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Verabschiedung Sozialpoetisch-anthropologischen Erzählens. Wilhelm Hauffs 'scheihk Von Alessandria'

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Bochumer Quellen und Forschungen zum 18. Jahrhundert Herausgegeben von Carsten Zelle Band 4 Kleine anthropologische Prosaformen der Goethezeit (1750-1830) Herausgegeben von Alexander Kosenina und Carsten Zelle In Verbindung mit Ure Pott Ce Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern auch vom Wort, das durch den Mund des Dichters geht< -so lautet das Credo der Gattung >Rahmenzyklus<, die während der Goethezeit floriert, und diese Texte »im Geschmack des Decameron des Boccaz« 1 machen sehr präzise eine >anthropologische< Gattung aus: Das künstlerische Wort, der poetische Iogos, ist hier Lebensmittel, das den Mensch zum Menschen, zum anthropos macht. Gesellige Erzählzirkel verflechten kleine Prosa zur Großform, reden in Krisen eine Konstitution menschlicher Gemeinschaft herbei: In Boccaccios Dekameron wird gegen die Pest anerzählt. Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795) präsentieren zyklisch-gesellige Sozialpoesie als neue Basis menschlichen Zusammenlebens, das ob der Französischen Revolution aus den Fugen gerät. Ähnlich E. T. A. Hoffmanns Serapions-Brüder (1819-21), die auf Umstürze und Diskontinuitäten der Napoleonischen Zeit reagieren; sich selbst, den Freunden ist der Einzelne fremd geworden, erst in geselligem Erzählen findet man sich, zu sich selbst und zu Andern: So gelingt es, in emphatischem Sinn Mensch zu sein und mit Menschen, die diesen Namen verdienen, zu verkehren. Soweit der Gattungskontext, in den Hauff seinen zweiten Mährehenalmanach hineinschreibt. 2 Der Scheihk von Alessandria und seine Sclaven 2 Schiller an Körner am 7. 11. 1794, über die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, zir. nach: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche "Werke. Hg. Friedmar Apel u.a. Bd. 9, hg. Wilhelm Voßkamp und Herbeet Jaumann. Frankfurt/Main 1992, 1509. Zum >Rahmenzyklus< vgl. Andreas Beck: Geselliges Erzählen in Rahmenzyklen. Goethe - Tieck- E 1: A. Hoffinann. Heidelberg 2008, 13-51; zu Hauffs Scheihk aus gattungspoetologischer Sicht vgl. Sabine Beckmann: Wilhelm Haujf Seine Märchenalmanache als zyklische Kompositionen. Bonn 1976; Volker Klotz: Das europäische Kunstmärchen. Fünfundzwanzig Kapitel seiner Geschichte von der Renaissance bis zur Moderne. Stuttgart 1985, 208 f.; Walter Schmitz: »>Mutabor<. Alterität und Lebenswechsel in den Märchen von Wilhelm Hauffi<. In: Schnittpunkt Romantik. Text- und Quellenstudien zur Literatur des 19. Jahrhunderts. Hg. Wolfgang Bunzel u.a. Tübingen 1997, 81-117, hier 89 f. und 107-109. i 338 ANoREAS BECK (1826) stellt die Leistungsfahigkeit des rahmenzyklischen Anthropo-logos auf die Probe und in Frage; er verabschiedet solches geselliges Erzählen- nicht zuletzt durch ostinate Hoffmann-Parodien. Diesem Kollegen kommt im intertextuellen Labyrinth des Scheihks eine prominente Position zu: Ein zentraler Hoffmannscher Topos besetzt wiederholt narrative Scharnierstellen, wie ein roter Faden durchzieht das Sonderling-Motiv den Zyklus. Variationen dieses Themas depotenzieren Hoffmanns Sozialpoesie, von der am Ende wenig mehr übrigbleibt. Flankiert werden die poetischen Kontrafakturen von einem Reigen poetologischer Versatzstücke, die gezielt leerlaufen oder geschickt gewendet erscheinen- Hauffs Eklektik hat qualitätsvolle Methode. Damit zum Text. Wie im >Rahmenzyklus< üblich, begegnen wir zu Beginn des Scheihks einer einschneidenden sozialen Störung: Ali Bamt, der Scheihk von Alessandria, trauert um seinen Sohn; die Franzosen, die unter General Bonaparte in Ägypten einfielen, haben ihn nach Frankreich verschleppt. Der Vater reiste dem »verlorenen Sohn<< nach, doch in »Frankistan [ ... ] soll es gerade schrecklich zugegangen seyn. Sie hatten ihren Sultan umgebracht, und die Bascha, und die Reichen und Armen schlugen einander die Köpfe alw (9 f.).' Um den eigenen Kopf zu retten, brach der Scheihk die Suche »nach dem kleinen Kairam<< (1 0) ab; unverrichteter Dinge kehrte er nach Ägypten zurück. Die um den Scheihk gruppierte Rahmengesellschaft befindet sich- recht gewagt- wegen Napoleons Feldzug und revolutionärer Terreur in der Krise. Den Jahrestag des Eintritts dieser Krise, die wohl narrativ zu bewältigen ist, begeht der Scheihk nun auf besondere Art: Er gibt »Sclaven frey<<; und da er »erpicht<< ist »auf Erzählungen«, »soll er jedes Jahr unter seinen Sclaven einen Wettstreit anstellen, und wer am besten erzählt, den giebt er frey« das glaubt einer der Zuhörer. Ein anderer widerspricht: Wahrscheinlicher sei, daß Ali Banu »sich an diesem schweren Tage aufheitern will und sich<< darum »Geschichten erzählen läßt<<; die Sklaven aber »gibt er [ ... ] frey um seines Sohnes willen<< (11). Ist Erzählen nun ein Agon, der die Rahmensituation, was den Scheihk angeht, um nichts bessert? Oder ein wirkungsloses Palliativ, WILHELM HAuFFS ScHEIHK voN ALESSANDRIA 339 den gramgebeugten Vater zu betäuben? »Wie reimt<< sich »das<<, nicht zuletzt mit der Gattungstradition, »Zusammen<< (13)? Ein »Sclave [ ... ] fing an zu erzählen<< (17) - die Binnengeschichten selbst bestimmen ihr Verhältnis zur Rahmenebene, und den ersten Beitrag hierzu liefert Zwerg Nase: Er stellt das >Wunderbare< a la Hoffmann als Remedium gegen die verderblichen Folgen der Französischen Revolution zur Debatte. Auf dem Markt einer deutschen Stadt (vgl. 18 f.) verkauft die Mutter des kleinen Jakob »Kohl<<, für den sich »ein altes<<, häßliches »Weib<< (19) interessiert. »Sie nahm die [... ] Kohlhäupter in die Hand, drückte sie zusammen, daß sie ächzten<< - woraufhin der entsetzte Knabe, solche Vermenschlichung weiterführend, ruft: »Wackle nur nicht so garstig mit dem Kopf [... ], [... ] dein Hals ist ja so dünne wie ein Kohlstengel, der könnte leicht abbrechen, und dann fiele dein Kopf hinein in den Korb<< (21 f.). Jakob beschwört die jakobinische Guillotine-Terreur, die Alte wird als Allegorie der Französischen Revolution lesbar. Entsprechend agiert sie; sie kauft Kohlköpfe (vgl. 22), die ihr Jakob »nach Hause bringt<< (ebd.) -wo sich der Kohl in »Menschenköpfe<< verwandelt hat, deren einen die Alte in Henkerpose präsentiert: Sie »brachte einen Menschenkopf hervor, den sie am Schopf gefaßt hatte« (24). Anschließend kocht sie jenes »Süppchen<< (25), das Jakob in den häßlichen Zwerg Nase verwandelt- der er, den trauernden Eltern entzogen, für Jahre bleiben wird. Mit der Fee Kräuterweis, die Jakob dorthin bringt, wo es abgeschlagene Menschenköpfe gibt, raubt das revolutionäre Frankreich den Eltern den Sohn; eine Analogie zur Entführung Kairams, eine >wunderbare< Kontrafaktur des Rahmens. 4 Die Binnenerzählung transponiert dessen Krise ins >Märchen< wo sie bewältigt wird: Nase avanciert zum herzoglichen Koch und lernt die Gans Mimi kennen, die verhexte Tochter des Magiers Wetterbock (vgl. 54). Sie verschafft ihm das »Kraut Nießmitlust<< (60), das ihm seine eigentliche Gestalt wiedergibt, ihn zu seinen Eltern zurückkehren (vgl. 65) läßt. Eine Heimkehrgeschichte, die ein Unglück märchenhaft bewältigt; dessen Analogon im Rahmen zu lösen ist - die Binnenerzählung mischt sich in den Erzählrahmen ein, sie mahnt die Macht des Erzählens an, gestörte soziale Wirklichkeit zu verwandeln. Zugleich verweist sie, der Tradition des Rahmen- ilil ,I :1;1 1'11 11!1111 'I' 1 i1 11 1 1l li .I :!ll:ilil ll lijjl,l, 'I·• '111; illli il II I'' li:!li I'II I I: lij' ~ ~1! 1:· III 111'' ;]1! 1,11 Ir! I '1' .I 3 Zitate aus dem Scheihk von Alessandria und seine Sclaven unter Angabe der Seitenzahl nach dem Erstdruck: Ma:hrchenalmanach I für I Söhne und Töchter gebildeter Stände I auf das Jahr 118271 herausgegeben I von Wilhelm Hauff I mit Kupfern I Srutrgart I bei Gehrüder Franckh. 11827. 1111 4 1 ' Vgl. auch die Trauergeste Ali Banus (»er harre sein Haupt in die Hand gestüzt«, 16}, die bei Jakobs Mutrer (»sie [... ] hatte den Kopf in die Hand gestüzt«, 31) wiederkehrt; zudem wird Jakob (vgl. 65}, wie Kairam (vgl. 9}, als >verlorener Sohn< bezeichnet. 111111 341 ANDREAS BECK WILHELM HAUFFS SCHEIHK VON ALESSANDRIA zyklus gemäß, auf die anthropologische Relevanz des Erzählten - konkret auf die Möglichkeit der Menschwerdung durch das >Märchen<. Ob des Wunderbaren vermag Zwerg Nase, den der Herzog enthaupten lassen wollte (vgl. 65), sich als »Jakob« (64) 5 zu behaupten; dem Märchenhaften hat er sich selbst zu danken (vgl. ebd.). Kunststück, das Wunderbare war ja auch für seinen Selbstverlust verantwortlich? Schon, aber so einfach ist das nicht. Paradoxerweise kommen die Figuren erstmals im Kontext der identitätsverstörenden Begegnung mit der Hexe zu sich selbst: Direkt vor der Erwähnung des »alten Weib[ es]« fallt erstmals der Name des »kleine[n] Jakob« (19); und kurz darauf erfahren wir auch den seiner Mutter: von der Alten, die sich nach der »Gemüsehändlerin« »Hanne« (20) erkundigt. Zwerg Nase vertritt die Gattung >Märchen< als eine, in der der Mensch zu sich findet- wohl nach Hoffmannsehern Muster, denn die Erzählung ist dem Goldenen Topf verpflichtet: Der Konfliktherd Gemüsestand erinnert an den Äpfelkorb eines »alte[n] häßliche[n] Weib[es]« 6 , der dem Studenten Anselmus zum initialen Verhängnis wird. Überhaupt ist Hauffs Fee eine Wiedergängerio jenes Äpfelweibs: Die Kräuterweis wohnt in einem »entlegenen 1heil der Stadt« (23), in einer »engen Gasse[]« (30), in einem »kleinen baufilligen Hause« (23) - ähnlich der Rauerin im Goldenen Topf, die in einer »abgelegenen engen Straße«, in einem »ldeine[n] rote[n] Häuschen« 7 lebt; und ist es Zufall, daß sich in beider Wohnungen »Meerschweinchen« (23) 8 tummeln? Ohnehin ist das Hausinnere jeweils merkwürdig: Im Goldenen Topf birgt die unscheinbare Fassade eine grauliche Hexenküche9 , im Zwerg Nase eine prachtvoll-orientalische Zauberwelt. Bei aller Gegensätzlichkeit doch analoge Motive, Gegenweltsignale: Mit den Haustüren öffnet sich der banale Alltag Protagonisten jene Hinterwelt als die Seite unserer Existenz erschließen, die uns zum Menschen macht. Anders formuliert: Diese Mentorfiguren sollen die Kreativität ihrer Schützlinge wecken, deren Ich-Welten generierende Phantasie stimulieren. Wichtig ist, daß auch Hoffmanns Erzählern diese Mentoraufgabe zufallt: Ihre Texte sollen >Türen< sein, durch die der Rezipient, vom Erzählten hingerissen, sich in dessen »Begebenheiten« als Mit-Dichter »hinein[träumt]« (67). So kommt er zu sich, folgt dem »Drang in jedem Menschen, sich hinauf über das Gewöhnliche zu erheben«; »das Mährchen« wird ihm »Zur Wirklichkeit, oder die Wirklichkeit [... ] zum Mährchen« (82 f.). 10 Das klingt nach Hoffmann, ist aber Hauff, aus dem Rahmengespräch, das auf Zwerg Nase reagiert- auf Zwerg Nase, der Hoffmanns Märchenpoetologie zu folgen scheint. Aber ist jenen Reminiszenzen zu trauen? Die zitierte märchenhafte Anthropologie verhält sich schief zur Rahmensituation: Der zuhörende Scheihk könnte sich als Koproduzent romantischer Sympoesie ins Märchen seines Daseins hineinphantasieren - doch das gibt ihm seinen Kairam nicht wieder; aber die Heimkehr des >verlorenen Sohns< war ja das verheißungsvolle Echo des Rahmens, das aus der Binnenerzählung widerhallte? Hier stimmt etwas nicht, und der Märchentext weiß das. Hauff liebt Schachtelstrukturen: Seine Figuren leben nicht einfach ihr Leben, nein, sie erzählen es immer wieder oder bekommen es erzählt. So auch der frisch nasifizierre Jakob: Er erkundigt sich bei seinem Vater nach sich selbst - der erkennt ihn nicht und erzählt ihm die Geschichte seines Sohns (vgl. 34 f.). Wenig später schildert Jakob dann der Mutter, »wie er uns vor sieben Jahren gestohlen wurde, und wie er von einer Fee bezaubert worden sey« (42). Den Zauberkram glauben die Eltern nicht, und die Entführungsgeschichte schmeckt nach Plagiat: »>ch habe ihm alles erzählt, noch vor einer Stunde«, tobt der Vater und prügelt den Unglücklichen fort (42). Das Märchen des eigenen Lebens gerät nicht zur Geschichte gelingender Heimkehr - und hierzu komplementär ist auch die Rückkehr am Ende nicht Resultat märchenhaften Erzählens. Zwerg Nases Erlösung variiert die aus KalifStorch: Dort erzählt der Titelheld einer verhexten Eule sein märchenhaftes Schicksal, und die läßt ihn eine Magiertagung belauschen - wo einer der Zauberer die 340 auf eine Zauberwelt hin. Und das ist bei Hoffmann entscheidend. Seine Sonderlinge, die am Rand der Gesellschaft in entlegenen und/oder seltsamen Häusern geheimnisvoll agieren - etwa die Rauerin bzw. Lindhorst im Goldenen Topf oder Rat Krespel in der gleichnamigen Erzählung -, Hoffmanns Sonderlinge sollen den 5 6 7 8 9 Um so auffälliger, als der Name schon länger nicht mehr~ zuletzt 50~ genannt wurde. E. T. A. Hoffmann: Sämtliche Werke. Hg. Wulf Segebrecht und Harrmut Steinecke, Frankfurt/Main 1985~2004, Bd. 2/1. Hg. Hartmut Steinecke, 229. Ebd., 264. Ebd., 265. Vgl. ebd. I 0 V gl. Peter von Matt: Die Augen der Automaten. E. T.A. Hoffmanns Imaginationslehre als Prinzip seiner Erzählkunst. Tübingen 1971, z.B. 163 f.; außerdem Beck: Geselliges Erzählen(= Anm. 2), 456~461 (dort weitere Literaturhinweise). 342 343 ANDREAS BECK WILHELM HAUFFS SeHE!HK VON ALESSANDRJA von ihm angezettelte Metamorphose des Kalifen und mit ihr das vergessene Rückverwandlungswort erzählt. >Mutabor<, >ich werde verwandelt werden<, und zwar allein infolge märchenhaften Erzählens. 11 Anders im Zwerg Nase: Erneut teilt der Protagonist, nun der Gans Mimi, das Märchen seines Lebens mit - aber diese hoffmanneske Narration ist nicht das Kraut, das gegen seine Mißgestalt gewachsen ist. Hier gilt nicht das anthropologische Zauberwort des Erzählens, sondern das Kräutlein Nießmitlust, das jenseits des (auto-)biographischen Märchentexts blüht. Zwerg Nase setzt den Anthropo-logos märchenhaften Erzählens a la Hoffmann als dysfunktional in Szene. Der Rahmenzyklus sollte sich anderweitig orientieren, und der Scheihk tut das, spätestens mit dem Affin als Menschen. Dort, in der fünften von acht Binnenerzählungen, begegnet uns erneut das Hoffmannsehe Motiv des Sonderlings, jetzt komisch verfremdet. Ein >fremder Herr< zieht ins spießige Grünwiesel: Keiner weiß, wer er ist (vgl. 218), er paßt nicht ins Bürgerdasein, er ist »verdächtig«, man argwöhnt, »es stecke [ ... ] etwas dahinter« (219). Mit ihm verspricht ein Menschsein jenseits des Kleinstadthorizonts heraufzudämmern. Eines, das hoffmannesk ans Wunderbare grenzt? Einiges spricht dafür: Der Fremde »miethete [ ... ] ein ganzes Haus, das bisher öde gestanden, ließ einen Wagen voll sonderbarer Geräthschaften, [ ... ]große Kunstheerde, große Tiegelund dergleichen hinein schaffen, und lebte [... ] ganz für sich allein« (219). Sein Tun bleibt geheimnisvoll, man glaubt, »er sey ein Zauberer« (220). Das erinnert an Coppelius/ Coppola aus dem Sandmann, der am »Herde« unter Verwendung »seltsame[r] Geräte« 12 sich müht, als wundersamer alter Deus Menschen zu schaffen. Und es erinnert an Rat Krespel, der »nach H-« zieht, wo er »anachoretisch [... ] in einem finstern Hause« lebtu; an Krespel, der ob seines undurchsichtigen Treibens (auch eine Art quasigöttlicher Menschenmontage) ebenfalls in den Verdacht gerät, ein »Zauberer[]« zu sein. 14 Verfolgen wir die Parallele von fremdem Herrn und Krespel weiter: Letzterer verreist und kommt mit einem jungen Mädchen wieder, mit seiner Tochter Antonie. Kurz darauf sind »Krespels Fenster ungewöhnlich erleuchtet«, und eine »zahlreiche Menge« »vor dem Hause des Rates« lauscht der »ganz wunderherrliche[n] Stimme eines Frauenzimmers«. 15 Antonies Stimme tönt aus dem Innern von Krespels seltsamem Haus, und sie entspricht ihrem Ort: Sie bedient Hoffmanns Erzähltopos, vertritt das Wunderbare des Märchens, das im Goldenen Topfhinter manchen Türen waltet; diese Stimme, die nur einmal erklingt, ist nicht von dieser natürlichen Alltagswelt, und so wird sie »ZU einer Phantasie und Gemüt aufregenden Sage von einem herrlichen Wunder«, selbst bei denen, »welche sie gar nicht hörten«. 16 Antonies Stimme symbolisiert den >inneren Poeten<, die Kraft der Phantasie, die uns zu Menschen macht. Daran orientiert sich der Affi als Mensch; er zitiert Hoffmanns >wunderbare< Anthropologie, um sie parodistisch zu depotenzieren. Auch der fremde Herr verreist und k_ehrt mit einem jungen Verwandten zurück, mit »mein[em] Neffe[n]« (221), wie er sagt. Dieses Antonien-Pendant ist jedoch ein OrangUtan, den der fremde Herr Schaustellern abgekauft hat und den er nun mit bemerkenswerten Methoden humanisiert. Auch bei Hauff versammeln sich »die Leute Haufenweise vor dem Hause«, denn auch hier dringt der Schein wahren Menschseins aus der geheimnisvollen Wohnung nach draußen. »Man sah« den Neffen »unglaublich schnell an den Fenstern hin und her[ ... ]laufen; der alte Fremde lief ihm [ ... ], eine Hetzpeitsche in der Hand, nach« (223); so wird schließlich das »wundervolle Konzert

Mutabor<« (= Anm. 2), 98 f., 104. 12 Hoffmann: Sämtliche ~rke (= Anm. 6), Bd. 3. Hg. Hartmut Steinecke, 17. 13 Hoffmann: Sämtliche ~rke (= Anm. 6), Bd. 4. Hg. Wulf Segebrecht, 45. 14 Ebd., 47.- Auch der Nachricht von einem gebildeten jungen Mann (aus den Fantasiestücken) ist der Affe als Mensch verpflichtet - sowie dem Oden Haus: Mehrfach scheint Hauffs Geschichte dessen Titel zu zitieren (245 und dreimal226 f.); aus gutem Grund, denn das Motiv des K.rawatte-Festknüpfens, des geheimnisvollen Hauses, des jämmerlichen Gesangs sowie der Peitschenschläge dürfte sich u.a. von jenem >Nachtstück< herschreiben. - Zur Bezugnahme des Affen als Menschen auf die genannten hoffmannseben Erzählungen (außer Rat Krespel) vgl. Peter von Matt: »Wilhelm Hauff oder Der Weg in die Klarheit«. In: Wilhelm Hauffoder Die Virtuosität der Einbildungskraft. Hg. von Ernst Osterkamp u.a. Göttingen 2005, 21-37. 15 Hoffmann: Rat Krespel (= Anm. 13), 46. 16 Ebd., 47. 17 Ebd., 46. 344 345 ANDREAS BECK WILHELM HAUFFS SCHEIHK VON ALESSANGRIA haben; denn man härte klägliche Angsttöne und klatschende Peitschenhiebe die Menge« (ebd.). So formt man Menschen, legt man den Grund anthropologischer Dichtung, in der ein >Affe als Mensch< auftreten kann: So nämlich bringt der Fremde seinem Neffen »nach einem Vierteljahr« das »Deutsche recht geläufig bey[]« (224). Diese Methode zeitigt weitere Erfolge. Der Mensch spricht nicht nur- er tanzt auch, also lernt der Neffe Tanzen. Und wenn er »in frazenhafte Sprünge« (225) verfällt, bringt ihn der Onkel, wieder pseudo-hoffmannesk, als >Lindhorst light< 18 zur Raison: Im Goldenen Topffällt ob der poetisch-wunderbaren Menschwerdung Anselmi der >>in Gelb und Rot glänzende[] Schlafrock« 19 des Archivarius >>würdevoll[] [... ]wie ein Königsmantel [ ... ] um Brust und Schultern« des Mentors, dessen Haupt >>ein schmaler goieiner Reif« 20 ziert. Ähnlich und ganz anders bei Hauff: Hier fährt der fremde Herr, wenn sein Schützling nicht manierlich-menschlich tanzt, >>in einem weiten, rothen Schlafrock, eine Mütze aus Goldpapier auf dem Kopf, aus seinem Zimmer heraus«, um erneut jene>> Hetzpeitsche ziemlich unsanft auf den Rücken des Neffen niederfallen« (226) zu lassen. Tiefschwarze, aber effektive Pädagogik: Der Fremde kann den >Neffen< in die gute Grünwieseier Gesellschaft einschleusen, auf deren Parkett der Affe als Mensch glänzende Triumphe feiert. 21 Den Topos des geheimnisvollen anthropopoietischen Sonderlings bzw. des Mentors, der die Menschwerdung seines Schützlings initiiert - diese Scharnierstelle Hoffmannsehen Erzählens besetzt der Affi als Mensch nicht mehr, wie noch Zwerg Nase, märchenhaft-phantastisch. Jetzt geht alles >natürlich< zu, prinzipiell ist die Handlung den Naturgesetzen gemäß. In Hauffs Mährehenalmanach ist kein Platz mehr für >Märchen<: 22 Wenn die Grünwiesder erkennen, daß der Fremde sie genarrt hat, wenn sie daraufhin von >>Wunder«, von >>Zauberei« (244) sprechen und glauben, >>daß dieß alles mit unnatürlichen Dingen zugegangen sey<< (246), daß es eines >Märchens< bedürfe, um Menschen zu schaffen nach ihrem Bilde - dann ist das nicht nur eine bornierte Ausrede, sondern zudem eine gattungspoetologische Fehldiagnose; eine falsche Sortierung des Texts, die zeigt, daß mit der Umbesetzung des Hoffmannsehen Erzähltopos eine andere Form anthropologischen Erzählens al'ordre du Jour ist. Der Affi als Mensch zieht die Konsequenz aus der Gattungsdiskussion, die ihm im Erzählrahmen vorausgeht. Dort wird der >>Unterschied [ ... ] zwischen Mährehen und Erzählungen, die man [ ... ] Geschichten nennt<<, erörtert - und die >Geschichte< als neue anthropologische Leitgattung profiliert. Das >>Mährchen<<, heißt es konventionell, sei >>eine Begebenheit[ ... ], die von dem gewöhnlichen Gang des Lebens abschweift, und [ ... ] nicht mehr durchaus irdischer Natur ist<< (211 ). Das meint auf der Ebene des Erzählens wie des Erzählten eine GängeJung des Menschen. Das >Märchen< beschränkt den Künstler: Da es eine >>außergewöhnliche, wunderbare Gestalt an[nimmt]<<, gleicht es den >>Gemälde[n] [ ... ]welche die Franken Arabesken nennen. Es ist dem ächten Muselmann verboten, den Menschen, das Geschöpf Allah's, sündiger Weise wieder zu schöpfen [... ], daher sieht man auf jenen Geweben wunderbar verschlungene Bäume und Zweige mit Menschenköpfen, Menschen, die in einen Fisch oder Strauch ausgehen, kurz Figuren die an das gewöhnliche Leben erinnern und dennoch ungewöhnlich sind<<. (211 f.) Im Rückgriff auf den romantischen Arabesken-Topos 2·1 erscheint ausgerechnet >wunderbare< Märchendichtung, deren Phantastik bei Hoffmann den Menschen in die Nähe eines unumschränkten Schöpfergottes rückt, als Beschränkung des vielleicht gottgleich-kreativen Menschen. Und der Erzähler hat Glück, ihn bremst das Phantastische nur aus- während es den erzählten Menschen entmündigt: Im Märchen >>greifen in das Schicksal der Person [ ... ] fremde Mächte<< ein (21 I); hier >>häuft sich das Wunderbare so sehr, der Mensch handelt so wenig mehr aus eigenem Trieb, daß die einzelnen Figuren und ihr Charakter nur flüchtig gezeichnet werden können<< (214). Als poetischer Anthropo-logos, durch den der selbstschöpferische Mensch zu sich findet, ist das >Märchen< passe. Es weicht der >>Geschichte[]«, die sich »ganz natürlich<<, »ganz ordentlich auf der Erde<< zuträgt - denn mit ihr er- 18 Vgl. auch von Matt: >>Klarheit«(= Anm. 14), 28 f. 19 Hoffmann: Goldener Topf(= Anm. 6), 270. 20 Ebd., 275. 21 Eine Parallele zum Sandmann, wo es gelingt, »vernünftigen Teezirkeln (ülimpia hatte sie mit Glück besucht) statt der lebendigen Person eine Holzpuppe einzuschwärzen<<; Hoffmann: Sandmann(= Anm. 12), 46. 22 Vgl. dagegen Claudia Stockinger: >>Verkehrungen der Romantik. Hauffs Erzählungen im Kontext frührealistischer Verfahren«. In: Osterkamp (Hg.), Hau./f(= Anm. 14) 5282, hier 57. 23 Zu diesem vgl. etwa Günter Oesterle: Das Faszinosum der Arabeske um 1800. In: Goethe und das Zeitalter der Romantik. Hg. Walter Hinderer. Würzburg 2002, 51-70. t1unr- Universität Bocnum Germanisti~hes J.nstitut 346 ANDREAS BECK schließt sich der Mensch im Erzählten wie im Erzählen den ihm gebührenden Aktionsraum: In der >Geschichte< nämlich bestimmt »nicht [... ] Zauber [ ... ] oder Feenspuck« die »Schicksale eines Menschen<<; hier wird er »durch sich selbst [... ] glücldich oder unglücklich<< (212 f.). 24 Die »Art, wie jeder seinem Charakter gemäß spricht und handelt<<, ist »die Hauptsache<< (214) - und das heißt, vom Dichter her formuliert: »Die einzelnen Figuren<< sind nicht märchenhaft-flüchtig, sondern »richtig gezeichnet<< (215). Hier können sie richtig gezeichnet werden, hier ist der erzählende Mensch Schöpfer seiner selbst, vermag er handelnd echte, ungekränkt aus sich selbst heraus handelnde Menschen zu schaffen; in der >Geschichte<, als anthropologisch-poetischer Gattungpar excellence, findet der Mensch als Gegenstand und Urheber seiner selbst zu sich. Das klingt schön- sieht aber in der nachfolgenden >Geschichte<, im Affin als Menschen anders aus. Die Menschwerdung qua Hetzpeitsche präsentiert ein recht heteronomes Menschsein als Ergebnis humaner Autopoiesis, und das ist nicht nur ein p;idagogisch-zivilisatorisches, sondern ebenso ein poetologisches Problem, der fremde Herr agiert ja auch als schöpfergottparodistische AutorFiguration:21 Und diese lehrt, daß der >Geschichte< die unschöne Hierarchie von Mentor und Schützling eingeschrieben ist, als Opposition von allgewaltig-erzählendem und erz;ihlrem, an narrativer Kette tanzendem Menschen. Ist das das rasche Aus für die anthropologisch vielversprechende Gattung? Wohl nicht. In einem Fall wäre der Widerspruch von Erzählerautonomie und Heteronomie des Erzählren halbwegs gelöst - wenn die Anthropopoiesis der >Geschichte< in genauem Sinn zur Autopoiesis wird, wenn erzählendes Subjekt und erzähltes Objekt fast eins werden: wenn in autobiographischem Erzählen das erzählende Ich, Schöpfer und >Mentor< seiner selbst, sich als erzähltes Ich entwirft Aber was w;ire damit für den Scheihk als Rahmenzyklus gewonnen? Die Verheißung Zwerg Nases war ja, daß Ali Banus Sohn durch Erzählen zurück24 25 »oder [durch] die sonderbare Higung der Umstände«, heißt es zwar direkt im Anschluß - aber es ist signifikant, daß diese Einschränkung im Gesprächsfortgang keine Rolle spielt. Zum einen, da er als hoffmanneske Mentorgestalt ein Pendant des Erzählers abgibt; zum andern, da er die Handlung der Geschichte über weite Strecken quasi-auktorial inszeniert, etwa die katastrophische Schlußpointe samt brieflich hinterlegtem fobula docet. WrLHELM HAUFFS SeHE! HK VON ALESSANDRIA 347 kehren könnte; nicht durch das >Märchen<, gut, aber wie soll die >Geschichte< das leisten? Ganz einfach: Indem Kairam, unerkannt, als einer der Freigelassenen seine >Geschichte< erzählt; indem der >verlorene Sohn<, als Autobiograph >seinem Charakter gemäß sprechend und handelnd<, sich zu erkennen gibt, heimkehrt, sich selbst mit seinen Aktionsräumen hervorbringt. Und exakt das versucht die letzte Binnenerzählung: Mit der Geschichte Al-Mansors erzählt Kairam pseudonym sein Schicksal, das er als Erzählender wenden möchte; er sucht eine, seine poetisch-autonome Existenz ins Werk zu setzen, erzählend den revolutionären Wirren der Zeit zu trotzen und ein gestörtes Sozialgefüge zu heilen. Seine Selbstaussage stellt den Anthropo-logos der >Geschichte< auf die Probe und damit rahmenzyklisch-gesellige Sozialpoesie: eine, die vom Hoffmannseben >Märchen< aus sukzessiv bis zum entscheidenden Schlußpunkt der Geschichte Al-Mansors vorgedrungen ist. Und diese weiß um ihre Herkunft, um jenen Fortschritt; das zeigt das nochmals variierte Motiv des sonder- bzw. >wunderbaren< hoffmannesken Mentors. Kairam/Almansor erzählt seine Entführung nach Frankreich, seinen quälenden Aufenthalt dort, wo ihm das Arabische untersagt war; »vielleicht<< hätte er »seine Sprache gänzlich verlernt<< (291) und sich dem Vater nicht erzählend offenbaren können - aber da ist ja der hoffmanneske Sonderling: der »arabische Professor<< (296), dessen Haus eine Gegenwelt birgt. Sie schmeckt entfernt nach dem Goldenen Topf, nach dem Garten Lindhorsts 26 , doch sie eröffnet dem entführten Knaben nicht mehr, wie im Zwerg Nase, eine Welt des Wunderbaren. Der »>klein Arabien<<< genannte »Saal<< jenes Professors bietet nur eine »verwtmderlich[e]<< Kulissenschieberei: Mit »künstlich aufgezogenen Bäumen, als Palmen [... ], die nur im Morgenland wachsen<< (292), ist der Raum ausstaffiert, wo der Professor Kairam/ Almansor empfängt und den Orientalen mimt- mit falschem Bart, mit einem aus einem Schlafrock gefertigtem Talar, mit einem mit falschen Steinen besetzten Dolch, umgeben von zur Hälfte als Negersklaven bemalten Dienern. Aber: Bei dieser Maskerade darf der Junge arabisch sprechen (vgl. 292 f.). 26 Vgl. Hoffmann: Goldener Topf(= Anm. 6), 269 f.; daneben dürfte- vgl. Andrea Polaschegg: »Biedermeierliche Grenz-Tänze. Hauffs Orient«. In: Osterkamp (Hg.), Hauff (= Anm. 14) 134-159, hier 153- der neugriechisch kostümierte Baron v. S. aus den Irrungen für den arabischen Professor Modell gestanden haben; vgl. Hoffmann: Sämtliche Wi-rke(= Anm. 6), Bd. 5. Hg. Hartmut Steinecke, 475 f. 'II 348 ANDREAS BECK WILHELM HAUFFS SCHEIHK VON ALESSANDRIA Eine weitere Sonderling-Variation, noch ein Schritt weg von Hoffmann: Neben der Kräuterweis des Zwerg Nase stand der fremde Herr im Affin als Menschen entzaubert, nicht aber entmachtet. Der arabische Professor nun wirkt vor der Folie des fremden Herrn nicht nur völlig banalisiert - jedwedes Geheimnis ist verflogen -, mit ihm ist zudem der Hoffmannsehe Sonderling zur ohnmächtigen Figur verkommen, die in zweiter Reihe gerade nicht mehr als handlungsprägender Mentor agiert. Sicher, Kairam wird vor seinem Vater zum Autobiographen, weil er das Arabische dank des arabischen Professors bewahren konnte. Aber: Die Geschichte AL-Mansors duldet in diesem sensiblen Bereich keine Schwächung ihres verkappten Ich-Erzählers durch Unterordnung unter einen Mentor. Sie kehrt das Lehrer-Schüler-Verhältnis um: Nicht der arabische Professor unterrichtet den Knaben, sondern dieser ihn, der von der korrekten Aussprache des native speakers profitiert (vgl. 293). Und mehr als passive Hilfestellung bietet der Professor nicht: Sein •klein Arabien< ist nur Heimatsurrogat 27 , und die wirkliche Heimreise des Jünglings würde er wohl hintertreiben (vgl. 296 f.). Er macht die Geschichte Al-Mansors gewiß nicht zur Heimkehrerzählung, und so spielt er nach seiner Einführung auch keine Rolle mehr; er wird zur Randfigur, gleichsam zur arabesken Marginalie, zum letzten Nachhall •wunderbarer< Hoffmannscher Poesie, veralteten anthropologischen Erzählens. Aber wie kommt Kairam zurück nach Ägypten? Das regelt der frühere französische Feldherr daselbst, jetzt Kaiser der Franzosen; aber Napoleon, der als mächtigster Mann Europas die von Hoffmann überkommene Mentorrolle erbt - er vermag es nicht, die Heimkehr ins Werk zu setze11. 28 Das französische Schiff, das den Jüngling nach Ägypten bringen soll, wird von Engländern aufgebracht, der Engländer von tunesischen Piraten gekapert, und Kairam/Alrnansor schließlich als Sklave verkauft - an seinen Vater, der ihn nicht erkennt (vgl. 301-303). Derart bleibt die gelingende Heimkehr zuletzt dezidiert Aufgabe des nun freigelassenen Erzählers; Aufgabe einer dezidiert mentorlosen autobiographischen >Geschichte<, mit der das Ende des Zyklus 27 28 >>Dem Jüngling war es dann, als wäre er zu Haus<< (291), heißt es romantisch-ironisch im konjunktivischen discours- dessen >als ob< kurz darauf auch die histoire erfaßt: >>Und wollte Almansor dem Alten ein großes Vergnügen machen, so mußte er sagen, es sey Alles beyihm so angeordnet, wie im Morgenland<< (293). Anders Schmitz: >>>Mutabor«< (=Anm. 2), 114-117. - ' • '·- 349 den freien Handlungsakt anthropo-logischer, sozialpoetischer Selbst- und Menschwerdung inszeniert. Und so wird die Geschichte Al-Mansors pointiert mit ihrem Ende zur Heimkehrerzählung, erst im letzten Satz betritt ihr Wort Heimatboden: »>Doch- als wir landeten, war ich Zeuge der wunderbarsten Fügung Allah's; es war die Küste seines [Almansors] Vaterlandes, an welche wir aus dem Boot stiegen, es war der Markt seiner Vaterstadt, wo wir öffentlich ausgeboten wurden, und, o Herr! daß ich es kurz sage, es war sein eigener, sein theurer Vater, der ihn kaufte!«< (303) Das ist mehr als Bericht; der Text will performativ die Rückkunft, von der er spricht, im Rahmen der geselligen Erzähl-Situation vollenden. Hierfür markiert der Erzähler die Almansar-Figur als narrative Selbstschöpfung; nicht, daß der Autobiograph schlicht >ich bin, der ich bin< sagte: das wäre billig, das kann jeder - und das kann schiefgehen. Kairam hat aus Zwerg Nase gelernt: Unumwundene Selbstaussage ist kontraproduktiv, wenn ein poetisch-narrativer Selbstentwurf zur Debatte steht, in dem der Erzähler zu sich kommen soll; hier gilt es, ohne verdächtig-platte Selbstkennzeichnung auszukommen. Kairam arbeitet subtiler, um seine literarische Figur für den Rezipienten auf den autopoietischen Erzähler hin transparent werden zu lassen: Da ist die ostinate Verwendung des Worts >Vater<, das zuletzt fast zur Apostrophe wird; >sein Vt1terland<, >seine Vt!terstadt<, >sein eigener, sein theurer Vt!ter< -eine Klimax verengender Zuspitzung, vor deren Schluß- und Höhepunkt die direkte Anrede »O Herr!« Ali Banu zu verstehen gibt, auf wen die Pointe des Erzählens zielt. Und: »Dort erzählte er mir seine wunderbaren Schicksale« (ebd.); der vorletzte Satz speist das autobiographische Moment in die Erzählung ein- was der letzte mit »wunderbarst[]« steigernd aufgreift, der sich so als autobiographischer Superlativ entwirft. 29 Klimakrisehe Strukturen, die den letzten Satz rahmen, verweisen derart recht deutlich darauf, wer hier, von wem, wem gegenüber erzählt. Damit nicht genug, das autobiographische Moment verklammert außerdem Anfang und Schluß der Geschichte Al-Mansors, es beschließt und eröffnet sie. Das Erste, was wir vorn Protagonisten erfahren, ist, daß er »seiner Aussprache nach ein Egyptier« ist - wie ja auch der Erzählende - und daß Erzähler und Protagonist einander »uns 29 I , I. • Diese >Steigerung< des Autobiographischen ist überdies dadurch markiert, daß sich Kairam hier wieder- sachlich nicht nötig- der Ich-Perspektive seines Erzählbeginns bedient. 1'1 350 351 ANDREAS ßECK WrLHELM HAUFFS SeHE! HK voN ALESSANDRIA unsere Geschichte [... ] erzähl[t]en« (285). Bereits hier stehen Erzähler und Figur einander im Zeichen autobiographischer Mitteilung verdächtig nahe, was, im Rückgriff auf den Anfang, das Ende der Erzählung dann besonders intensiv inszeniert. Also erfüllt die Geschichte Al-Mansors ihre Aufgabe? Nein. 30 Die Anagnorisis mißlingt, >>das Ende der Erzählung schien« den Scheihk »nicht zu befriedigen« (303). Ein hartköpfiger Rezipient, der fast törichte Fragen stellt: Wie alt Almansor sei? »ln meinem Alter, ein- bis zweiundzwanzig Jahre« - ahnt man diese Übereinstimmung nicht? Wie Almansors >>Geburtsstadt« heiße? >>Alessandria<<- das macht aber doch der Erzählschluß deutlich?-' 1 Ob Almansor nicht >>Kairam<< heiße, >>dunkle Augen und braunes Haar<< habe (303 f.)? Beides richtig - aber entgeht Ali Banu, daß letzteres auch auf den Erzähler zutrifft? Kurz: Die poetisch-anthropologische Heimkehr scheitert, das Outing des Erzählenden als Kairam vollzieht sich im Wortsinn als hors d'a?uvre. Außerhalb seiner >Geschichte< muß er versuchen, sich explizit zu erkennen zu geben (vgl. 304). Damit nicht genug: Nicht nur als Erzählender, prinzipiell ist er außerstande, sich selbst zu verwirklichen - nicht er gibt sich zu erkennen, vielmehr wird er von Anderen erkannt. So wird geprüft, >>ob die Züge seiner Mutter, die mein Kairam trug, auf seinem Gesicht eingegraben sind<< (305). Und schliefWeh unterstellt man ihn, der als freier Autobiograph den Triumph der sozialpoetisch-anthropologischen >Geschichte< feiern sollte, wieder einem Mentor - ausgerechnet dem Chefpoetologen des Rahmengesprächs, der so schön die Gattung >Geschichte< als Humanum profiliert hatte. Der nämlich ist Kairams ehemaliger Erzieher - und er bringt, im Widerspruch zu seinen Poetologemen, den emanzipierten Schützling wieder unter seine Fittiche. Ganz Pädagoge, fragt er den >>Spruch<< ab, den er ihm >>am Tage des Unglücks mitgab ins Lager der Franken<<- und erst die richtige Antwort gegenüber dem >>theure[n] Lehrer<< (ebd.) macht Kairam zu Kairam. Zwerg Nase, Der Affi als Mensch, Die Geschichte Al-Mansors: der anthropologische Erzählfortschritt, den diese Pfeiler des Scheihks von Alessandria mar- 30 31 kieren - er ist keiner; es ist bloß ein Kreislauf. Als unwesentliche Variation wiederholt die erfolglose autobiographische Schlußgeschichte das ohnmächtige Ich-Märchen aus Zwerg Nase. Ergebnislos kreist das gesellige Erzählen in sich selbst, da sich der Rahmenzyklus paradoxerweise extrapoetisch erfüllt. Damit ist der Scheihk von Alessandria, ist der anthropologisch-sozialpoetische >Rahmenzyklus< am Ende; aber die Gattung hat Zukunft, und zwar als spannende Unterhaltungsliteratur12 , marktgängig und für den Autor ökonomisch einträglich: Denn >der Mensch lebt nicht vom Wort allein<. Eine editionsphilologisch befriedigende Ausgabe von Wilhelm Hauffs Scheihk von Alessandria gibt es nicht; seit der Erstausgabe von 1826 ist der Zyklus nicht mehr vollständig erschienen. Bereits beim posthumen Zweitdruck wurden die in den Zyklus integrierten >fremden< 'lcxre von James Jusrinian Morier (Der gebackene Kopf>, Gusrav Adolf Schiill (Der arme Stephan) sowie Wilhelm Grimm (Das Fest der Unterirdischen und Schneeweißehen und Rosenroth), d.h. die Hälfte der Binnenerzählungen, entfernt (vgl. Wilhelm Hauff: Sämmtliche Schriften, geordnet und mit einem Vorwort versehen von Gustav Schwab. 27. Bändchen: Mährchen, 3. Biindchen bzw. 2. Ahrheilung. Sturtgart: Brodhag'sche Buchhandlung, 1830). Dabei ist es bis heute geblieben (vgl. etwa Wilhelm Hauff: Märchen, nach den Ausgaben der Märchenalmanache 1826 bis 1828. 'Jcxtkritisch revidiert von Hans-Jiirg Uther. Kreuzlingen und München: Hugendubel, 1999). Da sich mein Beitrag aus Raumgründen nur mir >echten< Hauffs aus dem Scheihk befasst, sei als Notlösung auf die angeführte Edition Schwabs von 1830 verwiesen: Sie ist zum einen (via Google books) leicht zugänglich und zum andern scheinen mir jene Streichungen in einer historischen Ausgabe, die nicht an aktuellen Wissenschaftsstandardsgemessen werden sollte, erträglich. Ähnlich Klotz: Kttmtmärchen (= Anm. 2), 209; anders Schmitz: >»Mutabor<<< (= Anm. 2), 114 f., er nimmt eine Befreiung durch Erzählen an. So geht's, wenn man, vom Ende der Erzählung enttäuscht, sich an deren Anfang hält (an die >>egyptische[J Stadt, deren Namen er [Almansor] nicht nannte<<, 286), anstatt Erzählanfang und -schluß (der implizit Alessandria als Almansors >Vaterstadt< ausweist) erhellend aufeinander zu beziehen; zu >Vaterstadt< = >Geburtsstadt< vgl. Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. 2. Auflage, ßd. 4. Leipzig 1801, 979. 32 Vgl. Klotz: Kunstmärchen(= Anm. 2), 209.- Folgerecht spielt die anthropologische Dimension in den Darlegungen des Poetologen und Erziehers Musrapha eine untergeordnete Rolle- sie wird implizit, en passant entwickelt. Ausdrücklich betont erscheint (vgl. Schmitz: >>>Mutabor<« [= Anm. 2]. 84) dagegen die >>eine Grundursache<<, die sowohl >Märchen< als auch >Geschichten< >>ihren eigenthümlichen Reiz giebt; nemlich das, daß wir etwas auffallendes, außergewöhnliches miterleben<< (213), daß diese Texte, mirreißend erzählt, zu lustvoller idenrifikatorischer Rezeption verführen. i I.I '