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Rezension Zu Joss, Anna: Anhäufen, Forschen, Erhalten. Die Sammlungsgeschichte Des Schweizerischen Nationalmuseums 1899 Bis 2007. Baden 2016, In: Francia Recensio, 16.03.2017

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Francia­Recensio 2017/1 19.‒21. Jahrhundert ‒ Époque contemporaine Anna Joss, Anhäufen, forschen, erhalten. Die Sammlungsgeschichte des  Schweizerischen Nationalmuseums 1899 bis 2007, Baden (Hier und Jetzt) 2016,  310 S., 50 s/w Abb., ISBN 978­3­03919­377­6, CHF 59,00. rezensiert von/compte rendu rédigé par Johannes Zechner, Berlin Museen treten primär als Ausstellungsveranstalter ins Blickfeld der Öffentlichkeit, während ihre oft  umfangreichen Sammlungen bedauerlicherweise weit weniger Beachtung erfahren. Ein ähnlicher  Befund gilt für die mittlerweile ausdifferenzierte Forschungsliteratur, in der Praktiken des Deponierens  bisher noch deutlich seltener zum Thema werden als solche des Exponierens. Indes beeinflusst die  Gesamtheit der aufbewahrten Musealien gerade bei Dauerausstellungen wesentlich, welche Themen  überhaupt präsentierbar und welche Zugänge dafür wählbar sind. Die jeweilige Sammlungspolitik  unterliegt einerseits finanziellen, politischen und/oder wissenschaftlichen Konjunkturen, andererseits  können Traditionen der Kollektionsgeschichte bis in die Gegenwart zu gewissen Pfadabhängigkeiten  führen. Vor dem skizzierten Hintergrund verspricht die Züricher Dissertation von Anna Joss  geschichtswissenschaftliche Einblicke in die Sammlungen des 1898 ebendort eröffneten  Schweizerischen Landesmuseums (heute institutionell Teil des Schweizerischen Nationalmuseums).  Innerhalb des kantonsbasierten Kulturföderalismus bedeutete die bundesstaatliche Einrichtung zur  Pflege »vaterländischer Alterthümer« eine bewusste Anomalie, die schon zeitgenössisch nicht ohne  Kritik blieb – Parallelen zur bundesrepublikanischen Auseinandersetzung der 1980er­Jahre um das  Deutsche Historische Museum und das Haus der Geschichte drängen sich geradezu auf. Ungeachtet  ablehnender Stimmen konnte Joss zufolge das Museum, dessen Standort Zürich erst in einem  Städtewettbewerb entschieden wurde, seinen Bestand von anfangs knapp 8200 auf aktuell über  840 000 Objekte mehr als verhundertfachen. Der professionelle Umgang mit einer derartigen Objektmasse erforderte Strategien des  Inventarisierens, Klassifizierens, Konservierens und Restaurierens, deren Wandel die Arbeit durch  einen »praxeologischen Zugang« (S. 15) nachzeichnen will. Im Fokus der wissensgeschichtlich  ausgerichteten Untersuchung stehen daher nicht nur wie meist üblich Kulturpolitiker und Direktoren,  sondern auch die Arbeitsebene der Kustoden und Restauratoren. Den Objekten selbst billigt Joss –  anders als gewisse Ansätze der Material Culture Studies – keinen expliziten Akteurstatus im Sinne  von Handlungsmacht zu, verweist aber nachvollziehbar auf eine »beträchtliche Überzahl der Dinge  gegenüber den Menschen« (S. 24). Ferner kritisiert sie zu Recht Vorstellungen über dauerhaft in  Depot oder Vitrine stillgestellte Musealien, da diese die beobachtbare Dynamik von  Lizenzhinweis: Dieser Beitrag unterliegt der Creative­Commons­Lizenz Namensnennung­Keine kommerzielle Nutzung­Keine  Bearbeitung (CC­BY­NC­ND), darf also unter diesen Bedingungen elektronisch benutzt, übermittelt, ausgedruckt und zum  Download bereitgestellt werden. Den Text der Lizenz erreichen Sie hier: https://creativecommons.org/licenses/by­nc­nd/4.0/ Alterungsprozessen und Bedeutungsverschiebungen ignorieren. Das Kapitel »Anhäufen« widmet sich der Situation in den ersten drei Jahrzehnten, deren Kennzeichen  Joss gemäß der »notorische Platzmangel« (S. 90) darstellte: Nachdem die Errichtung des  Museumsgebäudes ohne genauere Kenntnis der zu erwartenden Objektkategorien erfolgt war, wurde  schon wenig später ein Erweiterungsbau gefordert. Bedingt durch ein breites kulturhistorisches  Sammlungsprogramm mit implizitem Vollständigkeitsanspruch, kam als verstärkender Problemfaktor  noch das Ideal einer Komplettpräsentation der aufbewahrten Objekte hinzu. Zumindest temporäre  Abhilfe boten neben einer Einschränkung des Sammlungsprofils und dem Aufbau zusätzlicher  Depotflächen die Reduktionspraktiken Tausch, Verleih und Verkauf, wobei das Museum weiterhin im  Sinne der Prestigesicherung Qualität wie Quantität seiner Bestände betonte. Ab den 1930er­Jahren stand laut Joss das »Forschen« im Zentrum der Museumstätigkeiten, auch um  im Kontext von Fälschungs­ und Kunstraubvorwürfen wichtiges Detailwissen über die verwahrten  Objektmassen zu generieren. Anfangs dominierte dabei noch kunsthistorische Kennerschaft, die aber  qua Herangehensweise Kontextwissen fast vollständig ausblendete. Bald gewannen dann moderne  chemische und physikalische Verfahren der Materialanalyse an Bedeutung, die wesentlich zu  Fortschritten in den objektbezogenen Bereichen Konservierung und Restaurierung beitrugen.  Zusammenhängend mit einer solchen Verschiebung »von der Werkstatt hin zum Labor« (S. 141) kam  es zur fortgesetzten Professionalisierung des Museumspersonals, das aber binnenhierarchisch  bezüglich Ansehen und Bezahlung zwischen wissenschaftlichen und technischen Tätigkeiten  geschieden blieb. Im letzten Kapitel »Erhalten« behandelt Joss die Entwicklungen seit etwa 1960, als zunächst der  bessere Schutz der Objekte vor Feuchtigkeit, Licht und Schädlingen sowie das Ideal reversibler  Restaurierung im Vordergrund standen. Später vollzog sich eine »Wiederentdeckung der  Ausstellungspraxis« (S. 176), deren Konzentration auf historische statt wie früher kunstgeschichtliche  oder kunstgewerbliche Themen erhebliche Einseitigkeiten der Sammlungsbestände offenlegte.  Begleitet war diese Umorientierung von der Etablierung von Filialmuseen im französisch­ und  italienischsprachigen Landesteil, ergänzt um die Gründung eines Forums der Schweizer Geschichte  Schwyz. Schlusspunkt der Studie ist das Jahr 2007, in dem das Museum außerhalb Zürichs einen den  zeitgemäßen Standards entsprechenden Komplex für Deponierung, Konservierung und Restaurierung  einweihte. Joss leistet mit ihrer Sammlungsgeschichte trotz noch zu benennender Kritikpunkte einen  ansprechend illustrierten und insgesamt lesenswerten Beitrag zu einem weiterhin unterrepräsentierten  Forschungsfeld. Auf Basis von Akten, Interviews, Museumsveröffentlichungen und Objektbiographien  kann sie Entscheidungsprozesse und Arbeitsweisen am Schweizerischen Fallbeispiel so detailliert wie  überzeugend rekonstruieren. Allerdings wäre der dritte Teil angesichts seines Themenschwerpunkts  Lizenzhinweis: Dieser Beitrag unterliegt der Creative­Commons­Lizenz Namensnennung­Keine kommerzielle Nutzung­Keine  Bearbeitung (CC­BY­NC­ND), darf also unter diesen Bedingungen elektronisch benutzt, übermittelt, ausgedruckt und zum  Download bereitgestellt werden. Den Text der Lizenz erreichen Sie hier: https://creativecommons.org/licenses/by­nc­nd/4.0/ besser mit »Ausstellen« und nicht »Erhalten« überschrieben, zudem haben es leider einzelne  unschöne Zitatwiederholungen (etwa S. 43 zu S. 55 sowie S. 178 zu S. 179) in die Veröffentlichung  geschafft. Ferner trübt sich der Gesamteindruck an manchen Stellen (etwa S. 62, S. 79f. sowie  S. 196–198) durch den Modus der Auseinandersetzung mit der Literaturlage: Deren Positionen  scheinen dort mittels Verweis auf eigene Ergebnisse generell für obsolet erklärt zu werden, ohne  jedoch eine übergreifende Aussagekraft des gewählten Untersuchungsgegenstandes zu belegen. Weitergedacht stellt das besprochene Buch aber historisches Hintergrundwissen bereit, das zu einer  Versachlichung der auch über die Schweiz hinaus geführten Deakzessions­Debatten beitragen möge.  Zumindest nach Meinung des Rezensenten böten ethisch reflektierte Leitlinien nichtkommerzieller  Teilentsammlung den Museen die Chance auf periodische Neuausrichtungen ihrer Objektpolitik, statt  bei de facto immer begrenzt bleibenden Finanzmitteln ihre überbordenden Bestände nicht mehr  gebührend für die Nachwelt bewahren zu können. Durch den gewonnenen Spielraum würden sich  dann wohl wissenschaftliche und gesellschaftliche Akzentverschiebungen auch zeitnäher in der  Etablierung neuer Sammlungsgebiete niederschlagen. Lizenzhinweis: Dieser Beitrag unterliegt der Creative­Commons­Lizenz Namensnennung­Keine kommerzielle Nutzung­Keine  Bearbeitung (CC­BY­NC­ND), darf also unter diesen Bedingungen elektronisch benutzt, übermittelt, ausgedruckt und zum  Download bereitgestellt werden. Den Text der Lizenz erreichen Sie hier: https://creativecommons.org/licenses/by­nc­nd/4.0/