie der ‚exzentrischen Positionalität‘ auch gebildet, um […] den Einbruch oder Ausbruch des A-rationalen, den Wirbel des Irrationalen, des Exzesses, der ‚Exzentrik‘“ in die menschliche Lebensform begreifbar zu machen“. J. Fischer, „Ekstatik der exzentrischen Positionalität. Lachen und Weinen als Pless­ ners Hauptwerk“, in: B. Accarino, M. Schloßberger (Hrsg.), Expressivität und Stil. Helmuth Plessners Sinnes- und Ausdrucksphilosophie, Berlin 2008, S. 253-270, hier S. 265. 16 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 3 f. 17 Ebd., S. 6. 18 Ebd. S. 12. 14 Heike Delitz ner versteht Bergsons Ansatz als Theorie innermenschlichen Lebens. Bergson suche in den Lebensphänomenen das „Einfühlbare“.19 Wie alle Zeitgenossen versteht Plessner Bergson zugleich auch als Irrationalisten, der die Kultur zur „Ausgeburt des schöpferischen Lebens wie all die wunderlichen Gebilde der Pflanzen und Tiere“ mache.20 Schließlich habe Bergson den einigenden ‚Grundaspekt‘, auf den es in der Betrachtung des Menschen als natürlichem und kulturellem Wesen ankommt, auch noch metaphysisch gefasst: im élan vital als „von außen“ wirkender „Kraft“.21 Den Menschen als Subjekt von Kultur, Wissen, Gesellschaft könne er daher nicht denken, Geist und Körper nicht gleichermaßen ernst nehmen. All dies führt Plessner dazu, in Bergson letztlich einen Autor zu sehen, der dem „Denken den Mut“ nehme,22 indem dieser zwar die richtige Frage gestellt, aber die falsche Antwort gegeben habe. In Schicksal deutschen Geistes wird Bergson 1935 sogar als ein Hauptautor der Zerstörung der Vernunft dargestellt, L’évolution créatrice als eine Hauptetappe im Misstrauen gegen Fortschritt, Toleranz, Humanität.23 1949 findet Plessner Bergsons Denken dann überholt.24 1961 kommt er ein letztes Mal auf ihn zurück: Bergson habe das menschliche Leben als Subjekt und Objekt zu denken gesucht und sei damit (nach Schopenhauer, Schelling und Nietzsche) der „unmittelbare Vorgänger der philosophischen Anthropologie“. Erneut spricht Plessner hier auch die Kritik an ‚Spencers Zirkel‘ an, als Grund, weshalb Bergson für die Entstehung des Denkens eine andere Quelle gesucht habe. „Die Lehre von der schöpferischen Entwicklung auf Grund der lebendigen Schwungkraft […] verweist die Modelle des Zusammenhangs von Ursache-Wirkung und von Zweckmitteln in den Bereich 19 20 21 22 Ebd., S. 225. Ebd., S. 9. Ebd., S. 12. Ebd. Vgl. zur intuitionistischen Methode bei Bergson und der Kritik an ihr sowie zu Bergsons Kritik an Spencer auch H. Plessner, Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1980, S. 106-119. Ebd. geht Plessner auf die in Materie und Gedächtnis entwickelte Erkenntnistheorie (Wahrnehmung als Selektion ‚in der Aufmerksamkeit auf das Leben‘) ein, ohne das Buch indes zu nennen. 23 H. Plessner, Die verspätete Nation (1935/1959), Frankfurt a. M. 1988, S. 17 und S. 188. 24 H. Plessner, „Lebensphilosophie und Phänomenologie“ (1949), in: ders., Politik – Anthropologie – Philosophie. Aufsätze und Vorträge, München 2001, S. 231-255, hier S. 231. Plessner und Henri Bergson 15 der Rationalität und des diskursiven Verstandes. Leben können sie nicht fassen. […] Nur die Intuition […] führt uns auf den Spuren erlebter verlorener Zeit an das grund- und ziellose Wesen der Lebendigkeit. Mit dieser Abwendung von der proleptischen Geste des tatverwandten Wissens […] entwindet sich Bergson dem Zirkel Spencers und gewinnt zugleich die Freiheit für eine Philosophie der lebendigen Natur und der Stellung des Menschen in ihr.“25 Es sei dies der Versuch, das Leben als natura naturans zu denken,26 was sich indes kaum in Begriffe fassen lasse. Wäre der ‚Dialog‘ zwischen Plessner und Bergson (der ein Monolog war, da Bergson Plessner nicht wahrnahm) anders ausgefallen, hätte Plessner die französischen Neulektüren gekannt? 2. Plessner und Bergson (der virtuelle Dialog) Womöglich hätte es sich ihm so dargestellt, dass Bergson ein ähnliches, umgekehrt angelegtes Projekt habe: dem temporalen Gesichtspunkt folgend, entlang von Zeitkategorien denkend, während Plessner in dieser Arbeitsteilung der Raumdenker wäre, der Denker der Grenze, der Position. Ist es sein Ziel, mit den Stufen der „horizontalen“ (dem Vergleich der Kulturgebiete) die „vertikale“ Betrachtung des Menschen zur Seite zu stellen, diesen als Organismus mit anderen Organismen zu vergleichen,27 den Menschen also als Subjekt-Objekt der Natur zu verstehen – so handelt es sich bei Bergson um dasselbe Projekt. Für Canguilhem jedenfalls bietet dieser ein neues Denken des Lebens, in dem Konzept und Leben vereint sind, einen neuen Vitalismus.28 Und 25 H. Plessner, Die Frage nach der conditio humana (1961), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt a. M. 1985, S. 136-217, hier S. 154 f. 26 Diesen Begriff hatte Bergson 1932 gebraucht: H. Bergson, Die beiden Quellen der Moral und der Religion (1932), Frankfurt a. M. 1992, S. 46: „Wenn wir von der sozialen Solidarität zur menschlichen Brüderlichkeit fortschreiten, dann brechen wir […] mit einer gewissen Natur, nicht aber der ganzen Natur. Man könnte sagen […], wir lösten uns von der natura naturata, um zur natura naturans zurückzukehren.“ Vgl. zu dieser Denkfigur der bergsonschen Gesellschaftstheorie H. Delitz, BergsonEffekte. Aversionen und Attraktionen im französischen soziologischen Denken, Weilerswist 2014 (im Druck), Kap. II. 27 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 32. 28 G. Canguilhem, „Aspekte des Vitalismus“ (1952), in: ders., Die Erkenntnis des Lebens, Berlin 2009, S. 149-181. Vgl. C. Canguilhem., „La nouvelle connaissance 16 Heike Delitz noch enger an Plessner formuliert: Bergsons Philosophie denke den Menschen als Subjekt und Objekt des Lebens. Für Bergson dürfe der Verstand „sich auf das Leben nur beziehen, wenn er die Originalität des Lebens anerkennt. Das Denken des Lebendigen muss die Idee des Lebendigen dem Leben selbst entnehmen.“29 Für dieses Projekt fällt ein Kernsatz in Materie und Gedächtnis, wenn Bergson hier immer erneut sagt, dass es sich auch bei den kognitiven Aktivitäten um die eines Lebewesens handele, um eine Aktivität in der Aufmerksamkeit auf das Leben.30 Der andere Kernsatz fällt in Schöpferische Evolution: Indeterminiertheit ist das Kennzeichen des Lebens, und für menschliches Leben gilt dies potenziert. Es ist diese „Freiheit, die die menschliche Form in sich aufnimmt“.31 Im geteilten Vorhaben eines neuen Denkens des Lebens hat also Bergson einen eigenen Ansatz und ein eigenes Ziel: Im Ausgang von der temporalen Dimension der Wirklichkeit ist es sein Ziel, die menschliche Freiheit adäquat zu denken. 2.1 Vorklärungen Bergsons Schlüsselkonzepte Um diesen Bergson zu sehen, ist es zunächst nötig, seine zentralen Konzepte kurz zu erläutern. Zentral sind die Konzepte der intuition (die Methode); des élan vital (das Konzept für die temporale Existenzweise des Lebens als permanenter, sich differenzierender Aktualisierung des Virtuellen); und der Dauer (das kontinuierliche Nachein­ ander, durée gegenüber der verräumlichten, diskontinuierlichen, in de la vie: Le concept et la vie“ (1966), in: ders., Études d’histoire et de philosophie des sciences, Paris 1968, S. 335-364. Zu Canguilhem und Plessner siehe Th. Ebke, Lebendiges Wissen des Lebens. Zur Verschränkung von Plessners Philosophischer Anthropologie und Canguilhems Historischer Epistemologie, Berlin 2012; zu Pless­ ner und Bergson jetzt auch ders., „Life, concept and subject. Plessner’s vital turn in the light of Kant and Bergson“, in: J. de Mul (Hrsg.), Artifical by Nature. Plessner’s Anthropology: Perspectives and Prospects, Amsterdam 2014, S. 99-110. 29 G. Canguilhem, „Das Denken und das Lebendige“ (Einleitung), (1952), in: ders., Die Erkenntnis des Lebens, Berlin 2009, S. 15-22, hier S. 22. 30 H. Bergson, Materie und Gedächtnis, z. B. S. VI: „So enthält unser zerebraler Zustand mehr oder weniger von unserem geistigen Zustand, je nachdem ob wir unser seelisches Leben mehr in Tätigkeit veräußerlichen oder mehr in reine Erkenntnis verinnerlichen […] je nach dem Grade unserer Aufmerksamkeit auf das Leben. Das ist eine der Leitideen des vorliegenden Werkes.“ 31 H. Bergson, Schöpferische Evolution, S. 301. Plessner und Henri Bergson 17 Abschnitte geteilten Zeit, temps). Nie handelt es sich für Bergson bei der Realität um einen Zustand, stets um ein Werden, und die durée soll erlauben, dieses kontinuierliche „Fortschreiten der Vergangenheit, die an der Zukunft nagt und im Vorrücken anschwillt“, zu denken – als Prozess, in dem immer neue Realitäten entstehen. Das ist die Grundidee. „Je tiefer wir das Wesen der Zeit ergründen, desto mehr begreifen wir, daß Dauer Erfindung, Schöpfung von Formen, kontinuierliche Bildung von absolut Neuem bedeutet.“ Und weiter: „Zeit ist Erfindung oder überhaupt nichts.“32 Seit seiner Dissertation Essai sur les données immédiates de la conscience 1889 kreist Bergson um diese Schlüsselidee. Im Übrigen habe ein Philosoph stets einen einzigen Gedanken: „Ein Philosoph, der dieses Namens würdig ist, hat im Grunde nur immer eine einzige Sache im Auge gehabt: außerdem hat er mehr versucht, diese Sache auszusprechen, als daß er sie direkt ausgesprochen hätte.“33 Die Unterscheidung von temps und durée, Zeit und Raum (von Intensivem/ Extensivem, Heterogenem/Homogenem, Kontinuierlichem/Diskontinuierlichem) erklärt also alle weiteren Konzepte Bergsons – die Intuition als die Methode, entlang des Temporalen zu denken, sich an die Veränderung anzuschmiegen; der élan vital als Konzept für das Leben, das wegen der ständig weiterlaufenden Veränderung nur retrospektiv aussagbar ist. Zwei Dinge sind also zumindest zu klären, um den Dialog mit der philosophischen Anthropologie Plessners erneut in Gang zu bringen: Was meint Bergson mit der Methode der Intuition, und was verbirgt sich im Konzept des élan vital? ‚Intuition‘ bezeichnet ein methodisches Verfahren. Bergson ist sich der Problematik des Begriffes bewusst: „‚Intuition‘ ist übrigens ein Wort, bei dem wir länger zögerten. Von allen Ausdrücken, die einen Modus der Erkenntnis bezeichnen, ist es der passendste, und dennoch gibt er leicht Anlaß zur Unklarheit: weil ein Schelling, ein Schopenhauer u. a. schon sich auf die Intuition berufen haben, weil sie mehr oder weniger die Intuition der Intelligenz entgegengestellt haben, konnte man glauben, daß wir dieselbe Methode anwendeten.“34 Stattdessen will er seine Methode so verstanden wissen (und wir folgen 32 Ebd., S. 21 und S. 384. 33 H. Bergson, „Die philosophische Intuition“ (1911), in: ders., Denken und Schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge, Meisenheim 1948, S. 126-145, hier S. 131. 34 H. Bergson, „Einleitung (Zweiter Teil)“, in: ders., Denken und Schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge, Meisenheim 1948, S. 42. 18 Heike Delitz hier ganz der Interpretation von Deleuze35): Sie verläuft erstens sehr wohl sprachlich, nämlich über die Begriffe „Dauer, qualitative oder heterogene Mannigfaltigkeit, Unterbewußtsein, – sogar Differential, wenn man den Begriff in seiner anfänglichen Bedeutung nimmt.“36 Zweitens enthalte die Methode eine „Vielfalt der Funktionen und Aspekte“,37 genauer, einen Dreischritt. Die Methode problematisiert, differenziert und verzeitlicht, sie stellt die Probleme in Begriffen der Zeit. Bergson dringt zunächst stets darauf, den inneren Linien, den ‚wirklichen‘ Gliederungen des Wirklichen zu folgen. Die Intuition erscheint in diesem Aspekt als „Teilungsmethode: Sie teilt das Gemisch in zwei Tendenzen, die sich dem Wesen nach unterscheiden“,38 und zwar, um falsche Vermengungen (von Raum und Zeit, Erinnerung und Empfindung, Materie und Dauer, Pflanze, Tier und Mensch, geschlossenen und offenen Gesellschaften, Mythos und Religion) und falsche Differenzierungen (von Negativem versus Positivem, Ausgedehntem versus Unausgedehntem, Körper versus Geist) durch die tatsächlichen Differenzen zu ersetzen. Im zweiten Schritt deckt die Methode Pseudoprobleme auf, die aus den falschen Differenzierungen stammen; dieser Aspekt der Methode beinhaltet die berühmte Kritik negativer Begriffe, auf die wir unten kurz eingehen müssen. Der dritte Aspekt liegt in der Erfindung dynamischer Begriffe, die sich der Temporalität des Wirklichen anschmiegen. Die Suche nach „beweglichen, fast fließenden“ Begriffen39 reformuliert Bergsons Leitidee, philosophische Probleme eher unter dem Aspekt der Zeit als des Raumes zu betrachten. Und worauf will Bergson hinaus, wenn er vom élan vital spricht? Bei der Entwicklung des Lebens (beides ist identisch: Leben ist Werden) handelt es sich, so Deleuze, um eine „in der Aktualisierung begriffene Virtualität, um ein in der Differenzierung begriffenes Einfaches, um eine in der Aufspaltung begriffene Totalität“.40 Der Weg, den das Leben in temporaler Hinsicht einschlägt, ist Zerlegung oder Differenzierung; und diese ist das Vermögen des Lebens als eines, das an sich ein35 Siehe v. a. G. Deleuze, Henri Bergson zur Einführung, Kap. 1 (Intuition als Methode). 36 Ebd., S. 47. 37 H. Bergson, „Comment doivent écrire les philosophes“ (Lettre à C. Bourquin 1924), in: Philosophie 54/1997, S. 3-8, hier S. 7. Vgl. H. Bergson, „Einleitung (Zweiter Teil)“, S. 46. 38 G. Deleuze, „Bergson 1859–1941“, S. 34. 39 H. Bergson, „Einführung in die Metaphysik“ (1903), in: ders., Denken und schöpferisches Werden, Meisenheim 1948, S. 180-225, hier S. 190. 40 G. Deleuze, Henri Bergson zur Einführung, S. 119. Plessner und Henri Bergson 19 fach ist, da es die durch die einzelnen Lebensformen hindurchlaufende, unteilbare Bewegung, das Werden ist. Die Differenzierung der Lebensformen rührt für Bergson dabei vom Widerstand der Materie her, die einzelnen Lebensformen sind andere Wege, sich ihrer zu bemächtigen. Die Differenzierung erklärt sich aber auch aus dem Leben selbst, insofern es als in sich bereits differenziert (oder differentiiert) erscheint. „Die Materie unterteilt faktisch, was zuvor nur virtuell multipel war“, so heißt es bei Bergson.41 Mit dem Begriff élan vital ist also die permanente Veränderung als das Wesentliche des (organischen) Lebens gekennzeichnet, die durch die Individuen hindurch verläuft und sich in ihnen als gemeinsame Tendenz offenbart, wobei Bergson die Tendenz so definiert, dass sie sich stets spalte oder differenziere. Tendenz heißt Bifurkation, und als Tendenz besitzt sie nur Existenz, insofern sie sich aktualisiert. Die Aktualisierung verläuft also stets in divergenten Richtungen (Pflanze und Tier, Mollusken und Vertebrata etc.). Leben heißt für Bergson Differenzierung, und zwar eine Differenzierung, deren Enden aufeinander verwiesen bleiben, in der sich also die „fortbestehende Totalität“ des Lebens „durchweg bekunde[t]“.42 Daher unterscheidet Bergson die Lebensformen nicht nur, sondern betont stets ihre Komplementarität. Will man das Leben angemessen denken, sind alle Lebensformen in Gegenwart wie Vergangenheit einzubeziehen; daher muss man mit dem Intellekt auch den Instinkt betrachten, und mit diesem das ‚subtrahierte Bewusstsein‘ der Pflanze (s. u.). Die Virtualität des Lebens wird darüber hinaus so gedacht werden müssen, dass sie jenseits der Aktualisierungen auf eine bestimmte Weise existiert,43 sofern der élan vital keine Substanz ist, sondern das Leben als kontinuierlichen Akt des Werdens bezeichnet. Bergsons Kritik an Spencer Dieses Werden hat nun in der Evolutionsbiologie – die doch beansprucht, die Evolution des Lebens zu denken! – keinen Platz. Bergsons Kritik an Spencer gilt dem ‚falschen Evolutionismus‘, der mit Kant einen verräumlichten Begriff der Zeit teilt, insofern die Zeit hier ein dem Raum homologes Medium ist, in dem unsere Handlungen und Gedanken stattfinden; und insofern für Spencer die Evolution eine 41 H. Bergson, Schöpferische Evolution, S. 293. 42 G. Deleuze, Henri Bergson zur Einführung, S. 120. 43 Ebd., S. 119. 20 Heike Delitz Reihe kausal bestimmter Sprünge, eine Folge von Abschnitten darstellt. Spencer definiert die Zeit in Sekunden, Minuten usw. getrennt und abhängig vom durchmessenen Raum; er zerschneidet also die „schon entwickelte Wirklichkeit in kleine, nicht minder entwickelte Stücke“ und setzt diese dann zusammen. Kurz, er stellt sich eine Zeitlinie vor, deren Teile man wie Raumteile nebeneinander legen könnte, womit er Evolution allenfalls als Abwicklung, und nicht als Entwicklung zu denken vermag. Der falsche Evolutionismus nimmt damit „von Anfang an alles […] [vorweg], was es erst zu erklären galt“.44 Stattdessen ist doch die recht verstandene Zeit das Nacheinander, Zeit ist das, worauf man warten muss, unvorhersehbares Werden – nichts, was vor uns bereits ausgebreitet liegt und sich nur noch abwickeln müsste. Spencer „hatte verheißen, eine Genese nachzuzeichnen, und da war er und tat etwas ganz anderes. Seine Lehre trug wohl den Namen des Evolutionismus; sie gab vor, den Lauf des universalen Werdens hinauf- und dann wieder hinabzusteigen. In Wirklichkeit war darin aber weder von Werden noch von Evolution die Rede. […] Sagen wir einfach, daß der durchgängige Kunstgriff der Methode Spencers darin besteht, die Evolution aus Bruchstücken des schon Entwickelten zu rekonstruieren.“45 Dies ist Bergsons Hauptkritik an Spencer: der falsche Evolutionismus, der nur vorgibt, sich um die Evolution des Lebens zu drehen, da er die Zeit annihiliert. Dieser Evolutionismus kann und will in der Entwicklung des Lebens keine permanente und unvorhersehbare Individuation sehen, in der Annahme kausaler Mechanismen sieht er stets „nur den Aspekt der Ähnlichkeit oder Wiederholung“ am Werk, für ihn gibt es nur Gleiches, das Gleiches erzeugt.46 Das Neue stellt sich also genau genommen nur als Neuanordnung bekannter Elemente dar, er addiert Entwickeltes zu Entwickeltem und meint, darin Veränderung zu sehen. Kurz, Spencer macht „tabula rasa mit der Zeit“.47 Bergson kreist stets erneut um diesen Punkt. Spencer nimmt die Realität in ihrer „aktuellen Form, bricht sie entzwei und zersplittert sie in Fragmente, die er in den Wind wirft, dann ‚integriert‘ er diese Fragmente und ‚zerstreut ihre Bewegung‘“. Für diesen Evolutionismus ist von vornherein alles gegeben – er bildet sich nur ein, eine „Genese gegeben 44 45 46 47 H. Bergson, Schöpferische Evolution, S. 8. Ebd., S. 409. Ebd., S. 59 f. Ebd., S. 60. Plessner und Henri Bergson 21 zu haben“.48 Diese Kritik erklärt allererst, warum Bergson dermaßen auf der schöpferischen Evolution beharrt. Sicher, die Kritik am ‚Zirkel‘ wird auch formuliert, aber nur am Rand und erneut im Kontext der Kritik an jenem Evolutionismus, der das Werden verkennt: „[N]icht durch die Zusammensetzung von schon Entwickeltem mit sich selbst wird man die Evolution reproduzieren […]. Durch die Kombination von Reflex mit Reflex glaubt Spencer Zug um Zug den In­ stinkt und den vernünftigen Willen entstehen zu lassen. Er sieht nicht, daß der spezialisierte Reflex, da er ebenso wie der konsolidierte Wille einen Endpunkt der Evolution darstellt, nicht am Anfang vorausgesetzt werden kann. […] Man müßte damit beginnen, das Reflexmäßige und das Willensgesteuerte zusammenzumischen. Man müßte sich dann auf die Suche nach jener flüssigen Realität begeben, die unter dieser doppelten Form ausfällend dahinstürzt und die zweifellos an der einen wie der anderen teilhat, ohne eine von beiden zu sein.“49 Die bergsonsche Aufgabe der Philosophie Was will Bergson nun positiv, wozu die Dekonstruktion Spencers? Es geht um eine Philosophie, die jenseits der verräumlichten Zeit die Dauer (durée) als Wesen der Realität bestimmt – ständige Veränderung, Werden, „radikales Umschmelzen des Ganzen“. Die Philosophie muss sich in dieses Werden versetzen, denn es ist das einzige, worin es „Erzeugung und nicht nur Kombination von Teilen gibt“.50 Es geht Bergson um einen „echten Evolutionismus“, dem die gesamte Realität als „ununterbrochenes Emporschießen von Neuheiten“ erscheint.51 Der Charakter der Dauer gilt also nicht allein für das innere Leben. Das Psychische, für das sich Bergson bis zu Materie und Gedächtnis nicht 48 Ebd., S. 410. Vgl. H. Bergson, „Einleitung (Erster Teil)“, in: ders., Denken und schöpferisches Werden, Meisenheim 1948, S. 21-41, hier S. 22. 49 H. Bergson, Schöpferische Evolution, S. 411 f. Rückblickend hat Bergson diese Spencer-Kritik als Motiv seiner gesamten Philosophie sichtbar gemacht. „Eines schönen Tages bemerkte ich, daß die Zeit in diesem System nichts bedeutete, ja daß sie völlig unwirksam blieb“, während sie doch ‚etwas‘ sei, nämlich das, „was verhindert, daß alles auf einmal gegeben ist“. „Sollte die Tatsache der Zeit nicht beweisen, daß das Innerste der Dinge indeterminiert ist? Und sollte die Zeit nicht gerade diese Indetermination selbst sein?“, H. Bergson, „Das Mögliche und das Wirkliche“ (1930), in: ders., Denken und schöpferisches Werden, Meisenheim 1948, S. 110-125, hier S. 112 f. 50 H. Bergson, Schöpferische Evolution, S. 408, S. 415. 51 Ebd., S. 414 und S. 62. 22 Heike Delitz sonderlich interessiert habe,52 ist nur ein einleuchtendes Beispiel für den Charakter der Realität insgesamt, in ständiger Veränderung begriffen zu sein. Es geht also nicht allein um anthropologische, sondern um ontologische Fragen – darum, ob die Philosophie das Sein oder das Werden zu privilegieren habe, und Bergson beansprucht hier sehr wohl Wahrheit: Wahr ist die Ontologie, wenn sie das Werden nicht mehr als „Minderung“ oder „Verwässerung der Ewigkeit“ verurteilt, wenn sie das Vorurteil der antiken Philosophie nicht mehr teilt, der es stets darum gegangen sei, das Bestehende zu konservieren. Da zwar die moderne Wissenschaft um die permanente Veränderung weiß, sich aber darauf beschränkt, „Momentaufnahmen“ zu machen, braucht es eine, sie ergänzende, komplementäre, neue Metaphysik, welche die „kontinuierliche Erfindung neuer Formen“, also die „Dauer selbst zum Gegenstand“ hat.53 Nötig sind entsprechende Begriffe und eine adäquate Methode. Bergsons ‚echter Evolutionismus‘ wird nun einerseits als Philosophische Anthropologie entfaltet, im Blick für die Freiheit der menschlichen Lebensform. Insofern es Bergson hier darum geht, wissenschaftliche Fehlverständnisse zu verhindern (der Mensch als determiniert durch Natur, Kultur, Ökonomie, etc.), insofern gibt diese Philosophie dem Menschen sehr wohl alle Verantwortung zurück – ebenso wie Plessner (in den Stufen wie in Macht und menschliche Natur). Andererseits geht es Bergson nicht nur um Philosophische Anthropologie und Lebenstheorie: Das Sein insgesamt muss dynamisiert werden, es geht um Metaphysik oder um Ontologie. Selbst im Anorganischen muss der „Philosoph, der nichts beiseite lassen will“, das Werden beschreiben – überall ist es seine Aufgabe, das Wirkliche als „fortdauernde Schöpfung, ununterbrochenes Hervorquellen von Neuem“ sichtbar zu machen.54 2.2 Plessner und Bergson: Definitionen der differenten Lebensformen und des Lebens insgesamt Inwiefern haben wir es mit einem Vorhaben zu tun, das sich in Plessners Projekt der Philosophie einfügt und sich zugleich als komplemen52 H. Bergson, „Einleitung (Erster Teil)“, S. 24. 53 H. Bergson, Schöpferische Evolution, S. 387 f. 54 H. Bergson, „Einleitung (Erster Teil)“, S. 31 und S. 28. Plessner und Henri Bergson 23 täre Art zeigt, das menschliche Leben im Blick zu halten? Zunächst, insofern sich Plessners Annäherung an das Leben als räumliche, mit Raumbegriffen operierende erweist, während Bergson dieselbe Unterscheidung des Anorganischen vom Organischen sowie der Lebensformen in Zeitbegriffen, entlang der Temporalität vornimmt. Plessner definiert das Leben bekanntlich durch die Kategorien Grenze und Positionalität: Lebendige Dinge scheiden sich von anorganischen in ihrer grenzrealisierenden Aktivität, dadurch, dass sie in ihre Grenzen gesetzt sind und diese haben; dass sie hauthaft umschlossen sind. Von dieser Raumkategorie her erschließt Plessner auch die temporale Dimension. So heißt es in Bezug auf die Zukunftszugewandtheit der Lebewesen: „Sofern der lebendige Körper in ihm hineingesetzt ist (raumhaft) und er mit diesem Charakter der Positionalität einen raumbehauptenden Körper darstellt, ist er […] ihm selber vorweg.“ Und ausdrücklich heißt es hier weiter, aus den „raumbezüglichen“ Eigenschaften der Positionalität bestimme sich die „Zeitbezüglichkeit des lebendigen Körpers“. Zur Positionalität „gehört“ es, zeitlich zu sein.55 Zwar will Plessner den „positionalen Charakter“ an anderen Stellen auch als gleichermaßen konstitutiv für Raum- und Zeitbezug verstehen – die Grenze sei gegenüber „Räumlichkeit und Zeitlichkeit indifferent“, begrenze den Körper räumlich wie zeitlich. Gleichwohl impliziert das Konzept der Positionalität primär ein räumliches Denken, eines der Zustände, der Abschließung, der Form-Fixierung statt Veränderung. „Positionalität heißt Gesetztheit“.56 Und noch deutlicher: Das Sein des Organischen ist ein „Gegenverhältnis zum Zeitstrom“.57 Die einzelnen Lebensformen werden ihrerseits entlang der Probleme des Raumes definiert (offene oder geschlossene; dezentrale, zentrale oder exzentrische Positionalität); ebenso die Weltsphären exzentrischer Positionalität (Innenwelt, Außenwelt, Mitwelt) und die Definition der Person (das „Lebendige ist Körper, im Körper […] und außer dem Körper, als Blickpunkt, von dem aus es beides ist“58). Dasselbe ließe sich für die Formulierung der anthropologischen Grundgesetze sagen, zumindest tendenziell und insofern Gesellschaftlichkeit und kulturelle Historizität im Sinne ständig erneuter Abschließungen, Formfixierungen deren doppeltes Zentrum sind. Erinnern wir kurz an Plessners siebentes Kapitel: Menschliches 55 56 57 58 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 177. Ebd., S. 183. Ebd., S. 177, S. 179, Hervorhebung von mir H. D. Ebd., S. 293. 24 Heike Delitz Leben ist sich selbst nur vermittelt zugänglich, über Umwege; es muss sich künstliche Horizonte schaffen, sich entäußern, um sich zu finden. Nicht „im Gleichgewicht, ortlos, zeitlos im Nichts stehend, konstitutiv heimatlos“, muss der Mensch durch seine Institutionen „etwas werden“, durch seine artifiziellen, Dinge, also die gesamte Kultur.59 Die Differenz zur bergsonschen philosophischen Anthropologie wird dabei am deutlichsten im folgenden Satz: dass nämlich der „Prozeß“, in dem der Mensch „wesenhaft lebt“, das „Kontinuum diskontinuierlich sich absetzender, auskristallisierender Ereignisse“ sei.60 Wie definiert Bergson die Lebewesen, speziell die menschlichen? Der lebende Körper besteht wie alle Körper zweifellos aus einem „Stück Ausgedehntheit, das mit der übrigen Ausgedehntheit verknüpft ist“, und denselben Gesetzen unterliegt. Indes werden die anorganischen Körper von unserer Wahrnehmung eingeteilt, während lebende Körper „von der Natur selbst“ eingeteilt und geschlossen werden, in sich aus heterogenen, komplementären Teilen bestehen.61 Mit anderen Worten, anders als organische Dingen sind lebendige Körper Individuen, wobei ihre „Individualität unendlich viele Grade“62 aufweist und nirgends vollkommen realisiert ist, da die Wesenszüge des Lebens „weniger Zustände als vielmehr Tendenzen“ sind,63 differenzierende Tendenzen zu Individuation einerseits und Fortpflanzung andererseits. Das zentrale Merkmal lebendiger Körper ist daher für Bergson, sich ständig zu verändern. Der lebendige Organismus ist das, was dauert, d. i.: dessen Vergangenheit sich vollständig in seine Gegenwart erstreckt und in ihr „aktuell“ bleibt. „Überall, wo etwas lebt, gibt es irgendwo ein offenes Register, in das die Zeit sich einschreibt.“64 Bergson nennt die Dauer (durée) auch das „Bindeglied“ zwischen den Individuationen. Will man also ein „natürliches System“ erkennen, muss man sein „Intervall der Dauer“ kennen, im Gegenteil zu dem, was bei den künstlichen Systemen der Fall ist – hier genügt die Kenntnis der „Endpunkte“.65 Bergson erscheint mithin das Leben als das, was durch die Mittlerschaft des entwickelten Organismus „von Keim zu Keim fließt“. Das durch die Individuen sich hindurch ziehende Leben 59 60 61 62 63 64 65 Ebd., S. 310 f. Ebd., S. 339. H. Bergson, Schöpferische Evolution, S. 23. Ebd., S. 24. Ebd., S. 25. Ebd., S. 27. Ebd., S. 35. Plessner und Henri Bergson 25 ist das, was ihn interessiert, die „sich unbegrenzt weiter fortsetzende Kontinuität“.66 Sein Blick gilt daher der gesamten Evolution des Lebens, da diese eben „durch die Einheit und die Kontinuität der belebten Materie […] eine einzige unteilbare Geschichte bildet.“67 Aktuell aber wird diese Kontinuität nur in den einzelnen Lebensformen; in deren Gesamtheit ist das Leben allein existent. Die einzelnen Lebensformen nun unterscheiden sich hinsichtlich der Intensität des Werdens, der Veränderung, oder ihrer Geschwindigkeit. Der anorganische Körper ist ein Mechanismus, über den die Dauer wesentlich „hinweggleitet, ohne in ihn einzudringen“;68 diejenige Lebensform hingegen, die die intensivste Dauer aufweist, bei der die Gegenwart die meiste Vergangenheit fortbestehen lässt, ist die des Menschen. Dazwischen liegen die Pflanzen und die zunehmend zentral gesteuerten Tiere. Kurz, die Lebenstheorie und Anthropologie folgt dem temporalen Aspekt: Leben ist kontinuierliches Werden, und wenn es sich in den Gattungen, Arten und Individuen aktualisiert, so nur vorübergehend. Bergson konzipiert diese Aktualisierungen wie erwähnt als Divergenzen. Die Gesamtheit des Lebens bietet das Bild einer Zerstreuung, ständiger Bifurkationen, die sich aus umgekehrten Umgangsweisen mit der Materie erklären, aus der die Lebewesen durch ihre Organe die zu Wachstum, Handlung, Vermehrung nötige Energie beziehen. Wenn sich für Bergson Pflanze, Tier und Mensch also durch verschiedene Intensitäten des Bewusstseins, des Fortbestehens der Vergangenheit, durch Wahlfähigkeit (Dumpfheit, Instinkt, Intellekt) kennzeichnen, dann meint er das jeweilige Gefüge des Körpers, seiner Aktivität in Bezug auf die Umwelt, seines Vermögens, Vergangenheit mitzuführen und entsprechend frei zu handeln, und der Menge und Intensität der Energie, über die der Körper verfügt. Pflanze, Tier, Mensch sind differente Lebensformen wegen ihrer Art der Energieversorgung, des Energiepotentials, damit der Schnelligkeit der Bewegungen und kognitiven Aktionen – der Freiheit. Die Ausdehnung des Universums legt zunächst nahe, überall ein ständiges Werden als grundlegend anzunehmen. Nur hat es verschiedene Intensitäten und entsprechende Freiheitsgrade: Der Abspannung (Entropie) im Anorganischen steht die unvorhersehbare Anspannung (Negentropie) im Organischen gegenüber. Für diesen Aufschwung, 66 Ebd., S. 40. 67 Ebd., S. 51. 68 Ebd. 26 Heike Delitz diese Anspannung steht das Bild des élan vital, das uns Bergson als ständigen Impuls des Lebens übersetzt, der „von einer Keimgeneration zur nächsten weitergegeben wird“ und die Ursache der Differenz der Lebensformen im Lauf der Evolution ist.69 Ausgangspunkt dieser Differenzierung ist das gemeinsame Problem des Lebens, die Sonne dazu zu bringen, „zeitweilig ihre unaufhörliche Abgabe nutzbarer Energie“ zu suspendieren und eine gewisse Menge „Energie in geeigneten Speichern“ einzulagern, aus denen diese „im gewünschten Moment, am gewünschten Ort und in gewünschter Richtung ausfließen“ kann. „Die Substanzen, von denen sich die Tiere ernähren, sind gerade genau solche Speicher dieser Art.“70 Während das Tier zu immer freierer Ausgabe diskontinuierlicher Energiemengen, plötzlicheren Bewegungen tendiert, ist die pflanzliche Lebensformlokal fixierte Energieansammlung im Rückgriff auf die Stickstoff- und Ammoniakherstellung der Mikroben. Ihr entspricht jene Form der kognitiven Aktivität, die Bergson als ‚Dumpfheit‘ (torpeur) fasst. Hierbei kommt es darauf an, motorische, sensorische und kognitive Aktivität als untrennbar zu denken. Aus dieser Perspektive definiert sich das Tier durch „Empfindungsvermögen und waches Bewußtsein“, die Pflanze demgegenüber durch Empfindungslosigkeit und „schlafendes Bewußtsein“. Sie erzeugt organische Substanzen direkt, was es ihr erspart, sich zu „bewegen und folglich auch etwas empfinden zu müssen“.71 Tiere sind zur Nahrungssuche gezwungen, zu Fortbewegung, und besitzen entsprechend ein zunehmend intensives Bewusstsein. Menschliches Leben ist wie tierisches motorisch. Zwischen Reiz und Reaktion besteht hier indes ein zerebraler Zwischenspalt,72 in den die Sprache eintritt – wegen dieser Zwischenzone zeichnet sich diese Lebensform durch Kreativität aus, die Erfindung von Werkzeugen, Energiequellen, Gefühlen, Gedanken. Es ist diese „Freiheit, die die menschliche Form in sich aufnimmt.“73 Von allen anderen Körpern unterscheidet sich der menschliche darin, dass er neue, anorganische Werkzeuge bastelt; von allen anderen Arten der Energieversorgung dadurch, die Materie neu zu entdecken; von allen anderen Nervensystemen durch die unbegrenzte „Zahl der Mechanismen, die es generie69 Ebd., S. 107. 70 Ebd., S. 137. 71 Ebd., S. 134. 72 ���������������������������������������������������������������������������� Die ‚zerebralen Mechanismen, die den Worten entsprechen‘, hemmen sich gegenseitig: Ebd., S. 211 f. 73 Ebd., S. 301. Plessner und Henri Bergson 27 ren kann“. Es ist ein Wesensunterschied zum Bewusstsein noch des intelligentesten Tieres, wobei Bewusstsein das „Vermögen der Wahl“ meint, „koextensiv“ zur Vielfalt der möglichen Handlungen.74 Bergson ist erneut die Unvorhersehbarkeit wichtig. Es hätte andere Lebensformen geben können, auf anderen Planeten könnte das Leben unter Formen ‚abrollen‘, von denen wir keine Vorstellung haben.75 2.3 Plessner und Bergson: Das Politische und die Unergründlichkeit menschlichen Lebens Der virtuelle Dialog zwischen Bergson und Plessner vermag auch ein wenig Licht auf Plessners komplizierten Text Macht und menschliche Natur (1931) zu werfen. Auch hier hat Plessner auf Bergson verwiesen, wenn auch beiläufig. In diesem Buch sucht er bekanntlich eine Grundlegung der politischen Anthropologie, die Antwort auf die Frage, weshalb der Mensch nicht als Menschheit, sondern in Stämmen, Ethnien, Völker, Nationen differenziert vorkommt, weshalb er ‚volkhaft‘ oder politisch lebt. Die Begründung liegt für Plessner in der Unergründlichkeit dieses Lebewesens, seiner Unbestimmbarkeit und Unerschöpflichkeit. Diese Begriffe seien keine „negativen Grenzbegriffe“, sie suchten keine „asymptotische Anschmiegung an das Leben […] (vgl. Bergson)“, vielmehr gehe es um eine „positive Haltung im Leben zum Leben, die um seiner selber willen die Unbestimmtheitsrelation zu sich einnimmt“. Indem sich der Mensch als nicht festgestellt, offen, unerschöpflich erkennt, fasst er sich „als Macht“, als Können – als Fülle an Möglichkeiten. Deren Aktualisierung ist stets ein Akt der Differenz. Indem man eine Möglichkeit ergreift, grenzt man „unendlich andere Möglichkeiten des Selbstverständnisses und des Weltbegreifens“ aus.76 Plessner erläutert diese zentrale Passage mit Verweis auf Wilhelm Dilthey und seinen Interpreten Georg Misch. Den Menschen als sich selber unergründlich sehen, heiße, „in der Richtung des Lebens selber denken, das von Individuation zu Individuation fortschreitet“, ohne einen tragenden „Lebensuntergrund“ anzunehmen. Vielmehr 74 Ebd., S. 298. 75 Ebd., S. 289 f. 76 H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1985, S. 135234, hier S. 189. 28 Heike Delitz sei das „‚natürliche‘ Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart“ als Verhältnis der „Immanenz“ zu denken. Die Vergangenheit durchdringe unser Leben als ‚Herkunft‘ und öffne sich in die Gegenwart, „in das hinein, was wir faktisch schon sind“.77 Unergründlichkeit heißt mithin, dass sich das menschliche Leben als „vergangenes und gewordenes“ entdeckt und damit als eines, bei dem nicht fest steht, wohin es geht, das unvorhersehbar ist. Im Blick auf die offene Zukunft entdeckt der Mensch „seine Macht über die Vergangenheit“ – die theoretische Macht, diese zu definieren; die politische Macht, die Vergangenheit zu gestalten. Jede Generation wirkt „auf die Geschichte zurück und macht sie darin zu jenem Unabgeschlossenen, Offenen und ewig sich Erneuernden […] Das Prinzip der Verbindlichkeit des Unergründlichen ist die zugleich theoretische und praktische Fassung des Menschen als eines historischen und darum politischen Wesens.“78 Die Immanenz von Vergangenheit und Gegenwart, die Abhängigkeit der Vergangenheit von der Gegenwart und die Unvorhersehbarkeit – all dies sind prominente bergsonsche Konzepte. Vergangenheit und Gegenwart dürfen wir uns, so hatte Bergson in Materie und Gedächtnis gezeigt, nicht als einander ablösende Zeitabschnitte vorstellen. Vielmehr ist die Erinnerung eine Aktivität in der ‚Aufmerksamkeit auf das Leben‘, auf die aktuelle Situation im Dienst der Handlung. Im Grenzfall der ‚reinen‘ Erinnerung ist die Aufmerksamkeit auf das Leben dabei entspannt, während sie im Fall der aktuellen Handlung auf das größtmögliche Maß gespannt ist. Der Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist nur graduell und fließend. Damit hört die Vergangenheit auf, ein fixes Reservoir möglicher Handlungen zu sein, die das Handeln determinieren. Die Gegenwart ist nicht in der Vergangenheit vorgebildet, vielmehr ist sie es, welche die Erinnerungen schafft.79 Das Problem dominierte bereits Zeit und Freiheit80 (eben77 Ebd., S. 186 f. 78 Ebd., S. 183 f. 79 Vgl. H. Bergson, Materie und Gedächtnis, Kap. II. In der Vorlesung Elemente der Metaphysik. Eine Vorlesung aus dem Wintersemester 1931/32 (Berlin 2002) nimmt Plessner auf diese bergsonsche ‚Erinnerung‘ ausdrücklich Bezug: „Mein Erinnerungsschatz wächst dauernd in der Richtung meines Lebens. Bergsons Darstellung: [Skizze] Der Schatz der Erinnerung wächst in dem Maße, als sich die Spitze in das Zukünftige hineinstößt.“ (ebd., S. 54) Bei Bergson (ebd., S. 67) hieß es, unser Leib sei die „vordringende Spitze, die unsere Vergangenheit unaufhörlich in unsere Zukunft stößt“. 80 H. Bergson, Zeit und Freiheit. Eine Abhandlung über die unmittelbaren Bewußtseinstatsachen (1889), Hamburg 1994. Plessner und Henri Bergson 29 so wie die Grundidee der Unterscheidung zweier Mannigfaltigkeiten, von temps und durée als simultane respektive sukzessive Vielfalt, diskontinuierliche Vielfalt des Neben- und kontinuierliche Vielfalt des Nacheinander): Das Problem nämlich, die menschliche Freiheit so zu formulieren, dass man es wirklich mit einem Denken der Kreativität, des Neuen zu tun hat – ein Denken der Freiheit als Indeterminiertheit. Halten wir also fest, dass Plessners Unergründlichkeit mit Bergsons Unvorhersehbarkeit übereinkommt. Halten wir weiter fest, dass dies die zentrale Einsicht Bergsons ist, sein stets wiederkehrendes Argument – das bereits angesprochene Argument, das sich gegen die Auffassung des Wirklichen als Sein richtet.81 Der üblichen retrograden Logik scheint die Wirklichkeit im Begriff des Möglichen immer schon existiert zu haben; die Gegenwart erscheint als Verwirklichung bestehender Möglichkeiten. Impliziert ist in einem solchen Denken der historischen (und politischen) Existenz des Menschen stets, dass nie „etwas neu auftaucht“, nichts „geschaffen wird“.82 Das ganze bergsonsche Projekt ist demgegenüber, die Realität als „unaufhörliche Schaffung von Möglichkeiten und nicht allein von Wirklichkeiten“ sichtbar zu machen.83 Dass das Wirkliche unvorhersehbare, ständige Veränderung ist, gilt nicht allein für das menschliche Leben, aber vor allem für dieses; nicht zuletzt für das soziale oder politische Leben. „Die Tür wird offen bleiben für immer neue Schöpfungen“, heißt es in Die beiden Quellen der Moral und der Religion in Bezug auf affektive soziale Ideen, um die herum Institutionen, Kollektive, Gesellschaften entstehen. Institutionen wie Gesellschaften gehen weder auseinander hervor, noch sind sie aus fixen Bedürfnissen erklärbar. Es handelt sich um veritable soziale Erfindungen.84 Insofern es dieser Philosophie also immer erneut (auch im Blick auf das politische Selbstverständnis des 81 ������������������������������������������������������������������������������������ Die ‚retrograde‘ oder ‚retroaktive Bewegung des Wahren‘ wird kritisiert in: H. Bergson, „Einleitung (Erster Teil)“; die Kritik negativer Begriffe (des Möglichen gegenüber dem Wirklichen; des Nichts gegenüber dem Sein; der Unordnung gegenüber der Ordnung) in: H. Bergson, Schöpferische Evolution, Kap. IV. Vgl. H. Bergson, „Das Mögliche und das Wirkliche“, und H. Bergson, Philosophie der Dauer, hrsg. von G. Deleuze (Mémoire et vie, 1957), Hamburg 2013. 82 H. Bergson, „Einleitung (Erster Teil)“, S. 34 und S. 37 f. 83 Ebd., S. 32. 84 H. Bergson, Die beiden Quellen der Moral und der Religion (1932), Frankfurt a. M. 1992, S. 60 f. Bergsons vitalistische Gesellschaftstheorie wird u. a. implizit von C. Castoriadis fortgeführt: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie (1964/1975), Frankfurt a. M. 1984. Vgl. zu diesen und anderen Bergson-Übernahmen H. Delitz, Bergson-Effekte, Kap. III und R. Seyfert, Das Le- 30 Heike Delitz Menschen) und durchaus emphatisch um die menschliche Freiheit geht, insofern ergänzt sie Plessners Projekt erneut kongenial. Fazit Plessner und Bergson waren einander nicht wirklich Zeitgenossen, nicht so sehr, weil Bergsons Hauptwerke Jahrzehnte vorher erschienen, sondern weil er erst spät besser verstanden wurde. Zieht man beide Philosophien des organischen und menschlichen Lebens zusammen, erlaubt dies zunächst – von Plessner zu Bergson gesehen – die französische philosophische Anthropologie als solche, d. h. als Konzeption des Menschen zu verstehen, und zwar entlang jener Perspektive, in der sich jede Realität als werdende sowie als eine darstellt, die sich durch Intensitäten (verschiedene durées) auszeichnet; und als jene Perspektive, die alle philosophischen Probleme als Probleme der Zeit behandelt. Selbst die anorganische Materie hat ihr Werden, Potentiale der Formung, die in die Individuierung der Lebewesen involviert sind.85 Von Bergson aus zu Plessner geblickt, wird die Philosophische Anthropologie als eine sichtbar, die eher vom Denken des Raumes her argumentiert. Daher erscheinen beide Lebenstheorien und ihre soziologischen Theorien als komplementär. Natura naturans und natura naturata; das unvorhersehbare Werden (Unergründlichkeit) und die stets vorläufige, kontingente Individuation – die Aufmerksamkeiten liegen jeweils auf der anderen Seite. In jedem Fall teilen beide die Betonung der kreativen Form des Menschen, der positiven, Institutionenschaffenden Fähigkeit. Letztlich speisen sich beide aus einem womöglich identischen Antrieb: Indem sie das Leben als Subjekt und Objekt denken, vollziehen beide den „vital turn“86 im Denken des Menschen wie seiner Sozialverhältnisse, seiner sozialen Erfindungen, Bedürfnisse und Affekte. ben der Institutionen. Aspekte einer Allgemeinen Theorie der Institutionalisierung, Weilerswist 2011. 85 G. Simondon, L’individu et sa genèse physico-biologique; l’individuation a` la lumière des notions de forme et d’information, Paris 1964; ders., L’individuation psychique et collective: A la lumière des notions de Forme, Information, Potentiel et Métastabilité (posthum 1989/unveröffentlicht 1964), Paris 2007; Vgl. ders., Die Existenzweise technischer Objekte (1958), Zürich 2012. 86 J. Fischer, „Kommentar zu Heike Delitz“, in: ders., S. Moebius (Hrsg.), Kultursoziologie im 21. Jahrhundert, Wiesbaden 2014, S. 52-56, hier S. 54 f.