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Ring-vo: Sozialwissenschaften Und Gesellschaftlicher Wandel Aktuelle Debatten (step I) Ws Lv Nr. (soz):

Ring-VO: Sozialwissenschaften und gesellschaftlicher Wandel aktuelle Debatten (STEP I) WS LV Nr. (SOZ): STAAT POWI / Colin Hay / (What s Marxist about) Marxist State Theory? SOZ / Emmerich

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Ring-VO: Sozialwissenschaften und gesellschaftlicher Wandel aktuelle Debatten (STEP I) WS LV Nr. (SOZ): STAAT POWI / Colin Hay / (What s Marxist about) Marxist State Theory? SOZ / Emmerich Tálos / Der Siegeszug des österreichischen Sozialstaats ( ). GLOBALISIERUNG SOZ / Birgit Mahnkopf / Zukunft der Arbeit: Globalisierung der Unsicherheit PKW / Noam Chomsky / Konsens ohne Zustimmung: Wie man das Bewusstsein der Öffentlichkeit reglementiert. MIGRATION SOZ / Annette Treibel / Migration in modernen Gesellschaften. POWI / Ljubomir Bratić / Rassismus und migrantischer Antirassismus in Österreich Verfasser: Philipp Männer a , 033/505 Anrechnung für: 033/505, SOZIOLOGIE Wien, Der Staat Annäherungsversuche 1 Der moderne Staat als Phänomen geregelter sozialer Kooperation ist auf den ersten Blick nicht gerade übersichtlich und leicht zu durchschauen. Welche Perspektive unter den vielen vorhandenen aber überhaupt als Ausgangspunkt einnehmen, welche als nächstes? Erschwerend kommt für die Sozialwissenschaft hinzu, dass der Staat als Gegenstand der Untersuchung, auch wenn dies individuell nicht unbedingt erfahrbar sein muss, dem sozialen Wandel unterliegt. Einmal gewonnene (empirische wie theoretische) Einsichten in das Staatswesen laden daher stets zu einer späteren Hinterfragung ein. Der marxistische Blick auf den Staat Im Folgenden soll uns der 125. Todestag von Karl Marx als Anlass dafür dienen, uns ein wenig den Marx'schen bzw. marxistischen Vorstellungen vom Staat zuzuwenden und zu versuchen, deren Relevanzstatus für die Gegenwart nachzuspüren. Praktikabel erscheint es, dazu aktuelle staatstheoretische Einführungs bzw. Überblicksliteratur heranzuziehen, konkret das englischsprachige (Lehr )Buch The State. Theories and Issues. Dessen gesammelte Beiträge sollen u.a. Studenten der Soziologie und Politikwissenschaft die Vielfalt theoretischer und analytischer Traditionen, die als Ressourcen für die politische Analyse des zeitgenössischen Staates verfügbar sind, nahebringen (vgl. Hay et. al. 2006: xv;2). Für uns von näherem Interesse ist das vom Mitherausgeber Colin Hay er ist Politologe an der Universität von Birmingham verfasste Kapitel zur marxistischen Staatstheorie, betitelt (What's Marxist about) Marxist State Theory?. Welche Vorstellungen entwickelten Marxisten also zum Thema Staat? Hay liefert hierzu ernüchternde Feststellungen: the definitions [of the state, Anm.d.Verf.] offered by Marxists are often implicit rather than explicit [...] This makes it somewhat difficult to identify any analytically precise Marxist definition of the state (Hay 2006: 60); außerdem: [T]he state has meant (and continues to mean) many things to many Marxists (ders., 62). Er selbst begegnet diesen Schwierigkeiten in zweierlei Hinsicht: Zunächst durch die Konstruktion einer Basistypologie marxistischer Staatstheorie. Später, und in größerem Umfang, versucht er dann, den ideengeschichtlichen Entwicklungsgang marxistischer Staatstheorien bzw. heuristiken von den Ursprüngen bei Marx und Engels über Lenin und Gramsci bis zu zeitgenössischen Theoretikern wie Block und Jessop nachzuzeichnen. Da Hay's Typologie sich tatsächlich gut für den 1 POWI: Hay, Colin (2006): (What s Marxist about) Marxist State Theory? In: Hay, Colin; Lister, Michael; Marsh, David (ed.). The State. Theories and Issues. Palgrave Macmillan, Houndmills/Basingstoke/Hampshire. p SOZ: Tálos, Emmerich (2005): Der Siegeszug des österreichischen Sozialstaats ( ). In: Ders.,Tálos, Emmerich. Vom Siegeszug zum Rückzug. Sozialstaat Österreich Studien Verlag, Innsbruck. Kap. 1: S Einstieg in das angedeutete Theoriendickicht eignet, welches hier aus Platzgründen ohnehin nicht wiedergegeben werden kann, bietet sich ein kurzer Abriss an. Er unterscheidet folgende marxistische Grundsichten dahingehend, was der kapitalistische (!) Staat sei: (I) repressiver Apparat bzw. Arm der Bourgeoisie, (II) Instrument der herrschenden Klasse, (III) idealer kollektiver Kapitalist und (IV) ein Faktor des sozialen Zusammenhalts (Hay 2006: 60 62). Unter den genannten ist die am häufigsten vertretene die instrumentalistische Sicht des Staates, unter der es auch wiederum eine große Spannbreite an Positionen gibt. Die Instrumentalisierung geschieht demnach durch Personen in strategischen Positionen, die ihre Interessen durchsetzen, indem sie entweder direkt die Staatsordnung (state policies) manipulieren oder Druck auf den Staat ausüben (vgl. Hay 2006: 61). Klingt dies in Bezug auf den modernen Rechtsstaat nicht ein wenig verschwörungstheoretisch? Dass dies auch unter heutigen Bedingungen zumindest partiell nicht gänzlich unmöglich ist, kann vielleicht folgender Fall (vgl. Bleich 2008) zeigen: Die deutsche Musikindustrie will musiktauschende InternetbenutzerInnen zur Kasse bitten, kann selbst aber nur deren IP Adressen ermitteln die zugehörigen Personendaten händigen die Provider aus Datenschutzgründen nicht aus. Also spannt sie durch massenhaft (1. Druckfaktor) kaum aussichtsreiche Strafanzeigen die Staatsanwaltschaft (StA) für die Ausforschung der BenutzerInnen ein, um diesen dann vielmehr auf dem Abmahn bzw. Zivilrechtsweg systematisch zu leibe zu rücken. Die StA, merkend, wie sie für Partikularinteressen instrumentalisiert wird, will dies einbremsen, wird aber sogar, auf höhere Intervention von Vertretern der Medienindustrie hin (2. Druckfaktor), angehalten, die betreffenden Fälle zu prioritisieren. Ob dieses Beispiel allerdings eines im Sinne marxistischer StaatstheoretikerInnen wäre, ist insofern offen, als man Näheres zur Instrumentalisierungstheorie bei Hay vergeblich sucht. Dies scheint aber an den marxistischen Quellen selbst zu liegen; sogar bei den Gründervätern des Marxismus lassen sich nur höchst kryptische bzw. mehrdeutige Formulierungen zum Thema Staat finden (Hay 2006: 68). Im Einklang damit lautet daher Hay's zentrale These: There is no (single) Marxian, far less Marxist, theory of the state (ders.:65). Ob man dem zustimmen kann, hängt freilich wesentlich davon ab, wie eng man den Terminus Theorie einerseits, das Merkmal marxistisch andererseits definiert. Natürlich müsste man Hay widersprechen, verstünde man, ganz allgemein, Theorie als Vorstellungen über gewisse Tatsachen und Zusammenhänge und das Attribut marxistisch als geistig auf Marx und Engels zurückgehend, schließlich liegt derlei Gedankengut nachweislich vor. Obwohl Hay seine begrifflichen Prämissen nicht darlegt, wird er es so aber kaum gemeint haben, eine solche Interpretation hätte wenig sozialwissenschaftlichen Gehalt. Vielmehr deutet einiges darauf hin, dass er deswegen nicht von marxistischer Staatstheorie sprechen will, weil es dieser an Erklärungsgehalt 3 bzw. Vorhersagekraft mangelt (vgl. ders.: 63;76). Genauso könnte man ins Treffen führen, dass marxistische Vorstellungen zum Staat als solche nicht einheitlich genug sind (vgl. ders.: 65), um als systematische Theorie durchzugehen. Dies macht aber noch nicht verständlich, warum es auch keine marxistische Staatstheorie geben könne, wie er an anderer Stelle (vgl. ders: 76) behauptet. Möglicherweise meint Hay, dass es zu viele Widersprüche gibt, die sich nicht vereinen lassen, oder er meint es so, dass er das Attribut marxistisch der Vergangenheit zuordnet und bei zeitgenössischen und zukünftigen Theoriearbeiten nur mehr das Attribut postmarxistisch gelten lässt, weil inhaltlich zunehmend das spezifisch Marxistische verloren geht. Sinn und Relevanz des marxistischen Blicks auf den Staat Lässt man aber für einen Moment die (Streit )Frage beiseite, ob die marxistischen Vorstellungen zum Staat nun als hinlänglich marxistisch, einheitlich oder theoretisch anzusehen sind oder nicht, kann eine vielleicht wichtigere Frage zum Vorschein kommen: Wozu eigentlich das Ganze? Genauer gefragt: 1. Wozu entwickelten Marxisten eigene Theorien zum Staat, und, daran anschließend: 2. Wozu kann marxistische Staatstheorie heute noch von Nutzen sein ist sie nicht vielleicht veraltet, überholt? Auf die erste Frage, lässt Hay (vgl. Hay 2006: 63ff.) wissen, existieren aus der marxistischen Ecke selbst keine befriedigenden Antworten, man könne sie aber interpretativ anhand der theoretischen Inhalte und politischen Konnotationen zu beantworten versuchen. Unterstellt man also, wie Hay, die Marxisten hätten eine solche Theorie für ihre politischen Ziele in irgendeiner Form gebraucht, kann man versuchen, deren Existenzzweck dahingehend zu ergründen bzw. zu rechtfertigen. Denn das Ziel ist ja bekannt: Der Marxismus will zur Überwindung bzw. sozialen Transformation des Kapitalismus beitragen. Doch dieser reproduziert sich bemerkenswerterweise äußerst hartnäckig. Wenn die erkennbar stattfindende Reproduktion kapitalistischer Sozialbeziehungen aber irgendeiner Institutionalisierung bedarf, argumentiert Hay (ebda.) dabei den deutschmarxistischen state derivationists folgend, dann sei es naheliegend, dass die dafür notwendigen Institutionen staatlicher Natur bzw. stark staatlich reguliert sind. Von daher das marxistische Interesse für den Staat. Zur zweiten Frage, was heutige nichtmarxistische Zeitgenossen davon haben könnten, liefert Hay die folgenden Argumente (vgl. Hay 2006: 76ff): Marxistische Theorien bzw. Heuristiken tragen nachwievor zum Verständnis des kapitalistischen Staates bzw. dessen Krisen bei, und ein solches sei auch für Nichtmarxisten von Interesse. Man kann dies auch weiter denken: Selbst kapitalistische Klassenfeinde könnten sich heute im Extremfall marxistischer Theorien bedienen, um festzustellen, welche staatlichen Aspekte für den Kapitalerhalt bzw. gewinn besonderer Aufmerksamkeit 4 bedürfen, d.h. wofür sich Lobbying lohnen könnte. Die marxistische Staatstheorie kann uns aber vielleicht noch einen weiteren, allgemeineren Aspekt in Bezug auf den Staat verdeutlichen helfen, nämlich: Voraussetzung für das marxistische Ziel, Staatstheorie für die politische Handlungsorientierung zu verwenden, was man heute im weitesten Sinn als technologisches Theorieverständnis (vgl. Schulz 1998: 61f.) bezeichnen könnte, muss die Ansicht bzw. Einsicht sein, dass der Staat ein von Menschen mehr oder minder systematisch organisiertes Gebilde ist und daher auch dessen mehr oder minder systematische Veränderbarkeit durch Menschen anzunehmen. Eine Sache kann man lt. Hay (2006: 59) aber durchaus gegen die marxistische Staatstheorie ins Treffen führen: Ihren doch begrenzten Erfolg hinsichtlich der ersehnten Transformation der sozialen Wirklichkeit. Erfolg ist allerdings immer eine Frage des Blickwinkels. Denn mögen auch marxistische Vorstellungen letztlich nicht zu den von ihnen explizit angestrebten Effekten geführt haben, so haben sie doch nachweislich die soziale Wirklichkeit nicht nur negativ verändert bzw. beeinflusst. Zuweilen wird die Marx'sche Lehre samt Abwandlungen gar als die am politisch einflussreichste in der Neuzeit gesehen (Schulz 1998: 115). Dies machte sich nicht zuletzt auch im Bereich des Staates bemerkbar. Nehmen wir die staatliche Sozialversicherung als konkretes Beispiel, heute für viele Europäer eine Selbstverständlichkeit. Dem Sozialrechtswissenschaftler Theodor Tomandl (2005) zufolge sollte in ihren Anfängen in Deutschland die gesetzliche Sozialversicherung [...] den Arbeitern deutlich die Unrichtigkeit der marxistischen These vor Augen führen, dass der Staat ein Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie zur Unterdrückung des Proletariats darstellte (ders., S. 13). Die gesetzliche Sozialversicherung als solche hat zweifelsohne zur Verbesserung der Lebensbedingungen vieler Menschen geführt, freilich ursprünglich nicht im marxistischen Sinn, wurde sie doch anfänglich heftig von der Arbeiterbewegung bekämpft (ders., S. 14). Dies wiederum kann man auch als Beispiel für die Enge des marxistischen Blicks auf den Staat sehen. Blickwechsel: Der kapitalistische Staat übernimmt die soziale Sicherung Selbst wenn man dem Staat wie die Marxisten Kapitalismuserhalt als Hauptaufgabe zudenkt, so zeigt gerade die Sozialversicherung, dass der Staat, Kapitalismus hin oder her, auch andere Aufgaben zu übernehmen imstande ist. Im Hinblick auf die Aufgaben der sozialen Sicherung und Umverteilung spricht man dabei im sozialwissenschaftlichen Diskurs vom so genannten Sozialstaat. Wie kann man aber wiederum diesen Begriff mit Leben füllen? Sehen wir uns hierfür doch eine spezifische Ausprägung eines solcherart betitelten Staates an: Die 5 Republik Österreich. Dies zu tun heißt zugleich, die zuvor theoretische Sicht auf den Staat durch eine eher empirische zu ersetzen. Grundlage dafür wird in der Folge Emmerich Tálos' Werk Vom Siegeszug zum Rückzug. Sozialstaat Österreich bzw. im engeren Sinn das darin enthaltene Kapitel Der 'Siegeszug' des österreichischen Sozialstaats ( ) sein; der Verfasser, Politologe an der Universität Wien, forscht schwerpunktmäßig zum genannten Gegenstand (Tálos 2005: 95). Das Buch ist editorischer Teil eines Programmschwerpunktes der Wiener Vorlesungen im Jahr 2005; dessen Titel Österreich Zweite Republik. Befund, Kritik, Perspektive prägnant und doch unmissverständlich seine übergeordnete Ausrichtung beschreibt (vgl. Ehalt 2005: 7). Was sind also überhaupt die Kernaufgaben des österreichischen Sozialstaates? Tálos liefert darauf folgende Antwort: In einem nunmehr über hundert Jahre dauernden Entwicklungsprozess haben sich vier große Bereiche des österreichischen Sozialstaates herauskristallisiert: die soziale Sicherung mit den beiden Netzen der Sozialversicherung und Sozialhilfe, die Regelung der Arbeitsbedingungen und Arbeitsbeziehungen, die aktive Arbeitsmarktpolitik und der Komplex familienrelevanter Leistungen (Tálos 2005: 13) Damit lässt sich auch nicht länger verbergen, dass die Antwort auf die Frage nach der Anatomie des Sozialstaates selbst auf so abstrahierter Ebene letztlich zeitabhängig ist. Die beiden erstgenannten der erwähnten vier Zielsetzungen wurden etwa schon vergleichsweise früh im ausgehenden 19. Jahrhundert grundgelegt (vgl. ders.:15). Was der Sozialstaat für wen leistet, war und ist keineswegs unabänderlich. Dies wirft allerdings die Frage nach der Existenz von Kontinuitäten auf. In welchen Belangen kann man solche in der Entwicklung des österreichischen Sozialstaates aus welchen Gründen erkennen? Folgt man hier Tálos, so war der Zeitraum von jener mit der bisher höchsten wenn nicht gar einzigen Kontinuität im österreichischen Sozialstaat; er spricht von einer einheitlichen expansiven Entwicklung (vgl. ders.:14ff). Davor gab es sowohl Schübe als auch Stagnationen, Brüche genauso wie Rückschläge ein Zeichen konfligierender politischer Interessen und variierender Kräfteverhältnisse, danach standen differente Entwicklungen einander gegenüber. Von 1945 bis 1980 aber kam es zu einer kontinuierlichen Erweiterung des Kreises der gegenüber sozialstaatlichen Leistungen Anspruchsberechtigten einerseits (vgl. ders.:29f.) bzw. des konkreten Leistungsspektrums andererseits (vgl. ders.:27 29). Dieses Faktum ist auch im heutigen, distanzierteren Rückblick noch sehr beeindruckend. Je länger sich allerdings etwas in eine bestimmte Richtung entwickelt, umso angebrachter erscheint es, darüber nachzudenken, warum dies wohl so sein mag bzw. im Falle 6 Österreichs so gewesen ist. Aus welchen Gründen kam es also zur oben angeführten Periode des Siegeszugs des österreichischen Sozialstaates? Tálos spricht hier einerseits eher vorsichtig von einem begünstigenden wirtschaftlichen Umfeld für die fragliche Zeit: Ein stetiges und rasches Wachstum der österreichischen Wirtschaft ab den 1950ern bis in die 1970er ging ab den 1960ern einher mit so genannter Vollbeschäftigung am Arbeitsmarkt; dabei dominierte das vollzeitige, dauerhafte, sozial und arbeitsrechtlich erfasste Normalarbeitsverhältnis damals wesentlicher Referenzpunkt sozialstaatlicher Sicherung (vgl. Tálos 2005: 19f.). Auch für das politische Umfeld lassen sich begünstigende Faktoren benennen: Erstens gab es mit dem langjährigen parteipolitischen Duopol von ÖVP und SPÖ einerseits, sowie der sich herausbildenden so genannten Sozialpartnerschaft andererseits eine stabile dominierende politische Konstellation; zweitens verstand man den Staat einhellig als Akteur zur Steuerung der sozioökonomischen Entwicklung, überdies wurde Sozialpolitik für die Parteien zunehmend zum Baustein politischer Legitimation (vgl. ders. 21f.). Fast unnötig zu sagen, dass es im gegebenen politischen System ohne einen gewissen Konsens bzw. Kompromissbereitschaft wohl nicht funktioniert haben kann. Dass das Fehlen von Derartigem nicht eben förderlich für die Umsetzung politischer Ziele ist, lässt sich schon aus der aktuellen österreichischen Tagespolitik ableiten. In der Zeit der expansiven Entwicklung des österreichischen Sozialstaates bestand laut Tálos der ideologische Konsens konkret darin, dass man gesamtwirtschaftlich neben Preis und Währungsstabilität insbesondere Wirtschafts und Beschäftigungswachstum anstrebte, und letzteres wiederum als finanzielle Basis für die Sicherung und den Ausbau der Sozialpolitik sah (vgl. ders., S. 22). So richtig ergiebig sind Tálos' Bemerkungen in Bezug auf die Frage nach den Gründen der expansiven Entwicklung letztlich aber nicht was kein Vorwurf an ihn sein soll. Dies ergibt sich vielmehr aus der deskriptiven Ausrichtung des Bezugskapitels, die nur die Erläuterung von Kontexten und vorsichtige Deutungen nach sich zieht. Es mangelt an Erklärungen betreffend des simpel anmutenden Vorgangs der Ausweitung des Versichertenkreises etwa. Erkannten hier die Verantwortlichen gar nach und nach die gleichberechtigte Schutzbedürftigkeit weiterer Personen und handelten danach? Das glaube wer will. In der Krankenversicherung beispielsweise zielte die Ausweitung des Leistungsspektrums auf die Angehörigen schlicht auf eine finanzielle Entlastung der bereits Versicherten (!) ab; ohne diesen Kniff hätten diese aufgrund gesetzlicher Unterhaltspflichten selbst für die Kosten der Gesundheitsversorgung von Angehörigen aufkommen müssen 7 (Tomandl 2005: 62). Wie sind allerdings die Formung und Expansion des österreichischen Sozialstaates in der Zweiten Republik zu bewerten welche Probleme lassen sich ausmachen? Nach Tálos birgt die Grundstruktur des österreichischen Sozialstaats eine Reihe von Problemen (vgl. 35): Erstens führt die dominierende Koppelung des Versicherungsstatus an die Erwerbsarbeit, genauer: an das Normalarbeitsverhältnis zur Ausgrenzung nicht Erwerbstätiger sowie zur partiellen Schlechterstellung abweichender bzw. atypisch Beschäftigter (ebda). Schon 1979 waren daher rund Personen (0,7 % der Wohnbevölkerung) nicht krankenversichert (Tálos 2005: 30; eigene Ber.). Weiß man, dass es 2008 wegen des sozioökonomischen und demografischen Wandels bereits über Personen bzw. anteilig fast 2 % sind (Schenk 2008), lässt sich hier akuter Handlungsbedarf schon gar nicht leugnen. Und die Mitversicherung von Angehörigen ist insofern kritisch zu sehen, als z.b. durch sie für viele Frauen der soziale Schutz de facto vom Funktionieren der Ehe abhing (vgl. Tálos ), noch dazu obliegt die Beantragung dem Versicherten Stichwort: Machtmittel (vgl. Tomandl 2005: 63). Weitere strukturelle Probleme sieht Tálos (2005: 35) im Äquivalenzprinzip der Sozialversicherung demgemäß werden im (Geld )Leistungssystem 1. das Verarmungsrisiko nicht ausgeschlossen und 2. die Ungleichheiten im Erwerbseinkommen der Versicherten fortgeschrieben. Zum ersten Aspekt allerdings ist zu sagen, dass im österreichischen Sozialstaat grundsätzlich nicht der Ausschluss oder die Verhinderung von wesentlichen sozialen Risiken im Vordergrund steht (ob dies überhaupt möglich wäre sei hier dahingestellt), sondern die solidarische Hilfe bei deren Eintreten. Überdies kommt in punkto Armut der Sozialhilfe, und nicht der Sozialversicherung die soziale Sicherungsa