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Technologie Des 21. Jahrhunderts. Perspektiven Der Technikphilosophie

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DZPh, Berlin 56 (2008) 6, 935–956 LITERATURESSAY Technologie des 21. Jahrhunderts Perspektiven der Technikphilosophie Von WERNER KOGGE (Berlin) Haben wir die Technikphilosophie, die wir brauchen? Können wir auf theoretische Konzepte zurückgreifen, die uns helfen, jüngste Entwicklungen im Bereich der Technologien zu verstehen und einzuschätzen?1 Die Fragestellung impliziert, dass Technikphilosophie nicht nur ethisch relevante Folgeerscheinungen – und auch nicht nur generelle Ansichten bezüglich des Technischen überhaupt – zum Gegenstand haben soll, sondern konkrete Technologien in ihren Strukturen und Wirkungszusammenhängen in den Blick zu nehmen hat. Ich möchte im Folgenden zunächst eine Grundtendenz in der jüngsten technologischen Entwicklung skizzieren und andeuten, inwiefern das gegenwärtig vorherrschende Informationsparadigma der Technikdeutung ungeeignet sein könnte, die wesentlichen Züge dieser Entwicklung angemessen zu begreifen. Anschließend gebe ich eine Umschau über zeitgenössische Ansätze der Techniktheorie, und zwar immer mit dem Fokus der Frage, ob und inwiefern diese Ansätze uns Perspektiven bieten, mutmaßlich neuartige technische Phänomene zu verstehen und kritisch einzuschätzen.2 I. Entwicklungstendenzen jüngster Technologien Sehen wir uns einige Beschreibungen jüngster technischer Entwicklungen an – und zwar mit größtmöglichem Abstand vom Jargon der Technikvisionäre und -apokalyptiker und mit größtmöglicher Nähe zu Forschung und Entwicklung (soweit dies in der Kürze möglich ist). 1 2 Ich verwende den Unterschied zwischen den Begriffen Technik und Technologie nicht, um den Übergang von einer Ebene der Sache zu einer Ebene der sprachlich theoretischen Reflexion über die Sache anzudeuten, sondern ich verwende Technik als Singularetantum für den Gesamtbereich technischer Phänomene (der Plural Techniken ist als alleinstehendes Wort im Deutschen mit der Bedeutung ‚lehr- und lernbare Praktiken‘ belegt und deshalb nicht zur Bezeichnung für eine Mehrzahl technischer Phänomene geeignet) und Technologie als je spezifische Realisierung der Sache, wobei ich also den Wortteil logos in Technologie nicht als sich auf eine sprachlich-ideelle Ordnung, sondern als sich auf die Ordnung der Phänomene selbst beziehend betrachte. Ich danke Christopher Coenen für wertvolle Hinweise zu einer früheren Version dieses Textes. 936 Werner Kogge, Perspektiven der Technikphilosophie Die Rastertunnelmikroskopie hat ermöglicht, im Größenordnungsbereich von Molekülen und Atomen einzelne Atome zu bewegen und zu arrangieren. Allerdings ist die Verwirklichung der Idee eines molekularen Engineering jenseits dessen, was „unter extremen Bedingungen und unter Ausschaltung vieler Kräfte auf einer ebenen Fläche gelang, […] Lichtjahre entfernt von der Konstruktion eines dreidimensionalen Moleküls“. Und Alfred Nordmann führt weiter aus: „Für diese Vision der Nanotechnologie gilt, dass offiziell kein besonnener Forscher daran glaubt.“ Sie ist unglaubwürdig, „weil es außerordentlich schwierig und auch nicht sonderlich effizient wäre, erst Moleküle und dann eine ganze Welt Atom für Atom zusammenzusetzen“.3 Anders sieht die Lage eventuell beim Umgang mit vorhandenen Molekülen aus. Die Biotechnologie beherrscht seit langem das Zerschneiden und Montieren von DNA-Ketten. Diese ‚Grundbausteine‘ des Lebens spielen nun seit kurzem auch eine technische Rolle außerhalb der Biologie. Künstliche DNA wird eingesetzt, um die Eigenschaften von Materialien und technischen Artefakten im Nanogrößenbereich zu definieren. Ziel ist zum einen die Herstellung von „Werkstoffe[n], deren molekulare Verknüpfungen wir präzise einstellen können“, und von kristallinen Gittern, die es ermöglichen, weniger leicht fassbare Moleküle (wie etwa Proteine) zu fixieren. Zum anderen entstehen durch die hohe strukturelle Bestimmtheit von DNA-Molekülen Möglichkeiten für mechanische Operationen im Nanogrößenbereich. Konstruiert wurde zum Beispiel aus „drei DNA-Strängen eine nanoskopische Pinzette. Schaltstränge […] öffneten und schlossen die Greifer.“ Durch Anordnung solcher Operatoren auf einem dreidimensionalen DNA-Gitter „wäre der erste Schritt zu einer Nanofabrik getan, mit einer Vielzahl struktureller Zustände, die eine Art Fließband realisieren können“.4 DNA-Gebilde und DNA-‚Maschinen‘ eignen sich aber nicht nur zu Operationen mit biologischen Molekülen, sondern auch zur Verknüpfung von und mit elektronischen, photovoltaischen, magnetischen und fluoreszierenden Materialien.5 Ein Hauptpunkt für den Einsatz organischer Materialien ist deren hohes Potenzial, sich selbst zu komplexen Strukturen zu organisieren. Sehr spezifische materiale Konfigurationen lassen sich zum Beispiel durch Viren herstellen, die sich jeweils unterschiedlich an Materialien wie Metalle und Halbleiter binden und sich zu Formen von Elektroden, Drähten und Filmen ausbilden, was in der Herstellung winziger Batterien und rollbarer Displays zum Einsatz kommen könnte. Solche biophysischen Aktanten könnten außerdem, in Kombination mit „chemisch empfindlichen Rezeptoren“ oder einer „fluoreszierende[n] Markierung“, dazu dienen, „giftige oder biologisch gefährliche Wirkstoffe“ ebenso wie Fehler in Mikrochips oder in hoch beanspruchten Teilen wie Flugzeugtragflächen aufzuspüren.6 Die Einsatzmöglichkeiten solcher biophysischer Aktanten reicht bis in den Kernbereich der Informationstechniken. In der Weiterentwicklung der KI-Forschung und Robotik trat das Problem auf, wie komplexe, anpassungsfähige und zugleich robuste Informationsverarbeitungssysteme zu konstruieren wären. Ein Lösungsansatz verwendet die Interaktion organischer Systeme mit ihrer Umgebung als Modell informatischer Netzwerke, ein anderer versucht, orga3 4 5 6 A. Nordmann, Denkmuster hinter der Nanotechnologie. Die Welt als Baukastensystem, in: politische ökologie, Heft 101/2006, 20–24, hier: 21 f. Die vorangegangenen drei Zitate: N. C. Seeman, Karriere für die Doppelhelix, in: Spektrum der Wissenschaft, Heft 1/2005, 82–90, hier: 84, 88, 90. Vgl. Spektrum der Wissenschaft, Heft 2/2006, 13; einen Überblick über aktuelle Forschungsaktivitäten in diesem Feld, auch über das Zusammenspiel von universitärer und industrieller Forschung, lässt sich gewinnen unter: [URL: http://www.websitewiki.de/Ennab.de]. Alle URLs des Textes wurden zuletzt geprüft am 31. Oktober 2008. P. E. Ross, Nanoelektronik mit Viren, in: Spektrum der Wissenschaft, Heft 12/2006, 66–69, hier: 68 f. DZPhil 56 (2008) 6 937 nisches Material selbst zum Einsatz zu bringen.7 Unter dem Titel Synthetische Biologie arbeiten seit einigen Jahre eine Reihe von molekularbiologischen Laboren daran, kleinste Lebenseinheiten wie Zellen, Bakterien und Viren so einzurichten, dass ihre Stoffwechsel bestimmte, zuvor ‚einprogrammierte‘ Aktionen in Bezug auf ihre Umwelt ausführen. Aus DNA und Proteinen lassen sich Computer bauen, die zwar voraussichtlich nicht in puncto Rechengeschwindigkeit zu herkömmlichen Computern in Konkurrenz treten, aber durch ihre biochemische Materialität ganz neue Einsatzmöglichkeiten bieten könnten: „Ein Computer aus Biomolekülen wäre in einer Zelle gleichsam zu Hause. Er würde mit ihr in Wechselwirkung treten, indem er Moleküle erkennt (Input) oder produziert (Output), die dort ohnehin natürlich vorkommen. So könnte er seine Wirtszelle als autonomer automatischer ‚Hausarzt‘ unterstützen, indem er Signale aus der Umgebung registriert, die auf eine Krankheit hindeuten, diese mit Hilfe des vorprogrammierten medizinischen Wissens verarbeitet und als Output ein Signal liefert oder ein Medikament verabreicht.“8 Strukturell ähnlich aufgebaut würden auch Neurochips im Gehirn arbeiten. Sie wären eine technische Weiterentwicklung der gegenwärtig bereits bei Parkinson-Erkrankungen eingesetzten Tiefenhirnstimulation durch Elektroden.9 Doch es gibt auch Forschung, die weit darüber hinaus zielt: Das US-Militär fördert Programme, die auf eine „Verschmelzung von Mensch und Computer“10 zielen. Emotionale Zustände und kognitive Fähigkeiten ließen sich so zielgerichtet manipulieren und in Bezug auf situative Erfordernisse optimieren. In einem gewissen Zusammenhang mit diesem Typ von Technologien stehen auch staubkorngroße Chips, die mit winzigen Funk-Antennen versehen sind und Signale mit einer Identifikationsnummer versehen zurücksenden. Damit lassen sich Waren- und Verkehrsströme registrieren, Ausweise und Banknoten identifizieren, und eventuell auch militärische und polizeiliche Operationen durchführen: „Die winzige Größe des Pulver-Chips macht noch weit bedrohlichere Szenarien denkbar. Vielleicht würde die Polizei das Pulver auf eine Menge von Randalierern sprühen und sie danach mit Sicherheitsscannern, die überall in Straßen und öffentlichen Verkehrsmitteln verteilt sind, dingfest machen.“11 Betrachten wir solche technischen Phänomene und fragen wir nach allgemeineren Charakteristika, die in ihrer Realisation zum Vorschein kämen, so ist zuvorderst die Tendenz festzustellen, die Technologien in die elementaren Strukturen physischer, organischer und neuronal-kognitiver Prozesse einzusenken. Dabei wird systematisch daran gearbeitet, die Grenzen zwischen physikalischem Material, biologischen Organismen, neuronal-kognitiven und informatischen Vorgängen zu überwinden. Als Zielvorstellung stehen immer wieder technische Artefakte im Fokus des 7 8 9 10 11 E. F. Keller, Das Jahrhundert des Gens, Frankfurt/M. 2001, 160 ff.; B. Beckert u. a., Converging technologies and their impact on the social sciences and humanities (CONTECS), Deliverable D1.1 – Part A, R&D Trends in Converging Technologies, August 2006, Karlsruhe, 42 ff. [URL: http://www.contecs.fraunhofer.de/content/view/9/12/]. E. Shapiro u. Y. Benenson, Computer aus Biomolekülen, in: Spektrum der Wissenschaft, Heft 3/2007, 66–73, hier: 66. Vgl. zum Stand des Einsatzes neuroelektronischer Technologien: C. Coenen, Konvergierende Technologien und Wissenschaften. Der Stand der Debatte und politische Aktivitäten zu ‚Converging Technologies‘. TAB-Hintergrundpapier, Nr. 16, März 2008, 75 [URL: http://www.tab.fzk.de/de/projekt/zusammenfassung/hp16.pdf ]; B. Beckert u. a., Converging technologies and their impact on the social sciences and humanities (CONTECS), Deliverable D1.1 – Part A, R&D Trends in Converging Technologies, a. a. O. Aus Erfahrung am eigenen Leib berichtet: H. Dubiel, Tief im Hirn, München 2006. T. Krämer, Kommt die gesteuerte Persönlichkeit?, in: Spektrum der Wissenschaft, Heft 9/2007, 42–49, hier: 48. T. Hornyak, Funkende Stäubchen, in: Spektrum der Wissenschaft, Heft 5/2008, 92–95, hier: 95. 938 Werner Kogge, Perspektiven der Technikphilosophie Interesses, die sich dadurch auszeichnen sollen, dass sie sich in ihre Umgebung integrieren, sich an wechselnde situative Begebenheiten anpassen und mit anderen Agenzien interagieren. Zu fragen ist aber, wie diese sich bislang abzeichnenden Züge der neuen Technologien näherhin zu verstehen sind. Sind sie kontinuierliche Weiterentwicklungen von Technologien, die wir bereits kennen und von denen wir im Großen und Ganzen wissen, mit welchen Problemen sie verknüpft sind? Oder kommt hier ein neuartiger Typ von Technik auf uns zu, ähnlich wie sich durch die Maschinisierung, die Elektrifizierung und die Computerisierung jeweils fundamental neue technische Grundkonfigurationen durchsetzten? Das Deutungsparadigma, in dessen Rahmen gegenwärtig Techniken zumeist verstanden werden, ist das Informationsparadigma. Ray Kurzweil, einer der Apologeten der neuen Technologien, liefert ein typisches Beispiel einer Interpretation neuer Technologien in diesem Paradigma. Er prognostiziert die Entwicklung „des sechsten Rechnerparadigmas, das uns dreidimensionale molekulare Computer bescheren wird – etwa Nanoröhrchen aus Kohlenstoff “.12 Er nimmt an, dass die technische Entwicklung insgesamt in derselben exponenziellen Weise anwachsen wird, in der die Rechenleistung von Computern ansteigt. Die Voraussetzung für den Schluss von Letzterer auf Erstere ist, dass die technische Entwicklung unter die Entwicklung der Informationstechnologie fällt. Und genau dies formuliert Kurzweil auch: „Bei jeder Art von Informationstechnologie verläuft der Fortschritt exponentiell. Außerdem werden praktisch alle Technologien zu Informationstechnologien.“ Die Verwandlung aller Technologien in Informationstechnologien hätte massive Konsequenzen. Kurzweil schreibt: „Wir werden in der Lage sein, unsere Biologie umzuprogrammieren – und sie schließlich transzendieren.“ Und: „Letzten Endes wird alles, was Wert hat, zur Informationstechnologie: unsere Biologie, Gedanken und Denkprozesse, Fabriken und vieles andere.“ Nun stellt sich aber die Frage, ob sich die dargelegten Beispiele neuer Technologien tatsächlich im Paradigma der Information, verstanden als Rechenoperationen digitaler Computer, deuten lassen. Von den Entwicklern in den Bereichen molekularer Computer, neuromorpher Elektronikmodule und verhaltensbasierter Robotik wird stets hervorgehoben, dass moderne Computer, selbst wenn sie in ihrer Rechenkapazität die Leistung des Gehirns und anderer organischer Systeme übertreffen sollten, dennoch an deren Potenziale in Bezug auf Wahrnehmung, flexiblem Verhalten und Lernen nicht einmal ansatzweise heranreichen.13 Es geht also nicht um eine quantitave Steigerung, sondern um eine qualitative Andersheit; und es könnte sein, dass die Entwicklung jüngster Technologien gerade auf diese andere Qualität zielt und somit aus dem Paradigma der Informationstechnologien heraustritt. Wenn dies richtig ist, ist der gesamte Interpretationsrahmen, den Kurzweil und viele andere anlegen, verfehlt. Und betrachtet man 12 13 Dieses und die beiden folgenden Zitate: R. Kurzweil, Der Mensch Version 2.0, in: Spektrum der Wissenschaft, Heft 1/2006, 100–105, hier: 101 f. Vgl. etwa R. A. Brooks, Künstliche Intelligenz und Roboterentwicklung, 104–126; H. Ritter, Die Evolution der künstlichen Intelligenz, 127–147; beide Beiträge in: K. Beiersdörfer (Hg.), Was ist Denken?, Paderborn 2003; vgl. ferner E. F. Keller, Das Jahrhundert des Gens, Frankfurt/M. 2001, 154 ff.; K. Boahen, Künstliche Netzhaut für Mensch und Roboter, in: Spektrum der Wissenschaft, Heft 10/2005, 90–97; W. Singer u. A. K. Engel, Neuronale Grundlagen des Bewußtseins, in: K. Beiersdörfer (Hg.), Was ist Denken?, a. a. O., 148–170; und als Klassiker, dessen frühe Einsichten zwar bis in einzelne Formulierungen hinein rezitiert werden, der allerdings in verblüffend durchgängiger Weise ungenannt bleibt (auch in dem Band von K. Beiersdörfer [ebd.] – ein Kapitel heißt zum Beispiel „Was Computer [noch] nicht können“, 84–104): H. L. Dreyfus, What Computers Can’t Do: The Limits of Artificial Intelligence, New York 1972; dt.: Die Grenzen künstlicher Intelligenz: Was Computer nicht können, Königstein 1985; vgl. auch ders., What Computers Still Can’t Do: A Critique of Artificial Reason, Cambridge/Mass. 1992; sowie ders., Was Computer noch immer nicht können, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 4/1993. DZPhil 56 (2008) 6 939 die Entwicklung von mit Informationstechnologien eng verknüpften Wissenschaften, so deutet einiges auf ein solches Verfehlen tatsächlich hin: In den letzten beiden Jahrzehnten etablierte sich sowohl in der Molekularbiologie als auch in der Robotik neben dem informatischen ein Denkansatz, dem gemäß Körperlichkeit und Situiertheit zu den Grundeigenschaften von Leben und Intelligenz gehören. In der Robotik ging diese Einsicht mit einem Verzicht auf eine explizite interne Repräsentation der Umgebung einher14, in der Molekularbiologie mit der Entdeckung der flexiblen Verwendung der DNA-Struktur im zellulären Stoffwechsel, die den Status der DNA als vorgegebenes und im Lebensprozess auszuführendes Programm unterminierte.15 Wenn nun also eine maßgebliche Tendenz der technischen Entwicklung dahin geht, technische Artefakte immer stärker so zu konstruieren, dass sie sich zu wechselhaften Umwelten zu verhalten vermögen und in diesem Sinne situiert sind, dann ist zu fragen, ob „das in technischen Artefakten inkorporierte Wissen“, die in ihrer „Binnenstruktur“ manifestierten Bezüge zur Umwelt, noch als Information im Sinne Kurzweils gelten kann16, oder ob nicht umgekehrt das Informatische hier – wie im Bereich der Computersimulation insgesamt – eine neue Erscheinungsweise annimmt, nämlich eine „performative Dimension“, in der „neue Objekte, Technologien und Realitäten“ nicht nur beschrieben, sondern hergestellt werden.17 Wie aber wären solche Formen umgebungsbezogener und situierter Technologien kritisch einzuschätzen?18 Zwei Grundschemata der Technikdeutung – nämlich die des ‚Kontrollparadigmas‘ („Entweder kontrollieren wir die Technik oder die Technik kontrolliert uns“) und die des Auflösungsparadigmas („Die Technik verflüssigt und virtualisiert alle stabilen Identitäten“) – sind nicht zufällig im Zeichen der Informationstechnologien zu voller Blüte gelangt: Sowohl der Gedanke eines globalen Netzwerkes als auch derjenige einer Virtualisierung und Verflüssigung aller stabilen Identitäten sind mit den Struktureigenschaften des Informatischen intrinsisch verbunden. Doch können diese beiden Paradigmen als begriffliche Folie für eine kritische Untersuchung von Technologien noch angemessen sein, wenn eine komplexe Distri14 15 16 17 18 Vgl. R. A. Brooks, Künstliche Intelligenz und Roboterentwicklung, a. a. O.; H. Ritter, Die Evolution der künstlichen Intelligenz, a. a. O. E. F. Keller, Das Leben neu Denken. Metaphern der Biologie im 20. Jahrhundert, München 1998; R. Lewontin, The Dream of the Human Genome, in: New York Review of Books, 28. Mai 1992, 31–40; S. Oyama, The Ontogeny of Information. Developmental Systems and Evolution, New York 1985. W. Kogge, Das Maß der Technik: Lebenswelt als Kriterium technischer Angemessenheit?, in: ders. u. a., Wissensgesellschaft: Transformationen im Verhältnis von Wissenschaft und Alltag, IWT-Paper 25, Bielefeld 2001, 217–244, hier: 226, 238 [URL http://bieson.ub.uni-bielefeld.de/volltexte/2002/90/html/Werner_Kogge_Wissensgesellschaft.pdf]. G. Gramelsberger, Story telling with Code – Archaeology of Climate Modelling, in: TeamEthnoonline, Nr. 2/2006, 77–84, hier: 84 (übers. WK) [URL: http://www.teamethno-online.org.uk/Issue2/ Gramelsberger.pdf]. Gabriele Gramelsberger führt aus, dass computerbasierte Simulationsmodelle nicht nur eine Theorie ihrer Objekte darstellen, sondern zugleich ein Experimentierfeld, in dem probeweise Objekte entstehen und zu Wirkungszusammenhängen korreliert werden. Der dabei zum Einsatz kommende digitale Code spiegelt die Theorie nicht nur wider, sondern muss als ein Medium sui generis betrachtet werden, das sowohl eine systemspezifische Eigenlogik als auch eine Geschichte enthält, die den simulierten Weltausschnitt mitgenerieren: „Algorithms describe and enact their objects.“ (84) Die Problematik der Eigenlogik der Codes stellt sich in gesteigerter Form für neue Technologien, die ihre ‚Einschreibungen‘ in der Interaktion mit der Umwelt verändern. Die Frage, ob die Deutung jüngster Technologien im Informationsparadigma noch zeitgemäß ist, ist Gegenstand eines Forschungsprojekts, das in Kooperation der Freien Universität Berlin und der Technischen Universität Darmstadt von Petra Gehring, Gabriele Gramelsberger, Andreas Kaminski, Werner Kogge, Sybille Krämer und Alfred Nordmann, unter Mitarbeit von Christopher Coenen, entwickelt wurde. 940 Werner Kogge, Perspektiven der Technikphilosophie bution von Steuerungs- und Kontrollfunktionen und die Schaffung ‚autonomer‘ technischer Agenzien geradezu als Grundeigenschaften der aktuellen Technologien erscheinen? Vor dem so problematisierten Hintergrund soll nun eine Umschau in der techniktheoretischen Literatur daraufhin vorgenommen werden, ob und inwiefern die unterschiedlichen Denktraditionen und Denkfiguren Ansatzpunkte liefern für eine phänomenangemessene Analyse und eine kritische Einschätzung jüngster technologischer Entwicklungen. II. Debatten und Diskurse um Converging Technologies Technologien wie die oben beschriebenen werden von den Wissenschaftsinstitutionen, insbesondere der USA, unter dem Titelbegriff Converging Technologies seit einigen Jahren massiv gefördert. Unter Converging Technologies wird seit 2001 die Konvergenz von vier Schlüsseltechnologien verstanden – nämlich der Nano-, der Bio-, der Informations- und der Kognitions- beziehungsweise Neurotechnologien. Für diese vier Technologien hat sich, von den englischen Ausdrücken abgeleitet, die Abkürzung NBIC etabliert, sodass man auch von NBIC-Konvergenz spricht. Zentrale These ist die Annahme einer Kompatibilität der ‚Grundelemente‘ Atom, Gen, Bit und Neuron, die als Bedingung der Erschließung neuer technischer Möglichkeiten vorausgesetzt wird. Die gegenwärtigen Debatten nehmen ihren Ausgang von einem Bericht zu einem Workshop, den die National Science Foundation (NSF) der USA und das US-Department of Commerce (DoC) im Dezember 2001 veranstalteten und unter dem Titel Converging Technologies For Improving Human Performance. Nanotechnology, Biotechnology, Information Technology and Cognitive Science im Folgejahr veröffentlichten.19 Dieser Bericht ist, insbesondere in Europa, kritisch aufgenommen worden: „Other reports […] characterized the US approach as being futuristic and open to the ideas of ,visionary engineers‘ (such as Ray Kurzweil) and the ,transhumanist‘ movement. It has been criticized for mixing science and science fiction […] as well as for displaying a disquieting ,insouciance‘ towards problematic aspects of the pursuit of human enhancement that could eventually lead to a ,humanly diminished‘ Brave New World […].“20 Mit einem Expertenbericht, der 2004 von Alfred Nordmann (als Berichterstatter) unter dem Titel Converging Technologies – Shaping the Future of European Societies herausgegeben wurde, bezog die Europäische Union eine eigenständige Position zu den prognostizierten technologischen Tendenzen, die insbesondere gegenüber dem kognitiv-neuronalen Pfeiler der NBIC-Konvergenz skeptisch eingestellt ist und insgesamt gegen die Annahme einer eigenlogischen technischen Entwicklung die Gestaltbarkeit von Technologien in Bezug auf menschliche und soziale Bedürfnisse in den Vordergrund rückt.21 Im Umfeld und im Anschluss an diese Berichte entstanden eine Vielzahl von Publikationen, die sich teils mit einer der vier Grundtechnologien, teils mit deren Zusammenwirken auseinander setzen. Ein Sachverhalt, der bei der Sichtung dieser Texte auffällt, sei hier vorweg genannt: Die Reflexion 19 20 21 M. C. Roco u. W. S. Bainbridge (Hg.), Converging Technologies For Improving Human Performance: Nanotechnology, Biotechnology, Information Technology, and Cognitive Science, 2002 [URL: http://www.wtec.org/ConvergingTechnologies/]. C. Coenen u. a., Of visions, dreams and nightmares: The debate on converging technologies, in: Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis, Heft 3/2004, 118–125. A. Nordmann (als Berichterstatter für die EU High Level Expert Group „Foresighting the New Technology Wave“), Converging Technologies: Shaping the Future of European Societies, Luxemburg 2004; vgl. dazu C. Coenen u. a., Of visions, dreams and nightmares: The debate on converging technologies, a. a. O. DZPhil 56 (2008) 6 941 der jüngsten technologischen Entwicklungen geschieht nicht auf Grundlage von entwickelten Traditionslinien der Technikphilosophie oder -soziologie, sondern gleichsam ‚freihändig‘ (von ganz wenigen Ausnahmen, auf die wir zurückkommen werden, abgesehen). Dies könnte so zu interpretieren sein, dass die Autorinnen und Autoren mit diesen Traditionen – auf die wir in den folgenden Abschnitten näher eingehen werden – entweder nicht vertraut sind oder aber in ihnen keine ergiebige Quelle zum Verständnis ihrer Gegenstände finden. Vermutlich ist sogar beides der Fall, sodass wir ein zweifaches Defizit zu konstatieren haben und dass die Aufgabe sowohl darin besteht, klassische technikphilosophische Traditionen bekannter zu machen, als auch, die Technikphilosophie so weiter zu entwickeln, dass sie auch jüngste technische Entwicklungen konzeptuell zu fassen vermag. Die Texte im Feld der NBIC- und CT-Thematik sind von sehr unterschiedlicher Qualität und heterogenem Charakter. Sie gliedern sich in vier verschiedene Felder, von denen aber nur zwei im Fokus unserer Themenstellung stehen und näher beleuchtet werden sollen. (1) Den größten Teil der Debatte machen Publikationen aus, die direkt bei den aktuellen technologischen Trends ansetzen und – vom akademischen Standpunkt aus betrachtet – eher adisziplinär als interdisziplinär strukturiert sind. Die Autor/inn/en sind häufig entweder selbst Praktiker, die an der Konzeption oder Entwicklung solcher Technologien beteiligt sind (wie etwa Walter Gilbert, Eric K. Drexler, Ray Kurzweil, Hans Moravec, Susanne Greenfield, Neil Gershenfeld und Richard Jones)22, oder Wissenschaftsjournalisten und -kommentatoren, die sich in ihrem Umkreis verorten (wie etwa Damian Broderick)23. Der Diskurs besteht hauptsächlich in einer Diskussion von Möglichkeiten, die die neuen Technologien bieten könnten, und von Gefahren, die durch diese entstehen könnten (Bill Joy, Bill McGibben, Francis Fukuyama)24. Armin Grunwald nennt drei technologische „Horrorszenarien“, die die Debatte beherrschen: das „,gray goo‘ Szenario“, gemäß dem „sich selbst replizierende Nano-Roboter […] rasch unbegrenzt und unkontrollierbar vermehren und dabei alles organische Material der Biosphäre verbrauchen“, das „,prey‘ Szenario“, das eine „Übernahme der Macht durch die Roboter“ prognostiziert, und das „,cyborg‘ Szenario“, das die „Überwindung der Grenze zwischen dem Lebendigen und dem Technischen“ annimmt.25 Im Kontext solcher Szenarien sind es die Themen Kontrollverlust und ontologische Verunsicherung, die hier als leitende Topoi fungieren und auch in den reflektierenden Beiträgen zu diesem Diskurs eine zentrale Rolle spielen. Die Beschreibungen und Prognosen bewegen sich auf sehr unterschiedlichem Niveau, durchgängig ist aber zu konstatieren, dass die Debatten sich ganz auf der Ebene des Gegenständlichen bewegen und sich kritische Fragen in Bezug auf 22 23 24 25 W. Gilbert, A Vision of the Grail, in: D. Kevles u. L. Hood (Hg.), The Code of the Codes. Scientific and Social Issues in the Human Genome Project, Cambridge/Mass. 1992, 83–97; E. K. Drexler, Engines of Creation 2.0: The Coming Era of Nanotechnology – Updated and Expanded [URL: http://www.wowio.com/users/product.asp?bookid=503]; H. Moravec, Computer übernehmen die Macht, Hamburg 1999; S. Greenfield, Tomorrow’s people: How the 21st century technology is changing the way we think and feel, New York 2003; R. Kurzweil, The age of spiritual machines, New York 1999; ders., The Singularity is Near, New York 2005; N. Gershenfeld, Wenn die Dinge denken lernen, München 1999; R. Jones, Soft machines: nanotechnology and life, Oxford 2004. D. Broderick, Die molekulare Manufaktur. Wie Nanotechnologie unsere Zukunft beeinflußt, Reinbek bei Hamburg 2004. B. Joy, Why the future doesn’t need us [URL: http://www.wired.com/wired/archive/8.04/joy_ pr.html]; F. Fukuyama, Our posthuman future: Consequences of the biotechnology revolution, New York 2002; B. McKibben, Enough: Staying Human in an Engineered Age, New York 2004. A. Grunwald, Nanotechnologie als Chiffre der Zukunft, in: A. Nordmann u. a. (Hg.), Nanotechnologien im Kontext – philosophische, ethische, gesellschaftliche Perspektiven, Berlin 2006, 49–80, hier: 54 f. 942 Werner Kogge, Perspektiven der Technikphilosophie Begriffe, Denkfiguren und konzeptuelle Muster ersparen. Für einen großen Teil der Texte gilt, dass die Prognostizierung und Propagierung extremer neuartiger Phänomene in umgekehrtem Verhältnis zur Altbackenheit der Deutungsmuster steht. In Bezug auf posthumanistische Tendenzen im Umkreis der NBIC-Initiative spricht Coenen davon, dass diese Ansätze „oft wie eine aggressive Art von Vulgärkybernetik“ erscheinen, und Alfred Nordmann verortet jüngste Deutungstendenzen in wohlbekannten Metaphysiken.26 (2) Neben diesem und in Bezug auf diesen gegenstandsbezogenen Diskurs hat sich in den letzten Jahren ein reflexiver Diskurs ausgeprägt, dessen Bemühungen sich darauf richten, die neuen Technologien und Technikwissenschaften historisch und systematisch zu verorten, sowohl wissenschaftsintern in Bezug auf ihre methodische und disziplinäre Abgrenzung als auch kultur- und sozialgeschichtlich in Bezug auf ihre geistes- und gesellschaftsgeschichtlichen Vorläufer und systematischen Zusammenhänge. Historische Verortungen finden sich beispielsweise bei Arne Hessenbruch, der die gegenwärtige Debatte durch Parallelisierung mit den Diskursen im Umfeld der Entwicklung der Rastertunnelmikroskopie in den 1980er Jahren beleuchtet27, bei Richard Saage, der die konvergenztechnologischen Zukunftsvisionen im klassischen Utopiediskurs kontextualisiert28, und bei Christopher Coenen, der die aktuellen Debatten in ihrem Zusammenhang mit technizistischen Utopien insbesondere posthumanistischer Traditionslinien darstellt.29 Auch Bernadette Bensaude-Vincent analysiert das Konzept der molekularen Maschine (Nanomaschine) mithilfe einer historisch-systematischen Verortung der aktuellen Denkfiguren in der Geistesgeschichte der Technowissenschaften des 20. Jahrhunderts.30 Dezidiert systematisch kontextualisieren jüngste technologische Entwicklungen beispielsweise Gregor Schiemann in Bezug auf den Naturbegriff 31, Astrid E. Schwarz in Bezug auf die 26 27 28 29 30 31 C. Coenen, Der posthumanistische Technofuturismus in den Debatten über Nanotechnologie und Converging Technologies, in: A. Nordmann u. a. (Hg.), Nanotechnologien im Kontext, a. a. O., 195–222, hier: 201; Nordmann schreibt: „Hier verbindet sich ein naturwissenschaftlich-reduktionistisches mit einem mechanisch-technischen Weltbild, demzufolge die Natur auch nur ein Ingenieur ist.“ (A. Nordmann, Denkmuster hinter der Nanotechnologie. Die Welt als Baukastensystem, in: politische ökologie, Heft 101/2006, 20–24, hier: 22) A. Hessenbruch, Nanotechnology and the Negotiation of Novelty, in: D. Baird u. a. (Hg.), Discovering the Nanoscale, Amsterdam 2004, 135–144. R. Saage, Konvergenztechnologische Zukunftsvisionen und der klassische Utopiediskurs, in: A. Nordmann u. a. (Hg.), Nanotechnologien im Kontext, a. a. O., 179–194. C. Coenen, Utopien und Visionen zur Nanotechnologie, in: TAB-Brief, Heft 24/2003, 5–8; ders., Nanofuturismus: Anmerkungen zu seiner Relevanz, Analyse und Bewertung, in: Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis, Heft 2/2004, 78–85; ders., Der posthumanistische Technofuturismus in den Debatten über Nanotechnologie und Converging Technologies, in: A. Nordmann u. a. (Hg.), Nanotechnologien im Kontext, a. a. O., 195–222; C. Coenen, Converging Technologies – Promises and Challenges, in: Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis, Heft 1/2006, 110–114; ders., Utopian Aspects of the Debate on Converging Technologies, in: G. Banse (Hg.), Assessing Societal Implications of Converging Technological Development, Berlin 2007. B. Bensaude-Vincent, Se libérer de la matière? Fantasmes autour des nouvelles technologies, Paris 2004; B. Bensaude-Vincent, Two Cultures of Nanotechnology, in: HYLE, Heft 2/2004, 65–82; auch in: D. Baird u. J. Schummer (Hg.), Nanotechnology Challenges: Implications for Philosophy, Ethics and Society, Singapore 2006; B. Bensaude-Vincent u. X. Guchet, Nanomachine: one word for three different paradigms, in: Technè, Heft 1/2007. G. Schiemann, Kein Weg vorbei an der Natur: Natur als Gegenpart und Voraussetzung der Nanotechnologie, in: A. Nordmann u. a. (Hg.), Nanotechnologien im Kontext, a. a. O., 115–130. DZPhil 56 (2008) 6 943 Debatte um Nachhaltigkeit32, Kristian Köchy in Bezug auf ontologische und methodologische Probleme des Verhältnisses von moderner Wissenschaft und Natur33, Joseph C. Pitt speziell in Bezug auf konzeptuelle Transformationen, die die Rastertunnelmikroskopie mit sich brachte34, während Jan Schmidt einen Begriff des technischen Reduktionismus im Kontext der Wissenschaftsphilosophie profiliert.35 Alfred Nordmann hat eine Vielzahl von Studien zum Themenfeld Nanotechnologie vorgelegt. Das Spektrum reicht von sehr forschungsnahen Untersuchungen zu Debatten über die elektrische Leitfähigkeit einzelner Moleküle (in Hinsicht auf die Frage nach dem Typ von Wissenschaft, als der sich Nanowissenschaft geriert)36, über Studien zu konzeptionellen Unterschieden zwischen dem europäischen und dem US-amerikanischen Zugang zur Konvergenz-These37 bis zu Abhandlungen über die Versprechen der Nanomedizintechnik.38 Armin Grunwald analysiert das Zukunftskonzept des technologischen Zukunftsdiskurses und die methodischen Bedingungen, unter denen er dazu geeignet sein kann, Orientierung in Anbetracht der wachsenden Kontingenz technischer Optionen zu gewinnen.39 Petra SchaperRinkel untersucht die Leitbilder der politischen Diskurse um Nanotechnologie.40 32 33 34 35 36 37 38 39 40 A. Schwarz, Shrinking the Ecological Footprint with NanoTechnoScience?, in: D. Baird u. a. (Hg.), Discovering the Nanoscale, Amsterdam 2004, 203–208. K. Köchy, Maßgeschneiderte nanoskalige Systeme. Methodologische und ontologische Überlegungen, in: A. Nordmann u. a. (Hg.), Nanotechnologien im Kontext, a. a. O., 131–150. J. C. Pitt, The Epistemology of the Very Small, in: D. Baird u. a. (Hg.), Discovering the Nanoscale, a. a. O., 157–164. J. C. Schmidt, Unbounded Technologies: Working through the Technological Reductionism of Nanotechnology, in: D. Baird u. a. (Hg.), Discovering the Nanoscale, a. a. O., 35–50. A. Nordmann, Molecular Disjunctions: Staking Claims at the Nanoscale, in: D. Baird u. a. (Hg.), Discovering the Nanoscale, a. a. O., 51–62. Ders., Knots and Strands: An Argument for Productive Disillusionment, in: Journal of Medicine and Philosophy, Heft 3/2007, 217–236. A. Nordmann, Personalisierte Medizin? Zum Versprechen der Nanomedizintechnik, in: Hessisches Ärzteblatt, Heft 5/2006, 331–333; vgl. außerdem ders., Was ist TechnoWissenschaft? – Zum Wandel der Wissenschaftskultur am Beispiel von Nanoforschung und Bionik, in: T. Rossmann u. C. Tropea (Hg.), Bionik: Aktuelle Forschungsergebnisse in Natur-, Ingenieur- und Geisteswissenschaften, Berlin 2004, 209–218; A. Nordmann, Noumenal Technologies: Reflections on the Incredible Tininess of Nano, in: J. Schummer u. D. Baird (Hg.), Nanotechnology Challenges, a. a. O., 49–72 (erstveröffentlicht in: Techne, Heft 3/2005, 3–23); A. Nordmann, Wohin die Reise geht: Zeit und Raum der Nanotechnologie, in: G. Gamm u. A. Hetzel (Hg.), Unbestimmtheitssignaturen der Technik, Bielefeld 2005, 103–123; A. Nordmann, Unsichtbare Ursprünge: Herbert Gleiter und der Beitrag der Materialwissenschaft, in: ders. u. a. (Hg.), Nanotechnologien im Kontext, a. a. O., 81–96. A. Grunwald, Nanotechnologie als Chiffre der Zukunft, in: A. Nordmann u. a. (Hg.), Nanotechnologien im Kontext, a. a. O., 49–80; A. Grunwald, Converging technologies for improving human performance – Ein neuer Schritt der Kontingenzerhöhung und seine Konsequenzen für die Wissenschaft (Vortrag auf dem Workshop der Lomonossow-Universität. Moskau, Russland, 19.10.2006); [URL: http://www.itas.fzk.de/deu/lit/2006/ grun06g_abstractd.htm]; A. Grunwald, Converging technologies: Visions, increased contingencies of the conditio humana, and search for orientation, in: Futures, Heft 4/2007, 380–392. P. Schaper-Rinkel, Neue Technologien – Neue Gestaltungsmöglichkeiten? Politische Technikgestaltung in der Nanotechnologiepolitik, in: A. Bora (Hg.), Technik in einer fragilen Welt. Die Rolle der Technikfolgenabschätzung, Berlin 2005, 437–444; P. Schaper-Rinkel, Gestaltsehen der Zukunft: Bilder der zukünftigen Nanotechnologie und Nanomedizin in Wissenschaft und Politik, in: F. Stahnisch u. H. Bauer (Hg.), Bild und Gestalt. Wie formen Medienpraktiken das Wissen in Medizin und Humanwissenschaften? (Reihe: Medizin und Gesellschaft), Münster 2007; P. Schaper- 944 Werner Kogge, Perspektiven der Technikphilosophie Auf technikphilosophische Klassiker wird in all diesen Ansätzen nur punktuell zurückgegriffen, etwa wenn Jean-Pierre Dupuy eine Reihe von Denkfehlern analysiert, die die Debatte um eine Nanoethik durchsetzen, und dabei auf Überlegungen von Hannah Arendt, Martin Heidegger, Günter Anders, Ivan Illich und auf Grundfiguren der Kritischen Theorie zurückgreift. Donna Haraway und Bruno Latour sind die einzigen der jüngeren Techniktheoretiker/ innen, auf die etwas häufiger Bezug genommen wird.41 Doch keiner der angeführten Texte ist, wie bereits erwähnt, ausführlicher darum bemüht, seinen Gegenstand im Kontext eines der entfalteten Diskurse der Technikphilosophie zu verorten und die Analyse aus einem solchen Horizont heraus zu entwickeln. (3/4) Das gilt a fortiori für zwei Genres, die hier lediglich Erwähnung finden sollen: das Genre der Technologieberichte, die den Stand der Forschung und Entwicklung meist in Bezug auf politisch relevante Fragestellungen dokumentieren42, und das Genre der Arbeiten zur Bioethik, die sich als eigenständige Unterdisziplin der philosophischen Ethik zu etablieren bemüht.43 Insgesamt ist also zu konstatieren, dass sich um die jüngsten technologischen Entwicklungen ein theoretischer Diskurs etabliert hat, der zwar in sehr kurzer Zeit eine eigene Diskursgemeinschaft mit kanonischen Referenzen ausbilden konnte, aber nicht als integraler Bestandteil oder als Weiterentwicklung einer der klassischen Diskurse der Techniktheorie angesehen werden kann. Um diese Diskurse soll es nun gehen, und zwar hinsichtlich der Frage, inwieweit sie sich von ihrer Seite den Phänomenen jüngster technologischer Entwicklungen annähern. III. Der Ingenieursdiskurs der Technikphilosophie und seine kritische Weiterentwicklung Jede Zeit hat ihre eigene technikphilosophische Urszene. Als August Koelle sein System der Technik (1822) verfasst, hat er die Gewinnung von Stoffen aus der Natur und ihre gewerbliche Verarbeitung zu Kunstprodukten vor Augen; Ernst Kapps Grundlinien einer Philosophie der 41 42 43 Rinkel, Neuro-Enhancement durch die Konvergenz von Nano-, Bio- und Informationstechnologie sowie Kognitionswissenschaften: Optionen zur Gestaltung von Innovationspfaden, in: J. S. Ach u. a. (Hg.), Neuro-Enhancement. Ethik vor neuen Herausforderungen, Paderborn 2008. J.-P. Dupuy, Some Pitfalls in the Philosophical Foundations of Nanoethics, in: Journal of Medicine and Philosophy, Heft 3/2007, 237–261; vgl. auch ders. u. F. Roure, Les Nanotechnologies: Ethique et Prospective Industrielle, Paris 2004; [URL: http://lesrapports.ladocumentationfrancaise. fr/BRP/054000313/0000.pdf]. Als aktueller Überblick, mit weiteren Verweisen und Diskussion einer Vielzahl von Berichten und Ansätzen: C. Coenen, Konvergierende Technologien und Wissenschaften. Der Stand der Debatte und politischen Aktivitäten zu ‚Converging Technologies‘, TAB, Hintergrundpapier, Nr. 16, 2008, online unter: [URL: http://www.tab.fzk.de/de/projekt/zusammenfassung/hp16.pdf]. Vgl. zu einem Überblick: W. Korff u. a. (Hg.), Lexikon der Bioethik, 3 Bde., Gütersloh 2000; M. Düwell u. K. Steigleder (Hg.), Bioethik. Eine Einführung, Frankfurt/M. 2003; G. Khushf (Hg.), Handbook of Bioethics: Taking Stock of the Field from a Philosophical Perspective. Philosophy and Medicine, Bd. 78, Dodrecht 2004; ders., The Use of Emergent Technologies for Enhancing Human Performance: Are We Prepared to Address the Ethical and Political Issues?, in: Public Policy & Practice (ejournal), Nr. 2/2005, o.S.; [URL: http://www.ipspr.sc.edu/ejournal/ej511/George%20Kh ushf%20Revised%20Human%20Enhancements1.htm]; ders., The Ethics of NBIC Convergence, in: Journal of Medicine and Philosophy, Heft 3/2007, 185–196; ders., Open Questions in the Ethics of Convergence, in: Journal of Medicine and Philosophy, Heft 3/2007, 299–310. DZPhil 56 (2008) 6 945 Technik (1877) denkt die Technik vom Handwerkszeug über die Maschine bis zu den Netzwerken der Schienensysteme und Telegraphie vom lebendigen Organismus her (und ist damit für die aktuelle Problematik einschlägiger als viele der nachfolgenden Ansätze); Friedrich Dessauers Philosophie der Technik (1927) geht von der Urszene der Erfindung aus; und wie hinter seinem Deutungsansatz eine Epoche rasanter Neuerungen, hinter Kapps die Zeit der Physiologie, Psychologie und Lebensphilosophie aufscheint, so schimmert hinter Koelles Ansatz die Welt von Agrarwirtschaft, Bergbau und Manufakturen durch. In der Mitte des 20. Jahrhunderts, in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, etabliert sich nun ein weiterer technikphilosophischer Ansatz ausgehend von einer neuen Urszene, nämlich von der des Handelns und der Verantwortung des Ingenieurs. Dieser Ansatz, der sich im deutschsprachigen Raum nach dem Zweiten Weltkrieg im Umfeld des Verbandes der Deutschen Ingenieure (VDI) herausbildet, ist der älteste der entwickelten Diskurse der Technikphilosophie, der in der Gegenwart noch präsent ist. Der Diskurs (im Folgenden kurz: VDIDiskurs) postulierte sich als Überwindung älterer technikphilosophischer Ansätze (Koelle, Kapp, Dessauer), er wirkte in den 1980er Jahren stark auf die Belebung der amerikanischen Technikphilosophie, verlor aber seit den 1990er Jahren deutlich an Überzeugungs- und Strahlkraft. Die wichtigsten Namen dieser, da um die dortige TU zentrierten, auch Karlsruher Schule der Technikphilosophie genannten Gruppe sind Alois Huning, Hans Lenk, Simon Moser, Friedrich Rapp, Günter Ropohl, Hans Sachsse, Klaus Tuchel, Walter Christoph Zimmerli, Gerhard Banse und Klaus Kornwachs. Der Kerngedanke des VDI-Diskurses ist es, Technik im Rahmen des Zweck-Mittel-Schemas zu erläutern. Eine typische Begriffsbestimmung lautet: „In der Technik werden Wissen und Können durch zweckrationales Handeln zu Wirklichkeit in der Welt.“44 Zwei Punkte sind für diesen Ansatz charakteristisch. Erstens: Technik wird in der Hersteller-Perspektive betrachtet. Zuvorderst geht es um die Frage, wie technologische Artefakte zu Stande kommen, etwa, wie technische Innovation entsteht; sodann um eine Bewertung dieser Artefakte im Sinne einer Ingenieursethik, also im Sinne der Regeln, die der Ingenieur bei der Herstellung beachten soll. Zweitens wird in diesem Diskurs der systemische Aspekt der modernen Technik herausgestrichen. Technische Entwicklung – so die Auffassung – tendiert zu immer komplexeren Systemen, die nicht nur die Sach-, sondern auch die Sozialdimension der Technik umfassen.45 Grenzen dieses Diskurszusammenhangs hat Carl Mitcham – sicherlich einer der intimsten Kenner der internationalen technikphilosophischen Szene – benannt. Gerade weil hier „humanities thinkers“ wie Heidegger, Jaspers und die Kritische Theorie außen vor blieben, blieb die Resonanz auf Ingenieurskreise beschränkt: „the ,Mensch und Technik‘ comittee [eingerichtet im Rahmen der VDI-Aktivitäten 1956] has not influenced intellectual life to the degree one might have anticipated.“46 Grundsätzlicher fiel die Kritik der jüngeren Generation der deutschsprachigen Technikund Medienphilosoph/inn/en aus. Christoph Hubig paraphrasierend, aber einen Neuansatz der Technikphilosophie insgesamt formulierend, schreiben Gerhard Gamm und Andreas Hetzel: 44 45 46 A. Huning, Der Technikbegriff, in: F. Rapp (Hg.), Technik und Philosophie, (Technik und Kultur, Bd. 1), Düsseldorf 1990, 11–25, hier: 20. H. Lenk, Zur Sozialphilosophie der Technik, Frankfurt/M. 1982; F. Rapp, Die Dynamik der modernen Welt. Eine Einführung in die Technikphilosophie, Hamburg 1994; G. Ropohl, Allgemeine Technologie. Eine Systemtheorie der Technik, München 1999. C. Mitcham, Thinking through Technology: The Path between Engineering and Philosophy, Chicago 1994, 70 f. 946 Werner Kogge, Perspektiven der Technikphilosophie „Er richtet sich gegen handlungstheoretische und bestimmungslogische Deutungen, die Technik immer noch als System rational organisierter Handlungsmittel interpretieren und dabei übersehen, dass die ständig komplexer werdenden Mittelverkettungen der Technik insgesamt eine Virtualität einschreiben, die allenfalls ‚Spuren‘ von konkreten Handlungszwecken und -mitteln erkennen lässt.“47 Teilweise noch anschließend, teilweise sich explizit gegenüber dem ‚VDI-Diskurs‘ abgrenzend, haben Theoretiker/innen wie Sybille Krämer, Bernhard Irrgang, Christoph Hubig, Gerhard Gamm, Dieter Wandschneider und Nicole Karafyllis begonnen, Technik nicht mehr nur im Rahmen des Zweck-Mittel-Verhältnisses, sondern in seiner medialen, Handlungsräume allererst erschaffenden Dimension zu denken.48 Technik ist demnach nicht nur als Instrument zu sehen, Arbeit zu ersparen und Leistung zu steigern, sondern auch beziehungsweise in erster Linie als ein Medium, das unsere Handlungs- und Erfahrungsspielräume konstituiert, strukturiert und transformiert. Umgekehrt hat Günter Ropohl „geisteswissenschaftlich geprägte Technikforscher“ dafür kritisiert, mithilfe des Medienbegriffs Technik „zu entdinglichen“.49 Ropohl gibt zu bedenken, dass nicht eine Dematerialisierung von Technik, sondern „umgekehrt eine wachsende Materialisierung der ideellen und sozialen Kultur zu beobachten“ sei – und zwar durch Kultur- und Informationstechniken. Dies allerdings ist eine Einsicht, die auch Denker/innen im geisteswissenschaftlichen Bereich nicht verschlossen geblieben ist.50 Mit Blick auf die neuen Technologien stellt sich die Frage, welche konzeptuellen Ansätze aus diesem Diskurszusammenhang zu beziehen sind. Sehen wir uns einige Beispiele an, die aktuelle technische Tendenzen zum Gegenstand haben: Hans Lenk hat bereits Ende der 1990er Jahre eine Liste von dreißig Punkten zusammengestellt, die die strukturellen Charakteristika jüngster Technologien beschreiben sollten.51 Unter diesen Punkten finden sich solche wie die Tendenz von Objekten zu Prozessen, die Systemintegration, die Informatisierung, das Entstehen artifizieller Umgebungen, die Technisierung des Virtuellen, die Entstehung intelligenter und fernsteuerbarer Apparate, die Tendenz zu Benutzerfreundlichkeit und Anthropomorphisierung, Globalisierung, Metaautonomisierung (Technik stellt Technik her, wartet sie und so weiter), und das Problem der Unzurechenbarkeit technischer Entwicklungen und Effekte auf individuelle Verantwortung. Die Heterogenität 47 48 49 50 51 G. Gamm u. A. Hetzel (Hg.), Unbestimmtheitssignaturen der Technik, a. a. O., 12. S. Krämer, Computer: Werkzeug oder Medium? Über die Implikationen eines Leitbildwechsels, in: H. P. Böhm, Nachhaltigkeit als Leitbild für Technikgestaltung, Dettelbach 1996, 107–116; G. Gamm, Technik als Medium. Grundlinien einer Philosophie der Technik, in: M. Hauskeller u. Ch. Rehmann-Sutter (Hg.), Naturerkenntnis und Natursein, Frankfurt/M. 1998, 94–107; B. Irrgang, Technische Kultur. Instrumentelles Verstehen und technisches Handeln, (Philosophie der Technik, Bd. 1), Paderborn 2001; C. Hubig, Mittel, Bielefeld 2002; D. Wandschneider, Technikphilosophie, Bamberg 2004; N. C. Karafyllis u. T. Haar (Hg.), Technikphilosophie im Aufbruch. Festschrift für G. Ropohl, Berlin 2004. Dieses und das folgende Zitat: G. Ropohl, Wider die Entdinglichung im Technikverständnis, in: G. Abel u. a. (Hg.), Neuzeitliches Denken. Festschrift für Hans Poser, Berlin 2002, 427–440, hier: 427, 435. Vgl. F. Kittler, Grammophon Film Typewriter, Berlin 1986; S. Krämer, Symbolische Maschinen. Die Idee der Formalisierung in geschichtlichem Abriß, Darmstadt 1988; H. U. Gumbrecht (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt/M. 1988; S. Krämer, Technik als Kulturtechnik. Kleines Plädoyer für eine kulturanthropologische Erweiterung des Technikkonzeptes, in: K. Kornwachs (Hg.), Technik – System – Verantwortung, Münster 2003, 157–164. H. Lenk, Advances in the Philosophy of Technology. New Structural Characteristics of Technologies, in: ders. u. M. Maring, Advances and problems in the philosophy of technology, Münster 2001, 93–106. DZPhil 56 (2008) 6 947 und Allgemeinheit dieser Liste lassen allerdings viele der Punkte fragwürdig und wenig aussagekräftig erscheinen. Insgesamt könnte man als Tendenz aus diesen Beobachtungen eine wachsende Systembildung und totale Technisierung bei gleichzeitiger Ausrichtung auf den Techniknutzer herausdestillieren. Wo sich solche Effekte allerdings konkret zeigen und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, bleibt offen. Nicole Karafyllis erkennt einen wesentlichen Zug jüngster technischer Entwicklung in der Entstehung von Biofakten, von Hybriden aus Maschine und Lebewesen, und fragt nach Kriterien für eine Grenzziehung zwischen Natürlichem und Künstlichem.52 Eine theoretische Rekonzeptualisierung des Maschinenbegriffs leistet Sybille Krämer mit ihrer These, dass die Differenz von Humanem und Maschinellem bereits in den Kulturtechniken, in der symbolischen Maschine, die wir zum Beispiel im schriftlichen Rechnen in uns kultivieren, unterlaufen ist.53 Ein Vergleich zweier Aufsätze zum Thema Ubiquitous Computing führt die divergenten Ausrichtungen der älteren und der jüngeren Ansätze in diesem Diskurszusammenhang vor Augen: Klaus Kornwachs geht in seinem Aufsatz zum Verteilten Rechnen von der Annahme aus, dass solche Technologien durch invertierte Zweck-Mittel-Beziehungen gekennzeichnet seien. Damit meint er: „Die Möglichkeiten und die Mittel sind gegeben und man hält nach Anwendungen, sprich Zielen und Zwecken Ausschau.“ Aus der „Konversion der Ziel-Mittel-Relation“, wie sie durch verteiltes Rechnen oder durch die Nanotechnologie entstehen, erwachsen im Überschuss der Möglichkeiten und in der Unterbestimmtheit von Zwecken Spannungen und Interessenkonflikte, die nur verantwortlich zu lösen sind, wenn solche Technologien als „reversible Technologie[n]“ gestaltet werden – also so, dass höhergewichtige Interessen als Zwecke eingesetzt werden können.54 Mit Ubiquitous Computing beschäftigt sich auch eine Arbeit von Christoph Hubig, die im Rahmen des Medien-Paradigmas steht. Der Text bietet eine recht differenzierte Analyse von Strukturen, die für das Handeln in einer Welt vernetzter, „smarter“ Dinge maßgeblich sind. Im Zentrum steht die Problematik der Vorschematisierung (Informationierung des Medialen) und des Entzugs medialer Spuren, die die Erfahrung von Grenzen unterläuft. Gefordert wird, dass die ubiquitären Systeme selbst wiederum Spuren ihrer Tätigkeit erzeugen, sodass sich die Nutzer zur Handlungsentlastung durch die technischen Medien verhalten können und der „Optionswert des Handelns“ offen gehalten bleibt.55 Im Vergleich der beiden Ansätze ist der Hauptunterschied darin festzustellen, dass es Kornwachs darum geht, die Zweck-Mittel-Hierarchie auch in Bezug auf jüngste Technologien in Kraft zu setzen, sodass deren Tendenz zur Produktion ungebundener Möglichkeiten der Kontrolle durch rationale Zwecksetzung unterworfen bleibt. Hubig dagegen geht davon aus, dass „eine zu enge Auslegung von Technik als Inbegriff der Mittel die Pointe verfehlt, dass 52 53 54 55 N. C. Karafyllis, Biofakte. Versuch über den Menschen zwischen Artefakt und Lebewesen, Paderborn 2003; vgl. auch dies., Bacillus nanotechnensis: Der Erreger einer ‚neuen‘ Epidemie im Labor der Gegennatur-Gesellschaft und seine Grenzen der Biofaktizität, in: G. Maio u. J. Clausen (Hg.), Die „Natur des Menschen“ in der Bioethik, Freiburg/Br. 2007. S. Krämer, Maschinenwesen. Ein Versuch, über den Anthropomorphismus in der Technikdeutung hinauszukommen, in: Th. Christaller u. J. Wehner (Hg.), Autonome Maschinen, Wiesbaden 2003, 208–221. K. Kornwachs, Je breiter die Anwendung, um so gravierender die Konflikte – Der Fall des verteilten Rechnens, in: A. Nordmann u. a. (Hg.), Nanotechnologien im Kontext , a. a. O., 293–309, hier: 304, 308. C. Hubig, Selbständige Nutzer oder verselbständigte Medien. Die neue Qualität der Vernetzung, in: K. Kornwachs (Hg.), Technik – System – Verantwortung, Münster 2004, 129–144, hier: 142. 948 Werner Kogge, Perspektiven der Technikphilosophie Technik einen Möglichkeitsraum ausmacht“.56 Komplexe Möglichkeitsräume der Techniken als Medien sind die jeweilige Grundlage von „Mitteleinsatz und Zweckrealisierung“.57 Das Problem jüngster Technologien besteht gemäß dieser Sichtweise darin, dass in ihnen Aktanten wirksam sind, die vorschematisierte Aktionen ausführen, ohne dass diese noch wahrnehmbar sind. Es geht hier also nicht um das Wiedergewinnen vorausgehender Kontrolle, sondern um die Wahrnehmbarkeit und Zugänglichkeit involvierter Prozessfaktoren. IV. Die Technikphilosophie der Kritischen Theorie Ein zweiter Diskussionszusammenhang, der sich im deutschsprachigen Raum nach dem Zweiten Weltkrieg herausbildete, ist der Diskurs der Kritischen Theorie mit seiner Reflexion auf Technik. Dieser Diskurs ist mit der Entwicklung der neo-marxistischen Tradition und der Frankfurter Schule verknüpft – von seinen Klassikern (insbesondere Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung und Marcuses One Dimensional Man) bis hin zu seiner Neukonzipierung durch Jürgen Habermas und seiner Neuorientierung im feministischen Diskurs. Die wichtigsten Protagonisten dieser Traditionslinie sind heute Andrew Feenberg, Steven Vogel und Donna Haraway. Die Arbeiten von Ivan Illich, Langdon Winner, Ernst F. Schuhmacher und anderen Vordenkern alternativer Techniken sind deutlich von dieser Traditionslinie beeinflusst. Der technikphilosophische Diskurs der Kritischen Theorie ist lebendiger, als ein Blick von außen es vielleicht erwarten ließe. Dies ist insbesondere den amerikanischen Technikphilosophen wie Feenberg, Vogel und Winner geschuldet, die Adorno, Horkheimer, Marcuse und Habermas immer wieder kritisch diskutieren und zu anderen technikphilosophischen Ansätzen, wie etwa dem Heideggers, ins Verhältnis setzen.58 Aber auch in Deutschland wird der Diskurs über Kritische Theorie der Technik und der Natur fortgesetzt.59 Die technikphilosophische Pointe der Kritischen Theorie – wie sie etwa in der Dialektik der Aufklärung formuliert wurde – besteht darin, eine Verschmelzung von Technik und Herrschaft in der bürgerlichen Zivilisation zu beschreiben. Weil in diesem Gesellschaftstypus alles darauf ankommt, Herrschaft über die Natur zu erlangen, und weil die Zerlegung in gleichförmige, wiederholbare, normierte Entitäten ein Maximum an Beherrschung ermöglicht, bedeutet Technisierung hier Auslöschung von Qualitäten und Erfahrungsmöglichkeiten; eine 56 57 58 59 C. Hubig‚Wirkliche Virtualität. Medialitätsveränderung der Technik und der Verlust der Spuren, in: G. Gamm u. A. Hetzel (Hg.), Unbestimmtheitssignaturen der Technik, a. a. O., 39–62, hier: 49. C. Hubig, Selbständige Nutzer oder verselbständigte Medien, a. a. O., 133. A. Feenberg, Critical Theory of Technology, New York 1991; ders., Alternative Modernity: The Technical Turn in Philosophy and Social Theory, Berkeley 1995; ders., Questioning Technology, London 1999; ders., Transforming technology: a critical theory revisited, New York 2002; S. Vogel, Against Nature. The Concept of Nature in Critical Theory, New York 1996; ders., New Science, New Nature. The Habermas-Marcuse Debate Revisited, in: A. Feenberg u. A. Hannay (Hg.), Technology and the Politics of Knowledge, Bloomington/Indianapolis 1995, 23–43; A. Feenberg, Heidegger und Marcuse. Zerfall und Rettung der Aufklärung, in: G. Böhme u. A. Manzei (Hg.), Kritische Theorie der Technik und der Natur, München 2003, 39–53; L. Winner, Autonomous Technology: Technics-out-of-Control as a Theme in Political Thought, Cambridge 1977; ders., Building the Better Mousetrap: Appropriate Technology as a Social Movement, in: F. Long u. A. Oleson (Hg.), Appropriate Technology and Social Values – A Critical Appraisal, Cambridge/Mass. 1980, 27–52; L. Winner, The Whale and the Reactor: A Search for Limits in an Age of High Technology, Chicago 1986. G. Böhme u. A. Manzei (Hg.), Kritische Theorie der Technik und der Natur, a. a. O. DZPhil 56 (2008) 6 949 Auslöschung, die so radikal ausfällt wie der Mensch hier selbst sich in sogestalte Entitäten zu verwandeln hat, um die Herrschaft über die Natur zu erringen. Dieser ‚Rückschlag des Beherrschten auf die Beherrschenden‘ schließt Natur und Subjekt gleichermaßen ein; ein Ausweg ist nur durch eine Verschärfung der theoretischen und begrifflichen Arbeit möglich, die die Auseinandersetzung mit der Natur unter dem Herrschaftsaspekt überwindet. Diese Interpretation des Mensch-Technik-Natur-Verhältnisses ist allerdings lediglich für die frühe Kritische Theorie charakteristisch, wie sie sich etwa noch in Marcuses One Dimensional Man niederschlägt. Die Revision der Kritischen Theorie durch Habermas brachte demgegenüber an zwei Punkten tiefgreifende Änderungen mit sich. Zum einen trennte Habermas die Sphäre des Technischen von der der Lebenswelt ab, wodurch der Einbegriff des Menschen in die Sphäre der technischen Herrschaft aufgehoben wird; zum anderen erklärt er in einer anthropologischen Wendung Technik zu einer conditio humana, die, in sich neutral, lediglich ein Mittel der Daseinssicherung und Effizienzsteigerung darstellt. Nach dieser Konzeption liegt der problematische Punkt in der ,Kolonialisierung der Lebenswelt‘ durch die technische Sphäre.60 Die jüngere Kritik zielt dagegen wieder darauf, Technik als nicht-neutrales und eng mit der Struktur der Gesellschaft verbundenes, andererseits aber doch gestaltbares Medium zu begreifen.61 In den Zusammenhang der Kritischen Theorie gehören auch die Versuche, Konzeptionen einer alternativen oder angepassten Technik zu entwickeln. Die beiden Klassiker stammen von 1973: Ernst F. Schuhmachers Small is beautiful und Ivan Illichs Tools for Convivality.62 Der Grundgedanke der hier vertretenen Argumentation besteht darin – anders als beispielsweise Habermas, der lediglich einen Bereich der sinn- und werthaften Kommunikation vor der Eigengesetzlichkeit des Technischen bewahren will –, darauf zu bestehen, dass die Technik selbst gestaltbar ist, dass sie sich den Bedürfnissen des Menschen und den Erfordernissen der Natur anpassen lässt.63 Obwohl dieser Diskurs eng mit den sozialen Bewegungen der 1960er bis 1980er Jahre verbunden ist, spielt er für die aktuellen Diskussionen eine bedeutsame Rolle. Denn die Propagierung von NBIC-Technologien greift nicht selten auf Argumente aus dem Repertoire der Protagonisten technischer Alternativen zurück, etwa wenn es um die gesteigerte Anpassungsfähigkeit an menschliche Bedürfnisse und um Umweltverträglichkeit geht. Die Arbeiten, die sich vor diesem Hintergrund mit konkreten Erscheinungen aktueller Technologien beschäftigen, haben insbesondere die Rolle des menschlichen Körpers in den neuen Technowissenschaften zum Gegenstand. Während etwa Elisabeth List als Gegenpart zu den technischen Systemen im bioinformatischen Zeitalter das lebendige Subjekt in seiner Bindung an Körper, Tod, Schmerz und Lust, also ein „im anthropologischen Sinne Reale[s]“ voraussetzt und ein Verschwinden von Letzterem in der Kontrolle und Objektivierung durch Erstere erkennt64, fordert Jutta Weber mit Donna Haraway, den Naturbegriff nicht substanziell zu fassen, 60 61 62 63 64 J. Habermas, Technik und Wissenschaft als „Ideologie“, Frankfurt/M. 1968. A. Feenberg, Marcuse or Habermas: Two Critiques of Technology, in: Inquiry, 39 (1995), 45–70. I. Illich, Tools for Conviviality, New York 1973 (dt.: Selbstbegrenzung: Eine politische Kritik der Technik, Reinbek bei Hamburg 1975); E. F. Schuhmacher, Small is beautiful: Economics as if people mattered, London 1973 (dt.: Die Rückkehr zum menschlichen Maß. Alternativen für Wirtschaft und Technik, Reinbek bei Hamburg 1977). Zum systematischen Einsatzpunkt einer „vernünftigen Technik“ im Kontext der Kritischen Theorie vgl. G. Böhme, … vom Interesse an vernünftigen Zuständen durchherrscht …, in: G. Böhme u. A. Manzei (Hg.), Kritische Theorie der Technik und der Natur, a. a. O., 13–24. E. List, Telenoia – Lust am Verschwinden?, in: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, Heft 4/1997, 495–506, hier: 505. 950 Werner Kogge, Perspektiven der Technikphilosophie sondern als korrespondierenden Begriff zu dem der Kultur nur so weit zu bestimmen, als er das Eigensinnig-Aktive bezeichnet, was in „Diskurs, Sprache, Intersubjektivität und Rationalität“ nicht aufgeht.65 Alexandra Manzei sieht Widerstandspotenziale des Körperlichen im „Körper als Zustand“, als „einzige Möglichkeit unseres in-der-Welt-Seins“66; Carmen Gransee fragt ebenfalls nach Nichtverfügbarem, „um Naturbeherrschung kritisieren zu können“.67 Einen etwas anderen Akzent setzt Arnd Pollmann, wenn er in spätmodernem Körperkult und biotechnisch aufgerüstetem Enhancement ein Bemühen um „Wiedergewinnung von Identität“, eine Reaktion auf „die seelische Formlosigkeit unserer Kultur“ erkennt68; Robin Celikates und Simon Rothöhler sehen in den realexistierenden Körpertechniken und -technologien längst nicht mehr den subversiven Impuls von Haraways Hybridisierungsstrategie am Werk, sondern ein konformistisches Projekt des „self-shaping“, das den „neo-liberalen Imperativen permanenter Selbstverwirklichung, Selbstdisziplinierung und Selbstmanipulation“ durchaus entgegenkommt.69 Was in Bezug auf die Rolle der Einschätzung jüngster Technologien in diesen Texten auffällt, ist, dass hier die Spannung zwischen einem Kontroll- und einem Auflösungsparadigma der Technikdeutung am stärksten hervortritt: Befürchtet wird zum einen, dass die neuen Technologien zu einer totalen Verfügbarkeit führen, zum anderen, dass sie ontologische Grenzen de facto zum Verschwinden bringen. Wie sich aber der Begriff der Verfügung und Kontrolle darstellt, wenn er auf entsubstanzialisierte Körper Anwendung finden soll, dazu findet sich in den einschlägigen Texten wenig. Es ist daher zu fragen, ob in der Grundfigur der Kritischen Theorie, nämlich von einem antagonistischen zweiseitigen Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt auszugehen, das im Verhältnis von Technik und Natur wiederkehrt, durch alle Verwicklungen seiner Vermittlung hindurch nicht eine theoretische Ausgangslage bestehen bleibt, die gerade in Bezug auf neue Technologien mit ihren Modi der Integration, Delegation und Kooperation zu wenig analytisches Auflösungsvermögen bietet. Allerdings ist auch zu bedenken, dass es dieser Diskurs ist, der an der für jede kritische Betrachtung von Technologien maßgeblichen Frage nach einer Referenzgröße festhält und damit die Gestaltungsperspektive systematisch offen hält; ob und inwiefern allerdings Begriffe von ,innerer Natur‘, menschlichem Körper und Leib einen geeigneten Referenzpunkt der Kritik bieten, ist eine innerhalb des Diskurses selbst hoch umstrittene Frage.70 65 66 67 68 69 70 J. Weber, Vom Nutzen und Nachteil posthumanistischer Naturkonzepte, in: G. Böhme u. A. Manzei (Hg.), Kritische Theorie der Technik und der Natur, a. a. O., 221–246, hier: 240. A. Manzei, Eingedenken der Lebendigkeit im Subjekt? – Kritische Theorie und die anthropologischen Herausforderungen der biotechnologischen Medizin, in: G. Böhme u. A. Manzei (Hg.), Kritische Theorie der Technik und der Natur, a. a. O., 199–221, hier: 214. C. Gransee, Über Hybridproduktionen und Vermittlungen – Relektüren der kritischen Theorie im biotechnischen Zeitalter, in: G. Böhme u. A. Manzei (Hg.), Kritische Theorie der Technik und der Natur, a. a. O., 187–198. A. Pollmann, Hart an der Grenze. Skizze einer Anamnese spätmodernen Körperkults, in: J. S. Ach u. A. Pollmann (Hg.), no body is perfect. Baumaßnahmen am menschlichen Körper. Bioethische und ästhetische Aufrisse, Bielefeld 2006, 307–324, hier: 308. R. Celikates u. S. Rothöhler, Hybridisierung oder Anerkennung? Zwei Politiken des Körpers in den Filmen David Cronenbergs und der Farelly-Brüder, in: J. S. Ach u. A. Pollmann (Hg.), no body is perfect, a. a. O., 325–347, hier: 326. G. Gamm schreibt: „Naturphilosophen […] versuchen auf den verschiedenen Ebenen die erste (oder zweite) Natur zurückzugewinnen, sie glauben sie partiell den gesellschaftlichen Vermittlungsprozessen enthoben. Die Versuche reichen von Günter Anders’ oder Hannah Arendts Einsicht in die Natalität des Menschengeschlechts bis zu Gernot Böhmes und Ulrich Pothasts Analysen eines eigenleiblichen Spürens.“ (G. Gamm, ‚Aus der Mitte denken‘. Die ‚Natur des Menschen‘ im Spiegel der DZPhil 56 (2008) 6 951 V. Die phänomenologisch-hermeneutischeTradition der Technikphilosophie Der auf Edmund Husserl und Maurice Merleau-Ponty zurückgehende, insbesondere aber an Martin Heidegger anschließende phänomenologisch-hermeneutische Diskurs der Technikphilosophie hat im letzten Jahrzehnt wohl weltweit die stärkste Dynamik entfaltet. Im englischsprachigen Raum wurden phänomenologisch-hermeneutische Ansätze durch drei Denker, nämlich Hubert Dreyfus, Don Ihde und Albert Borgmann, vermittelt und technikphilosophisch weiterentwickelt.71 Der phänomenologisch-hermeneutische Diskurs der Technikphilosophie baut auf einer systematisch vollkommen anderen Grundlage als der VDI-Diskurs und der Diskurs der Kritischen Theorie: Nicht das Zweck-Mittel-Verhältnis, sondern die Beziehung zwischen Mensch und Welt, wie sie in Begriffen wie Intentionalität, menschliches Weltverhältnis, Lebenswelt und In-der-Welt-sein ausgedrückt ist, bildet die Basis, von der aus Technik in den Blick genommen wird. Wirkungsgeschichtlich besonders einflussreich wurde Heideggers Überlegung, dass die instrumentale Deutung der Technik nicht treffe, was ihr „wesentlich“ ist, nämlich die Entwicklung und Ausprägung eines bestimmten kulturellen Paradigmas. Moderne Technik schließt demnach dem Menschen Welt in einer spezifischen Weise auf, und die Gefahr der Technik liegt für Heidegger genau darin, diese Spezifität zu verdunkeln (und damit alternativlos zu machen).72 71 72 Bio- und Informationstechnologien, in: Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 12/2001, 29–50, hier: 34) Zur entgegengerichteten Feststellung eines Desiderats einer ausgearbeiteten kritischen Theorie der Leiblichkeit vgl. G. Böhme, … vom Interesse an vernünftigen Zuständen durchherrscht …, a. a. O., 21. Neben Elisabeth List nennt Alexandra Manzei Regina Becker-Schmidt, Barbara Duden, Elvira Scheich, Andrea Maihofer, Hilge Landweer, Carmen Gransee, Jutta Weber, Kathrin Braun und Gernot Böhme als AutorInnen, die davon ausgehen, „dass sich mit den Entwicklungen der Informations-, Gen- und Biotechnologie gerade eine Verschärfung des Gegensatzes zwischen Subjekt und (Objekt)Natur, zwischen Geist und Körper vollziehe, und dass damit eine zunehmende Beherrschung der ‚inneren und äußeren Natur‘ verbunden sei“ (A. Manzei, Eingedenken der Lebendigkeit im Subjekt?, a. a. O., 212). D. Ihde, Technics and Praxis: A Philosophy of Technology, Dordrecht 1979; ders., Die historischontologische Priorität der Technik, in: F. Rapp u. P. Durbin (Hg.), Technikphilosophie in der Diskussion: Ergebnisse des deutsch-amerikanischen Symposiums in Bad Homburg, Braunschweig 1982, 205–217; D. Ihde, Instrumental Realism. The Interface between Philosophy of Science and Philosophy of Technology, Bloomington/Indianapolis 1991; ders., Expanding Hermeneutics: Visualism in Science, Evanstin/Il. 1999; ders. u. E. Selinger, Chasing Technoscience. Matrix for Materiality, Bloomington/Indianapolis 2003; A. Borgmann, Technology and the Character of Contemporary Life. A Philosophical Inquiry, Chicago 1984; ders., Crossing the Postmodern Divide, Chicago 1993; H. L. Dreyfus, Between Techné and Technology: The Ambiguous Place of Equipment in Being and Time, in: Tulane Studies in Philosophy: The Thought of Martin Heidegger, XXXII (1984), 23–35; H. L. Dreyfus, Being-In-The-World, Cambridge/Mass. 1991; ders., Heidegger on Gaining a Free Relation to Technology, in: A. Feenberg u. A. Hannay (Hg.), Technology and the Politics of Knowledge, Bloomington/Indianapolis 1995; H. L. Dreyfus u. C. Spinosa, Highway Bridges and Feasts: Heidegger and Borgmann on How to Affirm Technology, in: Man and World, 30 (1997), 159–177. M. Heidegger, Die Frage nach der Technik, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, 13–44; ders., Bauen, Wohnen, Denken, in: ders.: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, 145–162; ders., Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1962; ders., Sein und Zeit [1927], Tübingen 1993; ders., Der Ursprung des Kunstwerks [1935/36], in: ders., Holzwege, Frankfurt/M. 1994. 952 Werner Kogge, Perspektiven der Technikphilosophie Der Ansatz Heideggers steht im Zentrum einer Vielzahl von Veröffentlichungen im internationalen Feld73, die sich zu einem umfangreichen und lebhaften Diskurs im englischsprachigen Raum bündeln (zentriert in der in den USA erscheinenden Zeitschrift Techné)74; ein Diskurs, in dem es generell darum geht, die Transformationen zu beschreiben und begrifflich zu erfassen, die sich durch die Mediation von Techniken in der Beziehung zwischen Mensch und Welt ereignen; es geht um die Frage, wie sich Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Handlungsweisen verändern, wenn ein Lebensbereich technisiert oder seine technische Ausstattung verändert wird. In keinem anderen Diskurszusammenhang gibt es eine solche Vielzahl von Studien, die eine Analyse konkreter phänomenaler Strukturen von Techniken im Rahmen theoretisch anspruchsvoller Reflexionen leisten. Für den Strukturwandel des Mensch-Technik-Welt-Verhältnisses im Zuge von Digitalisierung und Computerisierung haben Ihde, Dreyfus, Borgmann, Hook und Winnograd subtile Analysen vorgelegt.75 An jüngste Technologien allerdings tasten sich die Autoren dieses Diskurses erst allmählich heran. Augustin A. Araya stellt vor dem Hintergrund Heideggerscher Begriffe Überlegungen darüber an, ob existenzielle Dimensionen, wie die Andersheit der Dinge, durch Ubiquitous Computing gefährdet sein könnten; Petra Gehring diagnostiziert in der Einheit „einer biochemisch-stofflichen Wissenschaft und Technik, die ebenso als Informationswissenschaft und -technik beschrieben werden kann“, die Entstehung eines neuen „Rationalitätsraums“76; in meinem eigenen Text Das Maß der Technik geht es um die Frage, wie sich sensorische und kooperierende technische Aktanten zur Offenheit und Erfahrbarkeit lebensweltlicher Bezüge verhalten; in Spurenlesen als epistemologischer Grundbegriff um das Verhältnis von Bioinformatik, Gentechnik und organischem Material.77 Don Ihde und Thomas W. Staley setzen sich mit Erfahrungsmöglichkeiten in Bezug 73 74 75 76 77 W. Schirmacher, Ereignis Technik, Wien 1990; C. Mitcham (Hg.), Philosophy of Technology in Spanish Speaking Countries, Dordrecht 1993; T. Rockmore, Heidegger on Technology and Democracy, in: A. Feenberg u. A. Hannay (Hg.), Technology and the Politics of Knowledge, Bloomington/Indianapolis 1995, 128–144; R. Benedikter (Hg.), Italienische Technikphilosophie für das 21. Jahrhundert, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002. C. Mitcham (Hg.), Metaphysics, Epistemology, and Technology. Research in Philosophy and Technology, (Bd. 19), New York 2000; P. Brey, Technology and Embodiment in Ihde and Merleau-Ponty, in: C. Mitcham (Hg.), a. a. O., 45–57; M. Hansen, Embodying Technesis: Technology Beyond Writing, Ann Arbor 2000; A. Light u. R. David, Toward New Foundations in Philosophy of Technology: Mitcham and Wittgenstein on Descriptions, in: C. Mitcham (Hg.), a. a. O., 125–147; P.-P. Verbeek, The Thing About Technology: Toward a Phenomenology of Technological Artifacts, in: C. Mitcham (Hg.), a. a. O., 281–301; P.-P. Verbeek, Devices of Engagement: On Borgmann’s Philosophy of Information and Technology, in: Techné, Heft 1/2002, 69–92; P.-P. Verbeek, What Things Do, London 2005; D. Ihde, Has the Philosophy of Technology Arrived? A State-of-the-Art Review, in: Philosophy of Science, 71 (2004), 117–131. D. Ihde, The Existential Import of Computer Technology, Kapitel 5 in: ders., Technics and Praxis: A Philosophy of Technology, Dordrecht 1979; H. L. Dreyus u. S. E. Dreyfus, Making a Mind versus Modelling the Brain: Artificial Intelligence back at a Branch-Point, in: M. Boden, The Philosophy of Artificial Life, Oxford 1996, 309–333; A. Borgmann, Holding on to Reality. The Nature of Information at the Turn of the Millennium, Chicago 2000; B. Hook, The Fate of Skills in the Information Age, in: C. Mitcham (Hg.), Metaphysics, Epistemology, and Technology, a. a. O., 101–124; T. Winograd, Heidegger and the Design of Computer Systems, in: A. Feenberg u. A. Hannay (Hg.), Technology and the Politics of Knowledge, Bloomington/Indianapolis 1995, 108–127. P. Gehring, Bioforschung und Biotechnik, in: J. Jonas u. K.-H. Lembeck (Hg.), Mensch – Leben – Technik. Aktuelle Beiträge zur phänomenologischen Anthropologie, Würzburg 2006, 203–222, hier: 208 f. W. Kogge, Das Maß der Technik: Lebenswelt als Kriterium technischer Angemessenheit?, a. a. O.; ders., Spurenlesen als epistemologischer Grundbegriff: Das Beispiel der Molekularbiologie, in: 953 DZPhil 56 (2008) 6 auf Phänomene und Prozesse im Nanogrößenbereich auseinander.78 Staley argumentiert dafür, die technischen Bilder molekularer Vorgänge so zu gestalten, dass sie sich nicht bloß möglichst lebendig und beeindruckend in unsere Bildgewohnheiten einschreiben, sondern dass sie „uns unsere pragmatischen Möglichkeiten, Aspekte der Nanowelt in unseren perzeptiven Rahmen zu inkorporieren, vermitteln“.79 VI. Die Techniktheorie der Techniksoziologie Seit den 1980er Jahren gibt es einen deutschsprachigen Diskurs der Techniksoziologie, wie auch einen internationalen Diskurs der Science and Technology Studies (STS), die beide auch philosophisch relevante, systematische Reflexionen auf Technik hervorgebracht haben. Wichtige Namen sind: Bernward Joerges, Karl H. Hörning, Hans Linde, Werner Rammert, Wolfgang Krohn, Peter Weingart, Michel Callon, Bruno Latour, H. M. Collins, Wiebe E. Bijker, Trevor Pinch und Steve Woolgar. Der Techniksoziologie geht es um die Faktoren, die soziales Handeln bestimmen. Schon Durkheim hatte technische Artefakte und Bauwerke mit Normen und Werten parallelisiert hinsichtlich der Zwänge, die sie auf das menschliche Handeln ausüben. Die deutschsprachige Technikphilosophie der 1980er Jahre ist in dieser Tradition davon ausgegangen, dass technische Artefakte Handlungsstrukturen verändern, zum Beispiel durch eine auf elaboriertem Wissen und Effizienz beruhende Delegation von Teilhandlungen an technische Artefakte.80 International setzte sich zur selben Zeit eine sozialreduktionistische Auffassung durch, nach der die Entstehung technischer Artefakte auf Bedürfnisse und Interessen sozialer Gruppen zurückgeführt wurde81; eine Position, die sich in der kulturalistischen Tendenz der Soziologie der 1990er Jahre radikalisierte, indem auch Technik in semantische und textuelle Begriffe aufgelöst wurde. Technik zeigt sich in dieser Perspektive vor allem als Verflüssigung und Virtualisierung stabiler Identitäten (Auflösungsparadigma). Das Unbehagen an dieser Reduktion beförderte eine radikale Hinwendung zu den vermeintlich bloßen Objekten von Forschung und Technologie, wie sie prominent von Bruno Latour vertreten wird: Technische Artefakte werden als Aktanten in komplexen sozialen Zusammenhängen beschrieben. An Beispielen wie dem Sicherheitsgurt, dem automatischen Türschließer und dem Schlüsselanhänger erläu- 78 79 80 81 S. Krämer u. a. (Hg.), Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt/M. 2007, 182–221. D. Ihde, Bodies in Technology, (Electronic Mediations, Bd. 5), Minneapolis 2001; ders., Simulation and Embodiment, 2003 [URL: http:// www.ifz.tugraz.at/index_en.php/filemanager/download/998/ Don%20Ihde. pdf]; T. W. Staley, The Coding of Technical Images of Nanospace: Analogy, Disanalogy, and The Asymmetrie of Worlds, in: Techné, Heft 1/2008, 1–22. T. W. Staley, The Coding of Technical Images of Nanospace: Analogy, Disanalogy, and The Asymmetrie of Worlds, a. a. O., 21 [übers. WK]. B. Jörges (Hg.), Technik im Alltag, Frankfurt/M. 1988; ders., Gerätetechnik und Alltagshandeln. Vorschläge zur Analyse der Technisierung alltäglicher Handlungsstrukturen, in: ders. (Hg.), Technik im Alltag, a. a. O., 20–50; ders. (Hg.), Technik. Körper der Gesellschaft: Arbeiten zur Techniksoziologie, Frankfurt/M. 1996; K. H. Hörning, Technik und Kultur: Ein verwickeltes Spiel der Praxis, in: J. Halfmann u. a. (Hg.), Technik und Gesellschaft. Jahrbuch 8: Theoriebausteine der Techniksoziologie, Frankfurt/M. 1995, 131–151. T. Pinch u. W. Bijker, The Social Construction of Facts and Artefacts: or How the Sociology of Science and the Sociology of Technology may Benefit Each Other, in: Social Studies of Science, Heft 1/1984, 399–441. 954 Werner Kogge, Perspektiven der Technikphilosophie tert Latour, wie technische Artefakte die Stelle von komplexen Vorschriften oder Werten einnehmen können und wie sie dies nicht nur als neutrale Substitute, sondern in ihrer spezifisch materiellen Weise tun.82 Im Unterschied zur sozialkonstruktivistischen Auffassung schreibt Latour so den technischen Artefakten wiederum eine Eigenstruktur zu; im Unterschied zur älteren techniksoziologischen Auffassung ist diese Eigenheit des technischen Artefakts aber nach Latour nicht an den Objekten selbst zu erfassen, sondern radikal nur in Bezug auf den komplexen sozialen Zusammenhang, in dem sie wirksam wird. Latours Ansatz, technische Aktanten mit menschlichen Akteuren zu symmetrisieren, ermöglicht subtile Analysen der Eigenlogik und Verhaltensstruktur, die bereits in einfache technische Aktanten eingebaut ist; eine neue Brisanz erhält er dadurch, dass die Agenzien der jüngsten Technologien in vielen Aspekten dem menschlichen Handeln tatsächlich näher zu rücken scheinen. Versuche, NBIC-Technologien in dieser Weise zu beschreiben, stehen allerdings noch aus. In dieselbe Richtung weist, dass die unmittelbar auf NBIC-Technologien bezogenen Publikationen aus der Perspektive der Science and Technology Studies (STS) ganz auf der Ebene des Diskursiven bleiben. So hat Steve Woolgar einen Bericht zum Einfluss der „converging technologies“ auf die „socials sciences and humanities“ verfasst, in dem er diskutiert, welcher der widerstreitenden Ansätze der STS zum Verständnis der neuen Tendenzen am besten geeignet sei (plädiert wird für den Ansatz „technology as discourse“), und danach fragt, wie sich die realtechnische Entwicklung im Verhältnis zu früheren Prognosen verhält.83 Cyrus C. M. Mody hat ebenfalls im Rahmen des STS-Diskurses, aber auch mit Rekurs auf Heidegger, Determinismus-Vorstellungen in der Nanotechnologie analysiert und dabei wichtige Aspekte diskurstypischer Argumente zu Tage gefördert.84 VII. Resumée und Ausblick Betrachten wir die Diskurslandschaft um das Thema ‚Neue Technologien‘ von Ferne, so zeichnen sich zwei das Bild prägende Erhebungen ab: Auf der einen Seite sehen wir einen massiven Diskurs, der unmittelbar bei den neuen technischen Phänomenen ansetzt und – schwankend zwischen Science und Science-Fiction – Tendenzen gegenwärtiger Forschung so extrapoliert, dass das Bild einer technologisch gänzlich beherrschten und durchdrungenen Welt entsteht. Da diesem Diskurs jede strukturelle und methodische Grundlage fehlt, die es erlauben würde, Phänomene kritisch zu analysieren und zu kontextualisieren, bedeutet für seine Autoren jedes Auftauchen eines Phänomens zugleich das Auftauchen eines neuen Phänomens. Auf der anderen Seite stehen die kritischen Kommentatoren, die den technologischen Diskurs einer Revision unterziehen. Sie untersuchen Begriffe und Denkfiguren, und zeigen, in welchen ideengeschichtlichen Zusammenhängen die aktuellen Konzepte, etwa der Molekularen Maschine, und die zu Grunde liegenden Denkfiguren von Atomismus, Reduktionismus und Determinismus stehen. 82 83 84 B. Latour, Der Berliner Schlüssel: Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin 1996; ders., Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin 1998; ders., Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, Frankfurt/M. 2001. S. Woolgar, Converging technologies and their impact on the social sciences and humanities (CONTECS), Deliverable D1.2, Visions and Discourse in Converging Technologies: a background report (August 2006): [URL: http://www.contecs.fraunhofer.de/content/view/9/12/]. C. Mody, Small but determined: Technological determinism in Nanoscience, in: HYLE – International Journal for Philosophy of Chemistry, Heft 2/2004, 99–128. DZPhil 56 (2008) 6 955 Neben diesen beiden auf jüngste Technologien bezogenen Diskursen zeichnet sich eine systematische Konvergenz klassischer techniktheoretischer Diskussionszusammenhänge ab: der jüngere deutschsprachige Diskurs der Technikphilosophie mit seinem Medienparadigma, der internationale, insbesondere amerikanische Diskurs der phänomenologisch-hermeneutischen Technikphilosophie mit seinem Mediationsparadigma und der soziologische Diskurs, wie er sich im Ansatz technischer Delegation von Latour zuspitzt. Diese drei Diskurse kommen darin überein, erstens Technik nicht als Antagonistin, sondern als konstitutiven Teil menschlicher Lebenswelten zu betrachten, zweitens den technischen Artefakten eine nichtneutrale Rolle in der Prägung und Veränderung von Lebenswelten zuzuschreiben und drittens anzunehmen, dass den technischen Artefakten eine Materialität und eine Eigensinnigkeit innewohnt, die es verbieten, sie verlustfrei in diskursive und konzeptuelle Figuren zu übersetzen. Die Annahme dieses Eigenwerts macht es erforderlich, differenzierte Analysen technischer Phänomene vorzunehmen, also technische Artefakte nicht ausschließlich auf der Ebene des ‚Sprechens über‘, sondern auch auf der Ebene ihrer nicht explizit verfassten Strukturen, auf der von nicht konzeptuell vorgefassten Formen des Handelns und Erfahrens zu untersuchen. Und tatsächlich sind diese drei Diskurse die einzigen Diskussionszusammenhänge, aus denen solche materialen Studien hervorgegangen sind, wobei zu bemerken ist, dass die im Vergleich anspruchsvollere philosophische Fundierung sich für den phänomenologisch-hermeneutischen Diskurs bezahlt macht. Haben wir nun aber die Technikphilosophie, die wir brauchen? Was zeigt uns der Überblick über technologische Tendenzen und Diskurse in Bezug auf unsere Ausgangsfrage? Wir wollen wissen, ob wir neue Technologien zu gewärtigen haben, die unser Leben und unsere Welt in wesentlich neuer Weise prägen. In einer Weise also, die nicht nur manche neue Phänomene hervorbringt, denen wir gelegentlich begegnen, sondern so, dass sich Grundstrukturen unseres Handelns und Erfahrens verändern. Eine angemessene Antwort auf diese Frage setzt ein sorgfältiges Vorgehen in drei Punkten voraus: Erstens müssen die neuen Technologien, soweit sie realisiert sind, wie auch die Forschung in ihren Hemmnissen und ihren sich abzeichnenden Wegen so sachnah und nüchtern beschrieben werden wie irgend möglich. Zweitens muss eine umfassende Kritik der Diskurse um Machbarkeits- und Horrorszenarien der neuen Technologien ausgearbeitet werden, die deren stereotype Denkfiguren freilegt und historisch kontextualisiert. Drittens müssen in Auseinandersetzung mit dieser Kritik und den Phänomenbeschreibungen neue Denkfiguren und Unterscheidungen entwickelt werden, die es erlauben, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen neueren und älteren Technologien in ihren wesentlichen, handlungs- und erfahrungsrelevanten Zügen wahrzunehmen, konzeptuell zu erfassen und in ihren voraussichtlichen konkreten Relevanzen einzuschätzen. Was die zweite Aufgabe der Diskurskritik anbelangt, so ist hier im Feld der kritischen NBIC- und CT-Diskurse bereits viel geleistet. Grundbegriffe des technologischen Diskurses wie Maschine und Automat, Grundfiguren wie Atomismus, Reduktionismus, Mechanizismus und Cartesianismus sind Gegenstand kritischer Studien. In diesem Feld ist sicher noch vieles zu tun, aber auch vieles schon getan. Anders sieht es in den beiden anderen Arbeitsbereichen aus: In Bezug auf sachnahe Studien aktueller technischer Phänomene und Entwicklungen gibt es nur wenige dieser wichtigen Arbeiten, die sich konkreten Forschungs- und Entwicklungszusammenhängen widmen. Umfassende Untersuchungen technologischer Felder, etwa der Art, wie sie in Bezug auf die Wissenschaften die Laborstudien hervorgebracht haben, stehen hier noch aus. Dramatisch unterbelichtet ist der dritte Punkt: die techniktheoretische (Neu-)Konzeptualisierung. Hier hatten wir eine bislang kaum überbrückte Kluft zu konstatieren: Da, wo die NBIC-Technologien Gegenstand der Abhandlung sind, wird nicht mehr 956 Werner Kogge, Perspektiven der Technikphilosophie als punktuell auf Techniktheorie rekurriert. Und umgekehrt: Da, wo technikphilosophisch an Material und Konzeptionen gearbeitet wird, treten wiederum NBIC-Technologien bislang nur punktuell in Erscheinung. Aus der Perspektive dieses Berichts ist also zu wünschen, dass die konvergierenden Techniktheorien des reformierten VDI-Diskurses, der phänomenologisch-hermeneutischen Tradition und der Soziologie, den normativen Impuls der Kritischen Theorie aufgreifend, sich zu einem intensiven Diskussionszusammenhang verdichten, und zwar mit einem Schwerpunkt auf der Frage, wie der begriffliche Apparat der Techniktheorie weiter entwickelt werden kann und muss, damit sich Richtung und Stellenwert jüngster technologischer Entwicklungen differenziert analysieren und darstellen lassen. Auf der anderen Seite könnte eine Rezeption dieses Diskussionszusammenhangs durch auf die NBIC-Problematik spezialisierte Autor/inn/en zu dem Schluss führen, dass sich eine Vertiefung der theoretischen Grundlagen lohnt, sodass in der Zusammenarbeit eine Grundlage für ebenso theoretisch und phänomenal reichhaltige wie auch kritische Untersuchungen jüngster technologischer Entwicklungen entstehen kann. Dr. Werner Kogge, Freie Universität Berlin, Institut für Philosophie, Habelschwerdter Allee 30, 14195 Berlin