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Skandal Als Strategie – Wahn Als Gehäuse. Weibliche Boheme Und Sexuelle Moderne Um Die Jahrhundertwende

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f r, foäRä*äöfl GABRIELE DIETZE - WahnalsGehäuse. Skandal alsStrategie Weibliche Bohemeund Sexuelle Moderneum dieJahrhundertwende VORSPIEL Am 6. Juli rgro erschienin derRheinisch-W'estJiilischen Zeitung ohneAbdruckgenehmigung ElseLasker-Schülers Gedicht,,LeiseSagen": Du nahmstdir alleSterne Über meinemHerzen. Meine Gedankenkräuselnsich, Ich musstanzen. Immer tust du das,was mich aufschauenlässt, Mein Lebenzu müden. Ich kann den Abend nicht mehr iii uDer ctlenecKentrasen. Im Spiegelder Bäche Finde ich mein Bild nicht mehr.' Unter dem Gedicht steht ohne weiteren Kommentar: ,,Vollständige Gehirnerweichung, hören wir den Leser - leise sagen".' Else Lasker-Schüler revanchiert sich ironisch gegen die beleidigende Kritik, ,unfreiwillig komisch' zu dichten, mit einem Essay,das sie im Sturm veröffentlicht: Ich habekein Gedächtnismehr,seit bei mir Gehirnerweichungin Fragegekommenist [...] ist mein Psychiaternicht bei mir, fahr' ich zu ihm raus und bring ihm einen Kioß meinesGehirns [...] Venn der Psychiaternicht eindringlicher mich beobachtet,werde ich esder Redaktion der Zeitwg mitteilen, die mich bei der Gehirnerweichungertappten;siehabenihn doch ftir mich engagiert,und er muß seinePflicht tun.3 I z Lasker-Schüler ry96b,o7. ElseLasker-Schülers Ehemann,Herwarth Walden,verklagtdie Zeitung auf Beleidigungund Honorar. Zunächstwurde die Klageabgewiesen, da man bei der Zitation von ,Stilblüten'nicht verpflichtet sei, dasabgedruckteOriginal zu honorieren.Im dritten Prozessobsiegteman schließlichund bekam rückwirkend ein Honorar von zo Mark und die Prozesskosten ersetzt(Bauschingerzoo4, r8r-r8z). Lasker-Schüler t996a,ry7f. Der Essay heißt,,ContraB. und Genossen". B. ist dieAbkürzungdesfuchtersBraun,der zweiMal die KlageHerwarth \7aldenszugunstenLasker-Schülers abgewiesen hat. f;. Ks..rREK"ufl 1 2,84 GABRIELE T'IETZE ElseLasker-Schülers mit der Affirmation und dem Geste,eine'Wahnsinns-Etikettierung W'eiterspinnender Beleidigunganzunehmen,bildet dasMotto folgenderErkundung. \7enn ihre Lyrik als,verrückt'skandalisiertwird, richtet siesich im Skandalein und baut eine Beziehung mit ihrem Psychiaterauf Das allerdingsunter VorspiegelungfalscherTätsachen.Denn In dem wenig späterersie glaubt nicht an die Existenzeinespsychiatrischen'Wahnsinns. "' schreibtsie:,,Esgibt keinen Irrsinn im Sinneder Eisenbärte, schienenenText ,,Sterndeuterei aberwer wird mich nicht verspotten,wenn ich behaupte,esgibt eineVeränderungim Chaos der Menschen".aDie sterndeutendelcherzä.hlerindenkt also.dassdas.wasnocltals\üTahnsinn verstandenwird, einebislangunerkannte,aberschonvorhandeneVeränderungsignalisiert. Ich nehme mir hier die Freiheit, diese,Veränderung'als einen ProzessdesRe-Arrangements der Geschlechterbeziehungen zu lesenund im'Weiterendie Figurationder Bohemiennefür diesesArgument in Anspruchzu nehmen. BÜHNENBILD MIT _ ,,MEINE BRANCHE GEH I RN ERW'EICHUNG.. SIND IV'IRGESCHICHTEN i Gegenstandder folgendenÜberlegungensind Lebenswelten,Lebenswerkeund LebensarranBohemiennes:Dichterin ElseLasker-Schüler, Romanciöre gementsvon vier exzeptionellen Lou Andreasund FeuilletonistinFranziskaReventlow Essayistinund Psychoanalytikerin Salomdund Performance-Künstlerinund Malermodell ElsaFreJ.tag-Loringhoven. Die Zusammenstellungscheintzunächstheterodox.Zum einen wurden die Protagonistinnenin den Referenzdisziplinen Germanistik,Kunstgeschichte und Philosophiealsunterschiedlich bedeutendeingeschätzt. Zum anderenwurden siebislangin keinerZusammenschaubetrachtet.6Lasker-Schüler ist als Hochliteratur kanonisiert,Reventlowgilt alsleichte Muse, das 'Werk von Andreas-Salomd ist inzwischenganzhinter der SpektakularitätihresLebensstils ihrer und Nähe zu männlichenGeniesder Epocheverschwundenund von Frepag-Loringhoven existiertkein CEvreim klassischenSinne. und auch ihr eindrücklichesLebenskunstwerk [-asker-Schüler ry961:, 45. Sylke Kirschnik hat ftir diese Verfremdungs-Technik Else Lasker-Schülers folgende schöne Formulierung gefunden. Diese habe ,,nicht die realen Darsteller einer Schaustellung 6ktionalisiert, sondern den fktionalen Starus einer realen Schaustellung akzentuiert" (Kirschnick zoo7, zo (meine Kursivierung)). t 6 Franziskazu Reventlow, Briefan Franz Hesselvom z6.rz.19rr (Revendow zoo4a, 575) Am häufigsten findct man Andrea-s-Salomdund Rcvcntlow in Sammelbdndcn zu ,Fraucnlitcratur' der Jahrhundertwende zusammen erwähnt, die sich als Re-Kanonisierung vergessenerTexte verstehen und deshalb Lasker-Schüler als anerkannte Dichterin nicht mit berücksichtigen, siehe Gnüg r985 und Hollmer zoo9. Eine einzige vergleichende Behandlung von Revendow und Lasker-Schüler findet sich in einer recht deskriptiven Arbeit zur französischen und deutschen Boheme (Meyer zoor). f. sKANDAL ALs STRATEGIE- \rÄHN ers cgHÄusg {clTFKrun I 28t wird soebenerstwieder entdeckt.TUngeachtetder idiosynkratischenSelektionsoll behauptet werden,dassdie Auswahlder vier Protagonistinneneine exemplarische Diskurs-Formation zusammenftirgt, die eine dichte Beschreibungeiner bishervon der Forschungvernachlässigten Figurationenin deutschenweiblichenSexuellen Moderneermöglicht,in der die beschriebenen tü7erkund LebenskunstalseineArt von Lebensstil-Rebeilinnen betrachtetwerden. GemeinsameElementeergebensich über die Einzelstellungder Protagonistinnenin bestimmten städtischenBoheme-Kulturenin Berlin und München, ihre von der Bohemebewunderte und vom bürgerlichenPublikum als ,skandalös'angesehene Experimentierlustim Feld der Erotik und ihre mehrdimensionaleTeilhabean Diskursen, die \Yahnsinnins Zentrum stellen.Das betrift erstens dieTatsache,dassihr,abweichendesVerhalten'von Kritik und häufigauchKollegenal.s,wahnsinnig'und abgestempelt wird. Z.B. schreibt\WalterBenjamin zu Lasker-Schüler: Eine Besonderung ,,Sieist im Umgang leer und ftrank [...] hysterisch".s der hier untersuchtenFormation ist zudem zweitens,dassdie ProtagonistinnendasStigma 'Wahnsinn in ein Ehrenzeichenumwandeln.Ver-rücktheitwird aiskreativ,aggressiv und prort drittensmit einer Epochenduktiv exterritorialresignifiziert.Das wiederum korrespondie wahrnehmung,die von sich selbstund von anderenalsekstatischund verrückt qualifiziert wird, wie man vielenManifestationendesExpressionismus und Äthetizismus entnehmen kann.e Viertenskommt eszu einer zunehmendenDurchsetzungdesAlltagsselbswerständnissesmit psychiatrischenDiskursenund psychopathologisierendem Vokabular.'"Undfinftens fallt schließlichauf, dassalle Protagonistinnenin der einen oder anderen Weisedirekten Kontakt mit der zeitgenössischen Psychiatriehaben."Man kann alsosagen,dasssich in den zu untersuchendenFigurationenkulturelle,performative(im Sinnevon Provokation) und klinischeFeldervon \Tahnsinngegenseitig durchwirkenund für die Protagonistinnen 8 9 IO II Siehedie MonografieBaroness Eba. Gendcr,Dada, and EuerydayModernity(Gammel zooz), die auf der AusstellungNew YorhDADA und dem Fund der Herausgabeeinerenglischgeschriebenen Autobiografieder Baronessdurch PaulHjartarsonund DouglasSpetrigueausdem Jahretggzbxiert. Zur 'W'ahnsinns DiskussionFreytag-Loringhovens in Bezugauf eine Epistemologiedes siehedasKapitel ,,'Ihc Baroncss:An NcurasthenicArt History" flones zoo4, z-34). \W'alterBenjamin,Briefe(Herbert Belmore)5. Juli r9r4 (lKraftry95,62). Vgl. Langer99z und Anz r98o. Vgl. Roelcke1999und Radkau1998. So waren die hier untersuchtenProtagonistinnen z.B. als Patientinnenin der Massenpsychiatrie (FreJ'tag-Loringhoven (Lasker-Schüler in Eberswalde), alsPatientinnenin Nervensanatorien im,Haus Agnes'in Swinemünde,Reventlowin Montreux), in helfenderInterventionmit der,Rettung' psychiatrischerPatientenbeschäftigt(Reventlowund Lasker-Schülergegendie Zwangseinweisungund Entmündigung von Omo Gross,Lasker-Schüler fiir SennaHoy in der russischenPsychiatrieund ftir eineentfernteFreundinEliseBambusin Wittenau(Höfert zoog),oderhattenberullichmit Fragen der Therapiezu tun (Lou Andreas-Salomö a.lsPsychoanalytikerin). [-r. rqc:€RExTuFrl 286 GABRIELE DIETZE bilden, in denenEpochen-,Fremd-und Selbstbeurteilungen einefut von (Un)Sinn(s)raster changieren.''Es soll hier alsonicht in ersterLinie um Kritik an der Psychopathologisierung Rhetoeinerresignifizierenden kulturellerPraxengehen,sondernum dasHerauspräparieren alsVehikelvon luswollem Normbruch und der Erschließungerotischer rik des'Wahnsinns und kreativerQuellen. sichvon ihren männlichenContrepartsüber die ablehDie Bohemiennesunterscheiden Rezeptionihrer Exzentrizität,und die Tätsache,dassdiesesich auf ihnendegesellschaftliche konzentriert.Der modernemännliche Moralvorstellungen ren Bruch mit den herrschenden Libertin konnte durchausmit allgemeinenVorstellungenvon Sittlichkeitund auch mit Gesetzenin Konfikt kommen, wie esz.B. Frank'W'edekindmit seinenLulu-Dramen widerfuhr. eherbeneidet Er wurde aberob seinerFreizügigkeitvon bürgerlichenGeschlechtsgenossen als abgelehnt.Im herrschendenDoppelstandardwar der Libertin die offeneVarianteeines verdecktenSystemsmännlichersexuellerPrivilegien,der ,Kavaliersdelikte'wie Nötigung von Domestiken, Genussvon Prostitution, Verführung und Ehebruchunsanktioniertließ. Mander frühen BrückeMaler cheVariantender Libertinage,wie z.B. dasMaler/Modell-System unterschiedsich kaum von der (verdecktakzeptierten)Prostitution. Die weibliche Libertine dagegenwar um die Jahrhundertwendeeine von beiden GeschlechternverworfeneFiguration.Von den meistenFrauenverachtet,da sieihr eigenessymbolischesKapital, die Reputationtraditioneller\Teiblichkeit, zu entwertendrohten, wurde sie Ungeheuerdämonisiert und/oder als von den meistenMännern enrwederalskastrierendes das fundamental ,Andere'pathologisiert.'rDie Bohemewar alsofür Außenseiterinnennicht warennicht unnur Freistatt.Emotionale,sexuelleund materielleAusbeutungsverhältnisse siewurden nur andersinterpretiert.'a bedingt selteneralsin der ,anständigenGesellschaft', werdenhier allerdingsnur der Fairnessund Vollständigkeithalber DieseZusammenhänge protokolliert. Denn dieseUntersuchungverstehtsich nicht nur als sozial-oder kulturhisoder als Rekanonisierungsversuch torischeKritik an androzentrischerGeschichtsschreibung weiblicher Leistung.Vielmehr sollenhier hauptsächlich,,sozialeDizu Unrecht vergessener tL Zr einem ähnlichen Schluss kommt Michael \Timmers bei der Untersuchung von Grenzauflösung zwischen'Süahn und Wissen aus poststrukturalistischer Perspektive: ,,So kann man für die Grenzerosion zwischen \Tissen und W'ahn einige Prozesseverantwonlich machen, die auch eine Neueinschärzung der Statusqualität der Grenze selbst ermöglichen. Dazu gehören sicher die epistemologischen Grenzen des ,linguistic turn' [und] die Entsicherung des ontologischen Wahrhcitsbegriffs" (\Wimmer zoo5,64). 13 Zur Dänonisicrung vgl. Dijkstra 1999, uud zur Pathologisierung(Hellduser uoo5). 14 Die Tagebücher der Reventlow zeigen die Nachtseite ihres leichtftißigen Boheme-Lebens, Armut, Nervenkrisen, Fehlgeburten, gebrochene Hilßversprechen. Lasker-Schüler und Freytag-Loringhofen wurden mehrfach mittellos verlassen. Lediglich Andreas-Sa.lomökonnte sich bis zur russischen Revolution mit einer kleinen Apanage ihrer Familie aus Petersburg eigenständig erhalten. [-; - ?l]nxgr{rqrR I sKANDÄL ÄLs STRATEGTE- \üAHN eI-s cBHÄusr 287 mensionenvon textlichenSelbstkonstruktionen und die Möglichkeitenvon ,agency'rrotz Ausgrenzung"untersuchtwerden. " Um den Fallen von gesellschaftskritischer AnaVerengungoderbiografisch-anekdotischer lysenvon ,Einzelschicksalen' zu entgehen,möchte ich im \Teiterendie heuristischenBezeich-oder Äusnahme'-.Frauen nungspraxen,exzeptionelle' durch eineAuffassungvon je unterschiedlichenFigurationenvon W'eiblichkeitin doppelter Hinsicht präzisieren:Einmal in der klassischen Tiadition von Norbert Elias,der damit eine unproduktive methodischeTiennung von Individuum und Gesellschaftzu überwinden sucht: Der Begriffder,Figuration' dientdazu,ein einfaches W'erkzeug zu schaflen, mit dessen Hilfe mandengesellschaftlichenZwang, sozu sprechen und zu denken,alsob ,Individuum'und,Gesellschaft'zwei verschiedene und überdies auchnochantagonistische Figurenseien, zu lockern. Mit dem BegriffFiguration lenktmandieAufmerksamkeit aufIntcrdependenzen von Men[...] schen.'6 Eine weitere freiereAuslegungdesFigurationsbegriffsbeziehtsich auf Besonderheitder untersuchtenAusnahme-Frauen,dass,,derText desLebensund dasverschriftetezum Text gewordene Leben [...] sich gegenseitig"bedingen.'7Das VerhältniszwischenText (oder Körpertextualität) und Leben ist hier durchlässig.Man könnte auch sagen,dassdas Leben wie ein Text gestaltetwird. Zu den Lebensgestaltungsmitteln gehört nebenzahlreichenprogrammatischenEssayszur Lageder ,Frau',dem Geschlechterverhältnis und der Liebe,wie sieefwa Reventlow und Andreas-Salomdverfassthaben, auch die Neigung - erwa von ElseLaskerSchüler- literarischeGestaltenwie Prinz Jussufvon Thebenzu Alter Egosim wirklichen Leben zu machen oder, wie weiter unten an Freytag-Loringhovenenfwickelt werden wird, ihren Körper alsDADA-Kunstwerk in ihren LebensunterhaltalsMalermodell einzubringen. Mit der Konzentrationder lJntersuchungauf die erwähntenvier Frauen-Figurationen sind dabei äußerstverschiedenartige Verkörperungenund Textualitätengewählt, die im gesellschaftlichen FeldBoheme,figurieren':einekontinuierlichliebestrunkene Dichter-Seherin (Lasker-Schüler),ein(e) ,Femme-Dandy"8(Reventlow),ein Lebenskunsrwerkund Nacktmo- Ij Hammersrein zoo7, r9j. t6 Elias r97o, r41,r44. 17 Hollmer 2oo9,84. Katharina von Hammerstein weist daraufhin, dassdie Überfiihrung des radika]en Selbstentwurß aus dem Bereich des Privaten in den des kollektiven Öffentlichen bei Frauen eine normative Kontrolle des öflentlichen Sprechens aufrufe, und damit - unabhängig von der inhaltlichen Aussage - eine implizite Politisierung darstelle (Hammerstein 1999,29). 18 Stauffer zoo8, r48. Isabelle Stauffers Neologismus beschreibt eine Variation des Dandy-Modus, der sich nach ihr durch ,Genussorientiertheit und Affektkontrolle' (ebenda 164) auszeichne,den es im weiblichen Rollenrepertoire ,,eigentlich gar nicht geben sollte" (ebenda r48). fr. *{c:nnqlrunl 288 GABRI[,Lts DII.]'I'ZE Gemeinund ein undomestizierbarerFreigeist(Andreas-Salomd). dell (Frey'tag-l,oringhoven) skandalisamist ihnen, dassihre \ferke, ihr Auftreten/Performanceund ihre ,Existenzweise"g siertwerden.'oIm Rahmendesin diesemBand entfaltetenForschungsprojekts ,Kulturen des \(ahnsinns als Schwellenphänomender urbanen Moderne' eröffnetesich hier die Möglichkeit, Skandalals Schwellenraumexzessiverund ,ver-rückter' weiblicherNormwidrigkeit zu zum Modus Skandal betrachten.Ein in jüngererZit entstandenerkleinererForschungsfokus der Jahrhunderrwendeausist strikt auf die Männer betreffende Hoch- und Staatsskandale gerichtetwie die Affären um Oscar'!filde, Dreyfussund den deutschenKaiserund Fürst Eulenburg." Mein Bemühenist es dagegen,die Phänomenologievon Skandal-Modiund ihren Besonderheitenbei weiblicherBesetzungzu skizzierenund in diesemZusammenhang dem Skandalonder sexuellenModernisierung um die Jahrhundertwendenäherzukommen. wie Ehe, Mutterschaft, KonDabei sind zum einenArrangementsweiblicher Existenzweisen kubinate und zum anderenArrangemenrsder Libido wie Sexualität,Liebe und Reproduktion von Bedeutung.Da die betrachtetenFigurationenalle in der einenoder anderenWeise,gezentral. Zum einen betrifft dx Embodimentt Aufvifi, stalten', werden Inszenierungspraxen Zum anderengeht esum Körpersprache,Kostüm, Maskeradeund Geschlechtsperformance. Tbxrualität.Hier gilt dasAugenmerkVerfahrender Ironie, Selbstironie,Parodie,Rolleninversion,Farceund Groteske. I9 Ich beziehe mich hier auf Andrea Maihofers Ansatz von ,Geschlecht als Existenzweise': ,,,Geschlecht' als gesellschaftlich-kulturelle Existenzweise zu begreifen, stellt folglich den Versuch dar, erstens gegenüber dem Verständnis von ,Geschlecht' als bloßem Bewusstseinsphänomen,[...] überhaupt auf die ,materielle Existenz' des Geschlechts zu verweisen; zweitent gegenüber der Vorstellung von ,Geschlecht'als Effekt von Darstellungen und \Wahrnehmungen, Rollen, etc., [...] auf der,Konsistenz' des Geschlechts als einer historisch entstandenen, aber doch gelebten ,körperlichen und seelischen Materialität' zu beharren; und drittens gegenüber der Auffassung von ,GeschlechC als Geschlechtsidentität, -charakter etc., [...] sowohl die historisch enrsrandene ,körperliche als auch überhaupt gesellschaftlichkulturelle Materialität'des Geschlechts zu betonen, ohne auf eine natürliche Basisvon Geschlecht rekurrieren zu müssen. [...] ,Geschlecht' ist nun eine komplexe Verbindung verschiedener historisch entstandener Denk- und Geliihlsweisen, Körperpraxen und -formen sowie gesellschaftlicher Verhältnisse und Institutionen, eben eine historische bestimmte Art und'!V'eise zu existieren" (Maihofer rgg;, 8+0. Diesen vier Beispielen könnten andere Skandal-suchende und -trächtige Figurationen, insbesondere in der rVeimarer Republik, hinzugeftigt werden, ervraAnita Berber mit ihren ,,T:inzen des Lasters, des Grauens und der der Eksrase" (1923), (Hales zoro, 326_j28). Ein weiteres Beispiel wäre dic Kabarettistin Erika Mann. Eine solche Ausarbeirung bleibt aber einer späteren im Rahmen des Forschungsprojekts entstehenden Monografie zur deutschen sexuellen Moderne überlassen. Vgl. Bösch zoo9, der sich aufdeutsche und britische Staatsa-ffirenbis r9r4 konzentriert, oder die sich mit Kaiserskandalen beschäftigen, und Adut zoo9, der zwar bis zum Monica-Lewinsky-Skandal fortschreitet, aber sich nur mit der Entmlthologisierung von Mächtigen beschäftigt. T, KOFIREKTI.'ä SKANDAL ALS STRATEGIE - \ürAHN ALS GEHÄUSE z8g I . A U F Z U G : D E R S K A N D A L_ , , D E RS C H L E C H T ER U F V E R P F L I C H T E T . . . ' Der Modus ,Skandal'ist ein eigenartigesund sehrunordentlichesVerfahrender Ermittlung, Diskussion und Veränderungkulrureller Normen. Er besitzt Ereignischarakter.Er berührt, verletztund erregtvielerleiGeftihleund ist schlechtsreuerbar.In der neustenMonografie zum Thema spricht Frank Böschvon Skanda.lenals ,,Knotenpunkten in Schwellenzeiren".,l Im kleinen Korpus der Skandalforschung,die immer wieder beklagt,dassessich um ein wenig beackertesund untertheoretisiertesFeld handelt,'aherrschendrei Beschreibungsmodelle vor: Ein temporalesSchema,das sich auf die Entwicklungsphasenund die Ablaufslogiken von Skandalenkonzentriert (Burkhardt zoo6, ryf), einpersonal.es Schema,dasdie Interaktionen von unterschiedlichen Akteurenbetrachtet(Kohlrauschzoo5)und einfunhtionalistbcher Ansatz,der sich daftir interessiert, wasder SkandalmachtundwelchenInreressen er dient.'; Im Rahmen dieserUntersuchungwird ein topobgischr"s Modell vorgezogen,d.h. der Skandai wird als ,Schwellenraum'verstanden,in dem Normtransgressionen der herrschendenGeschlechterordnung ausagie rt, fixiert und verhandeltwerden.,6 Die Schwellenraum-Metapher- oder andersausgedrückt,der Zustand der Liminalität entlehnte der Kulturanthropologe Victor Tirrner der ethnologischenForschungArnold van Genneps.Dieserhatte InitiationsritenvorstaatlicherGesellschaften ins Erwachsensein als radikalenNicht-Ort und Zustand der Desorienrierung,desExzesses, der Todessimulation und der \Tiedergeburt beschrieben.Turner adaptierteden Begriffder Liminalität ftir die Beschreibungvon Modi der Krisenbewältigungin modernenGesellschaften. Für einen Blick auf weiblicheSkandalmodischeintdieseFokussierungbesonders geeignet.Denn hier kann die Frageder ,Schwelle'in besondere r \7eisespezifisch gemachtwerden. Die Schwelle,die in jeder Figuration übertretenwird, ist der Verlust der Reputation,oder,um esaktiver im Sinne 22 Revendowzoo4c, zor. Lj B ö s c h2 o o 9 , 8 3 . 2"4 Die Klage beginnt mit der ersten deutschsprachigenStudie Die Kunst dzsShandals. über die Gesetzmäfigheit übbr und nützlicher Argernisse:,,Ver [...] in systematischer Absicht über den Skandal schreibt, kann fast nichr abschreiben, und er kann auch nur wenig zitieren, denn die \Wissenschaft hat zu 25 t6 diesem Gegenstard keine Schätze angehäuft" (Schütze 1967, rc) und endet mit einer amerikanischen Studie von zoo5 (,,a general model of scandal, however, remains a an unrealized desideratum" zoo5, , z.t3), die soeben zu einer als Monogra6e ausgeweitet erschienen ist (Adut zoog). Vgl. Hondrich zooz, 4of und Schmirz r98r, rrrf Foucaults Vorstellung von Heterotopien oder ,Gegenorten' bieten einen verwandten ebenfalls topologischen Ansatz: Heterotopien sind ,,reale, wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen, in denen die realen Orte 1...1 die man in einer Kultur finden kann, zugleich reprdsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt wcrden" (Foucault zoo6, zzo\. I 1 " K O R R E K Y T . J RI 290 GABRIELE DIE'I'jZE von agenryauszudrücken,die Aufgabe oder das ostentativeAblehnen des Regulativseines ,Guten Ruß'. In der herrschendenGeschlechterordnungder Jahrhundertwendeist der ,Gute Ruf einer Frau ihr zentralerZugangzugesellschaftlichem Kapital. Die Reputationist, um mit Bourdieu zu argumentieren,ökonomischgesehendasEintrittsbillet der Frau in die Versorgungsehe, kulturell betrachtetdieVoraussetzung für gesellschaftliche und bürgerlicheklassenspezifische Akzeptanz,und symbolischihre Unschuld, die mental und physischdie Voraussetzungftir eineVerbindung mit dem vorgesehenen einzigenNutzer-Ehemanndarstellt. Die Modi desAusstiegsaus dem Rahmen weiblicher Sittlichkeit konnten sehr unterschiedlichausfallen.Und es mag zu Beginn auch nicht immer freiwillig gewesensein,wie z.B. die überstürztenFluchten von FranziskaReventlowoder ElsaFreytag-Loringhovenaus häuslicherRepression,was ersteremittellos nach Berlin verschlug,wo sie sich als Demi-Nude in einer Revue im rYintergartenverdingte'7 und letzterezwischenzeitlichunter Kuratel stellteund in eineVersorgungsehe zwang,bevor siemit einem Geständnisihrer erotischen EskapadendiesenSchutzvorsätzlichaufgab.Entscheidendwar und ist auch bei anderen Bohemienne-Figurationen, dassder Schwellenübertritt irreversibel ist. Denn die in ihrer GeschlechterordnungprovozierteGesellschafteriaubt keine weibliche Re-Migration. Siebesteht auf dem Skandal.'\ü'omitzur sprachlichenQuelle des'Worteszurückzukommenist: Im Sinne 'Wurzel der erymologischen des'Wortes,Scandalon'- daszuschnappende StellhoizeinerTierfalle'8 wird hier der Skandalals eine Art von Container verstanden,in dem Skandalisierte (und auch Skandalisiererinnen),gefangen'sind, wo Schlachtenausgetragen werden, oder in dem sie,so paradoxesklingen mag, ,Schutz'suchen. Für die hier betrachtetenFigurationenist der Schwellenraum Skandal,aberauchein Topos der Exterritorialität,des,Dazwischen'-Seins, der eineAttraktivität in sich selbsthat. FranziskaReventlowbietet in ironischerVerfremdungeine interessante Versionder Existenzweise des,Einen-schlechten-Ruf-Habens' an: Der schlechte Ruf verpflichtet. Man kannsichsovielesnichtleisten, waseineunbescholtene Frauruhig tun darf.Jedesmännliche'Wesen, mit demmanüberdie Straßeoderins Restaurant geht, wird einem aufgerechnet[...] Folglich ist espeinlich, \ry'ennman mit einem alten Professor oder mit drei grünen Jungen gesehenwird oder wenn ein Jugendfreundin Velvethosenuns anspricht. Man dürfte sich nur mit solchensehenlassen,die einem stehenoder die man sich gerne nachsagen lässt.[...] Ich würde heutejedem blutjungenMädel, daslebenund kompromittieren verwechselt,auß dringendsteraten, seinenRuf zu wahren, bis es in dieseroder jener'Welt - ich 27 Zur Biografievon Frel'tag-loringhovenGammel zooz. zB Zur Erforschungdes\Wortfeldes den Aulsatz,,Das ,skandal'sieheSchmitzr98r und insbesondere Stellhölzchender Macht. Zur SoziologiedespolitischenSkandals"Neckel1986. .I. KORREKTIJR SKANDAL ALS STRÄTEGIE _ \?'AHN ALS GEHÄUSE 291 - einefestePositionhat.Die Ausnahmestellung oderin derGesellschaft meinein lrbenskreisen finanziertist.'e z'wischen beiden\Teltenist vom Übel,außerwennsieungemeinglänzend ReventlowsrhetorischeStrategiebedient sich hier in den Ämoresken' Pedround Paul (t9tz) um in ironischerParadoxierungden Verlustdes,Rufes' desGenresder ,,Hetärengespräche",;" in die optimale StrategiedesLebens(und sich Reproduzierens) als Faktum voraussetzend Skandalzu diskutieren.Dabei resignifiziertdie ErzählerineineBeleidigungzu einerästhetiAus dem Vorwurf eine Hure zu seinl macht sieeine'S7eltanschauung schenLebensstrategie. einesneuheidnischenHetärentums,dasdie Autorin auch unter eigenemNamen offensivim Essay,,Viraginesund Hetären" (1899)vertritt. Ahnlich sieht man es im Vorspielbei Else adaptiert.Man könnte auch von eidie den Gehirnerweichungs-Vorwurf Lasker-Schüler, nerStrategiedrr Immunisierungsprechen,die über demonstrativenExzessfunktioniert.J' EIsa schockierte,wie weiter unten entwickelt,durch einebis dahin unbeFreytag-Loringhoven kannte sexuelleExplizitheit, die sieauch unter großemEntsetzendesUmfelds unbeeindruckt verfolgte,riund auch die damalsknapp zwanzigjfirige Lou Andreas-Salom6beharrtedarauf, und öfzu verwandelnund planteentschlossen in Lebensordnungen ihre Liebesordnungen fentlich an einer M€nage-ä-troismit Nietzscheund Paul Rde. Leist die Tiaumsicherheit,sichselbstbestimmte Dabei, und dasist wichtig festzuhalten, zu suchen,durchausnicht alsAvantgardeder politischenFrauenbewegung bensarrangements Zwei der geschildertenFigurationen (Reventlowund Andreas-Salom6)wamisszuverstehen. wie ren bekennendeAntifeministinnen.An irgendeinenEthosfinanziellerSelbstständigkeit, Fraufür die f'J.r unabdingbar 1879 sieAugust Bebelin Die Frau und der Sozialismusbereits enemanzipationgehaltenhatte, glaubte heine- Freytag-Loringshovenund Reventlowhielbestrittihren Lebensunterhalt ten ,Sexfor Money' ftir einenlegitimenDeal,Lasker-Schüler teilweiseüber in Bettel-KampagneneingeworbeneGeldspenden.Fastalle, mit Ausnahme ,o Reventlow zoo4c, zoz. 3o Das'lextgenre steht in der Nachlolge von Lukians ,,Hetärengesprächen"(16o n.Chr.) oder Pietro Arctinos,,Kurtisanengesprächc"(r454-56). 3r Reventlow hat sich gelegentlich inZeiten äußerster Geldnot prostituiert, gibt aber davon lediglich beiläufig, ohne Schuldrhetorik und mit einem gewissenTiotz Zeugnis: ,,Dort trinke ich Sekt, wenn ich will und lebe jeden Abend im Schlaraffenland und amüsiere mich." Tägebucheintrag von der Neujahrsnacht ß96197 (Reventlow zoo4a, d); vgl. auch die Erörterung dieser Lebensphase(Kubitschek 1998,3ufl. 3z Ich verwcndc hier den Bcgriffder Imrnunisicrung gegenläufig zu Isabcll Lorey, die ihn als Strategic dcs Ausschlussesund der Herrschaf*sicherung in ein diskursanaly'tischespolitisches Vokabular eingeftihrt hat (Lorey zoro). Mit ,strategische Immunisierung' meine ich ein Sich-Vorsätzlich-UnempfindlichMachen gegenüber einer beleidigenden und erniedrigenden Zuschreibung. )) Gammel r999. f r " K c : R T T E K T UI a 29z GABRIELE DIE'IZE von Lasker-Schüler,hielten Männer ftir dle originärerenGeister und eigentlich kreativeren Elemente.Und alle fokussiertensich auf eineVariation von Männlichkeit als Fixstern(e),als zu inspirierendeund zu interpretierendeGenies(Andreas-Salomd), alszu eroberndePrinzen und Könige großer metaphysischerLieben (Lasker-Schüler),alsVehikel sexuellerExtasen (Freytag-Loringhoven)und alsBewunderer-Reservoir flüchtiger Neigungen einerFemme Dan@ (Reventlow). Die Bewegungsräume der Bohemienneentfaltetensich alsonicht in der Binarität von Privileg' versus versagteFrauenrechte.Das war dasTerrain desfriihen Feminis,männlichem mus. Da sich dieseralspolitischer Diskurs verstand,der sich um Anerkennungbemühte,war man in dieserFormation starkauf Reputationbedacht.raDie Bohemiennesdagegenbesetzten dasZwischenreicheiner noch unkartografiertenSexuellen Moderne.Hierwaren die Protokolle einesangemessenen, n. Der Schwelgeschlechtsspezifischen Verhaltensnoch nicht geschriebe lenraum ,Skandal'fungiertealsProbebü*rnemöglicher neuerBeziehungsmuster. Z . A U F Z U G :S E X U E L L EM O D E R N E VON BLEISOLDATEN UND PEITSCHEN Franziskavon ReventlowsHetärenmodell war eine Ausformulierungeinesmöglichen weiblichen ProgrammseinerSexuellenModerne. Siewünschtesich eineneueFrauenbewegung, befreit, esfordern lehrt, was eszu fordern berechtigtist, ,,diedas\Weibals Geschlechtswesen volle geschlechtlicheFreiheit, das ist, freie Verfügung über seinenKörpea die uns das Hetärentum wiederbringt."itDie real existierendeFrauenbewegung dagegensahsie,wie bereits angedeutet,als,,Feindinaller erotischenKultur".i6 ReventlowsVersionhat sich im kuiturhistorischenAnekdotenschatzalsbesonders,skandalös'abgespeichert, weil siedie Regulative weiblicher Verhaltensanforde rungenauf mehrfacherEbeneherausfordert. Die Gräfin spricht sich gegenMonogamie aus,wenngleich sie gegenVersorgungs-und Scheinehennichts einzuwendenhatte, wie sieam eigenenBeispielmit ihrer kurzlebigenFlucht- und Scheinehezur ErlangungeinerErbschaftdemonstriert.Sievotiert ftir die Legitimität und Norwendigkeit von erotischemVergnügenund sinnlicherLust. So schriebsie:,,SehenSie,bei mir stehtund fällt allesmit dem Erotischen;ich ftihle mich nur normal und daseinsberechtigt, wenn das mein Leben erfiillt.":zAls provokantwird empfunden,dasssie für das Recht auf und das 34 Einige wenigeFrauenrechderinnenpfegten Verbindungenzu Boheme.Am bekanntestendarunter die offen lesbische AnitaAugspurg (Schröderzoo5). j5 Revendow1899. 36 Ebenda. j7 Briefan Klagesvom z8.ro.r9or(Revendowzoo4^, i.48). ]. SKANDÄL ALS STRATEGIE - \fAHN ALS GEHÄUSE KÖ$qRgKTUN 291 Bedürfnis nach unehelicherMutterschaft ausspricht.:8Sieverfolgt diesesProgramm in einer Geschlechterordnung,die unehelicheMütter doppelt abstraft,indem siesieder Schandeanheimgibt und damit (meist)derArmut überantwortet.Für ihr Rechtauf Kind außerhalbder gegangen.Sie hatte sogareinen Meineid geschworen, Konvention ist Reventlowweite'$ü'ege indem sie einen erfundenen,ihr angeblichbekanntenaberunbekannt verzogenen,Vater angab, um ihren Sohn staatlicherVormundschaftentziehenzu können.Je Auch ElseLasker-Schülerverschwiegden Vater ihres zwar noch formal in der Ehe, aber von einem Drirten empfangenenSohnesund feierteebenfallsdasRechtauf ein Kind der Liesich aberdeutlichvon denender Femme Arrangementsunterschieden be. Ihre Beziehungserotischem ,Naturalismus'einer angeblich Dandy Figuration Reventlow.Letzterebasierteauf ursprünglichenVitalität sexuellerImpulse.a"Die Dichter-Seherin-FigurationLasker-Schüler dagegenpropagierteeineArt LiebesmetaphysikgroßerLeidenschaftenund öffentlicherhymdie eine Spur anekdotischerSüffisanzdurch die Literaturnisch zelebrierterLiebesqualen, geschichtegezogenhaben,ob sie sich nun dem jüngerenBenn (Giselher)lyrisch ,an den \Tegrand'+'warf oder sich nachtsvor Frank'W'erfelsTürschwelleSchlafenlegte,um die Tiefe ihres Sehnenszu dokumentieren. Die Lasker-SchülerFiguration zeichnet sich durch grenzenloseExternalisierungvon weiblichenBegehren,auch ohne Rücksichtauf dasmännlicheGegennorm-sprengendem über, aus.Bislangunübertroffen hat DichterkollegePerKlabund dieseLiebesmetaphysikbeschrieben: Ketteum denHals.Sieist ohneScham' trägtihr Herzan einergoldenen ElseLasker-Schüler Und esistihr gleichgültig). (aber wer betrachtet. wenn es nicht, sie ftihlt iederdarfesbetrachten 38 Reventlow begründet das durchaus essentialistisch,wenn sie sich dabei auf Nierzsches Diktum ,Älles am \reibe ist ein Ritsel und alles am'$ü'eibe hat eine Lösung, die Schwangerschaft" (Nietzsche 1954, 428) beziehr und Mumerschaft als ein Institution preist, ,,die atle Funktionen ldesl Geschlechtslebens zum Ausdruck bringt. Vgl. ,,Das Männerphantom der Frau" Züricher Diskußioncn, LJg. rti97l98 Nr. 6. Für eine genauere Erkundung der Romantisierung unehelicher Mutterschaft siehe Kanz zooo, die auch von einem ,misogynen Mutterschaftsideal' der männlichen literarischen Moderne spricht. )9 Zur Auswertung der Gerichtsakten zur Feststellung der Vaterschaft Hamme rsrein 1999, 3of' Katharina Hammerstein hat an anderer Stelle für eine extensive Nutzung von ,Ego-Dokumenten' (neben gestalteterAutobiogra6k, Briefen,'lägebüchern, und autobiografisch durchsetzter Essayistik und Literatur auch die Sichtung von Gerichts- und Krankenakten) in Boheme-Figurationen votiert, um deren ,politischen' Charakter auch jenseits von expliziten Außeru.,ge,l herauszuarbeiten. Aus dem Studium von Ego-Dokumenten von Luise Aston, Hedwig Dohm und Franziska Reventlow kristallisiert sie drei Kernelemente heraus: Das inhaltliche Bestehen auf Individualität, eine Schreibweise der Dialogizität und (obwohl noch vor jedem Stimmrecht) eine praktische 40 Inanspruchnahme der Partizipation am öffentlichen Diskurs (Hammerstein zoo7, zo7)' Zutn crotischcn ,Naturalismus'von Revcntlow Rantzau 1974. 4t Siehe das Gedicht ,,Höre" Lasker-S chiler ry96b, ryt 1. KORREKTI.JR L94 GABRIELE DIE'|Zrj mit ihresHerzens Sieliebtnur sichundweißnur vonsich.Die Ob.iekte [...]sindBleisoldaten, und wennsievon ihnenspricht,blutendie denensiespielt.Abersieleidetan denBleisoldaten, 'Worte ausihr heraus.a' \VährendLasker-Schülers wie LiebeskonzeptKörper und Geist holistischzusammensieht, (beispielsweise im Band Sryx(r9ot) nachin ihren frühen stark erotischenLiebesgedichten und entmystifiziert vollziehbar),trennt Andreas-Salom€dasphysischevom meta-physischen den Geschlechtsaktzu einem simplen körperlichenGrundbedürfnis:,,Die Sexualitätals eine Form der Notdurft gleichHunger, Durst oder sonstigenAußerungenunsresKörperlebens 'W'esen und'Wirken erst zugänglichauf solcher wird auch für die Einsicht in ihr weiteres Grundlage".+r eine andereRichtung ein alsbeispielsAn diesemKnotenpunkt schlägtAndreas-Salomd weiseReventlow,die ebenfallsein ,naturalistisches'Konzept von Sexualitätvertrat. Sie nutzt die in ihrer PerspektiverelativeUnabhängigkeit,,vonder nacktenNotdurft destiebhaften", um Macht über Männer zu exekutieren.Thiclreich argumentiertsie,dassdie ,,zwingende sexuelleZrcht" der Frauen zur Sittsamkeit einer ,,natürlichen Unabhängigkeit" geworden ist, und warnt davo! ,,dieschon fast mühelos in den Schoß [ge]falleneFrucht langenharten Kuiturringens sich wieder entgleiten [...] zu lassenfir moderneLiebesfreihelt".++ Diese Übertragung von Keuschheitaus einem Registerder Unterdrückung (geschiechtsspezifischdisziplinierterTiiebverzicht)in ein Registerder Autorisierung hat Andreas-Salom6 zu einer ftir die Zeit ungewöhnlichenHandlungsfreiheit verholfen. Bis zu ihrer Begegnung Paul R6eund mit RainerMaria fulke verweigertesie ihren Geistes-und Liebeskameraden FriedrichNietzschejeglicheIntimität und verpfichteteihren Mann zu lebenslanger Josefsehe, die sie späterals sozialeBasisfür körperliche Beziehungenmit anderenMännern nutzte. Von außengesehenwar zwar ihre geplanteund weit publizierteMönage-ä+roismit Nietzsche in der Binnenperspektivehingegeneine beunruhigend und Paul R€eungeheuerskandalös,+r keuscheAngelegenheit,die Energienund fubeitskraft freiserzensollte.a6 Rnolutionr. Jg,Nr. r, r9r3,3f (Kraft r995,rr3). Andreas-Salomi r9ro,8. Andrex-Salomir9ro, 8, meineKursivierung. Nach Andreas-Salomös eigenemZergnis basiertedieseIdee aufeinem nächtlichenTiaum von ihr: erblickt ich nämlich eine angenehmeArbeitssrubevoller Bücherund Blumen, flankiert von zwei ,,Da zu heiteremund ernstemKreis Schlafstubenund, zwischenuns hin und hergehen,Arbeitskameraden (Andreas-Salomö geschlossen" 76). ry74, 46 Siehedie AnalysedesphilosophierendenTiios (Decker zoro,86-117).Die Biografin Kirsten Decker konzentriertsichauf ,narzisstische' Charakter,um ihre und,egoistische'Elementein Andreas-Salomös für eine Frau außergewöhnliche geistigeund physischeUnabhängigkeitzu deuten.In Anlehnung an 42 43 44 45 T'r " Ksn,rrgrt"trnl SKANDAL ALS STRATEGIE - \üAHN ALS GEHAUSE 295 Friedrich Nietzschehat die Macht, die von Andreas-Salom€über den durchgesetztenmännlichen Tiiebverzicht ausgeübtwerdenkonnte, deutlich ins Bild gesetzt,als er sie in einem von ihm arrangienenFoto mit einer Peitsche ausstattete und einen Karren dirigieren ließ, den er und sein Konkurrent Paul Redziehen.Der (kurzfristig)gezähmte Nietzsche ,vergaß'in dieser Inszenierung nicht nur buchstäblichdie berüchtigte Peitsche,sondernüberantwortesie dem weiblichen Contrepart. Konträr zu Andreas-Salom€sstrategischerKeuschheitwar ElsaFreytagLoringhovensexpressives Credo, über den'Weg einer souveränangesteuerten Sexualitätzum und intensivgenossenen vorzustoßen. Kern ihrer,Lebenskunst'a7 Nach einer gewalttätigenAuseinanderserzungmit ihrem Vater,die sie fast das Lebengekostethätte,kam sie1894nach Berlin und stürzte sich kaum zwanzigJahrealt ins Vergnügen:,,I had becomemensick up to my eartips- no overthe top of my head- permeatingmy brain stabbingout of my Ein paarMonatespäterbeschriebsieihr mentalesSettingwie folgt ,,[...]now I beeyballs."+8 gan to know what ,life' meant- everynight anotherman. So- now the contentsof my vague Nietxches ,Übermensch'bezeichnetsie sie als ,Übermädchen',dasNietzschezu seinemZarathustra inspiriert habe(Kapitel ,,Der Übermenscha.lsÜbermädchen.ZarathustrasNachtgedankenoder die DialektikdcsMideids",ebenda860. ist ,kbenskunst' ein wichtigesKennzeichender,BerlinerModerne': ,,Neben 47 Nach Schutte/Sprengel oder an die Stelleder Kunst tritt die Lebenskunst,die Lebenspraxis und Lebensreform"(Schutteund Sprengel1987). Elsa,heratsgegebenvon Paul Hjatarson und Donald Spettigue,Ottawa, 4 8 Autobiography Baroness Oberon Press1992,S. a4f. (Gammelzooz,5o). Der Umstand,dassdie Memoireneinerdeutschen Bohemiennein Englischvorliegen,verdanktsich ihrer späterenAuswanderungin die USA, wo sie in der NewYorker DADA-Szeneum Marchel Duchamp und Man Ray und durch ihre Freundschaftmit Djuna BarnesNotorität eriangte,für die siezunächstdie Autobiografieverfasste. L -qqRRFl