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Wider Den Homme Moyen. Zur Soziologie Des Einzelfalls

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Wider den homme moyen. Zur Soziologie des Einzelfalls Von Johannes Scheu I. Am 31. Oktober 1845 veröffentlicht die Allgemeine Preußische Zeitung eine umfangreiche Rezension zu Friedrich Engels' einige Monate zuvor erschienenem Frühwerk über Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Dass die revolutionäre Stoßrichtung, die Engels in seinem Text einschlägt, der politisch reaktionären Gesinnung dieser Tageszeitung - als halboffizielles und, wie Karl Marx einmal abschätzig bemerkte, "greisenhafte[s] Preßkind" 1 der preußischen Staatsregierung - gänzlich zuwiderlaufen musste, überrascht kaum. Engels' "ganze [... ] Sozialtheorie,,2, so leitet die Buchbesprechung ein, basiere auf "falschen Voraussetzungen und Schlüssen, welche die bekannten krankhaften sozialistischen Grundsätze unserer Zeit durchblicken lassen und denen der Verfasser mit anscheinend jugendlicher Hast die Zustände Englands mit ihren zukünftigen Folgen gern dienstbar machen möchte" 3. Indes, für die theoretische Untermauerung von Engels' Studie zeigt sich die Preußische Zeitung nur am Rande interessiert. Rezensionswürdig erscheint ihr vielmehr der empirische Gehalt von Engels' Buch, dem - und dieses Urteil überrascht durchaus - jenseits aller sozialistischen Fehlinterpretation die volle Anerkennung entgegengebracht werden müsse. Aufgrund seiner revolutionären Verblendung möge Engels zwar "der Maßstab zur richtigen Beurteilung [... ] der Dinge fehlen,,4. Dafiir werde der Leser aber im Gegenzug "durch eine umso ausführlichere Darstellung des wirklich Bestehenden"s entDer vorliegende Beitrag basiert auf einem Kapitel meiner Dissertationsschrift, die 2014 am Fachbereich Geschichte und Soziologie der Universität Konstanz eingereicht wurde. 1 Karl Marx: Debatten über Preßfreiheit und Publikation der Landständischen Verhandlungen [1842], in: Ders.lFriedrich Engels: Werke, 44 Bde., Berlin (Dietz) 1976, 1. Bd., S. 32. 2 Allgemeine Preußische Zeitung [anonymer Verfasser]: Buchbesprechung von Friedrich Engels "Die Lage der arbeitenden Klasse in England" [1845], in: Die Eigentumslosen. Der deutsche Pauperismus und die Emanzipationskrise in Darstellungen und Deutungen der zeitgenössischen Literatur, hg. v. earl Jantke/Dietrich Hilger, Freiburg i. Br. (Alber) 1965, S. 404. 3 Ebd., S. 407 f. 4 Ebd., S. 411. . 5 Ebd., S. 416. Kopie von subito e.V., geliefert für Universität Konstanz - KIM / Bibliotheksdienste (HSL9700002) 194 Johannes Scheu schädigt, die in ihrer "Übersichtlichkeit und [... ] Vollständigkeit"6 jede andere zeitgenössische Arbeit über das Wesen der Sozialen Frage in den Schatten stelle. Denn "was das Faktische betrifft", so der lobende Befund des regierungsnahen Presseorgans, habe man vor Engels' Werk "noch kein so [... ] reichhaltiges Buch über diesen Gegenstand zu Gesicht bekommen" 7. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts - hierfür sollten die obigen Textauszüge als Beispiel dienen - gewinnt die Evidenzkraft des Empirischen in den Auseinandersetzungen um die Soziale Frage einen Stellenwert, der im selben Maße immun wie auch überlegen gegenüber den Fallstricken jedweder Theoretisierung erscheint. Die Geburtsstunde der Soziologie wird gemeinhin mit Auguste Comtes positivistischem Gesellschaftsentwurf assoziiert, der letztlich - und dies meint: aller gegenteiligen Insistenz auf der Notwendigkeit empirischer Untersuchungen zum Trotz 8 - in die Abstraktionen geschichtsphilosophischer Gesetzmäßigkeiten hineinführt. Entlang der Armutskrise des 19. Jahrhunderts vollzieht sich demgegenüber ein Prozess, den Wolfgang Bonß treffend als die "Einübung des Tatsachenblicks" 9 beschreibt. Selbstverständlich entsteht dieser Tatsachenblick keineswegs aus dem epistemologischen Nichts heraus, sondern geht aus einer Vielzahl historischer Vorläufer - von denen Francis Bacons Empirismus nur einen der bekanntesten Marksteine darstellen dürfte - hervor. Gleichwohl sind es die in der Sozialen Frage sich widerspiegelnden Desintegrationseffekte der bürgerlich-industriellen Gesellschaft, vor deren Hintergrund dieser Tatsachenblick sein volles Potential zu entfalten beginnt. Ab den 1830er-Jahren steht die Erforschung der Armut vermehrt unter dem Ziel, ein direktes Wissen über die Lebensverhältnisse der Armen zu erlangen - ein Wissen, das in den abstrakten Theoriegebäuden der Sozialphilosophen keinen Platz finden kann. 11. Um einen vorläufigen Eindruck davon zu bekommen, in welchen Modi der Wirklichkeitsbeschreibung sich die sozialwissenschaftliche Tatsachenempirie am Ebd., S. 408. 7 Ebd. 8 In ihrem Anspruch als Königsdisziplin, so Comte, müsse die Soziologie zwar auf der empirischen Beobachtung sozialer Erscheinungen gründen. Jedoch sei eine "wahrhafte Beobachtung [... ] nur insoweit möglich, als sie durch irgendeine Theorie zuerst geleitet und schließlich erläutert wird. [... ] Es ist demnach vom wirklich wissenschaftlichen Standpunkt aus klar, daß jede isolierte, völlig empirische Beobachtung [... ] von Grund aus unzuverlässig ist" (Auguste Comte: Soziologie, 3 Bde., Jena (Fischer) 21923, Bd. 1: Der dogmatische Teil der Sozialphilosophie [1830-42], S. 304 f.). - Selbst dieser theoriegeleitete Empiriebegriff bleibt in Comtes Soziologie allerdings methodisch folgenlos. 9 Wolfgang Bonß: Die Einübung des Tatsachenblicks. Zur Struktur und Veränderung empirischer Sozialforschung, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1982. 6 Kopie von subito e.V., geliefert für Universität Konstanz - KIM / Bibliotheksdienste (HSL9700002) Wider den homme moyen 195 Gegenstand der Sozialen Frage konkretisiert, bietet sich erneut Engels' Frühschrift an, die in den Kompendien der Soziologiegeschichte nicht umsonst den Status einer Pionierarbeit der empirischen Stadt- und Sozialforschung genießt. Gleich zu Beginn des im Gegensatz zum restlichen Text auf Englisch verfassten Vorworts hebt Engels den exzeptionellen Erkenntniswert hervor, welchen er den aus einer persönlichen Erfahrung des Forschers vor Ort gewonnenen Informationen über die englische Arbeiterklasse beimisst: Working Men! [...) I have lived long enough amidst you to know something ab out your circumstances; I have devoted to their knowledge my most serious attention, I have studied the various official and non-official documents as far as I was able to get hold of them - I have not been satisfied with this, I wanted more than a mere abstract knowledge of my subject, Iwanted to see you in your hornes, to observe you in your everyday live, to chat with you on your condition and grievances, to witness your struggles [... ).10 Auffallend an diesem Zitat ist, dass Engels eine Herangehensweise an die Arbeiter- und Armenproblematik favorisiert, die - wenn auch anders akzentuiert in ihren Grundzügen mit der betont empiristischen Lesart seines Werks auf Seiten der konservativen Preußischen Zeitung korreliert. Ging es dort darum, den empirischen Faktenreichtum der Engel 'sehen Analyse von ihrer theoretischen Einfarbung loszulösen, so steht einem ,abstrakten Wissen' hier nun eine Beobachtung ,aus erster Hand' gegenüber, die genau jenen Faktenreichtum umso vollständiger anzuhäufen verspricht, je unvermittelter sich der Zugang des Sozialforschers zu seinem Analyseobjekt gestaltet. In Engels' während einer fast zweijährigen Forschungsreise durch die Industriezentren Englands verfolgtem Anspruch, das "englische Proletariat, seine Bestrebungen, seine Leiden und Freuden in der Nähe aus persönlicher Anschauung und persönlichem Verkehr kennenzulernen" 11, kommt eine erste Ausformung des empirischen Tatsachenblicks zum Vorschein, die Bernhard Kleeberg jüngst als "Ethnographie des Sozialen" 12 bezeichnet hat. Der Begriff der Ethnographie entsteht als Äquivalent zur Volkskunde bereits gegen Ende des 18 . Jahrhunderts. 13 Allerdings ist es erst die ethnologische Erforschung fremder Kulturzusammenhänge zu Beginn des 20. Jahrhunderts, infolge derer die Ethnographie ihre bis heute charakteristische methodologische Stoßrichtung erhält und sich - vornehm- Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England [1845], München (DTV) 1973, S. 3, Hv. i. O. 11 Ebd., S. 15. 12 Bernhard Kleeberg: Reisen in den Kontinent der Armut. Ethnographie des Sozialen im 19. Jahrhundert, in: Magie der Geschichten. Weltverkehr, Literatur und Anthropologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hg. v. Michael Neumann/Kerstin Stüssel, Konstanz (Konstanz University Press) 2011, S. 29-52. 13 Vgl. Wolfgang Kaschuba: Einfiihrung in die europäische Ethnologie, München (Beck) 2003, S. 21 ff. 10 'Friedrich Kopie von subito e.V., geliefert für Universität Konstanz - KIM / Bibliotheksdienste (HSL9700002) 196 Johannes Scheu lich durch die Stadt- und Subkulturstudien der Chicagoer Schule - als festes Analyseinstrumentarium der Soziologie etabliert. Diese "Entlehnungsthese" 14 vom Einfluss der modemen Ethnologie auf die soziologische Ethnographie besitzt eine wissenschaftshistorisch unleugbare Relevanz. Auf den folgenden Seiten gilt es allerdings aufzuzeigen, dass bereits in der frühsoziologischen Armutsdebatte ein im Kern ethnographischer Diskurs an Kontur gewinnt: Ab dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zeichnet sich in den Sozialwissenschaften eine Tendenz ab, innerhalb derer die direkte Beobachtung vor Ort, der enge Kontakt des Sozialforschers zu den Armen sowie schließlich auch seine aktive Teilnahme an ihrem Lebensalltag zu einer notwendigen Bedingung dafür wird, ein adäquates Wissen über die Soziale Frage zu erlangen. Insbesondere am letztgenannten Aspekt der persönlichen Involviertheit des Sozialforschers in den Untersuchungsgegenstand der Armut - eine Involviertheit, die als epistemischer Vorläufer der von Bronisaw Malinowski entworfenen Methode ,teilnehmender Beobachtung' 15 gelten darf - lässt sich veranschaulichen, auf welche sowohl zögerliche als auch kontinuierliche Weise sich die frühsoziologische Armutsethnographie im Verlauf des 19. Jahrhunderts entwickelt. So findet sich das Erkenntnispostulat, wonach ein Armutsforscher selbst am eigenen Leib erfahren müsse, was es heißt, als "Armer unter Armen" 16 zu leben, erstmalig durch den britischen Journalisten und Schriftsteller James Greenwood in die empirische Tat umgesetzt. Mit viel Akribie als "casual pauper" 17 verkleidet, verbrachte Greenwood eine - wohlgemerkt: nur eine - Nacht im Armenhaus des Londoner Stadtteils Lambeth, mit dem Ziel "to learn by actual experience how casual paupers are lodged and fed, [... ] and how the night passes with the outcasts whom we have all seen crowding about workhouse doors on cold and rainy evenings" 18. Zwar bilde, so legitimiert Greenwood sein Vorhaben, die Armutsfrage den Gegenstand zahlreicher sowohl politischer als auch wissenschaftlicher Erörterungen. Ein Desiderat in diesen Debatten stelle bislang jedoch der unvoreingenommene Erfahrungsbericht eines Individuums dar, das "with no motive 14 Rolj Lindner: Die Entdeckung der Stadtkultur. Die Geburt der Soziologie aus der Erfahrung der Reportage, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1990, S. 11. 15 Das ethnographische Forschungsparadigma der ,teilnehmenden Beobachtung' skizziert Malinowski erstmals im Einleitungskapitel seines im Jahre 1922 erschienenen Pionierwerks Argonauts of the Western Pacific. Der Begriff der "Participant Observation" selbst geht indes auf den Soziologen Eduard C. Lindemann - einem Vertreter der Chicagoer Schule - zurück, der diesen 1924 in die wissenschaftliche Diskussion einführte. 16 Rolj Lindner: Ganz unten. Ein Kapitel aus der Geschichte der Stadtforschung, in: Ganz unten. Die Entdeckung des Elends, hg. v. Wemer M. Schwarz et al., Wien (Brandstätter) 2007, S. 23. 17 James Greenwood: A Night in a Workhouse [1862], in: Into Unknown England 1866-1913. Selections from the Social Explorers, hg. v. Peter J. Keating, Manchester (Manchester University Press) 1976, S. 34. 18 Ebd. Kopie von subito e.V., geliefert für Universität Konstanz - KIM / Bibliotheksdienste (HSL9700002) Wider den homme moyen 197 but to learn and make known the truth, had ventured the experiment of [... ] trying what it actually is to be a ,casual ,,<1 9 • Dass eine solche Authentizitätssuche gerade in ihren wissenschaftshistorischen Anfängen weit eher die Züge einer ethnographischen ,Geste' denn einer ausformulierten Methode trägt, liegt auf der Hand. So ist die sozialempirische Absicherung im subjektiven Selbsterleben der Armut bei Greenwood nicht allein Ausdruck eines auf Wirklichkeitsbeschreibung abzielenden Wissensdrangs. Sie fungiert zugleich als Bestandteil einer diskursiven Dramatisierungsstrategie, die einer ethnographischen Programmatik sogar insofern zuwiderläuft, als sie die Ergebnisse der empirischen Analyse bereits im Vorfeld vorwegzunehmen tendiert. 2o Denn in ihrer Kluft zur bürgerlichen Welt erscheint die pejorative Andersartigkeit der Armut noch zu sehr als unhinterfragbare Realität, die es im Modus ,teilnehmender Beobachtung' lediglich nachträglich aufzudecken sowie im Verweis auf den eigenen Erfahrungshorizont endgültig zu zementieren gilt. Der dramatische Höhepunkt von Greenwoods Augenzeugenbericht wird daher auch an genau jenen Stellen erreicht, an denen er seinen Lesern immer wieder aufs Neue versichert, gerade nicht in Worte fassen zu können, was sich in jener Nacht an Abscheulichem zugetragen habe: "No language with which I am acquainted is capable of conveying an adequate conception of the spectac1e I [... ] encountered"21; zumal "the detail of horrors,,22, denen sich Greenwood beizuwohnen gezwungen sah, wohl kaum dem moralischen Befinden seiner Leserschaft zugemutet werden könne. Es wird daher noch einige Jahrzehnte dauern, bis sich im Feld der jungen Sozialwissenschaft die erste, in empirisch seriöser Weise auf einer ,teilnehmenden Beobachtung' basierende Untersuchung zur Armutsfrage ausbilden wird: Paul Göhres 1891 erschienene Feldstudie Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Mit dem anfangs gänzlich unsoziologischen Ziel, als Theologiestudent inkognito zur christlichen Läuterung des Industrieproletariats beizutragen, gab sich Göhre fiir rund drei Monate als Lehrling in einer Chemnitzer Werkzeugmaschinenfabrik aus, mietete sich fiir diese Zeit als "Schlafbursche,,23 in der Wohnung einer Arbeiterfamilie ein und verbrachte den Großteil seiner Ebd. - Greenwoods Ansatz, der von einigen seiner Zeitgenossen als so wagemutig empfunden wurde, dass man ihm für seine vermeintliche Wahnsinnstat das VictoriaKreuz zu verleihen einforderte, begründet das Forschungsgenre der ,verdeckten Rollenbeobachtung' , welches spätestens mit den Arbeiten Max Winters zu einem Kernbestandteil der Sozialreportage avancierte. Vgl. hierzu einfiihrend Hannes Haas: Empirischer Journalismus. Verfahren zur Erkundung gesellschaftlicher Wirklichkeit, Wien (Böhlau) 1999. . 20 Vgl. Lindner [Anm. 16], S. 22. 21 Greenwood [Anm.17], S. 37. 22 Ebd., S. 54. 23 Paul Göhre: Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Eine praktische Studie, Leipzig (Grunow) 1891, S. 11. 19 Kopie von subito e.V., geliefert für Universität Konstanz - KIM / Bibliotheksdienste (HSL9700002) 198 Johannes Scheu Freizeit mit seinen Arbeitsgenossen, um schließlich in den späten Abendstunden seine Erlebnisse zu Papier zu bringen. Wie in einem Brennglas bündelt sich in Göhres Argumentation jene Evidenzkraft des Empirischen, von der eingangs in Bezug auf die Entstehung des Tatsachenblicks die Rede war: Seit Jahren fiir das Studium der sozialen Frage [... ] erwärmt, war es vor allem eines, was mich bisher einen klaren Blick, ein sicheres Urteil, einen festen Haltepunkt zu gewinnen immer wieder verhinderte: die zu geringe Kenntnis der Wirklichkeit, der thatsächlichen Lage derer, um derentwillen wir eine soziale, eine Arbeiterfrage haben. Zwar giebt es eine reiche Litteratur [sie]. Aber wer verbürgte mir die Richtigkeit der gegebenen Darstellungen? Wo ist die Wahrheit? [... ] Und eben das war es, was ich vor allem wissen wollte [... ]: die volle Wahrheit über die Gesinnung der arbeitenden Klassen, ihre materiellen Wünsche, ihren geistigen, sittlichen, religiösen Charakter. Wie aber ergründen, was sich so gerne dem forschenden Auge entzieht? Das beste, geradeste, wenn auch nicht eben bequemste war, wenn ich selbst unerkannt unter die Leute ging, mit eignen Ohren hörte und mit eignen Augen sah, wie es unter ihnen steht, ihre Nöte, ihre Sorgen, ihre Freuden, ihr tägliches einförmiges Leben selbst miterlebte [... ]. Das alles konnte ich nur an der Quelle, selbst Arbeiter unter Arbeitern, erfahren. Also - heran an die Quelle!24 Die mitunter heftige Kritik, die in bürgerlichen und kirchlichen Kreisen an Göhres Feldstudie geübt wurde - da sein ausschließlich auf die Selbstwahrnehmung der Arbeiter gerichtetes Forschungsinteresse wohl kaum dazu imstande sei, neue und glaubhafte Erkenntnisse über die Soziale Frage zutage zu fördern -, verrät einiges über den Legitimierungsdruck, dem sich die Armutsethnographie selbst noch im ausgehenden 19. Jahrhundert ausgesetzt sah. Dass es gleichwohl niemand anderes als Max Weber war, der Göhres Methode einer "örtliche[n] autoptische[n] Recherche,,25 vehement gegen den Vorwurf wissenschaftlicher Unseriösität verteidigte und zusammen mit Göhre in den Folgejahren eine empirisch-qualitative Untersuchung zur Lebenslage der Landarbeiter in Angriff nahm, verdeutlicht zugleich die Relevanz, die jene Ausformung des Tatsachenblicks im Methodenrepertoire der Sozialwissenschaften einzunehmen begann. 26 111. Die ethnographische Perspektive stellt jedoch nur eine, und überdies die im 19. Jahrhundert keineswegs dominierende Ausprägung des empirischen Tatsachen24 Ebd., S. 2 f. 25 Max Weber: Zur Rechtfertigung Göhres [1892], in: Ders.: Gesamtausgabe, Bd. 4/1, hg. v. Wolfgang Mommsen, Tübingen (Mohr Siebeck) 1993, S. 111. 26 Göhres Buch markiert hierbei nur den Beginn einer Vielzahl ethnographischer Studi~n zur Sozi~len Frage, die - um nur zwei prominente Beispiele zu nennen - von Mmna Wettstem-Adelts 3 1h Monate Fabrikarbeiterin [1893] bis zu Adolf Levensteins Die Arbeiterfrage [1912] reichen. Vgl. in diesem Zusammenhang Anthony OberschalI: Empirische Sozialforschung in Deutschland 1848-1914, Freiburg i. Br.lMünchen (A1ber) 1997. Kopie von subito e.V., geliefert für Universität Konstanz - KIM / Bibliotheksdienste (HSL9700002) Wider den homme moyen 199 blicks dar. Ihren wissenschaftlichen Gegenpol bildet die Statistik, welche auf der Schwelle zum 19. Jahrhundert ihren deskriptiven, maßgeblich durch die Göttinger ,Universitätsstatistik' geprägten Disziplincharakter verliert, um fortan als Zahlenstatistik für sich den Rang einer am naturwissenschaftlichen Objektivitätsniveau orientierten Wissenschaft zu beanspruchen. Bei der "alten" und "neuen" Statistik, so schreibt bereits Carl Knies in seiner im Jahre 1850 publizierten Grundlagenschrift Die Statistik als selbstständige Wissenschaft, "steht sich gegenüber die mit Worten zu beschreibende Thatsache und das von der Zahl begleitete Datum, die Schilderung mit der Phrase und das exacte Maß der Ziffer, das Bild, das Gemälde mit seinem allgemeinen Umriß und der exacte Calcul,,27. Wie Knies weiter betont, will die neue Zahlenstatistik "nichts der subjektiven Anschauung,,28 überlassen; sie will "überall objective Beweise geben [... ], nirgends ein unbewiesenes Dogma anerkenn [en], niemals eine blos subjective Überzeugung hervorrufen" 29. Und es ist genau dieser Anspruch, der im Primat des Numerischen empirisch abgesichert erscheint: Die exacte Genauigkeit, die nur der exacten Zahlenangabe inne wohnt [... ] ist notwendig, weil nicht eine allgemeingehaltene und deshalb immer ungenaue Schilderung und Beschreibung erzielt wird, sondern ein exactes Facit, in dem jedes unexacte Element Störung und Unrichtigkeit hervorbringt. [... ] Das Wort ist auch hier Vermittler der Schlüsse aus den exacten Angaben [... ]. Die fundamentalen Thatsachen, die Argumentationen und Beweise, die letzten Ergebnisse und Schlüsse sind und bleiben [aber] exacter Natur und weisen jeden Gedanken an eine Beschreibung mit der Wortphrase [ ... ] zurück. 30 In den Auseinandersetzungen um die Soziale Frage nimmt die Ethnographie eine wissenschaftsgeschichtliche PeripheriesteIlung ein. Sie wird überschattet vom hegemonialen Aufstieg der statistischen ,/act-and-figures-men"31, jener wie es auf Seiten der Göttinger Schule abschätzig hieß - "Tabellenfabrikanten und Tabellenknechte,,32, deren Anspruch in einer sowohl ausschließlichen wie erschöpfenden "Quantifizierung sozialer Wirklichkeit,,33 bestand. Die sozialernpirische Initialzündung zur statistischen Erschließung der Armut liefert hierbei der Mediziner James Phillips Kay, dessen 1832 publizierte Studie The Moral and Physical Condition 01 the Working Classes Employed in the Cotton Manulacture , 27 earl Knies: Die Statistik als selbstständige Wissenschaft. Zur Lösung des Wirrsals in der Theorie und Praxis dieser Wissenschaft, Kassel (Luckhardt) 1850, S. 84. 28 Ebd., S. 142. 29 Ebd., S. 148. 30 Ebd., S. 148 ff. 31 Wolf Lepenies: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, Frankfurt a. M. (Suhrkamp), S. 145, Hv. i. O. 32 Göttingisehe Gelehrte Anzeigen, zit. n. Horst Kern: Empirische Sozia1forschung. Ursprünge, Ansätze, Entwicklungslinien, München (Beck) 1982, S. 69. 33 Bonß [Anm. 9], S. 66. Kopie von subito e.V., geliefert für Universität Konstanz - KIM / Bibliotheksdienste (HSL9700002) 200 Johannes Scheu in Manchester in den Folgejahren eine Vielzahl wissenschaftlicher Monographien und staatlicher Sozial enqueten beeinflussen wird. Im Phänomen des Pauperismus, so leitet Kay seine Untersuchung ein, habe das Ausmaß der "physical and moral evils" 34 eine solche Drastik erreicht, dass die Sozialwissenschaft, wollte sie einen tatsächlichen Beitrag zur Linderung jener Übel leisten, sich nicht mehr im vorschnellen Aufstellen von "general conc1usions,,35 genügen dürfe. Vielmehr sei sie nun vor die Herausforderung "of minutely investigating the state of the working c1asses" 36 gestellt - und allein die Statistik gebe ihr ein geeignetes methodisches Mittel zur Hand, um dieses Ziel zu erreichen. In den bisherigen Erörterungen der Sozialen Frage werde im Bestfall nur eine "approximation to truth,,37 zu Stande gebracht. Selbst die gelungenste Annäherung aber falle in ihrem wissenschaftlichen Wert weit hinter die empirische Schlagkraft jener "results [... ] so minutely accurate [... ] of the state of the poor" 38 zurück, die laut Kay im Rahmen einer statistischen Untersuchung gewonnen werden können. Im Wissen um die Statistik als der im 19. Jahrhundert vorherrschenden Form der sozialwissenschaftlichen Tatsachenempirie gilt es nochmals zum exemplarischen Ausgangspunkt des vorliegenden Beitrags zurückzukehren. Denn auch Engels gewinnt den Großteil seines empirischen Materials gerade nicht auf dem Wege einer direkten Beobachtung der Armutszustände vor Ort, sondern über die Sekundärauswertung und Kompilation etlicher statistischer Erhebungen. In den "voluminous reports,,39, so Engels, die ein halbes Dutzend staatlicher Untersuchungskommissionen in den Jahren zuvor angefertigt habe, seien im Prinzip alle relevanten Fakten zur Sozialen Frage bereits enthalten. Aus der eklatanten Unüberschaubarkeit dieser Faktenfülle wolle er deshalb "a single readable book,,4o zusammenstellen, das einen prägnanten Überblick über die Lage der englischen Arbeiterklasse zu geben imstande sei. Engels' Studie bleibt somit auf weiten Strecken dem statistischen Obj ektivitätsideal des 19. Jahrhunderts verhaftet. Entgegen seiner eingangs zitierten Forschungsmaxime, wonach er sich nicht mit dem ,abstrakten Wissen' der von ihm gesichteten Dokumente zufrieden gebe, ist Engels' Werk schlussendlich "ganz und gar davon durchdrungen [... ], die Wahrheit 34 James Phillips Kay: The Moral and Physical Condition of the Working Classes employed in the Cotton Manufacture in Manchester, London (Ridgway) 1832, S. 3. 35 Ebd., S. 5. 36 Ebd., S. 1. 37 Ebd., S. 5. 38 Ebd. 39 Engels [Anm. 10], S. 4. 40 Ebd. Kopie von subito e.V., geliefert für Universität Konstanz - KIM / Bibliotheksdienste (HSL9700002) Wider den homme moyen 201 über die ,proletarischen Zustände' mit Hilfe von reliablen Zahlen [... ] zu liefern,,41. Entscheidend ist jedoch, dass sich im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts am Gegenstand der Sozialen Frage die Grundlage für einen ethnographischen Diskurs auszubilden beginnt; eine Grundlage, die - wie bei Engels - am Beginn ihrer Entstehung nur allzu häufig wieder unter einer Zahlenlawine statistischer Faktenbeweise verschüttet wird. Bereits Kay, dessen Studie Engels im Übrigen als "vortreffiich,,42 lobt, stellt seiner Präsentation von "statistical evidence[s]"43 eine gleichsam untergeordnete Kollektion von "other facts,,44 zur Seite, an die er über eine "personal observation,,45 der Lebens- und Arbeitsverhältnisse seines Untersuchungsobjekts gelangt sei. Auf welche Weise aber vollzieht sich der Fundierungsprozess dieser ,other facts' im Feld der jungen Sozialwissenschaft? Mit welchen Argumenten und entlang welcher Problemstellungen wird innerhalb der frühsoziologischen Armutsdebatte ein Begriff sozialer Fakten legitimiert, dessen Empiriebezug sich konträr zum hegemonialen Quantifizierungsdrang der Statistik verhält? Dass - wie an den Schriften von James Greenwood oder Paul Göhre veranschaulicht wurde - der Großteil prototypischer Ethnographien im 19. Jahrhundert aus der Feder von Journalisten und Laiensoziologen stammt, stellt einen wissenschaftshistorischen Sachverhalt dar, der in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit erfahren hat. 46 In Anbetracht der bisherigen Ausführungen liegt die Vermutung nahe, dass sich das Potential einer ethnographischen Beobachtung der Armut nicht zuletzt deshalb im Journalismus zu entfalten imstande war, weil sich die Sozialreportage im Gegensatz zur empirischen Sozialwissenschaft in einem weitaus geringeren Maße dem Objektivitätsimperativ des Numerischen ausgesetzt sah. Die Instituierung des ethnographischen Blicks innerhalb der jungen Soziologie des 19. Jahrhunderts bleibt im Gegensatz hierzu durch eine auffällige Defensivhaltung geprägt, sich in einer Art epistemologischer Bringschuld fortwährend gegenüber der Statistik rechtfertigen zu müssen. Engels' Methodenmixtur, sein "disciplinary hodgepodge,,47 aus persönlichen Erlebnisschilderungen ei- 41 Matthias Bohlender: , ... um die liberale Bourgeoisie aus ihrem eignen Munde zu schlagen'. Friedrich Engels und die Kritik im Handgemenge, in: Marx-Engels-Jahrbuch 2007, S. 23. 42 Erzgels [Anm. 10], S. 69. 43 Kay [Anm. 34], S. l. 44 Ebd., S. 6. 45 Ebd. 46 Zur Bedeutung des Journalismus für die Entwicklung der Ethnographie siehe insbesondere die wegweisende Untersuchung von Lindner [Anm. 14]. 47 Mary Poovey: Anatomical Realism and Social Investigation in Early NineteenthCentury Manchester, in: Dies.: Making a Social Body. British Cultural Formation, 1830-1864, Chicago (University of Chicago Press) 1995, S.78. Kopie von subito e.V., geliefert für Universität Konstanz - KIM / Bibliotheksdienste (HSL9700002) 202 Johannes Scheu nerseits sowie statistischen Belegen andererseits zeugt in dieser Hinsicht nicht etwa von einer sozial empirischen Inkonsequenz. Vielmehr gibt seine Frühschrift einen Einblick in eine Epoche der empirischen Soziologie, in der nahezu jedes Unterfangen, ein nicht zahlenförmiges Wissen über die Soziale Frage zu generieren, letztendlich doch wieder im Numerischen eine im selben Maße vertraute wie standardisierte Rückabsicherung sucht. Gerade deshalb gilt es aber, die Tiefenstruktur des ethnographischen Empiriebezugs nicht für sich allein, sondern in einem konstitutiven Spannungsfeld zur Statistik zu explorieren. Im Vergleich zur Statistik zielt die Ethnographie auf eine gänzlich andere Variante wissenschaftlicher Objektivität ab. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - und auf dieses soziologiehistorische Moment gilt es nun den Fokus zu legen - löst sich die Armutsethnographie dabei zunehmend von der Rolle eines empirisch minderwertigen Komplements zur Statistik los, indem sie methodologisch auf den statistischen Dominanzanspruch reagiert und sich als explizites Gegenprogramm zur quantifizierenden Erfassung des Sozialen in Stellung bringt. Die Geschichte der Ethnographie ist von jener der Statistik nicht zu trennen. Im selben Maße nämlich, wie die numerische Statistik über die ,Universitätsstatistik' des 18. Jahrhunderts obsiegt, provoziert sie im Gegenzug neue Ansätze einer deskriptiven Beobachtungswissenschaft, deren Akzent nunmehr auf genau jenen Aspekten des Sozialen liegt, die in den Zahlentabellen der Statistiker keine Berücksichtigung finden. Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen steht ein Werk der jungen Sozialwissenschaft, in dem sich - so soll behauptet werden diese produktive Konfliktbewegung zum ersten Mal in systematischer Weise vollzieht: Frederic Le Plays sozial empirische Studie Les ouvriers europeens. v. Im Frühjahr 1829 begibt sich der 23-jährige Mineralogiestudent Frederic Le Play zusammen mit einem befreundeten Kommilitonen der Pariser Ecole polytechnique, dem angehenden Bergbauingenieur und Philosophen Jean Reynaud, auf eine rund 7.000 Kilometer lange Studienreise durch den Harz, Sachsen, die Rheinprovinz, Westfalen, Belgien und die Niederlande. In erster Linie als Untersuchung zu den verschiedenen Techniken des Bergbaus und Hüttenwesens geplant, stand die Unternehmung beider Studenten zugleich unter dem Ziel, eine tiefere Kenntnis über die question sodale und damit über die mit dem Industrialismus heraufziehenden "desordres sociaux que l'humanite n'avait jamais connus,,48 zu erlangen. Wie Le Play in seinen autobiographischen Notizen festhält, hatten insbesondere die etlichen Streitgespräche mit Reynaud - einem begeisterten Saint-Simonisten - in ihm den Wunsch geweckt, selbst einmal einen direkten 48 Frederic Le Play: Les ouvriers europeens, Deuxieme edition, Torne 111: Les ouvriers du Nord, Paris (Tours) 1877-79, S. 350. Kopie von subito e.V., geliefert für Universität Konstanz - KIM / Bibliotheksdienste (HSL9700002) Wider den homme moyen 203 Blick auf die "condition des populations ouvrieres,,49 zu werfen. Im Rahmen ihrer gemeinsamen Reise verbrachte Le Play deshalb mehrere Tage bei einer Bergarbeiterfamilie aus dem Harz und verfasste in diesem Zusammenhang seine erste so genannte ,Familienmonographie': eine empirische Fallstudie, die er zusammen mit 35 weiteren Monographien aus weiten Teilen Europas schließlich 1855 unter dem Titel Les ouvriers europeens publiziert. Le Plays Werk ist innerhalb der Soziologiegeschichtsschreibung nahezu in Vergessenheit geraten. Dies mag nicht zuletzt an der besonders in seinem Spätwerk immer deutlicher zum Tragen kommenden christlichen Dogmatik liegen, welche bereits in der neuüberarbeiteten Zweitauflage der Ouvriers europeens von 1877 bis 1879 in eine regelrechte Beschwörung des biblischen Dekalogs hineinmündet - eine Dogmatik, angesichts derer schon Emile Durkheim zu dem vernichtenden Urteil gelangte, Le Plays Schriften den Rang des Wissenschaftlichen absprechen zu müssen. 50 Indes, eine solche Kritik wird dem Le Play'schen CEuvre nur zum Teil gerecht. Dies zum einen deshalb, da sich Les Ouvriers europeens im Unterschied zu anderen zeitgenössischen Untersuchungen zur Armutsproblematik durch eine substanzielle Ausweitung des analytischen Gegenstandsbereichs auszeichnet. Le Play zufolge berge die question sodale eine Komplexität und Erscheinungsvielfalt in sich, die mit den geläufigen "observations sommaires sur la zone manufacturiere,,51 nicht zu erfassen sei. Die innerhalb der Sozialwissenschaft des 19. Jahrhunderts so charakteristische Fokussierung auf Phänomene der städtisch-industriellen Armut dehnt Le Play auf ein Untersuchungsspektrum mannigfacher sowie geographisch weitgestreuter Arbeits- und Armutsformen aus: ein Spektrum, das so unterschiedliche Bevölkerungsgruppierungen wie Handwerker aus dem Ural, Bulgarien oder Schweden, spanische und russische Bauern, Schweizer Uhrmacher und Pariser Lumpensammler umfasst. Le Play nimmt damit eine soziale Welt in den Blick, die von der frühen Soziologie weitgehend unberührt blieb. 52 Im Zuge dieser gegenstandsbezogenen Neuorientierung unternimmt Le Play in Les ouvriers europeens zum anderen den Versuch, die Erforschung der Sozialen Frage über das methodische Instrumentarium einer Detailbeobachtung von repräsentativen Einzelfällen zu begründen. Seine so genannte "methode d' observa- 49 Frederic Le Play: Les Ouvriers europeens. Etudes sur les travaux, la vie domestique et la condition morale des populations ouvrieres de l'Europe precedees d'un expose de la methode d'observation, Paris (Tours) 1855, S. 12. 50 Vgl. Emile Durkheim: La sociologie en France au XIXe siecle [1900], in: Ders.: La science sociale et I'action, Paris (Presses Univ. de France) 1970, S. 133. 51 Le Play [Anm. 49], S. 12. 52 Vgl. Hans Zeisel: Zur Geschichte der Soziographie [1933], in: Marie Jahoda/Paul F. Lazarsfeld/Hans Zeisel: Die Arbeitslosen von MarienthaI. Ein soziographischer Versuch, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1975, S.123. Kopie von subito e.V., geliefert für Universität Konstanz - KIM / Bibliotheksdienste (HSL9700002) Johannes Scheu 204 tion,,53 bleibt hierbei zunächst vollständig am objektivistischen Wissensideal des 19. Jahrhunderts orientiert. Wie Le Play mit einem kritischen Seitenhieb auf Comtes sozialphilosophische Begründung der Soziologie argumentiert, sei die junge "science sociale" 54 bislang noch mit der naturwissenschaftlichen Forschung vergangener Jahrhunderte zu vergleichen, innerhalb derer "la description et le classement des phenomenes tenaient peu de place: ils etaient [... ] subordonnes a quelque idee concue apriori, a quelque theorie fondee sur un fait saillant, mais incompletement observe" 55. Im selben Maße, in dem das Theorieprimat der frühen Naturwissenschaft im Laufe ihrer Geschichte einem konsequenten Interesse an exakten Analyse- und Messverfahren gewichen sei, müsse deshalb nunmehr auch die Sozialwissenschaft den Übergang hin zu einer ausschließlich empiriegeleiteten Beobachtungswissenschaft der "faits sociaux,,56 vollziehen. Zugleich aber ist es die dezidierte Ausrichtung am Einzelfall, mit der Le Play seine methode d'observation in scharfen Kontrast zur Statistik und damit zu jener Methode stellt, welche im sozialempirischen Kontext des 19. Jahrhunderts nicht weniger als den Ruf des "zentrale[n] Objektivitätsgarant[en] schlechthin,,57 genoss. Les ouvriers europeens erscheint über weite Strecken geradezu als eine direkte Gegenreplik auf jenes statistische Werk, mit dem sich in den 1830er-Jahren der disziplinäre Durchbruch der Zahlenstatistik endgültig vollzieht: Adolphe Quetelets Physique sociale. Mit Quetelet etabliert sich die Statistik als eine Wissenschaft vom Sozialen, innerhalb derer das Soziale allein im Rahmen einer quantifizierenden Massenbeobachtung in Erscheinung tritt. Und es ist die im statistischen Massenkonzept getilgte Partikularität und Detailfiille des Einzelfalls, welche Le Play ins Zentrum seiner Familienmonographien rückt. VI. Anfang der 1820er-Jahre gelingt es dem belgischen Mathematiker und Astronomen Quetelet, das niederländische Bildungsministerium vom Bau einer Sternwarte - dem späteren Observatoire Royale de Belgique - zu überzeugen. Quetelet reist infolge dieser finanziellen Bewilligung für einige Monate nach Paris, um sich dort mit den neuesten Beobachtungstechniken der Astronomie vertraut zu machen. Über Alexis Bouvard, den Leiter des Pariser Observatoriums, wird Quetelet während seines Forschungsaufenthalts in den Intellektuellenkreis um die 53 Frederic Le Play: Instruction sur la methode d'observation dite des monographies de familles propre a l'ouvrage intitule ,Les Ouvriers europeens', Paris (Tours) 1862. 54 Le Play [Anm. 49], S. 10. - Die Opposition zur Sozialphilosophie Comtes scheint letztlich auch der Grund dafür zu sein, dass Le Play den Begriff der Soziologie an keiner Stelle seines Werks in sein analytisches Vokabular übernimmt. 55 Ebd., Hv. i. O. 56 Ebd. 57 Bonß [Anm. 9], S. 83. Kopie von subito e.V., geliefert für Universität Konstanz - KIM / Bibliotheksdienste (HSL9700002) Wider den homme moyen 205 Mathematiker Joseph Fourier und Pierre-Simon Laplace eingeführt; und kommt in diesem Zusammenhang mit der modemen Wahrscheinlichkeitsrechnung in Kontakt. Insbesondere Laplace hatte in seinen Schriften bereits den Nutzen der Probabilitätstheorie für die Erforschung sozialer Phänomene betont. s8 Nach seiner Rückkehr aus Paris knüpft Quetelet an genau diese von Laplace skizzierte "Mathematisierung des Sozialen"s9 an - und veröffentlicht im Jahre 1835 schließlich sein Hauptwerk Sur I 'homme et le developpement de ses facultes, ou essai de physique sodale. 60 Wenngleich Quetelet von der Existenz etlicher sozialer Gesetze überzeugt ist, sind es im Wesentlichen nur drei "gesellschaftliche [... ] Erscheinungen" 61 , die er im Begriff der ,Moralstatistik' einer probabilistischen Analyse unterzieht: die Heirat, der Selbstmord und das Verbrechen. Auf den ersten Blick, so Quetelet, komme in all diesen Phänomenen eine zutiefst individuelle Dimension zum Ausdruck, die im "freie[n] Wille[n] des Menschen,,62 begründet liege. So zufällig und - im doppelten Wortsinn - unberechenbar jedoch etwa der Hang zum Verbrechen in einem einzelnen Individuum ausgeprägt sein mag, en masse betrachtet hafte der Kriminalität eine überraschende numerische Konstanz an, die fernab des isoliert Individuellen auf eine eigene, eben soziale Qualität dieses Phänomens verweise: In allem, was auf die Verbrechen Bezug hat, wiederholen sich dieselben Zahlen mit solcher Beharrlichkeit, dass man sie unmöglich verkennen könnte [... ]. Wir können im voraus aufzählen, wieviele ihre Hände mit dem Blute ihrer Mitmenschen besudeln werden, wieviele Fälscher, wieviele Giftmischer es geben wird [... ]. Die Gesellschaft birgt in sich die Keime aller Verbrechen, die künftig begangen werden. Sie ist es gewissermaßen, die sie verbreitet, und der Schuldige ist nur das ausführende Werkzeug. 63 Quetelet spricht der Gesellschaft ein im selben Maße autonomes wie gesetzmäßiges Eigenleben zu, das schlussendlich nichts mehr mit der offenkundig 58 Vgl. exemplarisch Pierre Simon Laplace: Sur les probabilites [1795], in: Ders.: CEuvres completes, Tome 14, Paris (Gauthier-Villars) 1912, S.146-177. 59 Petra Gehring: Sprache und Wirklichkeitsmacht der Bevölkerungsstatistik, in: Das bunte Gewand der Theorie. Vierzehn Begegnungen mit philosophierenden Forschern, hg. v. Alfred Nordmannl Astrid Schwarz, Freiburg i. Br./München (Alber) 2009, S. 96. 60 Erst in der stark erweiterten Zweitauflage von 1869 - der die im Folgenden angeführten Zitate entnommen sind - setzt Quetelet den Terminus Physique sodale betont an den Anfang des Buchtitels. Bekanntlich hatte auch Comte zur Bezeichnung seines positivistischen Forschungsprogramms den Ausdruck ,Sozialphysik' im Sinn, sah sich in gewollter Abgrenzung zu Quetelet dann jedoch auf den Begriff der Soziologie auszuweichen gezwungen. 61 Adolphe Quetelet: Zur Naturgeschichte der Gesellschaft, Hamburg (Hoffmann und Campe) 1856, S. 71. 62 Adolphe Quetelet: Soziale Physik. Abhandlung über die Entwicklung und Fähigkeiten des Menschen, 2 Bde., 2. Bd., Jena (Fischer) 1921, S. 327. 63 Ebd., 1. Bd., S. 105 ff. Kopie von subito e.V., geliefert für Universität Konstanz - KIM / Bibliotheksdienste (HSL9700002) Johannes Scheu 206 "unregelmäßige[n] und launenhafte[n],,64 Handlungswelt der Individuen gemein habe. Um vom Wirrsal des Individuellen zur Regelhaftigkeit des Sozialen vorzudringen, müsse die Statistik demnach einen konstitutiven Abstand zu den Nuancen und Irregularitäten des individuellen Lebens gewinnen, da sie erst unter dieser Voraussetzung die geordneten Gesamtzusammenhänge des Sozialen aufzudecken imstande sei. Wie Quetelet anband einer seiner zahlreichen visuellen Metaphern verdeutlicht, wird die Blindheit rur das Individuelle zum erkenntnistheoretischen Preis, der rur die Inblicknahme der Gesellschaft entrichtet werden muss: So würde [... ] derjenige, welcher einen kleinen Abschnitt einer auf einer Fläche gezogenen sehr großen Kreislinie zu nahe prüfen würde, in diesem Bruchteil nichts weiter sehen, als eine bestimmte Menge materieller Punkte, die mehr oder weniger bizarr, [... ] wie von ungefähr vereinigt sind. Aus größerer Entfernung würde sein Auge eine größere Anzahl Punkte überblicken, die er bereits regelmäßig auf einen Bogen von bestimmter Ausdehnung verteilt sehen würde; noch weiter zurücktretend, würde er bald keinen von ihnen mehr einzeln sehen, aber er würde das Gesetz begreifen, nach dem sie im Allgemeinen angeordnet sind [... ]. Es wäre sogar denkbar, daß die verschiedenen Punkte der Kurve, an statt materielle Punkte zu sein, kleine beseelte Wesen wären, die in einer eng umgrenzten Sphäre nach freiem Willen handeln könnten, ohne daß diese spontanen Bewegungen wahrnehmbar wären, sobald man in richtiger Entfernung stände. Auf diese Art werden wir die die menschliche Gattung betreffenden Gesetze untersuchen, denn wenn wir sie aus zu großer Nähe betrachten, wird es unmöglich, sie zu erfassen, und es fallen einem dann nur die zahllosen individuellen Besonderheiten auf. 65 Die ,richtige Entfernung' der Beobachtung, von der im obigen Textausschnitt die Rede ist, korreliert in Quetelets Konzept mit dem statistischen ,Gesetz der großen Zahl', welches im Kern besagt, dass ein Zufallsereignis sich umso mehr dem mathematisch berechenbaren Mittelwert einer Wahrscheinlichkeitsverteilung annähert, je häufiger dieses Ereignis stattfindet. Und es ist eben diese Differenz zwischen Singularität und Häufigkeit, Zufall und Wahrscheinlichkeit, welche Quetelet in die Unterscheidung von Einzel- und Massenbeobachtung übersetzt. "Wenn wir", so schreibt er, "zur Erkenntnis der allgemeinen Gesetze gelangen wollen [... ], müssen wir eine hinreichende Anzahl von Beobachtungen vereinigen, damit alles rein Zufällige daraus ausgeschieden werde" 66. Die Statistik habe den Menschen von "seiner Individualität [zu] entkleiden,,67 und ihn vielmehr allein unter einem bestimmten sozialen Gesichtspunkt als numerischen Bruchteil der "ganze[n] menschliche[n] Gesellschaft,,68 zu betrachten. Innerhalb von Quetelets Physique sociale kommt das einzelne Individuum somit nicht vor; es findet 64 65 66 67 68 Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., S. 103. S. 104. S. 105. S. 103. S. 142. Kopie von subito e.V., geliefert für Universität Konstanz - KIM / Bibliotheksdienste (HSL9700002) Wider den homme moyen 207 sich immer schon in der mathematischen Figur des so genannten homme moyen aufgelöst: ein "abstrakte[s] Wesen,,69~ welches in sich alle Durchschnitts- und Massenwerte einer Gesellschaft vereint - und damit letztlich die Gesellschaft selbst verkörpert. VII. Während Quetelet seine statistischen Untersuchungen stets "über eine größere Anzahl von Individuen" ausweitet, da sich nur auf diese Weise die "constanten [sic] und veränderlichen Ursachen~ die das Gesellschafts-System beherrschen, erkennen,,7o ließen, so ist Le Play ebenfalls vom Vorkommen sozialer Gesetzmäßigkeiten überzeugt, kehrt die Argumentation Quetelets zugleich jedoch ins genaue Gegenteil um. Das Studium des Sozialen setze nicht etwa eine Abstraktion von der Einzel- auf die Massenbeobachtung voraus: In der Familie als der kleinsten Einheit des Sozialen - der "veritable unite sociale,,71 - sei die Gesellschaft vielmehr induktiv in ihrer Gesamtstruktur ablesbar. Vor diesem Hintergrund entwirft Le Play in Les ouvriers europeens eine Typologie europäischer Arbeiterfamilien, im Fokus derer eben jene individuellen Besonderheiten des Lebens stehen, die es innerhalb der Statistik so vehement zu ignorieren gilt. Zwar sind hinsichtlich der Repräsentativität der von Le Play ausgewählten Arbeiterfamilien mitunter höchste Zweifel angezeigt. Sein unbedingter Glaube an die soziokulturellen Vorteile traditioneller Lebensformen scheint ihn besonders mit Blick auf verarmte Landregionen dazu verleitet zu haben~ die dortigen Verhältnisse betont positiv darzustellen und für diesen Zweck nur finanziell bessergestellte - und das heißt: sozial untypische - Familien einer Analyse zu unterziehen. In methodischer Hinsicht mindert diese empirische Unausgewogenheit jedoch nicht den zentralen Stellenwert des Einzelfalls, den Le Play in Abgrenzung zu Quetelets Physique sociale hervorzuheben versucht. Monographie und Statistik verhalten sich mithin in einer exakten epistemologischen Spiegelverkehrung zueinander: Während die Statistik die Wirksamkeit eines einzelnen sozialen Faktors unter numerischer Berücksichtigung einer Masse an Individuen untersucht, zielt Le Play mit seinen Monographien auf die möglichst vollständige Erfassung aller Einflüsse und Eigenschaften ab, die - in Gestalt der Familie - auf und für die einzelnen Individuen und ihre soziale Gesamtsituation bestimmend sind. "Contrairement au defaut", so schreibt er im impliziten Verweis auf Quetelet, "si general a notre epoque, qui consiste a traiter les questions sociales a un point de vue excluQuetelet [Aum. 61], S. 91. 70 Ebd., S. 72. 71 Le Play [Aum. 53], S.13. - Le Plays Interesse für das Phänomen der Familie bleibt hierbei freilich zuallererst dem christlich-konservativen Impetus seiner science sociale geschuldet, in dessen Folge er - mit einer für die Gesellschaftslehre des 19. Jahrhunderts durchaus verbreiteten Überzeugung - die Familie zum Kemelement allen sozialen Zusammenhalts erhebt. 69 Kopie von subito e.V., geliefert für Universität Konstanz - KIM / Bibliotheksdienste (HSL9700002) 208 Johannes Scheu sif, la methode des monographies embrasse, dans son ensemble, l'existence d'une , sous tous ses aspect s,,72 . f:amI·11e consl·d'eree Im Mittelpunkt des familienmonographischen Ansatzes steht zunächst das Haushaltsbudget: die Berechnung sämtlicher, von den Familienmitgliedern über ein Jahr hinweg getätigter Einnahmen und Ausgaben. "En effet", so begründet Le Play seine Budgetanalysen, "tous les actes qui constituent l'existence d'une famille d'ouvriers aboutissent, plus ou moins immediatement, a une recette ou a une depense. [... ] Souvent, en cette matiere, un seul chiffre dit plus qu'un long discours" 73. Der Zahlenenthusiasmus der jungen empirischen Sozialwissenschaft spiegelt sich bei aller Statistikaversion somit auch in Le Plays Methodik wider. Dem Gesetz der großen Zahl steht hier allerdings nun eine "Empirie der kleinen Zahl,,74 gegenüber. Trage man im Leben einer Arbeiterfamilie alle numerischen Fakten sorgfältig zusammen, so fördere dieses engumgrenzte Verfahren im Ergebnis einen sozialen Mikrokosmos zutage, der im Vergleich zu den abstrakten Durchschnittsfällen der Statistik einen weitaus konkreteren Eindruck, eine "evidence saisissante,,75 von den Problemdimensionen der Sozialen Frage vermitteln könne. Gottlieb Schnapper-Arndt - der gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum wohl bedeutendsten Anhänger Le Plays avanciere 6 - weist in diesem Zusammenhang auf einen betont sozialethischen Effekt der Le Play'schen Beobachtungsmethode hin, welcher in Le Plays eigenen Schriften weitgehend unartikuliert bleibt: die durch die Orientierung am Einzelfall ermöglichte Befähigung zum Mitgefuhl. Das Elend des Pauperismus, so Schnapper-Arndt, mache eine sozialwissenschaftliehe Methode unabdingbar, die auf Seiten der Leserschaft "lebendige [... ] Sympathien [... ] fur leidende Bevölkerungen"77 hervorzurufen imstande sei, stelle dies doch eine Grundvoraussetzung dafur dar, die Gesellschaft fur das Schicksal ihrer ärmsten Mitglieder zu sensibilisieren und auf diese Weise zur dringlich gebotenen Lösung der Sozialen Frage beizutragen. Die statistische Abstraktion, das heißt ihr Desinteresse gegenüber den einzelnen Individuen zugunsten einer quan- Ebd., S. 14. 73 Frederic Le Play: Les ouvriers europeens. Deuxieme edition, Tome II: Les ouvriers de l'Orient, Paris (Tours) 1877-79, S. 225 f. 74 Kern [Anm. 32], S. 58. 75 Le Play [Anm. 73], S. 226. 76 Bereits in seiner 1883 erschienenen Dissertationsschrift Fünf Dorfgemeinden auf dem Hohen Taunus knüpft Schnapper-Arndt in grundlegender Weise an Les ouvriers europeens an. Damit machte er Le Play nicht nur erstmals über die Grenzen der französischen Sozialwissenschaft hinaus bekannt, sondern trug zudem zu einer mitunter erheblichen - und nicht unkritischen - Scharfstellung der Le Play'schen Fallmethodik bei. 77 Gottlieb Schnapper-Arn dt: Fünf Dorfgemeinden auf dem hohen Taunus. Eine socialstatistische Untersuchung über Kleinbauernthum, Hausindustrie und Volksleben, Leipzig (Duncker & Humblot) 1883, S. 196. 72 Kopie von subito e.V., geliefert für Universität Konstanz - KIM / Bibliotheksdienste (HSL9700002) Wider den homme moyen 209 tifizierenden Massenbeobachtung, verhindere aber letztlich genau diese Empathiemöglichkeit. Schnapper-Arndt widerspricht dem Gesetz der großen Zahl nicht, wiegt die statistische Suche nach sozialen Regelmäßigkeiten jedoch gegen ihre ethischen Negativfolgen auf. Wie er als Beispiel anfUhrt, offenbare ein statistischer Befund, der "in vielstelliger Ziffer von dem Tode vieler Tausender Meldung macht" 78, schlussendlich zwar ein Gesetz der Gesellschaft, in ihrem schieren Umfang aber lasse diese Zahlenmasse den Leser im sprichwörtlichen Sinne ,kalt': [U]nsere Theilnahme für fremde Empfindungen wächst nicht mit der Menge der Individuen, die wir uns von ihnen affizirt vorstellen, sondern sie variirt mit der Intensität jener Empfindungen bei den Einzelnen, mit der Lebhaftigkeit sonach, mit welcher wir uns in diese Einzelnen hineinzudenken vermögen. Wir rekurriren allemal, wo wir einen lebhaften Eindruck empfangen wollen, auf das Individuelle. 79 Die epistemologische Distanz also, die in der Statistik dem Bereich des Individuellen gegenüber einzunehmen nötig ist, verdoppelt sich bei Schnapper-Arndt zu einer emotionalen Distanz, der es in der Erforschung der Armutsproblematik durch die Ausrichtung am Einzelfall entgegenzuwirken gilt. Idealerweise, so resümiert er, sollen "Massenbeobachtung und Monographie Hand in Hand miteinander gehen,,8o. Dass es aber letztere Methode sei, mithilfe derer man "zuerst die Leidenden aufsuche, wird [... ] niemand verdenken, der von der Bedeutung praktisch-ethischer Zwecke auch in der Wissenschaft durchdrungen ist".81 Eine Budgeterhebung allein reicht jedoch nicht aus, damit der Leser in "sich selbst [... ] das Leben, das man ihm vorfUhrt, aufnehmen" 82 kann. Mit den so genannten Observations preliminaires einerseits sowie den Notes andererseits (erstere sind in den Familienmonographien der Budgetanalyse voran-, letztere hintangestellt) ergänzt Le Play seine Zahlenanalyse deshalb um einen empirischqualitativen Forschungskomplex, der sich mit Blick auf die Arbeiterfamilien insgesamt auf das "vie intellectuelle et morale, a la religion, a l'education, aux recreations, aux sentiments de parente et d'amitie [... ], enfin aux particularites concernant 1'histoire de la famille" 83 beziehen soll. Die Notes, von Le Play an anderer Stelle oftmals auch als Elements divers de la constitution social bezeichnet, unterscheiden sich dabei vor allem im Stil, kaum aber dem Inhalt nach von den Observations preliminaires. Die Notes stellen vielmehr nur ein loses Sam- 81 Ebd. Ebd. Ebd, S. 169. Ebd. 82 Gottlieb Schnapper-Arndt: Zur Theorie und Geschichte der Privatwirtschafts-Sta- 78 79 80 tistik, in: Ders.: Vorträge und Aufsätze, hg. v. Leon Zeitlin, Tübingen (Laupp) 1906, S.4l. 83 Le Play [Anm. 53], S. 221. Kopie von subito e.V., geliefert für Universität Konstanz - KIM / Bibliotheksdienste (HSL9700002) 210 Johannes Scheu melsurium all jener Informationen dar, die in den thematisch weitaus strukturierteren Rahmen der Observations preliminaires keinen Eingang finden konnten. 84 Man muss Wolfgang Bonß nicht in aller Konsequenz folgen, wenn er in Le Plays empirisch-qualitativem Zugang zur Sozialen Frage das eigentliche Herzstück seiner familienmonographischen Methode erblickt und dessen Budgetberechnungen lediglich als eine Nachanpassung an die "Standards der ,normal science' ,,85 des 19 . Jahrhunderts begreift: ein wiewohl anti statistisches Zugeständnis an den objektivistischen Zahlenimperativ also, dem neben dieser Legitimierungsfunktion kaum ein ernstzunehmendes Erkenntnisgewicht zukomme. Denn zu bereitwillig verließ sich Le Play etwa auf die Informationen "sozialer Autoritäten,,86 (gemeint waren hier insbesondere Geistliche und Gemeindepatrone ), die ihm zwar nur den Kontakt zu den Arbeiterfamilien erleichtern sollten, denen er oftmals aber eine ausreichende Kenntnis über deren soziale Lebensverhältnisse zuzusprechen neigte. Und selbst wenn Le Play sich tatsächlich um eine intensive Kontaktaufnahme zu jeder der von ihm untersuchten Familien bemüht haben sollte: Führt man sich beispielsweise die sowohl sprachlichen als auch kulturellen Barrieren vor Augen, auf die er bei seiner Begegnung mit einer bäuerlichen Großfamilie in den Steppen Russlands gestoßen sein dürfte, so wirkt seine Überzeugung, bereits ein acht- bis zehntägiger Aufenthalt in einer Familie reiche aus, um all jene "secrets de sa vie int6rieure,,87 aufzudecken, sozialempirisch geradezu naiv. Gleichwohl ist es diese in Grundzügen ethnographische Komponente von Le Plays methode d' observation, die er nicht nur im Vergleich zur Budgetanalyse als ein weitaus diffizileres Unterfangen, als eine "investigation [... ] encore plus d6licate" 88 akzentuiert, sondern auf deren Hintergrund sich überdies erst die volle Opposition seines Ansatzes zur statistischen Massenbeobachtung vollzieht. Die Statistiker, so moniert er, verfügten nicht über die geeigneten moyens d'observation [... ]: ils ne peuvent donc embrasser les branches les plus essentielles de l' activite sociale, qui sont toujours confiees a l'initiative individuelle [... ]. Les statisticiens ont ete mo ins heureux encore dans les etudes qui se rattachent plus specialement a la nature intime de l'homme, a l'appreciation des conditions sociales [... ], ils ne tiennent compte ni de la nature speciale des individus, ni du caracU~re propre au milieu dans lequel ils vivent. 89 84 Die Observations preliminaires ordnen sich hierbei wie folgt: 1. Etat du sol, de l'industrie et de la population 2. Etat civil de la familIe 3. Religion et habitudes morales 4. Hygiene et service de sante 5. Rang de la familIe 6. Proprietes (mobilier et vetements non compris) 7. Subventions 8. Travaux et industries 9. Aliments et repas 10. Habitation, mobilier, vetements 11. Recreations. 85 Bonß [Anm. 9], S. 121. 86 Vgl. Le Play [Anm. 53], S. 16. 87 Ebd., S. 15. 88 Ebd., S. 221. 89 Le Play [Anm. 49], S. 11. Kopie von subito e.V., geliefert für Universität Konstanz - KIM / Bibliotheksdienste (HSL9700002) Wider den homme moyen 211 Um die ,spezielle Natur' der Individuen sowie ihr soziales Lebensmilieu adäquat erfassen zu können, ist auf Seiten des Sozialforschers mithin ein empirischer Einsatz von Nöten, der dem methodischen Vorgehen der Statistik diametral zuwiderläuft. Denn die Möglichkeit, ein gesamteuropäisches Verständnis der question sociale zu erlangen, erscheint Le Play allein dann gegeben, wenn man gerade keine Distanz zu den vielfältigen Lebenszusammenhängen seines Untersuchungsobjekts aufbaut, sondern sich im Gegenteil vollständig auf diese einzulassen und sie - wenn auch nur äußerst temporär - direkt mitzuerleben bestrebt ist: Cette complication et cette variete [im Leben der europäischen Arbeiter, J.S.] ne se revelent pas, d'ailleurs, tout d'abord a l'observateur: pour constater les nuances decrites dans les monographies [... ], l'auteur a dü se mettre en contact intime avec les populations qu'il avait a etudier. Par un sejour prolonge dans l'habitation des familles, objet special de ces descriptions, il s'est initie peu a peu a la connaissance de leur langage, de leurs habitudes, de leurs besoins, de leurs sentiments, de leurs passions et de leurs prejuges. 90 In Gestalt der sich in den jeweiligen Familienmonographien auf dutzenden Seiten erstreckenden Budgetauflistung fungiert das Numerische zwar auch bei Le Play als Letztinstanz eines objektiven Wissens über die Soziale Frage. Wenn allerdings - wie Le Play im obigen Zitat betont - erst eine prototypische Form der ,teilnehmenden Beobachtung' dem Sozialforscher die Haushaltsfiihrung der Familien zu enthüllen garantiert, so bedarf die Budgetanalyse als Möglichkeitsbedingung doch zunächst nichts anderem als der ethnographischen Mikroskopie dieser Lebensverhältnisse selbst. 90 Ebd., S. 12. Kopie von subito e.V., geliefert für Universität Konstanz - KIM / Bibliotheksdienste (HSL9700002)