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Zhang, Deng: „angst Als Gefühl Bei Kierkegaard“, In: Feger, Hans Und Kwan Tze-wan (hrsg.): Idealismus Und Idealismuskritik: Subjekt, Person Und Zeit, Konigshausen & Neumann 2016.

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Ist Kierkegaards „Begriff Angst“ ein Gefühl? Zhang, Deng (Freie Universität Berlin) Kierkegaard gilt offensichtlich als der Erste, der den Begriff Angst von dem der Furcht unterschieden hat, indem er sagte: "Man findet den Begriff Angst kaum jemals in der Psychologie behandelt, ich muss deshalb darauf aufmerksam machen, dass er gänzlich verschieden ist von Furcht und ähnlichen Begriffen, die sich auf etwas Bestimmtes beziehen, während Angst die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit ist. Daher wird man beim Tier, eben weil es in seiner Natürlichkeit nichts als Geist bestimmt ist, keine Angst finden." (BA 1992, S.52) Durch diese Unterscheidung gewinnt Angst einen besonderen Status gegenüber aller anderen Emotionen des Menschen. Sie ist, in der späteren Existenzphilosophie, eine herausgehobenen Weise der Erschlossenheit des Selbst (Thurnherr 2007, S.25), eine Befindlichkeit, die sich nicht auf äußerliche Gegenstände bezieht, wie es bei der Furcht der Fall ist, sondern immer auf das Subjekt zurückgreift, das sie hat. Seitdem diese Unterscheidung in der Philosophie – dank Heideggers „Sein und Zeit“ allgemein akzeptiert wurde, ist die Aufmerksamkeit auf die Besonderheit der Angst als ein existenzielles Gefühl gerichtet. Bis in den psychologischen Existenzialismus reicht ihr Einfluss, wo die sogenannte „Realangst“ von der „Existenzangst“ unterschieden wird. (Demmerling 2007, S.68) Die Folge davon ist, dass der Begriff Angst allmählich Teil des existenzphilosophischen Jargons geworden ist und völlig aus der anthropologischen Forschung der menschlichen Emotionen ausgeschlossen wurde, weil sie, nach der experimentellen Methode der akademischen Psychologie, vom Verhalten und seinen mentalen Prozessen nicht zu erkennen ist. Das Verständnis von Angst - als ein interdisziplinäres Problem - gerät deswegen in eine solche Verlegenheit, weil man keine adäquaten Kriterien besitzt, um sie richtig zu verstehen. 1 Jedoch wird auch wiederum nicht geleugnet, dass die Angst als reales 1 Walter Schultz hat diese Aporie in seinem Essay genau dargestellt, indem er die Existenzphilosophie mit der Anthropologie konfrontiert. Für ihn ist Kierkegaards Angstanalyse immer noch aktuell gerade in dem Sinne, dass sie die beiden Zugangsweisen zum Phänomen der Angst in einer „bedeutsamen Verbindung“ zusammenschließt. Jedoch ist seine Unterscheidung zwischen „Weltangst“ und „Angst vor mir selbst“ zu grob, so dass das ganze Problem dadurch nur in einer einzigen Hinsicht dargestellt 1 Phänomen im menschlichen Gefühlsleben eine Rolle spielt. In der Literatur und Kunst ist sie immer wieder aufgetaucht als ein wichtiges Element, ohne das es gar nicht möglich sei, die menschliche Existenz in ihrem vollen Umfang tiefsinnig darzustellen. Kann ein solches Phänomen überhaupt wissenschaftlich untersucht werden? Oder ist es eher ein eine nur literarisch fassbare Vorstellung, ein künstlich abgeleitetes Gefühl, das außerhalb der Literatur und der Existenzphilosophie kaum ernst zu nehmen ist? Die Nuancen, die die Angst von der Furcht unterscheiden, und die Gemeinsamkeiten dessen, die die Angst überhaupt als einen Teil des menschlichen Gefühlslebens charakterisieren, bedürfen näherer Erklärungen. Von ihrem Urheber und Entdecker Sören Kierkegaard kennen wir den Versuch, die Angst als ein eigenständiges Gefühl, ein Phänomen, das von allen Menschen gefühlt werden kann, zu rechtfertigen, ohne dabei die geläufige Verbindung zur Furcht zu vernachlässigen. Seine Versuche sind spekulativ und dialektisch und haben die Hegelsche Philosophie und die damalige spekulative Psychologie zur Grundlage. Seine Versuche sind auch von der christlichen Religion bestimmt, angefangen von der Bibelgeschichte und geschlossen mit einer erbaulichen Rede über den Glauben. All dies sind Schwierigkeiten bei der Aufgabe, seine raffinierte (aber manchmal verwirrende) Angstanalyse nicht nur aus existenzphilosophischer Sicht, sondern auch nach Kriterien der Emotionsforschung zu erforschen. Solche Kriterien sind in der Philosophie der Gefühle immer schon diskutiert und allgemein anerkannt worden: es sind die kognitive Funktion, die Körperlichkeit, die Intentionalität und der phänomenale Gehalt etc. von Gefühlen.2 werden kann. Vergleich: Schultz, Walter: "Die Dialektik von Geist und Leib bei Kierkegaard. Bemerkungen zum Begriff Angst". In: Theunissen 1979, S.348 2 Über den aktuellen Forschungsstand der Philosophie der Gefühle und dessen Bezug zur Entwicklung der empirischen Wissenschaften hat Martin Hartman in der Einleitung seiner Monographie „Gefühle. Wie die Wissenschaften sie erklären“ einen Überblick gegeben. Vgl.: Hartmann 2005, S. 9-27. Über Erläuterung zu einzelnen Kriterien in der Gefühlsforschung vgl.: Demmerling 2007 2 I. Kierkegaards Angstanalyse mit Rücksicht auf deren Unterschiede zur Furcht Unbewusste Angst Laut Kierkegaard entsteht die Angst aus dem Zustand der Unschuld des Menschen. Dieser Zustand ist ursprünglich die Bezeichnung für den Zustand von Adam im Paradies vor dem Sündenfall. „Das tiefste Geheimnis der Unschuld besteht darin, dass sie gleichzeitig Angst ist.“ (BA. 1992, S.50) Wie ist dies zu verstehen? Für Kierkegaard besteht der Zustand der Unschuld darin, dass der Geist des Menschen hier noch in seiner völligen Möglichkeit besteht. Für Kierkegaard ist also der Mensch die Synthese von Seele und Körper, die vom Geist getragen ist. „Unschuld ist Unwissenheit.“ (a. a. O., S.45) Mit der Unwissenheit ist das Unbewusstsein eines möglichen Wissens bezeichnet, das nach dem sogenannten "Sündenfall" erst entwickelt werden kann. Der Sündenfall ist durch den qualitativen Sprung charakterisiert und von keinerlei Wissenschaft zu erklären. „Die Unschuld geht immer nur durch den qualitativen Sprung des Individuums verloren.“ (ebd.) Mit dieser Deutung des Sündenfalls ist eigentlich die Entwicklung der Subjektivität vom Unbewusstsein bis zum Bewusstsein geschildert. Im Zustand des Unbewusstsein besteht die Subjektivität noch in ihrer vollen Disposition und Möglichkeit. Es ist ein Zustand vor aller Selbstreflexion und Selbsterkenntnis, der die Möglichkeit zu dieser Reflexion und Erkenntnisse aber nicht ausschließt, sondern in sich birgt. Verborgen ist eben die Möglichkeit, sich zu ängstigen. Der qualitative Sprung bezeichnet also den Beginn der Selbsterkenntnis und der Fähigkeit zur Reflexion. In diesem Sinne darf man auch mit Kierkegaard sagen, dass ein Kind nicht allmählich erwachsen wird, sondern durch einen Sprung die Qualität des Erwachsenseins gewonnen hat. Damit lässt sich schon verstehen, warum Kierkegaard mit vollem Recht Kinder von Tieren unterschieden hat, während in der psychologischen Diskussion immer von ähnlichen Verhaltensmustern bei Kindern und Tieren die Rede ist. Kinder sind insofern mehr Menschen als Tiere, weil sie mit Kierkegaards Worten "träumende Geister" (ebd., 3 S.58) sind. Parallel zu Kierkegaards Behauptung, dass die Unschuld kein eigenständiger Zustand ohne alle Schuldigkeit ist, sondern ein Zustand, der die Möglichkeit der Schuld in sich birgt, dürfen wir auch sagen, dass für die Kinder die Möglichkeit einer Subjektivität schon prädisponiert, jedoch nicht voll entwickelt ist. Angst ist eigentümlich für das Menschenwesen, egal ob bei Erwachsenen oder Kindern3, während die Tiere sich nur fürchten. Der Unterschied kann präziser dargestellt werden: Furcht ist ein Instinkt, der als körperliche Reaktion betrachtet werden kann. Sie funktioniert bei allen Lebewesen als Warnung vor möglichen Gefahren. 4 Deswegen ist die Furcht ein gerechtfertigter Gegenstand der experimentellen Psychologie. So konnte Willian James behaupten, dass "wir uns fürchten, weil wir zittern" (Hartmann 2005, S. 38). Der Hirsch zittert gelähmt auf der Autobahn, wenn ein Rennwagen auf ihn zufährt. Er fürchtet sich. In dieser Hinsicht haben wir's gemeinsam mit den Tieren. Jedoch ist die Angst auf dieser Weise gar nicht zu erklären. Es gibt keine beobachtbare körperliche Veränderung, wenn wir in Angst geraten. Deswegen entspricht die Angst nicht dem Reiz-Reaktions-Modell, das die meisten Emotionen erklären kann. Doch ist die Angst gerade deswegen als eine derjenigen Emotionen herausgehoben, die für die Menschen eigentümlich sind. 5 (Wahrscheinlich würde Kierkegaard parallel zu James sagen: "wir ängstigen uns, weil wir als Geist bestimmt sind.") Aber das Problem ist nun, woran man erkennen kann, dass man Angst hat? Gefühlte Angst Nach Kierkegaard ist die Angst die „sympathetische Antipathie und antipathetische Sympathie“ (BA. 1992, S.51). Um dies zu begründen, greift er auf Alltagsausdrücke wie „die süße Angst“ oder „die süße Beängstigung“ zurück. Er beschreibt die Angst, die bei den Kindern schon einigermaßen ausgeprägt ist, als ein „Suchen nach dem 3 "Kind" ist nur eine grobe Bezeichnung für die Menschen, die die Fähigkeit zur Reflexion noch nicht völlig entwickelt hat. So sagen wir häufig von einem Erwachsenen, dass er/sie kindisch ist. 4 Furcht kann auch inadäquat sein, wenn das Wovor der Furcht gar nicht zu befürchten ist. 5 Zu solchen Emotionen können auch gehören: Reue, Sorge, Melancholie usw. 4 Abenteuerlich-Märchenhaften, dem Ungeheuren, dem Rätselhaften“ (ebd.). Alle diese Ausdrücke zeigen die Angst als ein Gefühl, das in sich einen Widerspruch birgt, nämlich gleichzeitig erschrocken und angezogen zu werden. (Es ist ein neigendes Ablehnen, also eine Neigung dazu, was man eigentlich ablehnen möchte, aber gleichzeitig eine Tendenz zur Ablehnung des Bevorzugten.) Die Angst ist kein körperliches Gefühl. Nach James‘ Definition soll die Angst aus dem menschlichen Gefühlsleben ausgeschlossen werden. Zwar kann die Angst nicht von außen beobachtet werden, doch wird sie gefühlt, ist also phänomenal gegeben. Die oben dargestellten „sympathetische Antipathie und antipathetische Sympathie“ kann als die Beschreibung des phänomenalen Gehalts der Angst angesehen werden. Das Problem ist nun, ob diese Bezeichnung reich genug ist, um die Angst als ein eigenständiges Gefühl zu definieren. Für eine Definition gilt, dass man durch sie auf eine unverwechselbare Weise den definierten Gegenstand erkennen und identifizieren kann. Ist die „sympathetische Antipathie und antipathetische Sympathie“ schon die Angst? Offensichtlich nicht. Eigentlich dient die Bezeichnung der „sympathetischen Antipathie und antipathetischen Sympathie“ nur zur heraushebenden Charakteristik der Angst, um die Angst von der Furcht zu unterscheiden. Wenn Angst und Furcht im Alltagsgebrauch fast synonym gebraucht werden, um das ähnliche, oder gar das gleiche Phänomen zu beschreiben, dann soll die Angst besser definiert werden als „Furcht vor etwas Unbestimmtem, die in einer sympathetischen Antipathie und antipathetischen Sympathie schwebt“. Außerdem ist die sympathetische Antipathie und antipathetische Sympathie nicht ursprünglich genug, um die phänomenale Gegebenheit der Angst zu beschreiben. So betrachtet, scheint die Angst ein Gefühlskomplex zu sein, der aus verschiedenen Gefühlen zusammengesetzt wird, die entweder positiv oder negativ sind: die sympathischen Gefühle wie Neigung oder Vorliebe, die antipathetischen wie Furcht, oder Eckel, oder aber Hass. Eine mögliche Lösung gibt Herrmann Schmitz in seiner phänomenologischen Forschung zu den Gefühlen. Er hat die Angst als einen gehemmten Fluchtdrang bezeichnet, als ein „gehindertes Weg!: einen Impuls, zu entkommen, der gleichsam abprallt“. (Demmerling 2007, S.65) Es ist leicht zu sehen, dass diese Bezeichnung besser zur Furcht passt, wenn 5 wir an den zitternden Hirsch denken: Er will fliehen, kann aber nicht. Doch ist es auch eine aufschlussreiche Bezeichnung, da sie der Kierkegaardschen Bezeichnung der „sympathetischen Antipathie und antipathetischen Sympathie“ annähernd entspricht. In der Furcht wird der Fluchtdrang von dem Übermaß des Schreckens gehemmt. Die Hemmung ist also instinktiv und gehört mit der Furcht zusammen. In der Angst aber ist der Fluchtdrang deswegen gehemmt, weil man gleichzeitig angezogen wird und dazu neigt, zu den möglichen Gefahren hinzulaufen. Deswegen sagt Kierkegaard mit Recht, dass der Mensch in der Angst selbst schuldig wird, weil er „in die Angst sank, die er liebte, indem er sie fürchtete“. (BA 1992, S.52) So hat Demmerling auch hinzugefügt, dass die Angst ein „gehemmtes Streben“ (Demmerling 2007, ) ist, was die andere Seite der Angst, die der antipathetischen Sympathie dargestellt hat. Am Vergleich der phänomenalen Gegebenheiten von Angst und Furcht sehen wir, dass die beiden Gefühle zwar in ähnlicher Weise gegeben, jedoch verschiedenartig verursacht sind. Die Furcht ist ein Instinkt, das kein kognitives Moment beinhalten muss, 6 wohingegen die Angst ein Gefühl ist, in dem kognitive Momente wie Erkenntnis und Urteil konstitutiv funktionieren. Sie ist charakteristisch für den Menschen, dem die Fähigkeit zur Beurteilung und Entscheidung als ein unentbehrlicher Teil angehört. Wenn wir an die verborgene Angst im Zustand der unvollkommenen Subjektivität denken, ist es umso verständlicher, die Angst als ein kognitives Gefühl zu kategorisieren. Als ein kognitives Gefühl ist die Angst die vertiefte, verbreiterte und reflektierte Furcht. Sie ist vertieft, weil sie sich nicht auf die aktuelle Gefahr richtet, sondern auf eine mögliche. Sie ist verbreiterter, weil der Verankerungspunkt zu ihrem intentionalen Gegenstand nicht intensiv gestimmt ist, sondern allgemein und unbestimmt. Sie ist reflektiert, weil sie keine direkte Reaktion auf den Reiz der möglichen Gefahr ist, sondern immer die Selbsterkenntnis und Selbstreflexion des Subjekts voraussetzt. 6 Es wird damit nicht ausgeschlossen, dass die Furcht kognitive Momente beinhalten kann. 6 II. Angst als ein existenzielles Gefühl in Bezug auf die Möglichkeit und Zeitlichkeit der menschlichen Existenz Angst aus dem Nichts und vor dem Nichts? Wenn wir Kierkegaards Angstanalyse weiter verfolgen, indem wir nach der Ursache und den Gegenstand der Angst fragen, erscheint die Angst als stark existenziell charakterisiert. Dieses Moment hat Kierkegaard als „Nichts“ bezeichnet. „Doch welche Wirkung hat Nichts?“ Es gebiert Angst“ (BA. 1992, S. 50), sagt Kierkegaard. „Das Verhältnis der Angst zu ihrem Gegenstand, zu Etwas, das Nichts ist.“ (a. a. O., S. 51) Der Ausdruck „Etwas, das Nichts ist“ hat die Möglichkeit schon ausgeschlossen, das Nichts als ein reines Nichts ohne alle Inhalte zu verstehen. Wenn nun von Ursache und Gegenstand die Rede ist, soll zuerst erklärt werden, dass die Ursache eines Gefühls von dessen Gegenstand unterschieden werden soll. Ursache ist etwas, das das Gefühl auslöst, Gegenstand wiederum, worauf sich das Gefühl intentional richtet. Nehmen wir den Wut als Beispiel. Die Ursache meiner Wut kann sein, dass mein Fenster von einem Fußball zerbrochen wurde. Doch ist meine Wut nicht auf das zerbrochene Fenster gerichtet. Sie hat vielmehr die Kinder zum Gegenstand, die beim Fußballspiel mein Fenster zerbrochen haben. Bei manchen Gefühlen, wie z. B. der Trauer, fallen Ursache und Gegenstand zusammen. Es gibt aber auch Gefühle, die keinen intentionalen Gegenstand haben, wie z. B. die Melancholie oder die Depression. Wenn Kierkegaard behauptet, dass die Angst aus dem Nichts kommt und das Nichts als Gegenstand hat, ist hier das Nichts zweideutig gemeint. Mit dem ersten Nichts meint er den Zustand der Unschuld. Wie oben erwähnt wurde, ist die Angst schon im Zustand der Unschuld verborgen. Doch der Grund, warum die Angst darin verborgen ist und daraus entstehen soll, liegt darin, dass der Mensch als Synthese von Seele und Körper bestimmt ist. Präziser gesagt, ist der Zustand der unbewussten Differenziertheit gerade deswegen ein „Nichts“, weil die Angst nicht von ihm verursacht ist, sondern die in ihm verborgene Möglichkeit ist. Die Angst ist aus dem Nichts entstanden, gleichsam als „origo ex nihilo“. Sie ist keine Reaktion auf irgendeinen Reiz, sondern Effekt der Entwicklung reflexiver Subjektivität. Sie entsteht aus der Erkenntnis 7 des Selbst als gespalten in Körper und Seele. Dieses erkennende Selbst bezeichnet Kierkegaard als Geist. Die Angst ist also mit der Selbsterkenntnis des Menschen entstanden. Deswegen sagte Kierkegaard: „Je weniger Geist, umso weniger Angst.“ (BA. 1992, S.51) Der Beginn der Selbsterkenntnis, oder, mit Kierkegaards Worten, die Setzung des Geistes, wird begleitet, von der Angst als einem existenziellen Gefühl, weil es in der Angst um die gesamte Existenz geht. Dies gilt gleichfalls in Bezug auf den Gegenstand, den die Angst intentional beinhaltet: das „Nichts“ im zweiten Sinne, die Freiheit des Menschen.7 „Die Freiheit ist unendlich und erscheint als Nichts“. (BA. 1992, S. 131) Die Freiheit ist deswegen ein „Nichts“, weil sie die unendliche Möglichkeit der menschlichen Existenz auszeichnet. Was möglich ist, ist aber noch nicht. Wovor man sich ängstigt, ist gerade dieses "Noch-Nicht-Sein" der eigenen Freiheit. Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit Um Kierkegaards Explikation des „Wovor“ der Angst besser zu verstehen, müssen wir auf seine Bemerkung zurückgreifen, wonach „Angst die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit ist“. Diese Bezeichnung hat Kierkegaard im höchst existenziellen Sinne eingeführt, indem er den Begriff der Möglichkeit neu gedeutet und die existentielle Möglichkeit von der Möglichkeit im logischen Sinnen unterschieden hat. Zur logischen Möglichkeit sagt er: „In einem logischen System sagt es sich recht leicht, dass die Möglichkeit in Wirklichkeit übergeht. In der Wirklichkeit ist das schwieriger, da braucht es eine Zwischenbestimmung. Diese Zwischenbestimmung ist die Angst...“ (BA. 1992, S.59) So können wir die Selbstwerdung des Menschen als einen Vorgang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit betrachten. Diese Möglichkeit ist die allgemeine Disposition des Menschen. Die Angst funktioniert als eine Zwischenstimmung in dem Sinne, dass sie in dieser Disposition verborgen ist und eigens verwirklicht werden muss, 7 Hier könnte man einwenden, dass die Angst kein intentionales Gefühl ist. Das stimmt jedoch nur in dem Sinne, dass intentionale Gegenstände eines Gefühls auf konkrete Dinge begrenzt sind. Doch sehen wir z. B. am letzten Beispiel, der Wut, dass der Gegenstand auch als ein Sachverhalt oder gar die Überzeugung über einen Sachverhalt möglich ist. Als ein solcher kann die Freiheit des Menschen auch verstanden werden. So ist z. B. eine reine Angst ohne Bezug zur als Möglichkeit gedeuteten Freiheit gar nicht vorstellbar. 8 um die existenzielle Möglichkeit zu eröffnen: „die Möglichkeit zu können“ (ebd.). Die Möglichkeit zu können, ist die Bestimmung der Freiheit, die sich auf die Zukunft bezieht und das Verständnis der eigenen Existenz in der Zeit voraussetzt. „Das Mögliche entspricht vollkommen dem Zukünftigen. Das Mögliche ist für die Freiheit das Zukünftige, und das Zukünftige für die Zeit das Mögliche. Beiden entspricht im individuellen Leben Angst.“ (BA. 1992, S.107-108) Als Zwischenbestimmung funktioniert hier die Angst wiederum als Motivation zur Entscheidung zwischen verschiedenen Möglichkeiten, in der jeder Verantwortung für sich selbst tragen muss. Das ist die Wirklichkeit der Freiheit, mit der sich jeder von uns konfrontieren muss. Also ist die Freiheit als „Wovor“ der Angst eigentlich dasjenige, an dem das Subjekt der Angst die sogenannte „sympathetische Antipathie und antipathetische Sympathie“ fühlt. Dies ist keine abstrakte Freiheit, kein durch Spekulation gewonnener reiner Begriff, sondern die Freiheit, die den Charakter der Heideggerschen „Jemeinigkeit“ besitzt. – Meine eigene Freiheit erscheint mir als etwas, das mich anzieht und gleichzeitig zurückschreckt, also ängstigt. Angst und Zeitlichkeit: der „Augenblick im individuellen Leben“ Die Angst ist ein Gefühl, das die Selbsterkenntnis des Menschen zur Voraussetzung und die Selbstreflexion über die eigene Freiheit als Möglichkeit zum Gegenstand hat. Sie ist deswegen ein existenzielles Gefühl, weil sie sich immer auf das individuelle Subjekt bezieht. Sie ist das Ereignis der Entwicklung der Subjektivität. In Kierkegaards Worten: die Angst ist „der Augenblick im individuellen Leben“ (BA. 1992, S.96). Mit dieser Bezeichnung wird neben der Individualität noch eine wichtige weitere Kategorie in den Begriff Angst eingeführt, u. z. die Geschichtlichkeit. Für Kierkegaard ist es unmöglich, die Freiheit und die existentielle Möglichkeit zu verstehen, ohne den Begriff „Augenblick“ einzuführen. Die Freiheit ist kein abstrakter Begriff. Sie bezieht sich auf die Wirklichkeit der menschlichen Existenz. Doch sind die bisherigen Zeitbegriffe zu abstrakt, um die Freiheit als eine solche Wirklichkeit darzustellen. Weder Zeitlichkeit noch Ewigkeit sind geeignet für das echte Leben. Die Zeitlichkeit ist „unendliches Verschwinden“, weil die Zeit nichts als ein „Vorbei- 9 gehen“ ist. (BA. 1992, S.103) Die Ewigkeit ist „das unendliche Gegenwärtige“ (ebd.), das dem Leben auch nicht passt. Die beiden entscheidenden Begriffe sind viel mehr reflektierte Zeit als erlebte Zeit. Das echte Erlebnis der Zeit soll nach Kierkegaard im „Augenblick“ wahrgenommen werden. Unter dem Augenblick soll die fixierte Gegenwart verstanden werden, die die Vergangenheit und die Zukunft in sich enthält. Der Augenblick ist also nicht ein Moment im leeren Vorbeigehen der abstrakten Zeitlichkeit, sondern der Mittelpunkt der erfüllten Zeit, die durch das ganze Leben fließt. Deswegen sagt Kierkegaard, dass „die Geschichte erst im Augenblick beginnt“. (ebd. S.105) Die Angst ist der Augenblick im individuellen Leben. Zwar ist die Angst wie alle anderen Gefühlen prädisponiert im menschlichen Wesen, jedoch kennen nur diejenigen, die den Befehl „erkenn dich selbst!“ gefolgt haben, die echte Angst und damit die echte Freiheit. Nur diejenigen, die Angst gehabt haben und vor allen zukünftigen Möglichkeiten ein Gefühl des „Schwindel“ aben, können richtig für sich selbst entscheiden. Mit Kierkegaards Worten: „Wer sich richtig zu fürchten gelernt hat, der hat deshalb das Höchste gelernt.“ (ebd. S.181) 10 Literaturverzeichnis: Bergenholtz Henning: Das Wortfeld "Angst": e. lexikograph. Unters. mit Vorschlägen für e. großes interdisziplinäres Wörterbuch d. dt. Sprache. - Stuttgart: Klett-Cotta, 1980. Demmerling, Christoph: Philosophie der Gefühle : von Achtung bis Zorn / Christoph Demmerling ; Hilge Landweer. - Stuttgart [u. a.] : Metzler, 2007 Fink-Eitel, Hinrich: "Angst und Freiheit. Überlegungen zur philosophischen Anthropologie". 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