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»Sound Culture«, »Acoustemology« oder »Klanganthropologie«? Sinnliche Ethnographie und Sound Studies F RITZ S CHLÜTER Tonaufnahmen werden in der ethnographischen Feldforschung seit mehr als einhundert Jahren zu Dokumentationszwecken eingesetzt. Das auditive Interesse der Ethnologie galt dabei allerdings kaum jemals anderen akustischen Phänomenen oder Praktiken als Musik oder dem gesprochenen Wort. Nur vereinzelt, und wenn, dann eher als zufälliges Nebenprodukt dieser Feldforschungsexpeditionen, gibt es auch Tonaufnahmen der »akustischen Atmosphäre«1 einzelner Orte. Unter den Vorzeichen einer Anthropologie der Sinne bzw. einer Sinnlichen Ethnographie plädieren heute mehr und mehr Ethnolog_innen und Kulturanthropolog_innen für das Studium verschiedener »Sinneskulturen« 2 einerseits sowie für eine stärkere Berücksichtigung sinnlicher Wahrnehmung in der konkreten Feldforschungssituation andererseits. Im Zuge dieser Entwicklung ist auch ein wachsendes Interesse an den sozialen und kulturellen Bedeutungen von Klängen und Geräuschen zu konstatieren sowie überhaupt eine erhöhte Aufmerksamkeit für das Hören und Zuhören in der ethnographischen Forschung.3 Zugleich erfährt derzeit eine interdisziplinäre Forschungsrichtung, die sich dezidiert der Untersuchung von akustischen Phänomenen und Praktiken widmet, unter der Sammelbezeichnung Sound Studies einen bemerkenswerten Aufschwung in den Geistes- 1 Böhme, Architektur und Atmosphäre, 76ff. 2 Frz.: »cultures sensibles«. Corbin bezieht den Begriff der ›Sinneskultur‹ vor allem auf bestimmte historische Zeiträume. Vgl. Corbin, Geschichte und Anthropologie, 21. 3 Vgl. z.B. Bendix, Symbols and sound, senses and sentiment; Lindner, Klänge der Stadt; Müske, Maritime Klanglandschaften; Scholl, Wer hören will, muss fühlen. und Sozialwissenschaften.4 So überfällig diese Hinwendung zu akustischen Phänomenen – einem aus den Wissenschaften lange Zeit weitgehend ausgeklammerten Gegenstandsbereich – zweifellos ist, so groß muss aufseiten der (Europäischen) Ethnologie auch die Skepsis sein, wenn im Zuge dessen plötzlich zunehmend Begrifflichkeiten wie »Sound Culture«, »Klanganthropologie« oder »Hearing Cultures«5 in Umlauf geraten: Schlagworte, die offenbar mehr oder weniger spezifische Zusammenhänge zwischen ›Sound‹ und ›Kultur‹ suggerieren, ohne diese immer plausibel machen zu können. Anstatt jedoch an dieser Stelle weitere Abgrenzungen vorzunehmen, möchte ich im Folgenden vor allem bestehende Schnittmengen und Gemeinsamkeiten zwischen den Sound(scape) Studies und einigen ausgewählten ethnologischen und kulturanthropologischen Forschungsansätzen herausarbeiten. Denn im Rahmen einer methodischen Sensibilisierung für (auditive) Wahrnehmungen und Empfindungen, für (akustische) Atmosphären und Stimmungen – wie sie nicht nur im vorliegenden Band diskutiert wird – stellen sich für die Ethnologie/Kulturanthropologie derzeit ganz neue Fragen. ›K ULTUREN HÖREN ‹ – HIER UND JETZT ? Befinde ich mich etwa auf einem öffentlichen Platz in der Stadt ►6 und konzentriere ich mich bewusst auf das, was ich höre, dann mag mir das akustische Geschehen in meiner Umgebung zunächst relativ unbeständig und zufallsbedingt erscheinen: Was soll das anderes sein als Lärm, ein ungeordnetes Gewirr von Stimmen, Schritten und anderer, weitgehend unbeabsichtigt produzierter Geräusche? Und doch werden sich im Wogen und Rauschen dieses Platzes schon nach kurzer Zeit gewisse Muster bemerkbar machen, die ich nur hier in dieser Zusammensetzung vorfinden kann. Bestimmte ›akustische Institutionen‹ – wie Kirchenglocken oder andere Signale – sind unter Umständen für den Ort, an dem ich mich befinde, typisch. Und spätestens dann, wenn ich mir die ganze mögliche Bandbreite an akustischen Äußerungen vergegenwärtige, die ich hören könnte, muss ich mir darüber klar werden, dass die Klanglandschaft dieses Platzes offensichtlich bestimmten, mehr oder weniger expliziten Regeln folgt. Auf 4 Für einen kritischen Überblick zur Genese der Sound Studies vgl. die Einleitung von Volmar/Schröter, Auditive Medienkulturen. 5 LaBelle, Acoustic Territories; Schulze/Wulf, Klanganthropologie; Erlmann, Hearing Cultures. 6 ►HÖRBEISPIEL 1: Schlüter, Field Recording Alexanderplatz. Abruf unter http:// sonicagents.wordpress.com/sound-culture/. Dieser Text wird durch neun Hörbeispiele ergänzt, welche jeweils unter dieser URL abgerufen werden können. welche Weise kommt die »Klanglandschaft«7 – verstanden als die Gesamtheit an Klängen und Geräuschen, die ich in meiner Umgebung hören kann – eigentlich zustande? Was kann ich anhand seiner momentanen, akustischen Atmosphäre über diesen Ort lernen? Und wenn ich davon ausgehe, dass die Klanglandschaft dieses Platzes zumindest zum Teil ihr Fundament in sozialer Praxis hat: mit welchen Methoden lässt sie sich, als flüchtiges kollektives Produkt, ethnographisch untersuchen? Bevor ich näher auf drei verschiedene Forschungsansätze eingehe, die sämtlich einer kulturanthropologischen Klangforschung zugerechnet werden können, erscheint ein kurzer Rückblick angebracht: Denn es war Murray Schafer – kein Ethnologe, sondern Komponist und Musikwissenschaftler –, der die akustische Umwelt erstmals als eigenes Untersuchungsfeld behandelte. D IE K LANGLANDSCHAFT IN SITU STUDIEREN The Soundscape, die 1977 erschienene Monographie des Kanadiers R. Murray Schafer (sprich: Schäfer), gründet in der Idee, die akustische Umwelt als eine gigantische Komposition zu verstehen, an der wir alle beteiligt sind: Wir seien gewissermaßen zugleich die Mitwirkenden eines globalen Konzerts, das dauernd stattfindet, und dessen Zuhörer_innen. Schafer betrachtete den Menschen – als Produzenten von Sprache, Gesang und Musik, aber auch der vielen anderen akustischen Begleiterscheinungen des Alltags – jedoch nur als Teil des großen akustischen Ensembles dieses Planeten, zu dem auch die Geräusche von Wind und Wetter und die verschiedenen Lautäußerungen der Tierwelt beitragen. Sein Versuch, verschiedene Klanglandschaften empirisch zu erforschen und mit ihnen auch eine bestimmte Logik bzw. »Ordnung der Klänge« 8 zu beschreiben, ist für die Ethnologie vor allem insofern relevant, als er hierbei die Grundzüge einer eigenen, qualitativen Methodik der Klangforschung entwickelt, die im Übrigen selbst stark von der ethnographischen Feldforschung inspiriert ist. ►9 Und auch in theoretischer Hinsicht bietet die ›Klanglandschaft‹ zahlreiche Anknüpfungspunkte: 7 Engl.: »soundscape«. Als »Soundscape« im engeren Sinne bezeichnet Murray Schafer »die akustische Umwelt«. Schafer, The Soundscape. 274f. 8 Schafer, Die Ordnung der Klänge. 9 ►HÖRBEISPIEL 2: »The Music of Horns and Whistles«. Schafer, The Vancouver Soundscape. Mit einem wechselnd besetzten Team aus Musik- und Kommunikationswissenschaftler_innen führte Schafer u.a. qualitative Interviews, zeichnete Karten und machte Tonaufnahmen im Feld. Das Hörbeispiel ist eine sogenannte Soundscape Composition auf der Basis von Field Recordings. »das Konzept […] hat Vorteile für Anthropolog_innen. [Schafe r] konzipiert die Klanglandschaft als eine öffentlich zirkulierende Entität, die nicht nur Produkt sozialer Prakti ken, Ergebnis einer bestimmten Politik und bestimmter Ideologien ist, sondern die ebenso auf die Ausprägung dieser Praktiken, Politiken und Ideologien zurückwirkt. […] Wie auch die ›Landschaft‹ umfasst der Begriff ganz widersprüchliche Kräfte wie Natur und Kultur, Zufall und gezielte Komposition, Improvisiertes und planerisch Gestaltetes. In ähnlicher Weise wie die Landschaft, die sich erst durch ihre Kultur- und Ideengeschichte und bestimmte Praktiken des Sehens konstituiert, impliziert die Klanglandschaft Zuhören als kulturelle Praxis.«10 Schafers Wortschöpfung und seine »Kulturgeschichte des Hörens« wurde in den vergangenen rund vierzig Jahren von Musiker_innen, Architekt_innen, Künstler_innen und Wissenschaftler_innen verschiedenster Disziplinen aufgegriffen; neuerdings sehen sich seine Konzepte aber auch wachsender Kritik ausgesetzt. Denn das »Tuning of the World«, die (musikalisch verstandene) ›Stimmung der Welt‹ zu erforschen und zu erkennen, ist für ihn nur der erste Schritt. Im zweiten Schritt fordert er ein visionäres »Akustisches Design«, das die vorgefundene »dissonante«, d.h. vom Menschen korrumpierte Klanglandschaft nach Möglichkeit »repariert« und »korrigiert« 11 – hier geht es um mehr als nur um ein besseres ›Fein-Tuning‹. Dessen ungeachtet hat Schafer mit dem Begriff des »Soundscapes« eine ganz neue Perspektive auf die Umwelt eröffnet. S OUNDSCAPE . C OMPOSED BY C ULTURE ? Soundscapes bzw. Klanglandschaften, d.h. die alltägliche (urbane) Geräuschkulisse wirklich kulturanthropologisch zu erforschen, setzt zunächst einmal voraus, sie als flüchtiges kulturelles Artefakt zu verstehen, d.h. als das Produkt von – mehr oder weniger gezielten – soziokulturellen Praktiken. Und tatsächlich beschreibt eine wachsende Zahl von Kulturanthropolog_innen mit eigenen theoretischen Konzepten wie »sozio-akustischer Ordnung«12, »Akustemologie«13 bzw. »sonic order of urban space« 14 explizite Zusammenhänge zwischen Klängen, Kulturen und Orten. Die folgenden Abschnitte sind deshalb drei Forschungsansätzen gewidmet, die sich dezidiert als Teil einer ethnographischen oder kultu10 Samuels [u.a.], Soundscapes, 330 [Übersetzung FS]. 11 Vgl. Schafer, The Soundscape, 237-245. 12 Engl.: »socioacoustic order«. Järviluoma [u.a.], Acoustic Environments in Change, 25. 13 Feld/Brenneis, Doing anthropology in sound, 462. 14 Atkinson, Ecology of sound, 1906. ranthropologischen Klangforschung verstehen.15 Ihnen allen ist der Versuch gemeinsam, in einem größeren, d.h. durchaus ›klanglandschaftlichen‹ Kontext spezifischen kollektiven Praktiken auf die Spur zu kommen, die sich im Akustischen manifestieren, und diese Phänomene hinsichtlich ihrer soziokulturellen Ursachen, Wirkungsweisen und symbolischen Bedeutungen zu untersuchen. Europeʼs Soundscapes. »Acoustic Environments in Change« Als die finnischen Ethnomusikolog_innen Helmi Järviluoma, Heikki Uimonen, Noora Vikman und weitere Forscher_innen im Jahr 2000 eine akustische Feldforschungsreise durch Finnland, Schweden, Italien, Deutschland, Frankreich und Schottland unternahmen, besuchten sie genau die Orte, die Murray Schafer 25 Jahre zuvor mit seinem Team aufgesucht hatte, und beforschten diese auch mit ähnlichen Methoden. Als historische Vergleichsstudie ist Acoustic Environments in Change (AEC) damit nicht nur im Europäischen Raum ein völlig einzigartiges Projekt.16 Während Schafers Feldforschungsergebnisse und Schlussfolgerungen aus dem Jahr 1975 heute zum Teil recht scherenschnittartig wirken, sorgt die methodische und theoretische Schulung der finnischen Ethnomusikolog_innen nun für eine Vertiefung und Diversifizierung der Perspektiven auf die Klanglandschaften der untersuchten Orte. Murray Schafer behandelte die Einwohner_innen der jeweiligen Dörfer und Kleinstädte beispielsweise noch ganz selbstverständlich als Mitglieder einer lokalen ›akustischen Gemeinschaft‹, wohingegen Järviluoma [u.a.] nun sehr viel vorsichtiger von Indizien sprechen, die auf die Wirksamkeit bestimmter, hegemonialer sozio-akustischer Ordnungssysteme in den jeweiligen Orten verweisen. Diese kollektiven symbolischen Ordnungen könnten jedoch kaum dem Ort als Ganzem zugeschrieben werden; sie seien eher an individuelle Voraussetzungen wie Generation oder Geschlecht denn an die gesamte ›Dorfgemeinschaft‹ geknüpft, weshalb sie auch innerhalb des Kollektivs ständig neu verhandelt würden. Dennoch mache sich diese »sozio-akustische Ordnung« gelegentlich bemerkbar: es entstehen Konflikte, wenn sie nicht von allen geteilt und eingehalten wird.17 15 Der vorliegende Text beruht z.T. auf meiner Magisterarbeit, in der ich ausführlicher auf die Protagonist_innen einer ethnographischen Klangforschung eingehe: Schlüter, Die Klanglandschaft als ethnographisches Feld. 16 Järviluoma [u.a.], Acoustic Environments in Change enthält auch den Nachdruck der ersten Studie von Schafer, Five Village Soundscapes. 17 So etwa von Jugendlichen, die im Zentrum des schottischen Dorfes Dollar manchmal bis tief in die Nacht feiern und lärmen. Dass es dabei es nicht allein um Lautstärke, Eine besondere Qualität der Feldstudie ist zweifellos ihre hohe methodische Transparenz: Die Dokumentation des Forschungsprozesses steht stets gleichberechtigt neben der Präsentation der Ergebnisse – genauer gesagt, sind diese sogar unauflöslich miteinander verknüpft.18 Nach dem Motto »from impressions to categories and back«19 entwickeln Järviluoma [u.a.] ihre Darstellung immer entlang konkreter Beobachtungen und Begegnungen, sodass die Erfahrungen aus der Feldforschungsphase auch im Nachhinein greifbar bleiben und nicht in Abstraktionen verloren gehen. Zum Teil gelingt dies dank der zitierten Aussagen aus den qualitativen Interviews; ausschlaggebender sind aber vielleicht noch die Auszüge aus den ebenso achtsam wie selbstkritisch geführten Hörprotokollen der Feldforscherinnen, die im Rahmen wiederholter listening walks entstanden. Acoustic Environments in Change steht in vielerlei Hinsicht in direkter Tradition zu Schafers Vorarbeiten. Was die Darstellung der Ergebnisse angeht, nutzt AEC z.B. bewusst auch akustische Repräsentationsweisen. Das narrative Potential sogenannter Soundscape Compositions schöpfen sie indes nicht völlig aus: Die Tondokumente werden in erster Linie in Form von weitgehend unbearbeiteten, nicht arrangierten Field Recordings präsentiert – ganz anders als bei Steven Feld, der Soundscape Compositions gar als eigenes Medium für die ethnographische Dokumentation und Darstellung etablieren möchte. Akustemologie und auditive Erzählungen des Regenwalds Steven Feld gehört, was Publikationen im Umkreis der Sound Studies angeht, zweifellos zu den am meisten gedruckten und zitierten Ethnolog_innen. Der Großteil seiner bisherigen Forschung – von jüngeren Projekten abgesehen – kreist um den kleinen Stamm der Kaluli in der Bosavi-Region in Papua NeuGuinea, die er Mitte der 1970er Jahre das erste Mal besuchte. 20 Seitdem interessondern mindestens ebenso sehr um konfligierende Wertvorstellungen geht, wird an der Irritation deutlich, die viele der älteren Einwohner Dollars vor allem angesichts der akustischen Präsenz junger Frauen äußern: »the voices of the young women during the night in Dollar would have been unthinkable a few decades earlier«. Järviluoma [u.a.], Acoustic Environments in Change, 26. 18 Dies scheint mir ganz in der Absicht der Autor_innen zu liegen: AEC will kontextualisieren, wo Schafer polarisierte. Noora Vikman formuliert an anderer Stelle, Schafers ursprüngliches Motto »›the tuning of the world‹ has changed into ›the tuning of the soundscape concepts‹«. Vikman, Looking for a ›right method‹, 150. 19 Järviluoma [u.a.], Acoustic Environments in Change, 261. 20 Die Kaluli, Jäger und Sammler_innen, sind eine kleinere Gruppierung der etwa 1200 Menschen umfassenden Bosavi kalu. Vgl. Grosh/Grosh, Kaluli. siert er sich in erster Linie für Zusammenhänge zwischen akustischer Umwelt und kultureller Praxis – eine Beziehung, die er als ›Akustemologie des Ortes‹ konzeptuell zu beschreiben, aber auch akustisch erfahrbar zu machen sucht. Schon bevor Steven Feld Anthropologie studierte, war er als Musiker, Toningenieur und Sound Designer tätig. Sicher nicht ganz zufällig leitet er seine erste Veröffentlichung ethnomusikologischer Tondokumente – wie zuvor schon Colin Turnbull►21 – ebenfalls mit einer Klangcollage aus Alltagsgeräuschen ein;►22 dieser sei es gewesen, der ihn überhaupt darauf gebracht habe, bei der Feldforschung die akustische Dimension eines Ortes besonders zu berücksichtigen. »Unter dem Stichwort Akustemologie möchte ich […] die besondere Bedeutung des Hörens als eigene Modalität von Wissen und In-der-Welt-Sein untersuchen. Klänge und Geräusche gehen von Körpern aus und dringen in sie ein; diese Reziprozität […] sorgt dafür, dass sich Körper – anhand ihres akustischen Potentials – auf bestimmte Orte und Zeiten ›einstimmen‹. Sowohl das Hören als auch das Lautgeben sind jeweils ›verkörperte‹ Fähigkeiten, sie situieren einzelne Akteur_innen und ihre Handlungsweisen in bestimmten historischen Welten.«23 Felds Konzept der ›Akustemologie‹ (zusammengesetzt aus ›Akustik‹ und ›Epistemologie‹) will also eine Art lokal erworbene, kollektiv geteilte akustische Weltanschauung beschreiben: so wie Orte stets sinnlich wahrgenommen würden, sei auch die sinnliche Wahrnehmung stets »verortet«. 24 Feld analysiert en détail, wie die vielschichtige Geräuschkulisse des Regenwaldes die Erfahrungswelt der Kaluli prägt und sich in einer (Klang-)Kultur niederschlägt, für die Zuhören, Stimme und akustische Präsenz von zentraler Bedeutung sind. In den verschiedenen Lauten des Waldes – insbesondere denen von Vögeln – erkennen die Kaluli etwa die Gegenwart einer ›anderen Seite‹, einer Geister- und Totenwelt. 21 ►HÖRBEISPIEL 3: »In the Rainforest. Approaching a Forest Camp«. Turnbull/Francis, The Pygmies of the Ituri Forest. Eine der ersten ethnographischen Soundscape Compositions avant la lettre ist dieses Intro einer ethnomusikologischen Langspielplatte aus dem Jahr 1957. In der kurzen Collage aus Field Recordings sind u.a. Vögel, Zikaden, singende Kinder und Arbeitsgeräusche zu hören. 22 ►HÖRBEISPIEL 4: »Garden Clearing by Menʼs Communal Work Group«. Feld, Music of the Kaluli. Zu hören ist »the layering of speaking voices, the birds and ambience, the overlapping of axes, trees falling, and the whooping, whistling, yodeling, and singing different snatches of song«. Feld/Brenneis, Doing anthropology in sound, 464. 23 Ebd., 462. 24 Engl.: »as place is sensed, senses are placed«. Feld, Waterfalls of song, 91. Die ›akustemologische‹, d.h. gleichermaßen sensorische wie symbolische Verflechtung von Kultur, Klang und Ort macht Feld unter anderem an der Bedeutung und Funktion der ilib nachvollziehbar – einer speziellen Trommel, die im Rahmen einer größeren Trauerzeremonie zum Einsatz kommt. 25 Die ilib weise vielfältige akustische, materielle und symbolische Bezüge zum tibodai auf, einem scheuen Waldvogel (Schopf-Pitohui, pitohui cristatus), dessen Ruf die Kaluli als Klage eines verstorbenen Kindes interpretieren. Nun ist es eine Sache, den Satz zur Kenntnis zu nehmen: ›Im Ruf des tibodai vernehmen die Kaluli die Klage eines verstorbenen Kindes.‹ Eine Tonaufnahme dieses Rufs zu hören, ist eine gänzlich andere Erfahrung. Mich persönlich hätten Felds Beschreibungen wahrscheinlich relativ kalt gelassen, wenn ich im Zuge der Lektüre nicht einmal den Gesang des tibodai recherchiert und eine entsprechende Aufnahme gehört hätte. ►26 Der vergleichsweise ›simple‹, dabei aber außergewöhnlich lang anhaltende Gesang ist von intensiver, durchdringender Lautstärke und damit sehr weit zu hören; zugleich mutet er seltsam traurig an – vor allem deshalb, weil die Tonhöhe im Verlauf des langen, monotonen Liedes permanent sinkt. Dem akustischen Muster des Gesangs folgend wird die einzelne ilib denn auch nicht in komplexen Rhythmen gespielt, sondern regelmäßig geschlagen. Erst im Zusammenklang mehrerer Trommeln entstehen dann komplexere, asynchrone rhythmische Überlagerungen, die in ihrer erkennbaren Symbolik unter den Beteiligten tiefe Trauer auszulösen vermögen. ►27 Dies sei hier nur ein Beispiel dafür, wie der Klangkosmos des Regenwaldes in Form von sprachlichen Bezeichnungen, von magischen und mythischen Konzepten sowie im dramaturgischen Aufbau von Zeremonien und Gesängen seinen Widerpart im ›akustemologisch‹ strukturierten System der Kaluli-Kultur findet. Was Steven Felds Arbeiten darüber hinaus so bemerkenswert macht, ist vor allem sein Versuch, Soundscape Compositions einzusetzen, um »den akustischen Eindruck [zu erwecken], sich an einem Ort zu befinden« 28. Feld setzt bewusst auf Klangcollagen, um von seinen Forschungen zu ›erzählen‹ und möchte Tonaufnahmen gar als eigenes ethnographisches Medium etablieren, gleichberechtigt neben dem ethnographischen Film. Gelegentlichem Widerstand aus der eigenen (ethnomusikologischen) scientific community – Vorwürfen von Effekthascherei, Subjektivität und mangelnder Transparenz seiner Soundscape Compo25 Vgl. Feld, Sound as a symbolic system. 26 ►HÖRBEISPIEL 5: Rasmussen, Crested Pitohui. Der Gesang des tibodai ist nur sehr leise im Hintergrund zu hören; sein schwebender Ton hält aber von Anfang bis Ende an. Abschließend ist der Ruf noch einmal kurz gefiltert, d.h. isoliert, zu hören. 27 ►HÖRBEISPIEL 6: »Group Ceremonial Drumming, ilib kuwo«. Feld, Bosavi. 28 Feld/Brenneis, Doing anthropology in sound, 463 [Übersetzung FS]. sitions – begegnet Feld unter anderem mit der Strategie einer ›dialogischen Authentisierung‹ seiner Ergebnisse: Stets präsentiere und diskutiere er seine Aufnahmen und Kompositionen auch im Feld; auf diese Weise stelle er deren Glaubwürdigkeit und Gültigkeit als ethnographische Dokumente sicher. 29 Das Verhältnis von wissenschaftlicher und künstlerischer Arbeitsweise in seinen Soundscape Compositions wird letztlich aber nicht ganz klar, und es erscheint fraglich, ob dieser Widerspruch überhaupt ganz aufzulösen ist. Mehr Kopfzerbrechen bereiten mir da schon die Gegensätze, die Steven Feld mit seinem zentralen theoretischen Konzept der ›Akustemologie‹ stillschweigend überbrücken möchte: Das Spannungsverhältnis zwischen ökologisch prägender Struktur einerseits – »sound structure as social structure« 30 – und kreativer Handlung, d.h. den performativen, konstruktivistischen Aspekten kultureller Praxis andererseits – »sound making as place making« 31 – wird dabei nicht explizit adressiert. Solange diese Klärung aussteht, wirkt das Konzept auf mich recht hermetisch. Auch hat Steven Feld es bislang auf andere (etwa: urbane) Regionen und Kulturen nicht mit gleichem Gewinn anwenden können. Schall als räumlich strukturierte, sozial strukturierende Kraft Der britische Soziologe und Stadtforscher Rowland Atkinson nimmt auf Steven Felds akustemologischen Forschungsansatz zwar explizit Bezug, wendet sich im Gegensatz dazu aber städtischen Lebensräumen zu. Schall könne als ein flüchtiges, laufend aktualisiertes »schwingendes urbanes Gewebe«32 verstanden werden, das den gesamten Raum durchzieht. Seine Beschaffenheit und konkrete Verteilung in der Stadt ist allerdings weder überall gleich noch rein zufällig, sondern oft an andere – soziale, kulturelle – Faktoren geknüpft. Die Klanglandschaft einer Stadt wird nicht nur kollektiv hervorgebracht, sie wirkt auch – als Umweltfaktor – auf die Individuen zurück; diese ›akustische Lebenswelt‹ hat weitreichende soziale und kulturelle Implikationen. Einige der ganz konkreten sozialräumlichen Effekte von Schall versucht Atkinson als »sonic order of urban space«33 fassbar zu machen, unter anderem am Problemfeld ›Lärm‹. 34 29 Vgl. Feld, Dialogic Editing. 30 Feld, Sound structure as social structure. 31 Feld/Brenneis, Doing anthropology in sound, 465. 32 Engl.: »a resonant metropolitan fabric«. Atkinson, Ecology of Sound, 1905. 33 Ebd.; aufgrund der Wortwahl könnte man auf eine inhaltliche Nähe zur ›socioacoustic order‹ tippen, wie Järviluoma [u.a.] sie beschreiben. Allerdings zielt Atkinsons Begriff eher auf sozialgeographische Ordnungen ab. In Städten, die immer lauter werden, sind ruhige Wohngebiete ein knappes Gut und damit auch wirtschaftlich lukrativ. Atkinson verweist hier auf Studien, die zeigen, dass die Höhe von Immobilienpreisen und Mieten partiell daran gekoppelt ist, wie effektiv der Wohnraum vor Lärm und Störungen von außen geschützt ist: Der Wert von Immobilien in ruhigen Lagen liegt zumeist deutlich höher.35 Bei Monatsmieten und Kaufpreisen wird also immer auch bezahlt für die Sicherung der eigenen »auditiven Autonomie«, d.h. für die Garantie, bestimmten Arten städtischen Lärms zu entgehen.36 Steigende Preise für Wohnraum führen aber langfristig dazu, dass untere Einkommensschichten allmählich an den ›Rand‹ gedrängt werden, d.h. in Richtung weniger hoch bewerteter Wohngebiete mit höherer Lärmbelastung. Dabei handelt es sich streng genommen um eine mehr oder weniger verdeckte ›Umverteilung‹ von Kosten, weil einkommensschwache Schichten für geringere Mieten höhere Schallpegel in Kauf nehmen. Auch wenn Atkinson die Verbindung zu Pierre Bourdieu nicht selbst herstellt, bilden dessen Überlegungen zu ›physischem‹ und ›sozialem Raum‹ hier meines Erachtens eine wichtige Referenz: denn Atkinsons Modell ermöglicht es, die ungleiche geographische Verteilung von Lärm in der Stadt als eines jener »Phänomene [zu verstehen], die scheinbar an den physischen Raum gebunden sind, tatsächlich aber ökonomische und soziale Unterschiede widerspiegeln«. 37 Im großen Maßstab – und unter Berücksichtigung weiterer Faktoren – trägt Lärm in der Stadt damit einerseits zur Entstehung von exklusiven Adressen und andererseits zur »Ghettoisierung« bei – ein sozioökonomischer Mechanismus, den Bourdieu generell in Bezug auf »seltene Güter« in der Stadt beschreibt: »Personen ohne Kapital [werden] physisch oder symbolisch von den sozial als selten geltenden Gütern ferngehalten und dazu gezwungen, mit den unerwünschtesten Personen und am wenigsten seltenen Gütern zu verkehren. Mit Kapitallosigkeit kulminiert die Erfahrung der Endlichkeit: an einen Ort gekettet zu sein. Umgekehrt sichert der Besitz von Kapital 34 ›Lärm‹ muss letztlich selbst als soziales Konstrukt begriffen werden; vgl. hierzu etwa Bijsterveld, The diabolical symphony of the mechanical age. Damit soll jedoch nicht in Abrede gestellt werden, dass gesundheitliche Schäden infolge dauernder Lärmbelastung statistisch nachgewiesen sind (Herzerkrankungen, Beeinträchtigungen der Konzentration und des Immunsystems ). Vgl. Bartsch [u.a.], Terror am Himmel. 35 Vgl. Atkinson, Ecology of sound, 1909. Für den Immobilienmarkt in Genua vgl. Baranzini/Ramirez, Paying for quietness. 36 Engl. »aural autonomy«; Atkinson, Ears have walls, 15. Der gleichen ökonomischen Logik folgen kostenpflichtige »auditive Refugien« in der Stadt, z.B. Privatklubs, Yoga- und Meditationszentren oder geschlossene Gartenanlagen; vgl. ebd., 17f. 37 Bourdieu, Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, 33. nicht nur physische Nähe (Residenz) zu den seltenen Gütern; […]. Einer der Vorteile, den die Verfügungsmacht über den Raum verschafft, ist die Möglichkeit, Dinge oder Men schen auf (physische) Distanz zu halten, die stören [...], indem sie […] den visuellen und auditiven Wahrnehmungsraum mit Spektakel und Lärm überziehen, die [...] als unerwünschtes Eindringen oder selbst als Aggression erfahren werden.« 38 Wird Ruhe tatsächlich als eines jener seltenen und teuren ›Güter‹ angesehen, würde das den Schluss nahelegen, dass es möglich wäre, mit einem Schallpegelmessgerät die (negativ korrelierte) Einkommenshöhe der Anwohner_innen zu messen – je leiser die Umgebung, desto wohlhabender, je lauter, desto ärmer die Anrainer_innen. Und tatsächlich kommt eine aktuelle Studie des Umweltbundesamtes für Berlin zu einem entsprechenden Ergebnis. 39 Rowland Atkinsons makroskopische Perspektive offenbart mithin eine kaum beachtete ›sonic order of urban space‹, nämlich die latente Wirksamkeit einer quantitativ messbaren Form von »akustischer Gewalt«, 40 die langfristig die sozialräumliche Ordnung einer Stadt umzuschichten vermag: Es ist eben kein Zufall, wenn ein Stadtteil wie Neukölln plötzlich eine enorme Aufwertung erfährt – kurz nach der Schließung des benachbarten Flughafens Tempelhof –, wohingegen im sozialstrukturell vergleichbaren Stadtteil Wedding, der noch immer unter der Route des Flughafens Tegel liegt, eine vergleichbare Entwicklung bislang kaum zu beobachten ist. ►41 Den Einfluss anderer, qualitativer Aspekte der Klanglandschaft spricht Atkinson nur am Rande an. Auch schwerer zu fassende ›weiche‹ Faktoren wie Atmosphären und Stimmungen hätten selbstverständlich ihre Auswirkungen; sie unterlägen deshalb, wie er am Beispiel der gezielten Orchestrierung und Kontrolle »akustischer Territorien«42 ausführt, zum Teil sogar einem bewussten De38 Bourdieu, Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, 30f. 39 Wenn auch nicht für den gesamten Stadtraum statistisch signifikant, so doch zumindest gebietsweise: etwas verklausuliert wird in der Studie formuliert, »dass zwar keine berlinweite Umweltungerechtigkeit beim Themenfeld Lärm existiert, jedoch eine deutliche Doppelbelastung in einzelnen innerstädtischen Planungsräumen durch eine hohe Lärmbelastung und einen niedrigen sozialen Status zu beobachten ist«. Lakes/Brückner, Sozialräumliche Verteilung, 27 [Hervorhebung FS]. 40 Bosshard, Hörstürze und Klangflüge. 41 ►HÖRBEISPIEL 7: Schlüter, Field Recording Überflüge einer Wohnanlage. Das Field Recording kann vielleicht verdeutlichen, was dies bei derzeit rund 480 Flugzeugen pro Tag für die Wohnbevölkerung im Alltag bedeutet. 42 Atkinson behandelt unter diesem Stichwort in erster Linie den gezielten Einsatz von funktioneller Musik im konsumtiven Kontext – etwa in Einkaufszentren; vgl. Atkinson, Ecology of sound, 1909ff. sign. Doch muss die akustische Atmosphäre eines Ortes eben nicht zwangsläufig gezielt gestaltet sein, um einen Einfluss auf das subjektive Erleben und Verhalten zu haben: »[...] Klänge und Geräusche vermögen es, uns auf subtile Weise anzutreiben, zu leiten, zu empfangen oder abzustoßen.«43 F AZIT . E THNOGRAPHISCHE K LANGFORSCHUNG Angesichts eines so breitgefächerten Spektrums an Zugängen kann von kulturanthropologischer Klangforschung im Grunde nur im Plural gesprochen werden. 44 Zugleich bestehen zwischen den genannten Beiträgen von Helmi Järviluoma [u.a.], Rowland Atkinson und Steven Feld eine ganze Reihe von Korrespondenzen. Sie verstehen Soundscapes gleichermaßen als sinnlich erfahrbare, räumlich ausgedehnte, lokalspezifische ›akustische Texturen‹ des Alltags; sie identifizieren und interpretieren verschiedene soziale Bedingungen ihres Zustandekommens, diskutieren ihre ›Lesbarkeit‹ und kulturelle Bedeutung wie auch ihre sozialen Auswirkungen; und je für sich liefern sie substantielle, empirische Ergebnisse aus ganz unterschiedlichen Feldern, die durchaus so etwas wie sound cultures oder hearing cultures beschreiben, obwohl sie derlei plakative Begrifflichkeiten eher meiden. Die drei Forschungsansätze stehen für die große Bandbreite an möglichen Anknüpfungspunkten, die Schafers Konzept aus meiner Sicht auch heute noch für die Kulturanthropologie bereit hält. 45 Sie gehen über Murray Schafers ursprünglichen Ansatz der Soundscape-Forschung nun aber vor allem insofern hinaus, als sie den Akzent stärker auf die Bedeutungsebene dieser allgegenwärtigen, alltäglichen Geräuschkulisse setzen: »Klanglandschaften sind – ebenso wenig wie Landschaften – nicht nur etwas physikalisch Äußeres, nicht nur räumlicher Rahmen, getrennt von menschlichem Handeln. Klangland- 43 Vgl. Atkinson, Ears have walls, 22 [Übersetzung FS]. 44 Diese Vielfalt an Zugängen ist für die Sound Studies keineswegs untypisch und nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass sie sich mit ihrer Konzentration auf – im weitesten Sinne – akustische Phänomene einem mehr oder weniger willkürlich gesetzten Gegenstandsbereich widmen, der gewissermaßen quer zu herkömmlichen disziplinären Grenzziehungen liegt. 45 Dies darf freilich weder bedeuten, Schafers ästhetische Bewertungen unhinterfragt zu übernehmen, noch – in positivistischer Manier – das akustische Inventar bestimmter Regionen bloß zu ›registrieren‹ und zu ›katalogisieren‹. schaften stecken voller Bedeutungen. Wie Landschaften sind sie ebenso sehr psychische wie physische Phänomene, ebenso kulturelle wie materielle Konstrukte.« 46 Eine methodisch wie theoretisch weitergedachte kulturanthropologische Klangforschung begreift die akustische Umwelt deshalb gewissermaßen als eine seismographisch zu erkundende Oberfläche, hinter der sich die Interventionen und Motivationen verschiedener Akteur_innen verbergen: unterschiedliche individuelle und kollektive kulturelle Praktiken, die in der Summe einen Teil dessen hervorbringen und formen, was Schafer als Soundscape oder Klanglandschaft bezeichnet hat. Helmi Järviluoma [u.a.] beobachten etwa in den Orten, die sie untersucht haben, die Wirksamkeit bestimmter »sozio-akustischer Ordnungssysteme«, die unter anderem zwischen erwünschten akustischen Praktiken und akustischen Tabus differenzieren, und die damit letztlich auch beeinflussen, was an einem Ort zu hören ist, und was nicht.47 Wer z.B. das unangenehme Gefühl kennt, schon einmal im falschen Moment zu laut gelacht zu haben, ahnt vielleicht, dass solche unausgesprochenen »akustischen Regime«48 fast überall in Abstufungen wirksam sind: Im Zweifelsfall werden sie im wahrsten Sinne des Wortes fühlbar und spürbar. Die alltägliche Klanglandschaft – kollektiv geformt und kollektiv geteilt – kann also als eine Art Kommunikationsplattform begriffen werden, die von den verschiedensten Sender_innen und Empfänger_innen genutzt wird. Da diese jedoch kaum dieselben Weltbilder und Wertmaßstäbe teilen, muss der akustische Raum zugleich als symbolischer Austragungsort und erfahrbares Zeugnis bestimmter (hegemonialer) symbolischer Ordnungen verstanden werden. Die individuellen Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten sind dabei – wie Rowland Atkinson veranschaulicht – keineswegs gleich verteilt, sondern hängen unter anderem vom sozialen Status ab. Städtische gated communities sind vielleicht das symbolträchtigste Beispiele für im wahrsten Sinne des Wortes exklusive urbane Zonen, die sich nicht zuletzt gegen den Lärm der Anderen abschotten; auch im Zuge der ›Aufwertung‹ einzelner Stadtteile sind teils gezielte Strategien einer »akustischen Gentrifizierung«49 auszumachen. Atkinson betont allerdings, dass sich ein Großteil dieser Entwicklung eher schleichend und vergleichsweise anonym vollzieht: nachweisliche Zusammenhänge zwischen Wohlstand und ruhigem Wohnumfeld sowie zwischen Armut und hoher lokaler Lärmbelastung legen nahe, dass Schall in der städtischen Geographie zu einer ganz eigenen »so46 Feld, A rainforest acoustemology, 226 [Übersetzung FS]. 47 Vgl. Järviluoma [u.a.], Acoustic environments in change, 25f. 48 Vgl. hierzu Schlüter, Akustische Territorien, akustisches Regime. 49 Für Warschau vgl. etwa Kusiak, Acoustic gentrification. zialen Qualifizierung des Raums«50 beitragen kann und – über den ökonomischen Hebel – als sozialräumlich »strukturierte und strukturierende Kraft« 51 begriffen werden muss. Das oft als so flüchtig und filigran beschriebene ›akustische Gewebe‹ kann also durchaus greifbare, mitunter gar gewaltsame Auswirkungen haben. Die komplexeren symbolischen Querverbindungen eines ganzen ›akustemologischen‹ Systems werden sich zwar kaum jemals augenblicklich erschließen, sondern – wie bei Steven Felds Untersuchungen zur Kultur der Kaluli – erst allmählich, im Laufe jahrzehntelanger Forschung: Der irritierende, klagende Ruf des tibodai-Vogels kann mir dennoch durch Mark und Bein gehen, auch wenn ich (noch) nicht um dessen spezifische spirituelle Bedeutung weiß. Dieses unmittelbare, ›berührende‹ Moment von Hörerfahrungen ist ein starkes Argument dafür, gerade bei der Darstellung der Ergebnisse sinnlicher Ethnographien künftig noch mehr auf andere Medien – jenseits des Texts – zu setzen, wie es derzeit unter anderem auch am Sensory Ethnography Lab der Harvard University erprobt wird.►52 Dokumentarische Soundscape Compositions, Field Recordings oder akustische Collagen können sich eben einer ganz eigenen Art von Sprache bedienen, um von Feldforschungen zu erzählen. Das auditive Interesse der Ethnologie gilt also längst nicht mehr nur vergleichsweise anerkannten akustischen Praktiken wie Sprache oder Musik. Ethnographische Klangforschung – begriffen als Teilprojekt einer sinnlichen Ethnographie – widmet sich heute einer Vielzahl von Feldern und Fragestellungen. ►53 Mit ihrer relativ gut ausgebauten Methodik, die unter anderem listening walks, verschiedene Modi der Kartierung und dokumentarische Tonaufnahmen einschließt, könnte sie zugleich Vorbild sein für andere sinnliche Ethnographien. ANDERE P ERSPEKTIVEN . AKUSTISCHE F ELDFORSCHUNG Das Interesse an den unausgesprochenen, scheinbar selbstverständlichen Anteilen kollektiven Wissens durchzieht alle ethnographische Forschung, egal ob ›in 50 Bourdieu, Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, 27. 51 Atkinson, Ears have walls, 24. 52 ►HÖRBEISPIEL 8: »Wind Horse«. Spray, Blue Sky, White River. Stephanie Spray verquickt rhythmisches Atmen und flüsterndes Gebet, Geräusche des Kali-GandakiFlusses, Glockenklänge und Windstöße zu einer hypnotisierenden Soundscape Composition. Die Aufnahmen stammen aus der Pilgerstätte Mukhtina, Nepal. 53 ►HÖRBEISPIEL 9: Burkhalter, Über Geräusche die Welt deuten. Das Feature beleuchtet aktuelle Forschungsfelder und Kontroversen unter Klangforscher_innen. der Fremde‹ oder ›zuhause‹; die Europäische Ethnologie, die Feldforschung im eigenen, vertrauten Umfeld betreibt, geht dabei gerne aus von der programmatischen »Prämisse [der] Unbekanntheit gerade auch jener Welten, die wir selbst bewohnen«.54 In einer solchen Forschungssituation muss ein ›fremder Blick auf das Eigene‹ natürlich erst bewusst kultiviert werden. Die Sound Studies sind hier insofern einen Schritt voraus, als sie gewissermaßen per definitionem eine andere Perspektive einnehmen. Sobald ich mich bewusst und ausschließlich darauf konzentriere, wie sich mein Umfeld anhört, vollziehe ich ja bereits eine gewisse methodische »Befremdung«. 55 Vielleicht der wichtigste Aspekt einer ethnographischen Klangforschung scheint mir daher akustische Feldforschung im Sinne des Wortes zu sein: 56 Denn obwohl die Klanglandschaft Teil der gewohnten Umgebung ist, dürfte sie zugleich – als eigenes Untersuchungsfeld – den meisten mehr oder weniger fremd sein: eine terra incognita, ein unbekanntes Land im eigenen, wenn man so will. Und doch ist die Klanglandschaft alles andere als ein unzugängliches Paralleluniversum. Wenn sie überhaupt als eigener sensorisch-symbolischer Kosmos begriffen werden kann, dann ist dieser aufs engste mit unserem Alltagsleben verwoben. Der Zugang führt über die sinnliche Wahrnehmung. L ITERATUR Amann, Klaus/Hirschauer, Stefan (1997): Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm, in: dies. (Hrsg.): Die Befremdung der eigenen Kultur. 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