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ALT-NEUE SCHRIFTEN
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Abb. 6 : Anwendungsbeispiele der von Franzisca Baruch gestalteten
.,Stam"" im Schriftmusterbuch der H. Berthold AG (um 1925).
10
FRANZISCA BA RUCH
VON DER KALLIGRAPHIE ZUM SCHRIFTENTWURF: FRANZISCA BARUCH IN BERLIN
U
nter dem Schlagwort der ,.Neuen
Rückbesinnung sollte Schriftgestaltung
Buchkunst" formierten sich in
auf der Grundlage einer intensiven
Deutschland um 1900 Bestrebungen zu
Beschäftigung mit historischen Schrift-
einer Erneuerung der Buch- und Schrift-
formen erfolgen. Diese Ten denz prägte
gestaltung nach dem Vorbild der engli-
das gestalterische Selbstverständnis
schen Artsand Crafts-Bewegung. Diese
von Franzisca Baruch.
Erneuerungsbewegung verstand sich als Reaktion auf die vor allem nach der
Der Beginn ihrer Beschäftigung mit den
Rei chsgründung 1871 rasant vorange-
Formen der he bräischen Schrift - die
triebene Industrialisie rung und verba nd
gesprochene Sprache eignete sie sich
sich mit der Forderung nach einer zeit-
erst viel später und e her schlecht als
gemäßen, material- und zweckgebun-
recht an - fällt in die ersten Jahre als
denen Form .1 Sie betraf alle Elemente
Schülerin der Unterrichtsanstalt des
des Buchs - nicht zuletzt auch die
Staatlichen Kunstgewerbemuseums Ber-
Druckschriften . So wurde damit begon-
lin (1919 -1924), wo Baruch unter Ernst
nen, Künstler mit der Schriftgestaltung
Böhm studierte. Zudem erhielt sie pri-
zu beauftragen. Die auf diese Weise er-
vaten Unterricht im Schriftzeichnen von
zielten Resultate waren in einer ersten
Eise Marcks-Penzig, einer ehemaligen
Phase noch stark von der Formenspra-
Schülerin und Mitarbeiterin des Schrift-
che des Jugendstils beeinAusst. Nach
künstlers Emil Rudolf Weiß. Analog zu
Ende des Ersten Weltkriegs setzte dann
den Bestrebungen einer gestalterischen
allerdings eine deutliche Hinwendung
Wiederbelebung verschütteter Trad iti-
zu hi storisc hen, stärke r handschrift-
o nsbestände lateinischer Antiqua- und
bas ierten Formen ein. Im Sinne einer
deutscher Frakturschriften näherte sich
Neuorientierung auf dem Weg der
Baruch dem Hebräischen über die in 11
ALT-NEUE SC HRIFTEN
mittelalterlichen Handschriften und
schnitten illustrierten Frühdruck existier-
Frühdrucken zu findenden Farmen. Aus-
ten 1921 weltweit nur noch wenige
gehend von diesen historischen Vorbil-
Exemplare, doch war 1920 ein auszugs-
dern entwickelte sie Anfang der 1920er
weiser Nachdruck in der von Karl
Jahre eine Reihe kalligraphischer Stile,
Schwarz, dem späteren Leiter des Tel
mit denen sie sich als erste hebräische
Aviv Museums, herausgegebenen Reihe
Schriftkünstlerin Berlins etablieren
"Jüdische Bücherei" im Gurlitt Verlag
konnte . Aufmerksamkeit erlangte die zu
erschienen und hatte das Werk bekannt
diesem Zeitpunkt gerade erst zwanzig-
gemacht 3 Wie Schwarz im Nachwort
jährige Studentin 1921 als Gestalterin
betont, zeigt die Proger Haggada als
des Textes einer bibliophilen Haggada
Dokument frühester jüdischer Buch-
mit Holzschnitten des damals bereits er-
druckerkunst den kulturellen Zusammen-
folgreichen expressionistischen Künstlers
hang des aschkenasischen Judentums
Jakob Steinhardt, der wie Baruch 1933
mit der deutschen Kunst dieser Zeit. So
nach Palästina emigrieren sollte. 2
entsprechen die Formtendenzen der bei der Haggada verwendeten Ouadrat-
ln der Haggada sind Bild und Text -
schrift auch denen der in Deutschland
die expressionistische Bildsprache
verbreiteten gotischen Schriften. ln
Steinhardts und die mittelalterliche, an
beiden Fällen bilden die äußerst kon-
aschkenosisehe Vorbilder angelehnte
trastreich gestalteten Drucklettern
Schriftgestdltung Baruchs - sorgfältig
eine mit scharf geschnittener Breitfeder
aufeinander abgestimmt. Baruch und
geschriebene Vorlage nach.
Steinhardt teilten das ästhetische Ideal
12
einer "ursprünglichen Einfachheit": ln
Die Arbeit an der Haggada fiel in eine
Text und Bild dominieren klare Hell-
Zeit äußerst lebhafter hebräischer und
Dunkel-Kontraste und eine kraftvolle Lini-
jiddischer Publikationstätigkeit in Berlin,
enführung ohne Ornament [Abb. 7].
einer Stadt, die nach dem Ende des
Bei der Schrift finden sich einzig bei Ini-
Ersten Weltkriegs zu einer wichtigen Sta-
tialwörtern und Überschriften einfache
tion der jüdischen Migration aus Ost-
Verzierungen, die an Formen jüdischer
europa geworden war. Die künstlerische
Volkskunst angelehnt sind . Die Vorbilder
Leitung des Projekts oblag dem 23jäh-
dazu fand Baruch in alten hebräischen
rigen Verleger Abraham Horodisch .
Handschriften, insbesondere bei der
ln dem von ihm mitbegründeten Eupho-
Proger Druckerfamilie der Gersani 1526
rion-Verlag wurden Mappenwerke
mit Typen verschiedener Größen ge-
expressionistischer Künstler und Bücher
druckten Haggada des )acob Kohen .
für ein bibliophiles Publikum publiziert.
Von diesem bedeutenden, mit Holz-
Beauftragt hatte Horodisch , offenbar
FRANZISCA BARUCH
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Abb. 7: Entwurf aus dem Nachlass von Franzisca Baruch für eine Doppelseite der Pessach-Haggada (1921).
inspiriert von einer 1920 erschienen
thek in Berlin 6 Auf der Grundlage des
Mappe mit Linolschnitten Jakob Stein -
so erworbenen Wissens entwickelte
hardts zu den Zehn P/ogen, 4 der jüdi-
sie verschiedene, kunstvolle hebräische
sche Industrielle Erich Goeritz 5
Schreibstile. Die starkam Vorbild der
Da es zu diesem Zeitpunkt noch keine
Goeritz-Haggada gestaltete sie hand-
Proger Typen orientierte Schrift für die für die Gestaltung einer künstlerisch-
sc hriftlich. Der Text wurde bei der Stein-
moderne n Haggada geeignete, hebrä-
drucke rei von Herrmann Birkho lz in
ische Druckschrift gab, veranlasste
Berlin in einer AuAage von 200 Stück
Horodisch, den Text kalligraphisch her-
reproduziert und die 29 Originalholz-
zustellen und lithographisch zu repro-
schnitte Steinhordts in einem zweiten
duzieren. Dafür studierte Franzisca
Durchlauf dazu gedruckt 7 Dabei hatten
Baruch intensiv die Formen alter, hebrä-
"Künstler und Kalligraphin" ihre Arbeit,
ischer Hand- und Druckschriften
so Horodisch, .,wie bei guten mittel-
in den e ntsprechenden Beständen der
alterlichen Handsch riften Schreiber und
Kunst- und vor al lem der Staatsbiblio-
Minator" 8 so aufeinander abgestimmt,
13
ALT-NEUE SCHRI FTEN
,.dass die illustrierten Seiten !rotz der
Schrift als ,. Rambam " sowi e eine teil-
verschiedenen Drucktechniken eine Ein-
weise konturierte als ,.Rachel ".14 Die
heit bilden" 9 Ein beträchtlicher Teil der
Publikation dieser Schriften wa r insofern
kleinen Erstauflage dürfte in der Zeit
bedeutsam, als der aschkenosisehe
des Nationalsozialismus verlorengegan-
Stil im Bereich der Drucksachen bereits
gen sein. Größere Verbreitung erfuhr
im Laufe des 16. Jahrhunderts fast voll-
die Haggada 1923 als gedruckte Volks-
ständig durch den sepha rd ischen ver-
ausgabe des Ve rlags Ferdinand Oster-
d rängt worden war. ,. Stam" kon nte sich
tag w Die sogenannte ,.Steinhardt-
so einerseits auf eine Tradit ion bezie-
Haggada" gilt heute neben der unge-
hen, unterschied sich gleichzeitig aber
fähr zeitgleich im Berliner Verlag R. Löwit
grundlegend von ·al len damals ge-
erschienen Haggada von Joseph
bräuchlichen hebräischen Schriften.
Budko11 als Pion iertat auf dem Gebiet
Es handelt sich also wen iger um eine
des künstlerisch-bibliophilen Buches mit
tra ditionelle Schrift, a ls um eine dezi-
jüdischem Inhalt. So wurde 1979 vom
d iert gegenwartsbezogene W iederbele-
israelischen Verlag Dvir auch eine Faksi-
bung verschütteter Traditionsbestände.15
mile-Ausgabe der Haggada
publiziert.12
Mit ihrer Schrift ,.Stam" t rug Baruch so maßgeblich zur Erweiterung des typo-
Dieser erste Erfolg als Schriftgestalterin
graphischen Vokab ulars der sich er-
mag Baruch dazu bewogen haben,
neuernden hebräischen Sprache bei.
ihre durch die Ka lligraphie gewonnene
14
Kenntnis der alten aschkenasischen
Im Unterschied zur klassisch-sephar-
Ouadratschrift in die Gestaltung einer
dischen Ouadratschrift, die !rotz ein er
entsprechenden Druckschrift einfließen
generell eher runde ren Form eine strikt
zu lassen. ln Zusammenarbeit mit Jo-
horizontale Grundlinie aufweist, sind
seph Tscherkassky, dem Leiter der orien-
die Buchstaben Shin und Tel bei ,.Stam"
talischen Abteilung der Schriftgießerei
und ihren Ableitungen gerundet. Auch
H . Berthold AG , schuf sie eine auf dem
d ie konisch verdickten Vertika len, die
Vorbi ld der Proger Haggada von 152 6
der Schrift eine gewisse feierliche N ote
basierende Type fü r den Handsatz, die
geben, übernimmt sie von d iesem histo-
von Berthold ab Mitte der 1920er Jahre
rischen Vorbild. Der Reiz der Schrift
unter dem Namen ,.Stam" bzw. ,.Ma-
liegt in ihrer lebendigen, p inselst richar-
gere Stam" in Größen zwischen 6 und
tigen Kontur, die vor allem in großen
72 Punkt angeboten wurde [Abb. 6 ]D
G rößen gut zur G eltung kommt. Di e
Ohne Zutun oder Zustimmung der G e-
Unregelmäßigkeiten der gedruckten,
stalterin entwickelte man bei Berthold
historischen Vorlagen wu rden im Ent-
zusätzlich eine englaufende Version der
wurf für die neue Schrift nicht durch
FRANZISCA BARUCH
eine klar dennierte Linie ersetzt, sondern vielmehr als solche stilisiert. Mit diesem eigenwilligen, typographischen
1
Vgl. Robin Kinross: Modern Typography: An Essay in
Critical Histary. London: Hyphen Press 1992, S. 67-79. 2
Steinhardt, vor dem Ersten Weltkrieg Gründungsmit·
gliedder expressionistischen Künstlergruppe HDie
Stilmittel dürfte Baruch im Büro des
PathetikerH, war als deutscher Soldat in Litauen mit
dem stark religiös bestimmten jüdischen Leben in
dafür bekannten Werbegraphikers Lucian
Osteuropa in Kontakt gekommen und hatte sich unter
Bernhard in Berührung gekommen sein, wo sie im Sommer 1921 u. a . mit der
diesem Eindruck noch dem Krieg in seinen Arbeiten vermehrt Motiven der jüdischen Trad ition zugewandt. 3
Ausführung von Schriftzeichnungen beschäftigt warM
4
5
Obgleich das Akronym .,Stam" auf die drei Schreibbereiche des traditionellen jüdischen Abschreibers (Sefarim-Tefillin-
Mezuzot) anspielt, vermarktete Berthold die neue hebräische Type vor all em als
Vgl. A braham H orodisch: Aus den Eri nnerungen ei nes Berliner bibliophilen Verlegers der zwanziger
Jahre. ln: Imprimatur NF 8 (1976), S. 243-254. Horodisch dotiert das Ereignis hier allerdings fälschlicherweise auf die Zeit noch 1924. 6 Vgl. Franzisca Baruchs Skizzenbuch im N ochlass im Israel Museum. 7
8
[Hoggadoh shel pesoch]. [o. 0. [Berlin], o. D. [1921]]. Bei der Herstellung mittelalterlicher H andschriften war der sog . Miniotor ursprünglich verantwortlich fü r die Gestaltung der Kapitelüberschriften und Initialen. H orodisch verwendet den Begriff hier allerdings
Auszeichnungsschrift im Anzeigenbereich . Als Buchschrift fand .,Stam" !rotz der Verfügbarkeil entsprechender
Vgl. Korl Schwarz (Hg.): Die Proger Hogado von 1526. 19 Abbildungen aus dem ersten Holzschnittdruck der Passah-Hagado. Berlin: Gurlitt 1920. Jakob Steinhordt: Die Zehn Plagen. Berlin: Gurlitt 1920.
9
wohl im erweiterten Sinn von lllustrator/Buchmaler. Abraham H orod isch: Aus den Erinnerungen eines
Berliner bibliophilen Verlegers, S. 252. - Folgtmon
Größen - zu keiner Zeit Anwendung,
Baruchs Erinnerungen, war Steinherdis künstlerischer Beitrag ursprünglich als Radierung geplant, a uf ihre A nregung dann aber in Holz ausgeführt worden. Vgl.
da sie den entsprechenden Anforderungen bezüglich der Lesbarkeit kaum ge-
G ideon Stern, Henri Friedlaender: Franzisca Baruch.
nügen konnte. Zur Zeit ihrer Publikation
ln: Israel Bibliophiles Newsletter, 4 (1984), S. 1-4, hier S. 2.
kaum erfolgreich wurde Baruchs Schrift
10
mit dem Entstehen eines modernen
11
Werbewesens in Palästina ab Mitte der
12
1930er Jahre als Auszeichnungsschrift von den zwischenzeitlich neugeschaffenen hebräischen Schriften ab, die ohne Au snahme einem modernistischen Ge13
feierlichen Charakters wurde .,Stam" nach 1948 gerne von den Organen des jungen Staates zu Repräsentations-
14
15
zwecken verwendet . 16
Philipp M essner
shel pesoch]. Berlin: Ferdinond Osterlog 1923. Joseph Budko: [Hoggodoh shel pesoch]. Berlin: Löwith 1921. Vgl. [Hogadah shel Pesah im pituhe-ets Yokov Steinhordt]. Tel Aviv: Dvir 1979. - Diese Veröffentlichung, die den N amen des populären Künstlers in den Titel integriert, dürfte die Rezeption des Werks als ~Stein hordt-Hoggada" begünstigt haben. Im Vorwort betont die Kunsthistorikerin Zivo Amishai- Maiseis zwar auch ausdrücklich den Beitrog Fronzisca Baruchs, ober Abraham H orodisch als künstlerischer Leiter des Projekts findet keine Erwähnung.
populär. Hier setzte sie sich deutlich
staltungsprinzip folgten. Dank ihres
Jakob Steinhordt und Franzisca Baruch: [Haggadah
Vgl. Stephen Lu bell: Joseph Tscherkossky - Orientalist and Typefounder. ln: G utenberg-Jahrbuch 71 (1996), S. 222-239. Vgl. Joseph Tscherkassky (Hg.): Magere Stam, Stom, Rambom, Rahel. Berlin [o. D.]. Zur Einordnung der sogenannten Revival-Schriften vgl. N ick Shinn: Lacunoe: H ow Type History Ois-
appeored. ln: Codex,3 (2013), S. 44 -51 . Vgl. Lucion Bernhard: Arbeitszeugnis, 29.08.1921 . ln: Israel Museum Jerusalem, Centra l Archives, Archive of Franzisca Baruch, File 551092.
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