Verabschiedung Sozialpoetisch-anthropologischen Erzählens. Wilhelm Hauffs 'scheihk Von Alessandria'
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Bochumer Quellen und Forschungen zum 18. Jahrhundert Herausgegeben von Carsten Zelle Band 4 Kleine anthropologische Prosaformen der Goethezeit (1750-1830) Herausgegeben von Alexander Kosenina und Carsten Zelle In Verbindung mit Ure Pott CeMutabor<« (= Anm. 2), 98 f., 104. 12 Hoffmann: Sämtliche ~rke (= Anm. 6), Bd. 3. Hg. Hartmut Steinecke, 17. 13 Hoffmann: Sämtliche ~rke (= Anm. 6), Bd. 4. Hg. Wulf Segebrecht, 45. 14 Ebd., 47.- Auch der Nachricht von einem gebildeten jungen Mann (aus den Fantasiestücken) ist der Affe als Mensch verpflichtet - sowie dem Oden Haus: Mehrfach scheint Hauffs Geschichte dessen Titel zu zitieren (245 und dreimal226 f.); aus gutem Grund, denn das Motiv des K.rawatte-Festknüpfens, des geheimnisvollen Hauses, des jämmerlichen Gesangs sowie der Peitschenschläge dürfte sich u.a. von jenem >Nachtstück< herschreiben. - Zur Bezugnahme des Affen als Menschen auf die genannten hoffmannseben Erzählungen (außer Rat Krespel) vgl. Peter von Matt: »Wilhelm Hauff oder Der Weg in die Klarheit«. In: Wilhelm Hauffoder Die Virtuosität der Einbildungskraft. Hg. von Ernst Osterkamp u.a. Göttingen 2005, 21-37. 15 Hoffmann: Rat Krespel (= Anm. 13), 46. 16 Ebd., 47. 17 Ebd., 46. 344 345 ANDREAS BECK WILHELM HAUFFS SCHEIHK VON ALESSANGRIA haben; denn man härte klägliche Angsttöne und klatschende Peitschenhiebe die Menge« (ebd.). So formt man Menschen, legt man den Grund anthropologischer Dichtung, in der ein >Affe als Mensch< auftreten kann: So nämlich bringt der Fremde seinem Neffen »nach einem Vierteljahr« das »Deutsche recht geläufig bey[]« (224). Diese Methode zeitigt weitere Erfolge. Der Mensch spricht nicht nur- er tanzt auch, also lernt der Neffe Tanzen. Und wenn er »in frazenhafte Sprünge« (225) verfällt, bringt ihn der Onkel, wieder pseudo-hoffmannesk, als >Lindhorst light< 18 zur Raison: Im Goldenen Topffällt ob der poetisch-wunderbaren Menschwerdung Anselmi der >>in Gelb und Rot glänzende[] Schlafrock« 19 des Archivarius >>würdevoll[] [... ]wie ein Königsmantel [ ... ] um Brust und Schultern« des Mentors, dessen Haupt >>ein schmaler goieiner Reif« 20 ziert. Ähnlich und ganz anders bei Hauff: Hier fährt der fremde Herr, wenn sein Schützling nicht manierlich-menschlich tanzt, >>in einem weiten, rothen Schlafrock, eine Mütze aus Goldpapier auf dem Kopf, aus seinem Zimmer heraus«, um erneut jene>> Hetzpeitsche ziemlich unsanft auf den Rücken des Neffen niederfallen« (226) zu lassen. Tiefschwarze, aber effektive Pädagogik: Der Fremde kann den >Neffen< in die gute Grünwieseier Gesellschaft einschleusen, auf deren Parkett der Affe als Mensch glänzende Triumphe feiert. 21 Den Topos des geheimnisvollen anthropopoietischen Sonderlings bzw. des Mentors, der die Menschwerdung seines Schützlings initiiert - diese Scharnierstelle Hoffmannsehen Erzählens besetzt der Affi als Mensch nicht mehr, wie noch Zwerg Nase, märchenhaft-phantastisch. Jetzt geht alles >natürlich< zu, prinzipiell ist die Handlung den Naturgesetzen gemäß. In Hauffs Mährehenalmanach ist kein Platz mehr für >Märchen<: 22 Wenn die Grünwiesder erkennen, daß der Fremde sie genarrt hat, wenn sie daraufhin von >>Wunder«, von >>Zauberei« (244) sprechen und glauben, >>daß dieß alles mit unnatürlichen Dingen zugegangen sey<< (246), daß es eines >Märchens< bedürfe, um Menschen zu schaffen nach ihrem Bilde - dann ist das nicht nur eine bornierte Ausrede, sondern zudem eine gattungspoetologische Fehldiagnose; eine falsche Sortierung des Texts, die zeigt, daß mit der Umbesetzung des Hoffmannsehen Erzähltopos eine andere Form anthropologischen Erzählens al'ordre du Jour ist. Der Affi als Mensch zieht die Konsequenz aus der Gattungsdiskussion, die ihm im Erzählrahmen vorausgeht. Dort wird der >>Unterschied [ ... ] zwischen Mährehen und Erzählungen, die man [ ... ] Geschichten nennt<<, erörtert - und die >Geschichte< als neue anthropologische Leitgattung profiliert. Das >>Mährchen<<, heißt es konventionell, sei >>eine Begebenheit[ ... ], die von dem gewöhnlichen Gang des Lebens abschweift, und [ ... ] nicht mehr durchaus irdischer Natur ist<< (211 ). Das meint auf der Ebene des Erzählens wie des Erzählten eine GängeJung des Menschen. Das >Märchen< beschränkt den Künstler: Da es eine >>außergewöhnliche, wunderbare Gestalt an[nimmt]<<, gleicht es den >>Gemälde[n] [ ... ]welche die Franken Arabesken nennen. Es ist dem ächten Muselmann verboten, den Menschen, das Geschöpf Allah's, sündiger Weise wieder zu schöpfen [... ], daher sieht man auf jenen Geweben wunderbar verschlungene Bäume und Zweige mit Menschenköpfen, Menschen, die in einen Fisch oder Strauch ausgehen, kurz Figuren die an das gewöhnliche Leben erinnern und dennoch ungewöhnlich sind<<. (211 f.) Im Rückgriff auf den romantischen Arabesken-Topos 2·1 erscheint ausgerechnet >wunderbare< Märchendichtung, deren Phantastik bei Hoffmann den Menschen in die Nähe eines unumschränkten Schöpfergottes rückt, als Beschränkung des vielleicht gottgleich-kreativen Menschen. Und der Erzähler hat Glück, ihn bremst das Phantastische nur aus- während es den erzählten Menschen entmündigt: Im Märchen >>greifen in das Schicksal der Person [ ... ] fremde Mächte<< ein (21 I); hier >>häuft sich das Wunderbare so sehr, der Mensch handelt so wenig mehr aus eigenem Trieb, daß die einzelnen Figuren und ihr Charakter nur flüchtig gezeichnet werden können<< (214). Als poetischer Anthropo-logos, durch den der selbstschöpferische Mensch zu sich findet, ist das >Märchen< passe. Es weicht der >>Geschichte[]«, die sich »ganz natürlich<<, »ganz ordentlich auf der Erde<< zuträgt - denn mit ihr er- 18 Vgl. auch von Matt: >>Klarheit«(= Anm. 14), 28 f. 19 Hoffmann: Goldener Topf(= Anm. 6), 270. 20 Ebd., 275. 21 Eine Parallele zum Sandmann, wo es gelingt, »vernünftigen Teezirkeln (ülimpia hatte sie mit Glück besucht) statt der lebendigen Person eine Holzpuppe einzuschwärzen<<; Hoffmann: Sandmann(= Anm. 12), 46. 22 Vgl. dagegen Claudia Stockinger: >>Verkehrungen der Romantik. Hauffs Erzählungen im Kontext frührealistischer Verfahren«. In: Osterkamp (Hg.), Hau./f(= Anm. 14) 5282, hier 57. 23 Zu diesem vgl. etwa Günter Oesterle: Das Faszinosum der Arabeske um 1800. In: Goethe und das Zeitalter der Romantik. Hg. Walter Hinderer. Würzburg 2002, 51-70. t1unr- Universität Bocnum Germanisti~hes J.nstitut 346 ANDREAS BECK schließt sich der Mensch im Erzählten wie im Erzählen den ihm gebührenden Aktionsraum: In der >Geschichte< nämlich bestimmt »nicht [... ] Zauber [ ... ] oder Feenspuck« die »Schicksale eines Menschen<<; hier wird er »durch sich selbst [... ] glücldich oder unglücklich<< (212 f.). 24 Die »Art, wie jeder seinem Charakter gemäß spricht und handelt<<, ist »die Hauptsache<< (214) - und das heißt, vom Dichter her formuliert: »Die einzelnen Figuren<< sind nicht märchenhaft-flüchtig, sondern »richtig gezeichnet<< (215). Hier können sie richtig gezeichnet werden, hier ist der erzählende Mensch Schöpfer seiner selbst, vermag er handelnd echte, ungekränkt aus sich selbst heraus handelnde Menschen zu schaffen; in der >Geschichte<, als anthropologisch-poetischer Gattungpar excellence, findet der Mensch als Gegenstand und Urheber seiner selbst zu sich. Das klingt schön- sieht aber in der nachfolgenden >Geschichte<, im Affin als Menschen anders aus. Die Menschwerdung qua Hetzpeitsche präsentiert ein recht heteronomes Menschsein als Ergebnis humaner Autopoiesis, und das ist nicht nur ein p;idagogisch-zivilisatorisches, sondern ebenso ein poetologisches Problem, der fremde Herr agiert ja auch als schöpfergottparodistische AutorFiguration:21 Und diese lehrt, daß der >Geschichte< die unschöne Hierarchie von Mentor und Schützling eingeschrieben ist, als Opposition von allgewaltig-erzählendem und erz;ihlrem, an narrativer Kette tanzendem Menschen. Ist das das rasche Aus für die anthropologisch vielversprechende Gattung? Wohl nicht. In einem Fall wäre der Widerspruch von Erzählerautonomie und Heteronomie des Erzählren halbwegs gelöst - wenn die Anthropopoiesis der >Geschichte< in genauem Sinn zur Autopoiesis wird, wenn erzählendes Subjekt und erzähltes Objekt fast eins werden: wenn in autobiographischem Erzählen das erzählende Ich, Schöpfer und >Mentor< seiner selbst, sich als erzähltes Ich entwirft Aber was w;ire damit für den Scheihk als Rahmenzyklus gewonnen? Die Verheißung Zwerg Nases war ja, daß Ali Banus Sohn durch Erzählen zurück24 25 »oder [durch] die sonderbare Higung der Umstände«, heißt es zwar direkt im Anschluß - aber es ist signifikant, daß diese Einschränkung im Gesprächsfortgang keine Rolle spielt. Zum einen, da er als hoffmanneske Mentorgestalt ein Pendant des Erzählers abgibt; zum andern, da er die Handlung der Geschichte über weite Strecken quasi-auktorial inszeniert, etwa die katastrophische Schlußpointe samt brieflich hinterlegtem fobula docet. WrLHELM HAUFFS SeHE! HK VON ALESSANDRIA 347 kehren könnte; nicht durch das >Märchen<, gut, aber wie soll die >Geschichte< das leisten? Ganz einfach: Indem Kairam, unerkannt, als einer der Freigelassenen seine >Geschichte< erzählt; indem der >verlorene Sohn<, als Autobiograph >seinem Charakter gemäß sprechend und handelnd<, sich zu erkennen gibt, heimkehrt, sich selbst mit seinen Aktionsräumen hervorbringt. Und exakt das versucht die letzte Binnenerzählung: Mit der Geschichte Al-Mansors erzählt Kairam pseudonym sein Schicksal, das er als Erzählender wenden möchte; er sucht eine, seine poetisch-autonome Existenz ins Werk zu setzen, erzählend den revolutionären Wirren der Zeit zu trotzen und ein gestörtes Sozialgefüge zu heilen. Seine Selbstaussage stellt den Anthropo-logos der >Geschichte< auf die Probe und damit rahmenzyklisch-gesellige Sozialpoesie: eine, die vom Hoffmannseben >Märchen< aus sukzessiv bis zum entscheidenden Schlußpunkt der Geschichte Al-Mansors vorgedrungen ist. Und diese weiß um ihre Herkunft, um jenen Fortschritt; das zeigt das nochmals variierte Motiv des sonder- bzw. >wunderbaren< hoffmannesken Mentors. Kairam/Almansor erzählt seine Entführung nach Frankreich, seinen quälenden Aufenthalt dort, wo ihm das Arabische untersagt war; »vielleicht<< hätte er »seine Sprache gänzlich verlernt<< (291) und sich dem Vater nicht erzählend offenbaren können - aber da ist ja der hoffmanneske Sonderling: der »arabische Professor<< (296), dessen Haus eine Gegenwelt birgt. Sie schmeckt entfernt nach dem Goldenen Topf, nach dem Garten Lindhorsts 26 , doch sie eröffnet dem entführten Knaben nicht mehr, wie im Zwerg Nase, eine Welt des Wunderbaren. Der »>klein Arabien<<< genannte »Saal<< jenes Professors bietet nur eine »verwtmderlich[e]<< Kulissenschieberei: Mit »künstlich aufgezogenen Bäumen, als Palmen [... ], die nur im Morgenland wachsen<< (292), ist der Raum ausstaffiert, wo der Professor Kairam/ Almansor empfängt und den Orientalen mimt- mit falschem Bart, mit einem aus einem Schlafrock gefertigtem Talar, mit einem mit falschen Steinen besetzten Dolch, umgeben von zur Hälfte als Negersklaven bemalten Dienern. Aber: Bei dieser Maskerade darf der Junge arabisch sprechen (vgl. 292 f.). 26 Vgl. Hoffmann: Goldener Topf(= Anm. 6), 269 f.; daneben dürfte- vgl. Andrea Polaschegg: »Biedermeierliche Grenz-Tänze. Hauffs Orient«. In: Osterkamp (Hg.), Hauff (= Anm. 14) 134-159, hier 153- der neugriechisch kostümierte Baron v. S. aus den Irrungen für den arabischen Professor Modell gestanden haben; vgl. Hoffmann: Sämtliche Wi-rke(= Anm. 6), Bd. 5. Hg. Hartmut Steinecke, 475 f. 'II 348 ANDREAS BECK WILHELM HAUFFS SCHEIHK VON ALESSANDRIA Eine weitere Sonderling-Variation, noch ein Schritt weg von Hoffmann: Neben der Kräuterweis des Zwerg Nase stand der fremde Herr im Affin als Menschen entzaubert, nicht aber entmachtet. Der arabische Professor nun wirkt vor der Folie des fremden Herrn nicht nur völlig banalisiert - jedwedes Geheimnis ist verflogen -, mit ihm ist zudem der Hoffmannsehe Sonderling zur ohnmächtigen Figur verkommen, die in zweiter Reihe gerade nicht mehr als handlungsprägender Mentor agiert. Sicher, Kairam wird vor seinem Vater zum Autobiographen, weil er das Arabische dank des arabischen Professors bewahren konnte. Aber: Die Geschichte AL-Mansors duldet in diesem sensiblen Bereich keine Schwächung ihres verkappten Ich-Erzählers durch Unterordnung unter einen Mentor. Sie kehrt das Lehrer-Schüler-Verhältnis um: Nicht der arabische Professor unterrichtet den Knaben, sondern dieser ihn, der von der korrekten Aussprache des native speakers profitiert (vgl. 293). Und mehr als passive Hilfestellung bietet der Professor nicht: Sein •klein Arabien< ist nur Heimatsurrogat 27 , und die wirkliche Heimreise des Jünglings würde er wohl hintertreiben (vgl. 296 f.). Er macht die Geschichte Al-Mansors gewiß nicht zur Heimkehrerzählung, und so spielt er nach seiner Einführung auch keine Rolle mehr; er wird zur Randfigur, gleichsam zur arabesken Marginalie, zum letzten Nachhall •wunderbarer< Hoffmannscher Poesie, veralteten anthropologischen Erzählens. Aber wie kommt Kairam zurück nach Ägypten? Das regelt der frühere französische Feldherr daselbst, jetzt Kaiser der Franzosen; aber Napoleon, der als mächtigster Mann Europas die von Hoffmann überkommene Mentorrolle erbt - er vermag es nicht, die Heimkehr ins Werk zu setze11. 28 Das französische Schiff, das den Jüngling nach Ägypten bringen soll, wird von Engländern aufgebracht, der Engländer von tunesischen Piraten gekapert, und Kairam/Alrnansor schließlich als Sklave verkauft - an seinen Vater, der ihn nicht erkennt (vgl. 301-303). Derart bleibt die gelingende Heimkehr zuletzt dezidiert Aufgabe des nun freigelassenen Erzählers; Aufgabe einer dezidiert mentorlosen autobiographischen >Geschichte<, mit der das Ende des Zyklus 27 28 >>Dem Jüngling war es dann, als wäre er zu Haus<< (291), heißt es romantisch-ironisch im konjunktivischen discours- dessen >als ob< kurz darauf auch die histoire erfaßt: >>Und wollte Almansor dem Alten ein großes Vergnügen machen, so mußte er sagen, es sey Alles beyihm so angeordnet, wie im Morgenland<< (293). Anders Schmitz: >>>Mutabor«< (=Anm. 2), 114-117. - ' • '·- 349 den freien Handlungsakt anthropo-logischer, sozialpoetischer Selbst- und Menschwerdung inszeniert. Und so wird die Geschichte Al-Mansors pointiert mit ihrem Ende zur Heimkehrerzählung, erst im letzten Satz betritt ihr Wort Heimatboden: »>Doch- als wir landeten, war ich Zeuge der wunderbarsten Fügung Allah's; es war die Küste seines [Almansors] Vaterlandes, an welche wir aus dem Boot stiegen, es war der Markt seiner Vaterstadt, wo wir öffentlich ausgeboten wurden, und, o Herr! daß ich es kurz sage, es war sein eigener, sein theurer Vater, der ihn kaufte!«< (303) Das ist mehr als Bericht; der Text will performativ die Rückkunft, von der er spricht, im Rahmen der geselligen Erzähl-Situation vollenden. Hierfür markiert der Erzähler die Almansar-Figur als narrative Selbstschöpfung; nicht, daß der Autobiograph schlicht >ich bin, der ich bin< sagte: das wäre billig, das kann jeder - und das kann schiefgehen. Kairam hat aus Zwerg Nase gelernt: Unumwundene Selbstaussage ist kontraproduktiv, wenn ein poetisch-narrativer Selbstentwurf zur Debatte steht, in dem der Erzähler zu sich kommen soll; hier gilt es, ohne verdächtig-platte Selbstkennzeichnung auszukommen. Kairam arbeitet subtiler, um seine literarische Figur für den Rezipienten auf den autopoietischen Erzähler hin transparent werden zu lassen: Da ist die ostinate Verwendung des Worts >Vater<, das zuletzt fast zur Apostrophe wird; >sein Vt1terland<, >seine Vt!terstadt<, >sein eigener, sein theurer Vt!ter< -eine Klimax verengender Zuspitzung, vor deren Schluß- und Höhepunkt die direkte Anrede »O Herr!« Ali Banu zu verstehen gibt, auf wen die Pointe des Erzählens zielt. Und: »Dort erzählte er mir seine wunderbaren Schicksale« (ebd.); der vorletzte Satz speist das autobiographische Moment in die Erzählung ein- was der letzte mit »wunderbarst[]« steigernd aufgreift, der sich so als autobiographischer Superlativ entwirft. 29 Klimakrisehe Strukturen, die den letzten Satz rahmen, verweisen derart recht deutlich darauf, wer hier, von wem, wem gegenüber erzählt. Damit nicht genug, das autobiographische Moment verklammert außerdem Anfang und Schluß der Geschichte Al-Mansors, es beschließt und eröffnet sie. Das Erste, was wir vorn Protagonisten erfahren, ist, daß er »seiner Aussprache nach ein Egyptier« ist - wie ja auch der Erzählende - und daß Erzähler und Protagonist einander »uns 29 I , I. • Diese >Steigerung< des Autobiographischen ist überdies dadurch markiert, daß sich Kairam hier wieder- sachlich nicht nötig- der Ich-Perspektive seines Erzählbeginns bedient. 1'1 350 351 ANDREAS ßECK WrLHELM HAUFFS SeHE! HK voN ALESSANDRIA unsere Geschichte [... ] erzähl[t]en« (285). Bereits hier stehen Erzähler und Figur einander im Zeichen autobiographischer Mitteilung verdächtig nahe, was, im Rückgriff auf den Anfang, das Ende der Erzählung dann besonders intensiv inszeniert. Also erfüllt die Geschichte Al-Mansors ihre Aufgabe? Nein. 30 Die Anagnorisis mißlingt, >>das Ende der Erzählung schien« den Scheihk »nicht zu befriedigen« (303). Ein hartköpfiger Rezipient, der fast törichte Fragen stellt: Wie alt Almansor sei? »ln meinem Alter, ein- bis zweiundzwanzig Jahre« - ahnt man diese Übereinstimmung nicht? Wie Almansors >>Geburtsstadt« heiße? >>Alessandria<<- das macht aber doch der Erzählschluß deutlich?-' 1 Ob Almansor nicht >>Kairam<< heiße, >>dunkle Augen und braunes Haar<< habe (303 f.)? Beides richtig - aber entgeht Ali Banu, daß letzteres auch auf den Erzähler zutrifft? Kurz: Die poetisch-anthropologische Heimkehr scheitert, das Outing des Erzählenden als Kairam vollzieht sich im Wortsinn als hors d'a?uvre. Außerhalb seiner >Geschichte< muß er versuchen, sich explizit zu erkennen zu geben (vgl. 304). Damit nicht genug: Nicht nur als Erzählender, prinzipiell ist er außerstande, sich selbst zu verwirklichen - nicht er gibt sich zu erkennen, vielmehr wird er von Anderen erkannt. So wird geprüft, >>ob die Züge seiner Mutter, die mein Kairam trug, auf seinem Gesicht eingegraben sind<< (305). Und schliefWeh unterstellt man ihn, der als freier Autobiograph den Triumph der sozialpoetisch-anthropologischen >Geschichte< feiern sollte, wieder einem Mentor - ausgerechnet dem Chefpoetologen des Rahmengesprächs, der so schön die Gattung >Geschichte< als Humanum profiliert hatte. Der nämlich ist Kairams ehemaliger Erzieher - und er bringt, im Widerspruch zu seinen Poetologemen, den emanzipierten Schützling wieder unter seine Fittiche. Ganz Pädagoge, fragt er den >>Spruch<< ab, den er ihm >>am Tage des Unglücks mitgab ins Lager der Franken<<- und erst die richtige Antwort gegenüber dem >>theure[n] Lehrer<< (ebd.) macht Kairam zu Kairam. Zwerg Nase, Der Affi als Mensch, Die Geschichte Al-Mansors: der anthropologische Erzählfortschritt, den diese Pfeiler des Scheihks von Alessandria mar- 30 31 kieren - er ist keiner; es ist bloß ein Kreislauf. Als unwesentliche Variation wiederholt die erfolglose autobiographische Schlußgeschichte das ohnmächtige Ich-Märchen aus Zwerg Nase. Ergebnislos kreist das gesellige Erzählen in sich selbst, da sich der Rahmenzyklus paradoxerweise extrapoetisch erfüllt. Damit ist der Scheihk von Alessandria, ist der anthropologisch-sozialpoetische >Rahmenzyklus< am Ende; aber die Gattung hat Zukunft, und zwar als spannende Unterhaltungsliteratur12 , marktgängig und für den Autor ökonomisch einträglich: Denn >der Mensch lebt nicht vom Wort allein<. Eine editionsphilologisch befriedigende Ausgabe von Wilhelm Hauffs Scheihk von Alessandria gibt es nicht; seit der Erstausgabe von 1826 ist der Zyklus nicht mehr vollständig erschienen. Bereits beim posthumen Zweitdruck wurden die in den Zyklus integrierten >fremden< 'lcxre von James Jusrinian Morier (Der gebackene Kopf>, Gusrav Adolf Schiill (Der arme Stephan) sowie Wilhelm Grimm (Das Fest der Unterirdischen und Schneeweißehen und Rosenroth), d.h. die Hälfte der Binnenerzählungen, entfernt (vgl. Wilhelm Hauff: Sämmtliche Schriften, geordnet und mit einem Vorwort versehen von Gustav Schwab. 27. Bändchen: Mährchen, 3. Biindchen bzw. 2. Ahrheilung. Sturtgart: Brodhag'sche Buchhandlung, 1830). Dabei ist es bis heute geblieben (vgl. etwa Wilhelm Hauff: Märchen, nach den Ausgaben der Märchenalmanache 1826 bis 1828. 'Jcxtkritisch revidiert von Hans-Jiirg Uther. Kreuzlingen und München: Hugendubel, 1999). Da sich mein Beitrag aus Raumgründen nur mir >echten< Hauffs aus dem Scheihk befasst, sei als Notlösung auf die angeführte Edition Schwabs von 1830 verwiesen: Sie ist zum einen (via Google books) leicht zugänglich und zum andern scheinen mir jene Streichungen in einer historischen Ausgabe, die nicht an aktuellen Wissenschaftsstandardsgemessen werden sollte, erträglich. Ähnlich Klotz: Kttmtmärchen (= Anm. 2), 209; anders Schmitz: >»Mutabor<<< (= Anm. 2), 114 f., er nimmt eine Befreiung durch Erzählen an. So geht's, wenn man, vom Ende der Erzählung enttäuscht, sich an deren Anfang hält (an die >>egyptische[J Stadt, deren Namen er [Almansor] nicht nannte<<, 286), anstatt Erzählanfang und -schluß (der implizit Alessandria als Almansors >Vaterstadt< ausweist) erhellend aufeinander zu beziehen; zu >Vaterstadt< = >Geburtsstadt< vgl. Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. 2. Auflage, ßd. 4. Leipzig 1801, 979. 32 Vgl. Klotz: Kunstmärchen(= Anm. 2), 209.- Folgerecht spielt die anthropologische Dimension in den Darlegungen des Poetologen und Erziehers Musrapha eine untergeordnete Rolle- sie wird implizit, en passant entwickelt. Ausdrücklich betont erscheint (vgl. Schmitz: >>>Mutabor<« [= Anm. 2]. 84) dagegen die >>eine Grundursache<<, die sowohl >Märchen< als auch >Geschichten< >>ihren eigenthümlichen Reiz giebt; nemlich das, daß wir etwas auffallendes, außergewöhnliches miterleben<< (213), daß diese Texte, mirreißend erzählt, zu lustvoller idenrifikatorischer Rezeption verführen. i I.I '