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Soziale (un)gerechtigkeit: Kritische Perspektiven Auf Diversity, Intersektionalität Und Antidiskriminierung (2011)

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María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan (Hg.) Soziale (Un)Gerechtigkeit Kritische Perspektiven auf Diversity, Intersektionalität und Antidiskriminierung Politikwissenschaft Bd. 158 LIT 2 INHALT María do Mar Castro Varela Vorwort Nikita Dhawan Transnationale Gerechtigkeit in einer postkolonialen Welt Gayatri Chakravorty Spivak Ein moralisches Dilemma Davina Cooper From Blokes to Smokes: Differenzen theoretisieren Cathrine Egeland & Randi Gressgård The Will to Empower: Die Komplexität der »Anderen« managen Sara Ahmed "You end up doing the document rather than doing the doing": Diversität, Rassismus, Gleichheit und Dokumentationspolitiken Rita Dhamoon Die konzeptuelle Verschiebung von 'Kultur' zu 'kulturell': Verortung der Intersektionen von Ungerechtigkeit Ljubomir Bratić Die Politik der Anteilslosen Antke Engel Des/Integration politisieren. Dissidente Sexualitäten und eine Politik des agonalen Pluralismus 3 Ravi Malhotra Disability Politik, Antidiskriminierungsgesetzgebung und Intersektionalität: Empowerment-Strategien für behinderte Menschen in einer Demokratie Bettina Roß Mit Ausgrenzung und Assimilierung führt kein Weg zur Partizipation Gabriele Dina Rosenstreich Antidiskriminierung und/als/trotz... Diversity Training Halil Can Demokratiearbeit und Empowerment gegen Diskriminierung und Rassismus in selbst bestimmten People of Color –Räumen Leah Carola Czollek, Gudrun Perko & Heike Weinbach Radical Diversity im Zeichen von Social Justice - Philosophische Grundlagen und praktische Umsetzung von Diversity in Institutionen 4 Nachweise Ahmed, Sara (2007): "You end up doing the document rather than doing the doing: Diversity, race equality and the politics of documentation". In: Ethnic and Racial Studies, 1466-4356, 30 4, S. 590–609. Copyright © 2007 Sara Ahmed; Kürzungen mit Genehmigung der Autorin Cooper, Davina (2004): Challenging Diversity. Rethinking Equality and Value of Difference. Cambridge: Cambridge UP, Kapitel 3, S. 40-67. Copyright © 2004 Davina Cooper und Cambridge University Press; Kürzungen mit Genehmigung der Autorin Spivak, Gayatri Chakravorty (2001): "A Moral Dilemma". In: Howard Marchitello (Hg.): What Happens to History: The Renewal of Ethics in Contemporary Thought. New York/London: Routledge, S. 215-236. Copyright © 2001 Gayatri Chakravorty Spivak; Kürzungen mit Genehmigung der Autorin Wir danken den Autorinnen für die freundliche Bewilligung der Übersetzungsund Abdruckrechte. 5 Transnationale Gerechtigkeit in einer postkolonialen Welt NIKITA DHAWAN 1 Die postkoloniale Welt ist in einem Dilemma gefangen, welches keine einfache Lösung kennt. Das formelle Erlangen der Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien und Protektorate in Asien und Afrika nach dem Zweiten Weltkrieg hat nicht das Ende des westlichen Imperialismus herbeigeführt. Die epistemologischen und materiellen Bedingungen, auf welche sich der europäische Kolonialismus stützte, gestalten weiterhin unsere Welt, und die postkolonialen Nationalstaaten sind somit nach wie vor mit dem ambivalenten Erbe der Kolonialreiche konfrontiert. Von Entwicklungspolitiken bis zu Friedens- und Sicherheitsfragen, von Menschenrechten bis zu Handelspolitiken, vom Klimawandel bis zum Recht auf geistiges Eigentum; Problemwahrnehmung und Lösungsfindung sind weiterhin durch koloniale Beziehungen geprägt. Dies ist auch im Kontext unserer Debatte um transnationale Gerechtigkeit der Fall. Angesichts wachsender globaler Abhängigkeitsverhältnisse steigt die Erwartung, dass mächtige Akteure, Organisationen und Nationalstaaten eine ethische Verantwortung gegenüber den verletzlichsten Teilen der Weltbevölkerung übernehmen müssten. Die Forderung, dass transnationale Eliten über ihre engen territorial basierten Eigeninteressen hinaus zur Förderung und zum Schutz der Gerechtigkeit handeln müssten, erscheint auf den ersten Blick überzeugend. Derzeitige Bestrebungen im »Interesse« von weit entfernten Anderen zu sprechen und zu handeln, erwecken hingegen in Anbetracht der langen und gewaltsamen Geschichte der kolonialen Interventionen in die nicht-westliche Welt oftmals Argwohn und Misstrauen. Euro-amerikanische Suprematie und Paternalismus werden hier abermals neu hergestellt, wobei beide Mächte erneut als diejenigen handeln, die über Recht und Gerechtigkeit verfügen. 1 Übersetzung aus dem Englischen von Joanna James und Anna Krämer. Ich danke Susanne Bernhart und Elisabeth Fink für ihre Unterstützung. 6 Gerechtigkeit wird gemeinhin als eine Schaffung egalitärer Gesellschaften verstanden und soll dazu dienen, Freiheit, Unabhängigkeit und Gleichheit zu garantieren und die Würde aller Menschen zu schützen. Gründet Gerechtigkeit auf Konzepten wie Menschenrechte und Demokratie, umfasst sie auch die Möglichkeit, materielle und diskursive Chancengleichheit zu erlangen. Die Fragen, was gerecht ist und was die besten Mittel zur Herstellung von Gerechtigkeit sind, gaben in den letzten Jahrzehnten Anlass für eine intensive Debatte. Die Idee eines objektiven Standards von Gerechtigkeit wurde von verschiedenen Seiten, unter anderem von FeministInnen, kritischen Rassismusforscher/innen sowie aus Perspektive der queeren und postkolonialen Theorien, herausgefordert und kritisiert. Diese Debatte zog zudem eine kritische Auseinandersetzung mit dem normativen Dilemma westlicher Begriffe wie Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit nach sich. Zentrale Fragen dieser Auseinandersetzung sollten klären, ob sich auf Grundlage jener zentralen westlichen Konzepte Handlungsmöglichkeiten für entrechtete Gemeinschaften eröffnen oder inwiefern sie hegemoniale Normen und Herrschaftsverhältnisse zwischen jenen, die Gerechtigkeit geben und jenen, die sie lediglich erhalten, verstärken. Die meisten Gerechtigkeitstheorien sind aufgrund ihrer Verankerung in einem westlichen (hetero)normativen Bezugssystem als euro- und androzentrisch kritisiert worden. Hieraus ergeben sich folgende Fragen: Gibt es objektive Standards der Gerechtigkeit, die universell anwendbar sind, unabhängig von Kultur, »Rasse«, Geschlecht, Religion, Nationalität oder anderen Faktoren? Und wenn nicht, welche Auswirkungen hat dies auf die globale Verteilung von Gerechtigkeit und ihrer Funktionsweisen? Wer autorisiert unsere Normen der Gerechtigkeit und was machen wir mit denjenigen, die sich nicht als Objekte unseres Wohlwollens sehen? Dieser Artikel stellt eine postkolonial-feministische Lesart von Gerechtigkeitsdiskursen dar, welche aufdeckt wie Neo-Kolonialismus im Namen des so genannten »Richten von Unrecht« (righting wrongs) (Spivak 2004) gerechtfertigt wird. Das Ziel im Kontext dieses Bandes ist es, eine Reihe von Fragen betreffend der historischen und kulturellen Situiertheit von Gerechtigkeit und ihrer Anwendbarkeit vor allem in postkolonialen Kontexten zu formulieren. Zu diesem Zweck ist der vorliegende Artikel in fünf Abschnitte untergliedert, die von der Notwendigkeit, den einseitigen Fluss von Normen aus dem globalen Norden in den globalen Süden 7 zu überwinden, bis hin zur Frage in welcher Weise Geschlechtergerechtigkeit als Alibi zur Legitimierung neo-kolonialer Interventionen dient, reichen. Indem diese vielfältigen, aber in wechselseitiger Beziehung zueinander stehenden Themen angesprochen werden, wird das Ziel verfolgt, unsere Epistemologien und Praktiken der Gerechtigkeit zu dekolonisieren. Der Artikel beginnt mit einer knappen Hinterfragung kolonialer Kontinuitäten in aktuellen Gerechtigkeits-, Friedens- und Menschenrechtsdiskursen. Der zweite Abschnitt befasst sich mit der Herausforderung, den eurozentrischen Blickwinkel mit Hilfe der Leseweise von Gerechtigkeit und Menschenrechten als »reisenden Konzepten« (travelling concepts) zu überwinden. Der dritte Abschnitt konzentriert sich auf die Frage, inwiefern Geschlechtergerechtigkeit mehr darstellt als Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern; vielmehr hilft eine intersektionale Herangehensweise unser Verständnis von Geschlechterverhältnissen als Machtund soziale Kräfteverhältnisse zu stärken. Der vierte Abschnitt verdeutlicht die Bedeutung des Begriffes der »normativen Gewalt« (normative violence) (Butler 1999: xx). Hierdurch soll die gleichzeitig ermächtigende und entmachtende Funktion von Normen wie Gerechtigkeit auf der rechtlichen als auch auf der sozio-kulturellen Ebene verständlich gemacht werden. Der Schlussabschnitt schlägt vor, Gerechtigkeit als utopisches Konzept zu lesen. Dieser Ansatz fordert von den »Geber/innen« transnationaler Gerechtigkeit permanente Wachsamkeit in ihren Anstrengungen, Unrecht zu richten. Gerechtigkeit dekolonisieren In seinem Buch »The Other Heading: Reflections on Today’s Europe« stellt Jacques Derrida fest, dass Europa schon immer dazu tendiert hat sich als »cultural capital« (von caput, Kopf, Haupt) der Welt zu sehen, die der »world civilization or human culture in general« als Orientierung diene (Derrida 1992: 24ff.). Die Rolle der »Norm-Produzenten« (juristisch als auch sozio-kulturell) die Euro-Amerika historisch für sich beansprucht, beinhaltet die Vorstellung, was für Euro-Amerika gut ist, muss auch für den Rest der Welt gut sein. Diese Überzeugung ist mit einem ausgeprägten Missionsgedanken verbunden, wonach Euro-Amerika die Verantwortung dafür habe, weltweit Gerechtigkeit zu verbreiten. Die Idee von Euro-Amerika als Garant für globale Gerechtigkeit stellt eine Konti- 8 nuität mit der Vorstellung von der »Bürde des weißen Mannes« her, nach welcher die Europäer die Verantwortung und Pflicht hätten, den Rest der Welt zu »retten« und zu »erleuchten«. Nach dieser Logik wurde und wird jegliche europäische Intervention als Prozess der Befreiung legitimiert. Widerstand gegen die Einmischung wird hingegen als Anzeichen der Barbarei gegenüber den Kräften der Gerechtigkeit gelesen, als Ablehnung der europäischen Aufklärung und als ein Ausdruck der Undankbarkeit gegenüber der Güte der Bringer von Frieden und Gerechtigkeit, was gleichsam die gewaltsame Unterdrückung jeglicher Gegenwehr in den Augen der Europäer/innen rechtfertigt. Rassistische Diskriminierung, kulturelle Unterordnung und ökonomische Ausbeutung von NichtEuropäer/innen wurde und wird im Namen der guten Taten für die Welt legitimiert, im Namen von Fortschritt, Entwicklung, Demokratie und dem Schutz von Gleichheit und Freiheit. Moralisches und rationales Handeln von Einheimischen wird nach dieser Logik automatisch als Wohlwollen gegenüber westlichen Interventionen gedeutet. Der euro-amerikanische Anspruch auf Führung in den Bereichen von Gerechtigkeit und Menschenrechten basiert auf der Behauptung moralischer und der Geltendmachung militärischer Überlegenheit. Dieser Anspruch auf Führung, der festlegt, was richtig und gerecht ist, findet sich im Kern der außenpolitischen Ausrichtung (foreign policy legitimacy) der meisten westlichen Länder. Die »Geber/innen« von Gerechtigkeit beanspruchen für sich die »normative Macht« entscheiden zu können, was »gerecht« und »gut« ist, wobei diejenigen, die lediglich auf der Seite der »Empfänger/innen« von Rechten und Gerechtigkeit stehen, zu reinen »KonsumentInnen« von Normen gemacht werden. An der Verbindungsstelle zwischen denen die handeln und jenen über welche hinweg gehandelt wird, entsteht eine Vorstellung ethischer Verantwortung, durch welche Euro-Amerika die Handlungsmacht im Namen des Schutzes und der Übernahme von Verantwortung monopolisiert. Im Gegenzug stellt die Dankbarkeit, die von jenen deren Unrecht von den moralischen Gutmenschen gerichtet wurde erwartet wird (und teilweise auch vorhanden ist), eine grausame Erinnerung daran dar, dass aus der formellen Machtübergabe der kolonialen Herrschaft an die einheimischen Eliten weder die Dekolonisierung des globalen Südens noch des globalen Nordens resultierte. 9 Die Konstruktion »des Westens« als normative Macht hinterlässt eine Spur gewalttätiger und ausbeuterischer Systeme im Namen von Modernität, Fortschritt, Rationalität, Emanzipation, Rechte, Gerechtigkeit und Frieden. Nicht-westliche Individuen, Gruppen oder Staaten, die beanspruchen als »zivilisiert« und modern anerkannt zu werden, können einzig das Europäische Normensystem nachahmen oder sie riskieren, sich der Gewalt auszusetzen, zwangsweise »zivilisiert« und modernisiert zu werden. Aufgrund ihrer Überlegenheit wird angenommen, dass die europäischen Normen es wert seien sie nachzuahmen; gerade weil die Einheimischen allerdings nur versuchen können, so wie Europäer/innen zu sein, müssen sie scheitern. So kann der Versuch, die europäischen Normen zu imitieren nur »schlechte«, »schwache« oder »gescheiterte« Kopien produzieren, was wiederum die Autorität des europäischen »Originals« untermauert. Die Legitimität und die Effizienz lokaler Mechanismen und Praktiken werden durch das top-down Modell transnationaler Gerechtigkeit untergraben, welches die Singularität der Kontexte, in welcher Gerechtigkeit operationalisiert werden muss, ignoriert. Auch wenn der Werkzeugkasten der »Geber/innen von Gerechtigkeit« umfangreich und auf verschiedenste Kontexte anwendbar ist, impliziert die »Einheitsgrößen« Attitüde (one size fits all) ein Verständnis von transnationaler Gerechtigkeit als Imperativ ohne Berücksichtigung des sozialen Kontextes, in dem sie zur Anwendung kommt. Dies ist insbesondere dann relevant, wenn die Eckpfeiler von Gerechtigkeit, wie Menschenrechte oder Demokratie, in den verschiedenen sozio-politischen Kontexten unterschiedliche historische Bedeutungen haben. Diese Vielfalt von Interpretationen und Verhandlungen jener Konzepte zu ignorieren, führt dazu, dass das Streben nach transnationaler Gerechtigkeit und ihre Anwendung als Alibi für Neo-Kolonialismus wahrgenommen werden. Andererseits bringt die Kritik eines universellen Gerechtigkeitsbegriffes die Gefahr einer kulturrelativistischen Legitimierung von Menschenrechtsverletzungen und Ungerechtigkeiten mit sich, die als »lokale Praktiken« verteidigt und aufrechterhalten werden. Dies wirft das folgende Dilemma auf: Wie können Gerechtigkeitsfragen angesprochen werden ohne in die Falle des Universalismus einerseits und des kulturellen Relativismus andererseits zu tappen? 10 Gerechtigkeit als »Travelling Norm« Auch wenn wir wissen, dass die Genese einer Theorie nicht ihre Geltung festlegt oder, um mit Paul Gilroy (1993) zu argumentieren, der Fokus sowohl auf »roots« (Wurzeln) als auch »routes« (Routen) gelegt werden sollte, kann der eurozentrische Bias in den Gerechtigkeitstheorien nicht einfach durch die »Provinzialisierung Europas« (Chakrabarty 1992) überwunden werden, auch wenn dies einen bedeutsamen Aspekt des Prozesses der Dekolonisierung darstellt. Das Dilemma besteht darin, dass die Werkzeuge zur Kritik des Eurozentrismus häufig aus der europäischen intellektuellen Tradition stammen. Eine postkolonial-feministische Theorie der Gerechtigkeit kann sich somit weder darauf beschränken, die westliche Idee von Gerechtigkeit zurückzuweisen, noch kann es das Ziel sein, einen »puren«, »reinen« und »authentischen« nicht-westlichen Begriff der Gerechtigkeit wiederherstellen zu wollen. Gerechtigkeit sollte vielmehr als »reisende Norm« verstanden werden, die Fragen wie folgende aufwirft: Wie reisen Normen durch den asymmetrischen Raum der Postkolonialität? Wie werden sie von einem Idiom in ein anderes übersetzt und wer ist autorisiert, als »kulturelle/r Übersetzer/in« zu fungieren? Die Produktion von Theorien ebenso wie ihre Rezeption werden von den spezifischen Kontexten in denen sie entstehen und in denen sie rezipiert werden geformt. Aber unter den Bedingungen der Globalisierung sind sowohl Theoretiker/innen als auch Theorien immer mobiler geworden und damit auch permanent in einen Prozess der Übersetzung eingebunden. Bei der Untersuchung des etymologischen Ursprungs des griechischen Begriffs »theorein« stellte James Clifford (1989: 177) fest, dass es sich bei dem Terminus um eine bestimmte Praktik des Reisens handelte, bei welcher eine Person einer Polis in eine andere geschickt wurde, um dort als Beobachter einer religiösen Zeremonie beizuwohnen. »Theorie« sei demnach das Produkt des Ortswechsels und des Vergleiches, der gleichzeitig eine gewisse Distanz voraussetze; zur Theorienbildung muss somit das Zuhause verlassen werden. Aber die Feststellung, dass für den griechischen Theoretiker der Ausgangs- und der Endpunkt zu Hause liegen, lässt sich nicht auf die zeitgenössischen globalen Bewegungen von Theorien und Theoretiker/innen übertragen. Wenn Theorie im Westen nicht länger natürlich »zu Hause« ist und wenn somit dieser privilegierte Platz durch »andere« Strömungen des Wissens, die rassifizierte, vergeschlechtlichte und kulturelle Differenzen artikulieren, in Frage gestellt 11 wird, ruft dies darüber hinaus die Frage auf, wie Theorien angeeignet werden können und wie man sich ihnen widersetzen kann, wie sie lokalisiert und wie sie disloziert werden können (ebd.: 178). Edward Saids (1983) Ausführungen zum Konzept der »Travelling Theory« werfen bedeutsame Fragen bezüglich des Ortes der Produktion, der Rezeption und der Übertragung von Theorien auf. Said folgend kritisiert Clifford den einseitigen Nord-Süd-Fluss von Theorien, der den ambivalenten Aneignungen und Widerständigkeiten, die die Reisen von Theorien und Theoretiker/innen zwischen »Erster« und »Dritter Welt« charakterisieren, nicht gerecht wird. Dabei zeichnet er die unvermuteten Routen nach, welche die migrierenden Theorien nehmen und beobachtet, wie diese sich zwischen den verschiedensten widersprüchlichen Kontexten und Leserschaften bewegen (Clifford 1989: 185). Dies bringt uns zu dem verwandten Begriff der »reisenden Konzepte«, der von der feministischen Kulturtheoretikerin Mieke Bal (2002) in die Debatte eingebracht wurde. Als Werkzeuge des Diskurses ermöglichten Konzepte Dialog und Austausch, auch wenn sich die Bedeutung und Aussagekraft der Konzepte verändere und kontinuierlich zwischen den verschiedenen kulturellen Kontexten und historischen Abschnitten verhandelt werde. Dies verweist sowohl auf die Notwendigkeit einer kritischen Analyse der Bedingungen, in welchen spezifische Konzepte entstehen, wie sie »importiert« und »exportiert« werden, welche Transformationen sie bei der Bewegung durch verschiedene Kontexte erfahren, als auch auf die Dringlichkeit einer Untersuchung der methodologischen Konsequenzen, welche das Reisen von Konzepten für transnationale Analysen normativer Ordnungen haben. Da sich die Konzepte nicht auf den bekannten Routen bewegen, ist es zudem erforderlich, die Pfade ihrer Reisen wie auch ihre Stationen nachzuzeichnen. Die chinesische Kulturtheoretikerin Lydia Liu beschäftigt sich in ihren wegweisenden Arbeiten mit der Frage, was es bedeutet, Konzepte auf Grundlage gemeinhin anerkannter Äquivalenzen von einer Sprache in eine andere zu übersetzen (1995: xv). Sie fragt, ob es möglich sei von der Ost-West Kluft durchquerenden konzeptuellen Strömungen zu sprechen, bei denen die Erfahrung der einen nicht den Repräsentationen, Übersetzungen und Interpretationen der Anderen unterworfen sei. Was passiert, wenn Normen von einer Sprache in eine andere »reisen«? Was ist das Transportmittel? Werden Grenzen problemlos überschritten? Wer legt die 12 Grenzen fest und überwacht sie (ebd.: 21)? Ist es auf universellem und transhistorischem Boden möglich, sichere Vergleichskategorien zu entwickeln (ebd.: xv)? Liu beruft sich an dieser Stelle auf den Begriff der »übersetzten Moderne« (translated modernity), um die Möglichkeit zu eröffnen, transkulturelle Interpretationen und Formen der linguistischen Vermittlung zwischen Osten und Westen neu zu denken. Hier wird gleichzeitig die Frage berührt, was es für Theoretiker/innen und Praktiker/innen (practitioners) bedeutet, »Sprachgrenzen« zwischen Kulturen und Sprecher/innengruppen zu überschreiten (ebd.: 1). Jedes Mal, wenn die Frage gestellt wird, was auf Hindi oder Mandarin das Wort für »Menschenrechte«, »Gerechtigkeit« oder »Demokratie« ist, wird das NichtExistieren eines Äquivalentes in den Vernakularsprachen entweder als »Mangel« interpretiert oder der betreffende landessprachliche Terminus wird an seinem westlichen Counterpart gemessen (ebd.: 6). Die Implikationen sprachlicher Interaktionen zwischen Osten und Westen sind vielfältig und die Überschreitung sprachlicher Grenzen ist nicht »lediglich« eine linguistische Frage. In seinem kürzlich erschienenen Buch »The Idea of Justice«, nennt Amartya Sen (2009) zwei unterschiedliche Konzepte von Gerechtigkeit aus der alten indischen Rechtslehre (jurisprudence), nämlich die klassischen Sanskritbegriffe »niti« (organisatorische Richtigkeit – organizational propriety) und »nyaya« (realisierte Gerechtigkeit – realized justice). Diese stellt er als Gegenmittel nicht-europäischer intellektueller Provenienz dem Provinzialismus zeitgenössischer westlicher Gerechtigkeitstheorien gegenüber (2009: 20). Und dennoch bleibt die Frage bestehen: Wie gastfreundlich ist der Westen gegenüber nicht-westlichen Ideen? Dem Derrida’schen Begriff der »hostipitality« – ist der Gegensatz von Gastfreundschaft (hospitality), nämlich Feindschaft (hostility) – bereits eingeschrieben (Derrida 2000: 3). Was macht die westliche intellektuelle Tradition mit dem unerwünschten Gast? Haben nicht-westliche Konzepte und Praktiken von Gerechtigkeit das Recht, mit Gastfreundschaft und nicht mit Feindschaft behandelt zu werden? Im Bezug auf die kolonialen und imperialistischen Diskurse des 19 Jh. verweist die Reise von Ideen und Theorien von Europa in den Rest der Welt auf Begriffe wie Expansion, Aufklärung, Fortschritt und teleologische Geschichte. Die postkoloniale Feministin Tejaswini Niranjana (1992) legt dar, wie die Kolonialverwaltung im britischen Indien die 13 Notwendigkeit betonte, den Orient von Europäern studieren, kodieren und erfassen zu lassen, während die Einheimischen als unzuverlässige Interpreten ihrer Gesetze und Kultur gesehen wurden. Wenn Sprachpolitiken im Zentrum des Kolonialismus standen, so muss jeder Versuch einer Dekolonisierung translinguale Praktiken ernst nehmen. Was passiert, wenn ein »westliches Konzept« in eine nicht-europäische Sprache übersetzt wird und umgekehrt? Kann das Kräfte- und Machtverhältnis zwischen Osten und Westen neu erfunden werden, und wenn ja, wie? Es ist wichtig festzuhalten, dass nicht-europäische Sprachen nicht automatisch einen Ort des Widerstandes gegen Eurozentrismus darstellen; vielmehr würde bereits das Aufhalten des einseitigen Flusses von Konzepten und Normen ein Eingeständnis der Historizität und Kontextualität westlicher Konzepte nach sich ziehen und damit die Reise von nicht-westlichen Konzepten und Theorien erleichtern. Die Historisierung und Dekolonisierung von Wissen könnte den asymmetrischen Fluss von Konzepten herausfordern und in Frage stellen. Hiermit kommen wir zum nächsten Schritt: Wie werden Normen verhandelt, wenn sie erst einmal in andere Welten gereist sind? Im folgenden Abschnitt werden wir diesen Prozess aus einem postkolonialfeministischen Blickwinkel heraus analysieren: Wie werden »DritteWelt- Frauen« als »Opfer« konstruiert; wie wird ihre Handlungsfähigkeit ignoriert, ausgehöhlt und untergraben, um »externe« Intervention notwendig zu machen, die wiederum euro-amerikanischen Paternalismus und die »positionale Überlegenheit« stärkt. Geschlechtergerechtigkeit als Alibi: »Saving Third World Women« Eines der herausforderndsten Felder in denen Fragen der Gerechtigkeit diskutiert werden ist der Bereich »Geschlechtergerechtigkeit« (Mukhopadhyay 2007: 1). Ziel ist hier die Untersuchung der Rolle von Gender in Prozessen materieller und epistemischer Ausbeutung, Dominanz und Exklusion in Kombination mit der Skizzierung von Strategien, die Zugang zu und Kontrolle über Ressourcen ermöglichen und die Handlungsfähigkeit von verletzlichen Personen stärken. Darüber hinaus zielt der Bereich der Geschlechtergerechtigkeit darauf ab, soziale Institutionen, die für die Verwirklichung von Gerechtigkeit zuständig sind, rechenschafts- 14 pflichtiger und verantwortlicher zu machen (ebd.: 5). Im Aushandeln der sich aus der Durchsetzung von Gerechtigkeitsidealen ergebenden Herausforderungen, sucht Geschlechtergerechtigkeit sich jenseits des bloßen legalen Aktes des Zuspruchs von Rechten zu bewegen. So hat der Zugang zu Gerechtigkeit durch Rechtsreformen im Bildungssektor oder in Fragen von sexueller Gewalt freilich verletzliche Frauen geschützt und ermächtigt, doch ist das oftmals mit einer Bekräftigung von Geschlechterunterschieden einhergegangen (ebd.: 13). Auf der anderen Seite, selbst wenn Recht nicht Gerechtigkeit garantiert, können »Rechte nicht nicht gewollt sein« (Kapur 2005: 37). Derzeitige Diskurse über Geschlechtergerechtigkeit versuchen zahlreiche Aspekte zu adressieren, einschließlich philosophischer Diskussionen über Handlungsfähigkeit, Autonomie, Rechte und Fähigkeiten; politische Diskussionen über Partizipation, Demokratisierung und Staatsbürger/innenschaft; ökonomische Debatten um Zugang zu und Kontrolle über Ressourcen; und Diskussionen im Bereich des Rechts über juristische Reformen und praxisbezogene Fragen hinsichtlich des Zugangs zu Gerechtigkeit (Goetz 2007: 27ff, Mukhopadhyay 2007: 1). Die Herausforderung bleibt: Wie lassen sich Gerechtigkeitsstandards bestimmen? Durch unterschiedliche Verständnisweisen der Mittel, die Geschlechtergerechtigkeit verwirklichen sollen, werden nationalen und internationalen Akteur/innen und Organisationen konkurrierende Rollen und Erwartungen auferlegt (ebd.). Auf der einen Seite wird der Staat zunehmend durch nicht-staatliche Akteur/innen wie internationale NGOs und RepräsentantInnen sozialer Bewegungen ersetzt, die ein hohes Maß an Legitimität in der internationalen öffentlichen Sphäre genießen, um auf globaler Ebene Angelegenheiten von Menschenrechtsverletzungen und dergleichen zu beobachten. Auf der anderen Seite wird argumentiert, dass der Staat für ausgleichende und umverteilende Gerechtigkeit unerlässlich ist, sowie er für den Schutz seiner Bürger/innen verantwortlich gemacht werden sollte. Vor dem Hintergrund des historischen Vermächtnisses des Kolonialismus und Imperialismus kollidieren militärische oder humanitäre Interventionen zur angeblichen Unterstützung oder zum Schutz von Geschlechtergerechtigkeit mit der Souveränität postkolonialer Nationalstaaten. Dieses Dilemma ist nicht einfach aufzulösen. 15 Variierende Interpretationen hinsichtlich der Rolle der Regierungen, der internationalen Organisationen und internationalen zivilgesellschaftlichen Akteur/innen produzieren sehr verschiedene Strategien für Geschlechtergerechtigkeit, wie beispielsweise die Ermächtigung verletzlicher Personen durch das Ermöglichen politischer Partizipation oder ökonomische Unabhängigkeit durch die Bereitstellung von Mikrokrediten oder Gender Mainstreaming. Ebenso ist die Beschaffenheit von Geschlechterungerechtigkeit in einer Reihe von miteinander verbundenen sozio-politischen Institutionen wie Familie, Gemeinschaft, Markt und dem Staat verortet. Die ideologischen und kulturellen Rechtfertigungen der Unterordnung verletzlicher Gruppen innerhalb des jeweiligen Schauplatzes zu verstehen, kann hilfreich sein, um zu identifizieren, wie Strukturen von Ungerechtigkeit kritisch hinterfragt werden können. Derzeitige Diskussionen um Gerechtigkeit nehmen zunehmend das Modell der Intersektionalität in Anspruch. Dieses sucht zu erklären und aufzuzeigen, wie sich verschiedene Formen von Diskriminierung überlappen und überschneiden und dabei verletzliche Subjektpositionen produzieren. Macht wird hier nicht verstanden als einursprünglich. Die verschiedenen diversen Formen von Macht interagieren dabei und manifestieren sich in kontextspezifischen Weisen. Ein intersektioneller Zugang legt offen, wie Gerechtigkeit im Bereich der Geschlechterpolitik nicht nur eine Frage der Gleichheit zwischen den Geschlechtern ist; sie beinhaltet ebenso andere Faktoren wie »Rasse«, Klasse, Religion und able-bodiedness, um nur einige zu nennen. Dies impliziert, dass Frauen (oder Männer) nicht als eine kohärente oder homogene Gruppe identifiziert werden können. Stattdessen verläuft Gender quer über alle sozialen Kategorien und produziert verschiedene Auffassungen von Gerechtigkeit. Klar wird trotz der Kontroversen, dass es sich bei Geschlechtergerechtigkeit um mehr als die Gleichbehandlung von Männern und Frauen handelt. Eine Herausforderung ist dabei die Definition und das Verständnis der komplexen Manifestationen von Gewalt, nämlich wie ökonomische, sexuelle, rassistische und Geschlechtergewalt eng miteinander verwoben sind und sich kreuzen, um bestimmte Verschränkungen von Unterdrückung zu generieren. Obwohl sich feministische Organisierung zunehmend transnational gestaltet, wird Beherrschung aufgrund von »Rasse« und Klasse in feministischen Diskursen und Praxen noch immer reproduziert und aufrechterhalten. Die Vorstellung von gemeinsamen Interessen von Frauen ungeachtet 16 von Klasse, »Rasse«, Religion und Nationalität führte zur Befürwortung allgemeiner Lösungen für vielerlei wahrgenommene Probleme von denen angenommen wird, dass sie universell auf alle Frauen anwendbar sind. Gender Programme für transnationale und andere Formen von Gerechtigkeit repräsentieren Dritte Welt Frauen oftmals als »hilfsbedürftig«, wodurch externe Intervention legitimiert wird. Insofern westliche Feministinnen an diesen Formen der Universalisierung von politischen Diskursen partizipiert haben und die Möglichkeit von nicht-westlichen Formen von Geschlechtergerechtigkeit verweigerten, haben sie dazu beigetragen, eurozentrischen Bias im Kampf um Gerechtigkeit zu bekräftigen. Es gibt kein besseres Beispiel für die Kooptation der Frauenrechte für imperialistische Zwecke, als die Rechtfertigung des U.S.-Krieges in Afghanistan mit der Begründung, dass dieser Geschlechtergerechtigkeit für afghanische Frauen fördere. Dies bestätigt die Einschätzung der postkolonialen Feministin Gayatri Chakravorty Spivak, wie (Neo)Kolonialismus die »Frauenfrage« instrumentalisiert. Als eine Zivilisierungsmission in der »the white man saves the brown woman from the brown man« (Spivak 1999: 287), ist der zentrale Zug, die indigene Frau als »Opfer« zu konstruieren, was dieser Logik folgend, die Auferlegung des »modernisierenden«, »befreienden« und »fortschrittlichen« Regimes des Empire rechtfertigt – ein Prozess der ebenfalls das Selbstbild des imperialen Europas als zivilisatorisch überlegen festigt. Als »abject victim object« (Kapur 2005: 98) bedarf die Dritte-Welt-Frau der Befreiung durch die kolonisierenden Mächte. Diese Art des Viktimisierungsdiskurses rechtfertigt »Rettungsnarrative« in denen indigene Subjekte als befreiungsbedürftig konstituiert und dargestellt werden. Die Tatsache, dass dies weiterhin Anwendung findet, um heutige Interventionen zu legitimieren belegt, dass Gender als ein Alibi für Neo-Kolonialismus fortbesteht. Malathi de Alwis (2010) zeigt auf, wie der »verletzte Körper der Dritte Welt Frau« zu einem Schauplatz des »Opfer Spektakels« wird und konzentriert sich darauf wie nationale und internationale Eliten den Schmerz anderer konsumieren. Die Produktion transnationaler Solidarität wird durch die Identifikation mit dem Schmerz der Dritte Welt Frau vermittelt. De Alwis fragt, ob wir wirklich imstande dazu sind den Schmerz anderer nachzuempfinden. Oder ob es uns überhaupt gestattet sein sollte, Zeuge ihres Schmerzes zu werden, wenn er nur der Bestätigung unserer Menschlichkeit und Fähigkeit zur Fürsorge dient. Dies wird natürlich von 17 dem Bedarf nach »authentic victim subjects« (Kapur 2005: 95) begleitet, die wirklich unser Wohlwollen verdienen. Was tun mit unserem »Willen die Schwachen und Verletzlichen zu ermächtigen«? Wie ist die Distanz zwischen den »Opfern« und den »Rettern« zu verhandeln? Imperialismus mobilisierte und mobilisiert weiterhin spezifische Gendernormen, um sich zu legitimieren. Darüber hinaus ist es ebenso wichtig, den ideologischen Konflikt und die Kollaboration der kolonialen und indigenen Patriarchate zu berücksichtigen. Gleichermaßen droht die Komplizenschaft des westlichen Feminismus mit dem Kolonialismus sowie Neo-Kolonialismus durch Diskurse über »globale Schwesternschaft« verschleiert zu werden. Von besonderer Wichtigkeit ist hierbei die Untersuchung der Prozesse durch die spezifische Gendernormen hegemonial werden und dadurch Diskurse über Emanzipation, Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenrechte formen. Normative Genderideale strukturieren die sozialen, politischen und kulturellen Welten – und das nicht nur diskursiv, sondern auch materiell – durch Institutionen wie Gerichte oder gesetzgebende Instanzen (policy-making). Wie von der queeren feministischen Philosophin Judith Butler (1999: 23) herausgestellt, erlauben hegemoniale Gendernormen bestimmten Praktiken und Handlungen verstehbar oder natürlich zu werden, während sie die von der Norm abweichenden Verhaltensweisen, Beziehungen und Praxen stigmatisieren, marginalisieren oder unsichtbar und unintelligibel machen. Solche nicht normativen Subjekte und Praktiken fallen außerhalb des Bereichs der Legitimität und des Projektes der Generierung von Geschlechtergerechtigkeit. Frames of Justice Butler untersucht in ihrer Arbeit, wie die vorherrschende (westliche) Norm »des Menschlichen« die Unterscheidung zwischen den Leben die als zu betrauern (grievable) anerkannt sind und denen die es nicht sind, determiniert. Sie erklärt, wie unsere epistemologischen Rahmen bestimmen, was als ein lebenswürdiges Leben anerkannt würde und entgrenzt die Sphäre des Sichtbarwerdens. Demnach wird, was wir in der Lage sind zu begreifen, durch Anerkennungsnormen bereitgestellt und begrenzt. In diesem Kontext lohnt es sich Butlers Begriff der »normativen Gewalt« (normative violence) (Butler 1999: xx) hervorzuheben, nämlich die Ge- 18 walt bestimmter Normen, die nicht nur determinieren, wer letztendlich als Mensch zählt, sondern ebenso regulieren, was innerhalb eines bestimmten Bezugssystems (framework) lesbar und intelligibel ist. In unserem alltäglichen Verständnis wird Gewalt als etwas betrachtet, das an einem autonomen Subjekt ausgeübt wird, wobei sie dafür verurteilt wird, die Souveränität des Subjektes zu verletzen. Demgegenüber wird normative Gewalt nicht an vorgeformten Subjekten angewandt, sondern in der Formation von Subjektivität ausgeübt. Der Körper ist vor der Gewalt nicht existent, stattdessen wird er durch sie konstituiert, wodurch er eher ein Effekt von Gewalt ist als diese nur zu erleiden. Ferner macht Butlers Begriff der Normengewalt die Normen zu Agenten der Gewalt, so dass normative Gewalt sowohl typische physische Gewalt ermöglicht, als auch zugleich jede Spur von Gewalt tilgt (Chambers und Carver 2008: 76). Folglich ist die Fähigkeit von Normen Gewalt einzusetzen zweifacher Natur: Auf der einen Seite gibt es die gelegentliche (occasional) und beiläufige (incidental) Gewalt, die sich auf die bestimmte Manifestation der Norm bezieht. Auf der anderen Seite ist die Gewalt den Normen aufgrund ihrer konstitutiven »world making« und »reality-conferring capacity« (Mills 2007: 140) immanent. Im Kontext unserer Diskussion kann Geschlechtergerechtigkeit nur in Bezug auf die akzeptierten Normen des transnationalen Gerechtigkeitsdiskurses wiederhergestellt werden. Jene Subjektivitäten und Praktiken, die außerhalb des Bereichs dieses Bezugssystems fallen, bleiben unlesbar und nicht intelligibel. Eine der größten Herausforderungen ist die Schwierigkeit der Sichtbarmachung normativer Gewalt durch die Offenlegung dessen wie Anerkennungsnormen fungieren, um bestimmte Leben »unmöglich« (impossible) und »unlebbar« (unliveable) zu machen. »Normative Intelligibilität« ist zutiefst mit Überleben verknüpft, wobei bestimmte Formen der Gewalt als legitim und zulässig erachtet werden, da jene am empfangenden Ende außerhalb der hegemonialen Anerkennungsnormen fallen. Anstelle des allgemeingültigen Verständnisses des Normativen als Handlungsrichtlinie, legt Butler die Verknüpfung von Gewalt, Normen und Subjektkonstitution offen (Mills 2007:134). Normen ermöglichen und hindern Überleben durch normative Setzungen über »lebenswertes Leben« (lives worth living). Politische Auseinandersetzung besteht darin, Normen zu überschreiten und zu überarbeiten; sie beruht auf Verhandlungen über Normativität. Das Vermögen, hegemonia- 19 le Normen in Frage zu stellen, erfordert die Fähigkeit, unseren Bezug zu Normen zu re-imaginieren. Eine kritische Beschäftigung mit diesem hegemonialen Rahmen hat nicht nur eine inklusivere Anerkennungspolitik zur Folge, sondern eine Debatte hinsichtlich der Bedingungen von Anerkennung (Butler 2009: 139). Wenn Normen das Subjekt bedingen und inszenieren, dann wird deutlich, dass hegemoniale Anerkennungsnormen auf dem Scheitern von Anerkennung beruhen (ebd.: 141). Butler hält (in einer indirekten Kritik an Rawls) fest, dass »the normative framework mandates a certain ignorance about the ›subjects‹ at issue, and even rationalizes this ignorance as necessary to the possibility of making strong normative judgments« (ebd.: 143). Daraus ließe sich schließen, dass »ein Schleier der Ignoranz« normativen Behauptungen innewohnt. Butler spricht von einem Modus des »Nicht-Denkens« (non-thinking) der restriktive normative Modelle durchdringt, die das Ziel haben »to map a reality that can secure judgement even if the map is clearly false« (ebd.: 144). Allerdings ist es nicht Butlers Absicht alle normativen Forderungen zu unterminieren, vielmehr schlägt sie vor, »new constellations for thinking about normativity« (ebd.: 145) zu entwickeln und existierende normative Konzepte anzureichern, um Individuen und Gemeinschaften im Kampf um Rechte zu ermächtigen (ebd.). Indem Butler sich auf die nötigenden (coercive) Dimensionen normativer Rahmen (frames) konzentriert, beleuchtet sie sowohl die staatszentrierten als auch nicht staatszentrierten Machtoperationen. Das Begehren nach epistemischer Bestimmtheit verlangt, sich normativen Urteilen zu verpflichten, die innerhalb eines etablierten und erfassbaren Bezugssystems liegen – trotz Unkenntnis der Kontexte und Praktiken, die beurteilt werden. So gehen normative Urteile (normative judgements) dem tatsächlichen Prozess des Beurteilens voraus, wobei das Urteil ein »judging before knowing« (ebd.: 155) produziert. Butler führt aus, dass »[w]e judge a world we refuse to know, and our judgment becomes one means of refusing to know that world« (ebd.: 156). Wir sind für bestimmte Formen normativer Schlussfolgerungen prädisponiert, wodurch »parochialism passes itself off as universal reason« (ebd.: 161). Butler regt an, dass die Distanzierung vom »Vorgefertigten« eine entscheidende Aufgabe ist, die sowohl neue Kriterien, neue Formen des Beurteilens als auch ein neues Vokabular erfordert. 20 Die Kritik Butlers ist von ausschlaggebender Relevanz für Diskurse über Gerechtigkeit als ein Prozess des Richtens vergangenen Unrechts, aber auch für die Sicherung einer gerechten Zukunft. Unsere Anerkennungsnormen determinieren, was sich als ungerecht qualifizieren lässt, welche Mechanismen und Instrumente als angemessen erachtet und legitimiert werden, um Unrecht zu richten, wem Gehör geschenkt wird und wer die Macht hat, zuzuhören. Dies fordert uns dazu auf, hegemoniale Anerkennungsnormen zu kritisieren und zu untersuchen, wie Anerkennung historisch konstituiert und artikuliert wird. Ziel ist hier nicht die bloße Transformation von Normen, um sie inklusiver zu machen, sondern zu untersuchen, wie es machbar sein könnte das Aufkommen neuer Nornen zu ermöglichen, die zu einer Veränderung der Anerkennungsnormen führen (Butler 2009: 6). Normen werden von dem heimgesucht was sie nicht beinhalten, dem konstitutiven Außen: »every normative instance is shadowed by its own failure« (ebd.: 7). Butler erklärt: »to call the frame into question is to show that the frame never quite contained the scene it was meant to limn, that something was already outside, which made the very sense of the inside possible, recognizable« (ebd.: 9). Dies legt beides offen »the frame’s efficacy and its vulnerability to reversal, to subversion, even to critical instrumentalization« (ebd.: 10). »Justice to come«: Die Diskontinuität zwischen Recht und Gerechtigkeit Was heißt es also wenn gefordert wird, dass der Gerechtigkeit genüge getan werden muss? Mit der Infragestellung universeller Entwürfe für die Implementierung von Gerechtigkeit möchte ich dieses Kapitel damit abschließen, den inhärenten Moment der Unentscheidbarkeit von Gerechtigkeit, das »noch nicht«, anzusprechen. Hier bin ich insbesondere von der Derrida'schen Dekonstruktion inspiriert. In seinem bekannten Artikel »Force of Law« (2002) insistiert Derrida auf den Diskontinuitäten, den Verschiebungen (slippages) zwischen der Inkommensurabilität von Recht und Gerechtigkeit. Obwohl das eine für die Operation des anderen notwendig ist und sie sich gegenseitig implizieren, werden beide voneinander unterschieden. Recht als die Ausübung von Gerechtigkeit ist ein System regulierter und kodierter Verordnungen, das sowohl geschlossen als auch kalkulierbar ist 21 und dadurch Stabilität, Ordnung und Beständigkeit gewährleistet (2002: 250). Auf Kant rekurrierend, legt Derrida offen, dass es kein Gesetz ohne Zwang (force) geben kann (2002: 233). Gerechtigkeit nötigt uns, uns beharrlich auf das Gesetz für die bestimmte Situation einzulassen, die sich von Fall zu Fall unterscheidet, um zu hinterfragen was vom Gesetz übersehen, ausgeschlossen, ausgelöscht und zum Schweigen gebracht wird. Dies erfordert eine permanente Revision, Neuerfindung und erneute Rechtfertigung des Rechts in seinem Bestreben, Gerechtigkeit auszuüben (2002: 251). Recht kann sich nicht von den ethischen Interventionen der Gerechtigkeit und der Forderung, auf das Spezifische und Singuläre einzugehen, abschirmen. Die Herausforderung liegt darin, den sich mit dem Singulären beschäftigenden Rechtsakt mit dem Gerechtigkeitsimperativ, der die Allgemeingültigkeit einer Norm bedingt, zu vereinbaren. Es geht nicht nur darum, sich innerhalb der Legalität oder des Rechts zu bewegen, sondern auch innerhalb der Gerechtigkeit (2002: 245). Derrida ruft uns folgendes in Erinnerung: »Law is not justice« (2002: 244). Laut ihm ist Gerechtigkeit niemals getan, sie erreicht nie einen Moment von Abgeschlossenheit, vielmehr steht sie andauernd aus, immer »im Kommen« (to come), ein utopischer Moment der Antizipation. Gerechtigkeit kann kein zeitliches Ereignis sein, das periodisiert werden kann, vielmehr ist sie immer ein einzigartiger kontingenter Akt, der auf die ethische Singularität des Anderen reagiert, trotz seines Anspruchs auf Universalität (Derrida 2002: 248). Derrida hält fest, dass gerade weil Recht und Gerechtigkeit unauflöslich miteinander verbunden sind, Recht als eine »authorized force justified in applying itself« (ebd.: 233), andauernd von Gerechtigkeit unterbrochen wird, was schwer fassbar und unkalkulierbar ist. In jedem Fall legaler Entscheidung ist ein Streben, Gerechtigkeit zu bestärken, doch wird dies zwangsläufig vom Unentscheidbaren heimgesucht (2002: 252) und muss daher permanent überarbeitet werden, um die Forderung dessen zu beachten, (attend to the call) was es ausschließt, zum Schweigen bringt und missachtet. Gerechtigkeit geht über Recht hinaus, auch wenn sie nicht ohne das rechtliche Rahmenwerk verwirklicht werden kann. Dies erfordert dekonstruktive Wachsamkeit und geduldige, akribische Arbeit auf Seiten derer die »Recht sprechen«. »Dekonstruktion ist Gerechtigkeit« laut Derrida (2002: 243), endlos ausstehend, immer »zukünftig, noch zu erreichend« (à-venir), die »experience of the impossible« (2002: 244). 22 In ihrem Text »The Violence of the Masquerade: Law Dressed Up As Justice« (1992), erklärt die feministische politische Theoretikerin Drucilla Cornell wie Machtkämpfe und Gewalt sich als Rechtsstaatlichkeit verkleiden. Von Derrida inspiriert vertritt sie die Auffassung, dass wir verstehen müssen, dass auch wenn Recht anstrebt gerecht zu sein, es die Gerechtigkeit, die immer über das Recht hinausgeht, nie »einholen« kann. Dieses unvermeidliche Paradoxon macht Gerechtigkeit zu einer aporia. Walter Benjamin (1965 [1921]) folgend, warnt Cornell, dass die Auslöschung der gewaltvollen Ursprünge eines legalen Systems »verdorben« (rotten) ist, so dass es sich als Gerechtigkeit verkleidet (Cornell 1992: 167). Besonders aufschlussreich ist dies im Kontext der Diskussion um die Genealogie internationalen Rechts und seiner Involvierung in die kontinuierliche Entrechtung postkolonialer Staaten, die – sogar nach der Errungenschaft formaler Unabhängigkeit – weiterhin in einem Verhältnis struktureller Ungleichheit mit ihren ehemaligen Kolonialmächten gefangen bleiben. Da diese historische Komplizenschaft mit kolonialer Gewalt ausgelöscht wird, ist es internationalem Recht möglich, sich als ein Mechanismus für Gerechtigkeit zu verbrämen und anschließend als juristische Annäherung an Gerechtigkeit. Einerseits bieten durch internationale Institutionen geförderte Ideale von Fortschritt, Entwicklung und Rechten fortwährend eine Rechtfertigung für Interventionen des Westens in der nicht-westlichen Welt, die als Neo- Kolonialismus mit anderen Mitteln gelesen werden können. Auf der anderen Seite entsagen fragile postkoloniale Staaten oftmals im Namen ihrer Machtlosigkeit verglichen mit der wachsenden Schlagkraft internationaler Institutionen der Verantwortung, ihre verletzlichsten Bürger/innen zu schützen. Vor diesem Hintergrund ist Dekolonisierung besonders herausfordernd, denn die Postkolonie ist in einem double bind mit den Vermächtnissen der europäischen Aufklärung gefangen. Eurozentrische Auffassungen von Gerechtigkeit drohen gewaltvolle Strukturen zu reproduzieren, auch wenn es das Ziel ist, Ungerechtigkeit zu überwinden. Jedoch beinhaltet dies nicht eine Zurückweisung der Gerechtigkeitsnormen oder der Menschenrechte aufgrund ihres eurozentrischen Bias, vielmehr ist die Herausforderung wie diese Normen verhandelt werden können, um sie für postkoloniale Kontexte brauchbar zu machen. Es ist zwingend notwendig zu untersuchen, wie postkoloniale Perspektiven die Grenzen der Ideen von Gerechtigkeit erweitern. Trotz der Behauptungen von »Toleranz« und 23 »Offenheit« hindern derzeitige Paradigmen häufig das Aufkommen alternativer nicht-kanonischer Perspektiven und tragen unwissentlich zu eurozentrischer epistemischer Hegemonie bei. Gleichzeitig ist eine kategorische Ablehnung europäischer Normen zu Gunsten »purer« nicht-westlicher Epistemologien irreführend, da es keine »unkontaminierten« indigenen Perspektiven gibt, die wiederhergestellt werden könnten, um hegemoniale Systeme zu ersetzen. Wie die Erfahrung in vielen postkolonialen Kontexten zeigt, hat die Kritik an der Moderne konservative und fundamentalistische nationalistische politische Ordnungen gestärkt. Daher sind postkolonial-feministische Gerechtigkeitstheoretikerinnen mit dem Paradoxon konfrontiert, dass die Aufklärung trotz ihres patriarchalen, bürgerlich maskulinistischen Bias besonders unerlässlich ist. Die »westliche« intellektuelle Tradition ist zugleich relevant und inadäquat (Chakrabarty 1992: 16), die Realitäten postkolonialer Kontexte zu verstehen. Die Herausforderung ist, wie kann die Aufklärung jenseits der Abgrenzungen Europas geführt und für den »Anderen« brauchbar gemacht werden? Wie kann der historische Dualismus zwischen Gerechtigkeitshandhaber/innen und denen, die lediglich die »Empfänger/innen« dessen sind, gelöst werden? Und wie kann Gerechtigkeit in unserem speziellen Kontext in Mechanismen oder Initiativen jenseits des westlichen Kontextes übersetzt werden? Das Dilemma der Gerechtigkeit: Umverteilung, Anerkennung, Repräsentation Ein Prüfstein zur Bestimmung der Legitimität von kollektiv erzwungenen Normen ist festzustellen, ob jene die den Vereinbarungen unterliegen, damit einverstanden sind und im Prozess der Entscheidungsfindung ein Mitspracherecht haben. Und da direkte Partizipation nicht immer möglich ist, ist die Frage der Repräsentation entscheidend. In den letzten Jahrzehnten konzentrierten sich Gerechtigkeitstheorien primär auf umverteilende Gerechtigkeit oder aber die Politik der Anerkennung, mitunter im Versuch, beide zusammen zu denken, gelegentlich miteinander konkur- 24 rierend. 2 Ein wichtiger Beitrag postkolonialer Feministinnen ist es, die Frage der Repräsentation in die Diskussion einzubringen, nämlich die Notwendigkeit, Umverteilung und Anerkennung um die Politik der Repräsentation zu ergänzen, wobei wir die Vorabbestimmung der Kriterien dessen, was als plausible Gerechtigkeitsforderung zählen wird oder nicht, konfrontieren müssen. Wer ist autorisiert, für die auf der empfangenden Seite von Gerechtigkeit zu sprechen, und woraus wird diese Autorität bezogen werden? Welche Stimmen werden von wem gehört? Postkolonial-feministische Kritik strebt an, sich auf das zum Schweigen bringen und die Exklusion vulnerabler Gruppen von Gerechtigkeitsansprüchen zu konzentrieren. Da die »Anerkennungsnormen« nicht zu ihren Gunsten sind, erscheinen die Forderungen entrechteter Gruppen nicht intelligibel und nicht lesbar. Als Akteurin in kritischen Prozessen versucht die postkoloniale Feministin ihre Perspektiven wiederzuerlangen (recover) und zu repräsentieren, und dabei die Interessen derer zu artikulieren, die sich nicht selbst repräsentieren können. Jedoch ist die postkoloniale Feministin, die im Namen des »zum Schweigen gebrachten Anderen« spricht, anfällig »ko-optiert« zu werden, auch wenn sie »eurozentrische« und »androzentrische« Gerechtigkeitsideale hinterfragt, sie »inhabits intimately« (Spivak 1999: 191) die Strukturen, die sie zu kritisieren sucht. Dies bringt uns zum intrinsischen Paradoxon des Verhältnisses der repräsentierenden postkolonialen Feministin und des repräsentierten Subalternen, dessen Forderungen nicht gehört werden können. Die Bemühungen der postkolonialen Feministin, marginalisierten Perspektiven eine Stimme in der Geschichte zu geben, sind den Gefahren ausgesetzt, dass die Repräsentantin die Erfahrungen der heterogenen Gruppe - deren Perspektiven sie versucht, sichtbar und hörbar zu machen - essentialisiert. Die Lösung ist nicht ein Ende der Repräsentation, sondern die anhaltende Hinterfragung der eigenen Komplizenschaft im fortwährenden zum Schweigen bringen marginalisierter Perspektiven. Postkolonial feministische Ziele drohen zu scheitern wenn sie sich der Anerkennung der konsti- 2 Der bekannte Austausch zwischen Nancy Fraser, Iris Marion Young und anschließend Judith Butler hat die Diskussion über Gerechtigkeit in hohem Maße bereichert. Siehe: »Adding Insult to Injury: Nancy Fraser Debates her Critics: Debating Redistribution, Recognition and Representation« (2008). 25 tutiven Mächte ihrer eigenen repräsentationalen Forderungen verweigern. Wie sollen die Narrative der zum Schweigen gebrachten ethisch eingenommen werden, ohne sie sich anzueignen, ohne ihn Gewalt anzutun? Wie kann die Distanz zwischen denen, die von oben »Unrecht richten« und denen unten, denen Unrecht geschieht, überbrückt werden? (Spivak 2004). Das Repräsentieren der Interessen und Stimmen von anderen »dort drüben«, bedarf »hier« genauer Überprüfung. Die Aufgabe der postkolonialen Feministin wäre es, eine Genealogie dieses Schweigens zu entwerfen, um die Machtstrukturen, die diese fragmentarischen »GegenNarrative« blockieren, hindern und entkräften, transparent zu machen. Hierbei muss sie sich darüber bewusst sein, dass jeder Versuch, das »Ungesagte« zu sagen, voller Gefahren steckt, ihm die Logik des Sprechens und die ironische Reproduktion endloser Spiralen des Schweigens und der Gewalt aufzuerlegen. Unser Sprechen verhält sich zum Schweigen der Subalterne parasitär, auch wenn unser Schweigen nicht garantiert, dass die Subalterne gehört wird. Transnationale Gerechtigkeit steht im Mittelpunkt des Projektes der Dekolonisierung, das sowohl im globalen Süden als auch im globalen Norden eine Intervention in den Apparat der Wertekodierung – in Prozesse der Subjektformation – erfordert (»strategy of reversing, displacing and seizing the apparatus of value-coding«) (Spivak 1993: 63). Dabei geht es nicht nur um das Ziel der Organisierung von Gütern für die leidenden Klassen, wobei die Deprivierten auf ihre Bedürfnisse reduziert werden, die hier so kodiert sind, dass sie innerhalb unserer Lesegewohnheiten transparent sind. Dekolonisierung bedeutet im Sinne Spivaks vielmehr, sich mit der Imagination und dem Begehren von sowohl den Gebern als auch den Empfängern von Gerechtigkeit, auseinanderzusetzen. In diesem Zusammenhang führt Spivak das Beispiel eines jüngsten Falles von sati im postkolonialen Indien an und beschreibt, wie die Mutter der jungen Rup Kanwar angesichts des Suizids ihrer Tochter lächelte und Freude empfand. Spivak weist darauf hin, dass feministische Aktivistinnen in Indien dieses Lächeln nicht akzeptieren konnten. Diesem Lächeln zu begegnen und es zu lösen (remove), bedeutet, – laut Spivak – sich der sorgfältigen und geduldigen Arbeit an einem epistemischen Wandel zu widmen (2000: 207). Sie kritisiert die Ungeduld von Menschenrechtsinterventionisten und warnt uns ebenso vor der innerhalb der Entwicklungspolitik verfolgten »Gerechtigkeit im Kapitalismus«. Der Impuls, 26 umzuverteilen ist nicht »natürlich programmiert«, auch wenn diejenigen, denen historisch Unrecht widerfahren ist, ihre Umstände als »normal« erachten. Bei der Aktivierung von Gerechtigkeitsmechanismen geht es darum, dass die postkoloniale Feministin ihre Komplizenschaft mit Strukturen anerkennt, die sie zu kritisieren und transformieren versucht. Anstatt uns selber als altruistische die Weltprobleme lösende zu inszenieren, als solche, die sowohl die Verantwortung als auch die Kapazität mitbringen eine globale Demokratie, Frieden und Gerechtigkeit zu implementieren, geht es wohl er darum, uns selber als Teil des Problems wahrzunehmen. Politische Arbeit ist durch Ungewissheit gekennzeichnet, in der das Ethische das Politische durchbricht, obgleich sie tief miteinander verwoben sind. Spivak verwendet die Metapher des Zähneputzens, um kritische politische Praxis zu beschreiben: Obwohl man weiß, dass man sterben wird putzt man sich trotzdem jeden Tag die Zähne als Akt der Kritik an Sterblichkeit (1990: 105). Gleichermaßen ist der Prozess der Verwirklichung von Gerechtigkeit nie »abgeschlossen«, er ist repetitiv und doch auch jedes mal verschieden. Darüber hinaus bringt er die Aufgabe von Formeln zur Lösung globaler Probleme mit sich sowie das Lernen des Lernens vom Singulären und nicht Nachweisbaren, das sich universellen Entwürfen widersetzt. Selbstzweifel und Bescheidenheit sind wichtige Aspekte ethisch-politischer Praxis, allerdings nicht im christlichen Sinne von »Selbstlosigkeit«. Vielmehr beinhaltet dies die Infragestellung der Unbesiegbarkeit der eigenen Weltanschauung – ein »Arbeiten ohne Garantien« (Spivak 2004: 532). Unsere Bemühungen, dem Anderen gerecht zu werden, sind notwendig und zugleich unzureichend. Hier liegt das Risiko und die Verantwortung unserer Gerechtigkeitspolitik in einer postkolonialen Welt. Literatur Bal, Mieke (2002): Travelling Concepts in the Humanities: A Rough Guide, Toronto: University of Toronto Press. Benjamin, Walter (1965 [1921]): »Zur Kritik der Gewalt«. 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