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Weitemeyer und Wu – ein deutsch-chinesisches Paar in Göttingen, Moskau und Shanghai Vor 110 Jahren wurde im Raum Göttingen Irene Weitemeyer geboren; im gleichen Jahr kamen (einige Monate vor ihr) in Berlin Ruth Werner und – weiter östlich – Anna Wang zur Welt. Alle drei lebten in den dreißiger Jahren in China und in den sechziger Jahren wieder in Deutschland. Von Irene Weitemeyer sind jedoch im Gegensatz zu den anderen Damen keine Bücher bekannt, daher ist es auch schwierig, ihr Leben zu rekonstruieren. Eine Gemeinsamkeit der drei ist, dass sie früh heirateten und sich auch früh wieder von ihren Gatten trennten. Chinesische Studenten Der 1899 geborene chinesische Student Wu Zhaogao (Wu Chao-kao) traf in den frühen zwanziger Jahren in Göttingen ein und studierte dort Mathematik. Er lernte offenbar schon bald die damals noch recht junge Irene kennen, beide hatten Kontakt zur KPD. Der Chinese benutzte auch schon frühzeitig den Namen Wu Jianxi (Wu Chien-hsi); in verschiedenen Dokumenten taucht er auch als Wu Shao kao, Wu Chao-kao und Wu Chao-kuo auf, wobei unklar ist, ob er selbst oder andere die Varianten erfunden haben. Die spätere Gattin nannte sich vorübergehend Weitemeyer-Wu, wurde aber auch irrtümlich als Wedemeier und Wiedemeyer bezeichnet. Da sie später für die Sowjetunion arbeiteten, bekamen sie auch noch russische Namen. Herr Wu war einer von vielen chinesischen Studenten in Göttingen - die Stadt gehörte in den zwanziger Jahren zu den beliebtesten Studienorten in Deutschland. Die bekanntesten waren Zhu De, der spätere Gründer der Roten Armee, und Xie Weijin, der zwanzig Jahre in Europa verbrachte und am Spanischen Bürgerkrieg teilnahm. Zhu und Xie hatten chinesische Freundinnen, die beide etwa 1925 Kinder bekamen, sie waren zu der Zeit allerdings nicht mehr in Göttingen. Über Irene, mit der sie in Shanghai zusammen arbeitete, schrieb Ruth Werner: sie .hatte ihr Kind in Moskau zurückgelassen und sehnte sich nach der Tochter, die noch nicht zwei Jahre alt war. […] Von ihrem eigenen Kind sprach sie erst, nachdem sie die Nachricht von seinem Tode erhalten hatte. Es war an einer Gehirnhautentzündung gestorben." Außerdem steht auf der gleichen Seite eine Beschreibung der Freundin: Sommersprossen auf weißer Haut, milchigblaue Augen und rotes widerspenstiges Haar" (S.74). Auf Photos sieht man, dass sie recht klein war. Herr Wu ist auf mehreren Bildern der zwanziger und frühen dreißiger Jahre zu sehen, immer mit Brille, meist mit Hut. (In Moskau hatten in den späten zwanziger Jahren wohl beide für die Kommunistische internationale gearbeitet.) In Shanghai Ruth Werner reiste im Juli 1930 (mit ihrem Mann) mit dem Zug nach China. Ihre Freundin, die offenbar im gleichen Jahr geheiratet hatte, reiste wohl im August oder September. Irene soll im Herbst – vermutlich im November – eine Buchhandlung in Shanghai eröffnet haben. Ein halbes Jahr vor Ruth Werner war schon der Agent Richard Sorge in der Stadt eingetroffen, für diesen arbeitete Herr Wu. (Schon im Jahr davor war die amerikanische Journalistin Agnes Smedley von Berlin über Moskau nach China gereist – alle Genannten hatten in Shanghai mit ihr Kontakt.) Anfang der dreißiger Jahre waren auch einige KPD-Funktionäre in der Stadt, darunter die Herren Eisler, Ewert und Stern; Ruth Werner war schon in Berlin Parteimitglied geworden. Die beiden Frauen arbeiteten vorübergehend gemeinsam im Buchladen und hatten Kontakt mit Agnes Smedley, Song Qingling und dem Schriftsteller Lu Xun. Die Österreicherin Ruth Weiss, die 1933 in Shanghai eintraf, erwähnt in ihren Memoiren Herrn und Frau Wu, wusste aber über diese nicht viel. (S.82) Die Abreise Ende 1932 und in den ersten Monaten des Jahres 1933 waren viele ausländische Kommunisten in Shanghai von Verhaftung bedroht und verliessen die Stadt. Sorge, Ruth Werner, Agnes Smedley und Irene Wu hielten sich vorübergehend in der Sowjetunion auf. Sorge ging dann nach Japan, Ruth Werner in die Mandschurei; Agnes und Irene kehrten nach Shanghai zurück, wo die Buchhändlerin an anderer Stelle einen neuen Laden eröffnete. 1935 gab es eine neue Verhaftungswelle – Irene und Ruth verliessen das Land endgültig. Herr Wu ging dagegen von Shanghai nach Peking, änderte seinen Namen und profilierte sich als Akademiker – unklar ist, ob er dort noch weiter für den Spionagering arbeitete. Nachkriegszeit Nach dem Krieg lebte Wu in der Volksrepublik China und war als Wissenschaftler, Universitätsrektor, Verlagschef und Übersetzer tätig; er hatte zwar gute Posten, wurde aber kein Spitzenpolitiker, über seine Spionagevergangenheit wurde bis zu seinem Tod (1973) nichts bekannt. Irene hatte in den dreißiger Jahren zunächst noch in Moskau gearbeitet, wurde aber – wie viele damals – inhaftiert. Sie durfte 1955 in die Bundesrepublik ausreisen und verbrachte vermutlich ihre letzten Lebensjahre nahe ihres Geburtsorts, sie soll 1978 gestorben sein. PS Ein interessanter, aber wenig bekannter Aspekt der Familiengeschichte ist die Tatsache, dass Wu einen jüngeren Bruder hatte, der in den zwanziger Jahren in Amerika studierte. Zu dieser Zeit versuchten sowohl Wu als auch Irene den Bruder (in getrennten Briefen) für den Kommunismus zu begeistern. Auch der jüngere Bruder lebte später in der VR, starb aber recht früh. Die Brüder stammten aus der Provinz Henan. In neueren Texten aus der VR wird auch noch ein dort lebender Sohn von Wu Zhaogao erwähnt, was auf eine weitere Ehe schließen lässt. Literatur: Ruth Werner: Sonjas Rapport, Berlin, 1977. J. & S. MacKinnon: Agnes Smedley, Zürich, 1989. Ruth Weiss: Am Rande der Geschichte, Osnabrück, 1999. Eine Übersetzung von Wu: Cunow, Heinrich: Jing ji tong shi / H. Cunow zhu. Wu Jue xian yi. - Chu ban. -  Shang hai: Shang wu yin shu guan, Minguo 25 [1936]. - 2, 2, 24, 770 S. (Han yi shi jie ming zhu) (Min guo ji cui) 經濟通史 / H. Cunow著. 吴覺先譯. - 初版. -  上海: 商務印書館 Dr. Thomas Kampen